KAPITEL 11
Mit einer Wut, die ihn fast erstickte, sah Pitt dem sich über die glitzernde Wasserfläche entfernenden Boot nach. Wie unglaublich dumm von ihm! Welche Hinweise mochte er übersehen haben? Voisey lag ebenso viel wie Pitt daran, dass man Piers Denoon fasste und vor Gericht stellte. Mit ihm als Zeugen ließ sich die Korruption der Polizei unwiderleglich nachweisen, denn er war das letzte fehlende Glied in der Beweiskette, die von den Sprengstoffanschlägen zu Wetron führte.
Leicht vorgebeugt, bereit, sich auf ihn zu stürzen, näherte sich der stämmige Mann Pitt. »Duck dich, Mike!«, rief er dem jungen Mann zu, der sich unter Pitts Griff wand.
Warum nur hatte er Voisey geglaubt, dass sich Piers Denoon hier befand? Die Antwort war einfach: Weil er sich allmählich daran gewöhnt hatte, dass er ihm trauen durfte. Die Verfolgungsjagd und die Erwartung des unmittelbar bevorstehenden Sieges hatten ihn mitgerissen, und so hatte er vergessen, was für ein Mensch Voisey stets gewesen und immer noch war. Vielleicht wusste er sogar tatsächlich, wo sich Piers Denoons aufhielt!
Der Stämmige blieb zögernd stehen. Wie es aussah, schien er nicht recht zu wissen, was er tun sollte, weil Pitt seinen Gefährten nach wie vor an der Gurgel hielt. Doch jetzt kam der Dritte aus der Kajüte empor, eine Eisenstange in der Hand.
Pitts einzige Aussicht zu entkommen bestand darin, dass er vorsichtig zurückwich, um nicht über eine der Spieren oder Kisten an Deck zu stolpern, und über die Bordwand ins Wasser sprang. Und dann war es noch ohne weiteres möglich, dass er ertrank. Bis zum rettenden Ufer waren es etwa dreißig Meter, und der kräftige Sog der Ebbe, die jeden Augenblick einsetzen musste, würde ihn dem Meer entgegentreiben. Nicht nur war das Wasser kalt, er hatte auch einen Mantel und hohe Schnürschuhe an. Nur mit viel Glück könnte er das Ufer erreichen, immer vorausgesetzt, dass ihn keiner der Leichter in voller Fahrt rammte, sodass er das Bewusstsein verlor. Wenn er dann noch mit einem Kleidungsstück irgendwo hängen blieb, wäre sein Geschick besiegelt.
Während er sich vorsichtig rückwärts schob, hielt er den jungen Mann nach wie vor gepackt, obwohl dieser jetzt um sich schlug, nach ihm trat und ihn mit den Händen zu fassen versuchte. Jetzt musste Pitt den Preis für seine Dummheit bezahlen. Nicht nur Narraway hatte ihn gewarnt, auch Charlotte und selbst Vespasia. Warum ließ Voisey es offensichtlich darauf ankommen, dass Charlotte das Material verwendete, das Mrs Cavendish als Mörderin erscheinen ließ? Falls sie das tat, bliebe ihr nichts, womit sie sich selbst und die Kinder verteidigen konnte! Der Gedanke quälte ihn, bereitete ihm Magenschmerzen.
»Springen Sie!«
Der Zuruf ließ ihn zusammenfahren, sodass er auf den Decksplanken ausglitt, stolperte und rücklings zu Boden fiel. Dabei wurde der junge Mann, den er immer noch festhielt, mit von den Füßen gerissen und konnte sich befreien. Im selben Augenblick schlug der Stämmige zu, traf aber das gereffte Segel und stieß einen Schmerzensschrei aus.
»Springen Sie!«, ertönte der Zuruf erneut.
Mühselig kam Pitt auf die Beine und sprang über die Bordwand. Er landete auf Händen und Knien in einem kleinen Ruderboot, das er damit so heftig zum Schaukeln brachte, dass es Wasser übernahm. Mit viel Glück und Geschick sowie beträchtlicher Anstrengung gelang es dem Mann, der darin saß, es wieder auf ebenen Kiel zu bringen.
»Tölpel«, sagte er. Es klang nicht so, als ob er es böse meinte. »Halten Sie den Kopf unten für den Fall, dass einer von denen eine Schusswaffe hat.« Er legte sich mit aller Kraft in die Riemen und trieb das Boot weiter in die Mitte des Stromes, fort von den Lichtern. Er steuerte es zwischen den festgemachten Schiffen in die Strömung und strebte dem anderen Ufer entgegen.
Als sie aus der Reichweite der Lichter heraus waren, richtete sich Pitt auf und setzte sich auf die Bank im Spiegel des Bootes. »Danke«, sagte er aufrichtig. Dabei wusste er nicht einmal, ob sich seine Situation wirklich gebessert hatte.
»Sie können es später wieder gutmachen«, sagte der Mann. »Ohnehin hätte ich Sie Ihrem Schicksal überlassen, wenn ich nicht gewusst hätte, dass Sie der Einzige sind, der wirklich eine Möglichkeit hat, der Korruption bei der Polizei ein Ende zu bereiten.«
Zwar schmerzten Pitt alle Knochen, doch war er zutiefst dankbar, sich jetzt nicht durch das Wasser der Themse dem Ufer entgegenkämpfen zu müssen. »Wer sind Sie?«
»Kydd«, antwortete der Mann und legte sich stöhnend in die Riemen.
»Da hatte ich aber großes Glück, dass Sie gerade vorbeikamen.« Pitt versuchte, ruhiger zu atmen, und hoffte, dass auch sein Herz bald wieder langsamer schlagen würde.
»Ich bin alles andere als zufällig vorbeigekommen«, gab Kydd mit spöttischer Stimme zur Antwort. Pitt konnte sein Gesicht im Dunkeln nicht sehen. »Ich bin Anarchist. Es ist meine Aufgabe zu wissen, was passiert. Wären Sie nicht dabei, der Korruption der Polizei einen Riegel vorzuschieben, ich hätte keinen Finger krumm gemacht, als die Leute versucht haben, Sie umzubringen. Aber die Politik bewirkt die sonderbarsten Bündnisse. Noch sonderbarere als das zwischen Ihnen und Charles Voisey! Das war ein Fehler! Aber vermutlich sind Sie inzwischen selbst dahinter gekommen.«
Sie waren dem Ufer jetzt so nahe, dass Kydd das Boot drehte, damit es mit dem Spiegel voran an die Stufen stieß. Pitt konnte kaum etwas erkennen, da Kaianlagen und Lagerhäuser im Dunkeln lagen.
»Wo sind wir?«
»Am St.-George’s-Anleger«, sagte Kydd. »Nicht weit vom Güterbahnhof. Sie müssen ein Stückchen laufen und kriegen einen Schluck Kognak, damit Sie sich von dem Schreck erholen. Dann können Sie sich auf den Rückweg machen. Ich an Ihrer Stelle würde mich auf keinen Fall weiter flussabwärts in der Nähe des Wassers zeigen, sondern nach Rotherhithe gehen und von da eine Fähre nach Wapping nehmen.«
Pitt hörte sich den Rat schweigend an und dachte über Kydds Worte nach. Das Boot wurde an einem Eisenring festgemacht, und sie gingen die glatten Stufen hinauf. Da noch der höchste Wasserstand der Flut herrschte, befanden sie sich ohnehin fast ganz oben. Pitt folgte der dunklen Gestalt über den offenen Kai. Der Wind war jetzt kalt, und leichter Nebel begann sie einzuhüllen, sodass die Lichter undeutlicher wurden und die feuchte Luft zu Tröpfchen kondensierte. Von weiter flussabwärts hörte man dumpf Nebelhörner.
Nach etwa zehn Minuten blieb Kydd in einer engen Gasse nahe den Kaianlagen stehen und öffnete eine schmale Tür. Gleich dahinter lag ein Flur, in dem es angenehm warm war. Er schloss die Tür und legte einen hölzernen Riegel vor. Die nächste Tür führte in einen erstaunlich behaglichen und ordentlichen Raum mit einem Stuhl und zwei Sesseln darin. Auf dem größeren der beiden schien ein Hut oder ein zusammengerolltes Paar Fellhandschuhe zu liegen. Beim Geräusch von Kydds Schritten bewegte sich das Bündel, zeigte vier Beine und einen Schwanz, gähnte ausgiebig, öffnete und schloss mehrfach die Augen und begann zu schnurren. Pitt nahm an, dass das Kätzchen etwa zwölf bis vierzehn Wochen alt war.
Kydd nahm es mit einer Hand auf und liebkoste es geistesabwesend. »Der Kognak ist da drüben.« Er wies auf einen Schrank an der Wand. »Jetzt kriegt erst mal Mite was zu essen. Sie war den ganzen Tag allein.« Er nahm ein kleines Stück Fleisch aus der Tasche und schnitt es in Stücke. Die Katze entriss sie ihm fast, bevor er damit fertig war, und schnurrte so laut, dass es wie eine Rassel klang.
Pitt öffnete den Schrank. Außer dem Kognak sah er darin mehrere Gläser und Becher. Er nahm zwei und goss kleine Portionen ein, weil nicht viel in der Flasche war. Er leerte sein Glas mit einem Schluck und stellte das andere für seinen Retter auf das Tischchen.
»Wer war das?«, fragte er.
»Die Leute auf dem Kahn?« Kydd legte das Kätzchen zurück auf den Sessel und nahm sein Kognakglas. »Vermutlich Flussräuber. Was wollten Sie da überhaupt in drei Teufels Namen?«
»Woher wussten Sie, dass ich da sein würde?«, fragte Pitt zurück.
Mite wetzte ihre Krallen, kletterte langsam an Kydds Bein und Rücken empor und legte sich ihm auf die Schulter. Er zuckte zusammen, ließ sie aber gewähren.
»Ich hab das nicht gewusst. Aber ich habe gesehen, dass Voisey auf jemanden wartete. Sagen wir, intelligent geraten«, gab er zur Antwort.
»Sie sind mir gefolgt?« Pitt sah den Mann mit den blauen Augen und den hohen Wangenknochen aufmerksam an.
Kydds Miene wurde ernst. »Mir geht es darum zu erfahren, wer Magnus umgebracht hat. Ich muss wissen, dass es keiner von uns war. Falls doch, mache ich den mit eigenen Händen kalt.«
Die Dinge wurden allmählich klarer. »Sie sind also tatsächlich der Mann aus Landsboroughs Gruppe, der nach Magnus’ Tod die Führung übernommen hat«, sagte Pitt, der sich an das Gespräch erinnerte, in dem Carmody den Namen Kydd genannt hatte.
Unbeeindruckt wiederholte Kydd: »Wer hat Magnus getötet? Haben Sie das noch nicht rausgekriegt? Jemand hat ihn verraten. War es sein Vater?«
»Sein Vater?«
»Er war mehrfach da, um mit ihm zu sprechen. Wollte ihn überreden, seine Überzeugungen über Bord zu werfen und in den Schoß der Gesellschaft zurückzukehren.« Auf Kydds Gesicht lag unverkennbar Belustigung. In seiner Stimme mischte sich Schmerz mit Zorn. Geistesabwesend hob er die Hand und liebkoste das Kätzchen, das nach wie vor auf seiner Schulter lag. »Mite hat Magnus gehört«, sagte er zusammenhanglos. »Er hat sie gerettet … oder ihn. Ich weiß es ehrlich gesagt nicht genau. Bei so jungen Tieren lässt sich das schwer sagen.«
Diese mitfühlende menschliche Handlungsweise ließ den jungen Landsborough mit einem Mal in einem anderen Licht erscheinen. Es zeigte eine Dimension, die weit über den namenlosen Idealismus hinausging. Mit plötzlicher Wut musste Pitt daran denken, dass man ihn einfach deshalb getötet hatte, weil jemand die öffentliche Meinung beeinflussen und ein Klima schaffen wollte, das einer ungeheuerlichen Gesetzgebung günstig war und ihr Vorschub leistete.
»Nein, das war nicht sein Vater«, sagte er mit belegter Stimme. »Dessen einziges Bestreben war es, Magnus zur Umkehr zu bewegen. Getötet hat ihn sein Vetter Piers Denoon. Da man mir gesagt hatte, er halte sich auf dem Lastkahn verborgen, um das Land bei einsetzender Ebbe auf dem Wasserwege zu verlassen, wollte ich ihn festnehmen, bevor ihm die Flucht gelang. Immerhin ist es sehr einfach, von hier flussab zu fahren und den Kanal zu überqueren.«
»Piers?«, fragte Kydd ungläubig. »Wieso hätte er das tun sollen? Das ergibt keinen Sinn. Ich kann es nicht glauben.« Der Blick seiner leuchtenden Augen war hart.
»Weil er Ihre Gruppe mit Geld versorgt hat?«, fragte Pitt.
»Wenn Sie das wissen, ist Ihnen auch klar, warum ich es nicht glauben kann«, hielt ihm Kydd entgegen. »Welchen Grund hätte er haben sollen, Magnus zu töten?« Er löste Mite von seiner Schulter und setzte sich auf den Stuhl.
»Denselben, aus dem er alles andere getan hat, was mit der Anarchie zusammenhängt«, sagte Pitt. »Man hat ihn erpresst. Er konnte es sich nicht erlauben, Nein zu sagen, sonst wäre er ins Gefängnis gekommen. Ich bezweifle, dass er dort lange überlebt hätte.«
»Wir hätten ihm geholfen. Wie Sie schon gesagt haben, es ist nicht schwer, über den Kanal nach Frankreich und von da weiter nach Portugal zu kommen.«
»Vielleicht, wenn es um Anarchie geht. Und was ist mit Vergewaltigung?«
Kydd war wie vor den Kopf geschlagen. »Vergewaltigung!«, wiederholte er. »Vergewaltigung?«
»Vor etwa drei Jahren. Ein Mädchen aus dem Volk. Ich nehme an, er hat sie falsch eingeschätzt. Dennoch war es eine üble Gewalttat, und sie ließe sich noch schlimmer darstellen. Eine junge Frau, die ohne weiteres die Schwester oder Tochter der Art Mann gewesen sein konnte, mit der er es im Gefängnis zu tun bekommen hätte.«
Auf Kydds Gesicht war deutlich zu sehen, dass er nicht verstand, was das zu bedeuten hatte, und flüchtig trat sogar eine Art Mitleid auf seine Züge. »Was werden Sie jetzt tun? Ich nehme an, Sie wissen mit Bestimmtheit, dass er Magnus getötet hat …?«
»Sind Sie nicht selbst davon überzeugt, wenn Sie darüber nachdenken?«, fragte Pitt. »Es musste jemand sein, dem bekannt war, dass Sie das Haus in der Long Spoon Lane aufsuchen würden, denn dort hat er Sie erwartet. Er kannte Magnus und hat keinen einzigen Schuss auf Welling oder Carmody abgegeben. Außerdem hat er sorgfältig darauf geachtet, dass man ihn nicht sehen konnte.«
Kydds Gesicht wurde plötzlich verschlossen. »Also war es Piers. Das ist die einzige Lösung, die einen Sinn ergibt. Der arme Kerl. Ich wollte den Täter unbedingt baumeln sehen, aber jetzt bin ich nicht mehr so sicher.« Erneut legte er die Hand auf das Kätzchen und liebkoste es, was mit einem sofortigen Schnurren belohnt wurde. »Gehen Sie und tun Sie, was Sie zu tun haben. Wenn Sie rauskommen, gleich links, dann entlang der London Road zur Onega-Werft, vorbei am Norway-Dock, bis dahin, wo es in die Brickley Road geht. Damit kommen Sie genau zur Fähre am Anleger von Rotherhithe.« Er stand nicht auf.
Pitt nickte. »Danke.«
»Es ist der Mühe nicht wert, mich hier wieder zu suchen.«
»Ich hatte nicht die Absicht. Wie Sie schon gesagt haben, ich habe etwas wieder gutzumachen.« Er blieb in der Tür stehen. »Vermutlich hatten Sie mit der Sache in der Scarborough Street nichts zu tun?«
Die Verachtung, die Kydd empfand, war nicht zu erkennen, aber er sagte: »Das ist noch einer, den ich gern am Galgen sehen möchte, falls Sie ihn zu fassen kriegen. Deswegen hab ich Sie vor dem Ertrinken bewahrt – ich vermute, Sie sind der Einzige, der einen ernsthaften Versuch in diese Richtung unternimmt.«
Vespasia wollte gerade zu einer späten Abendgesellschaft aufbrechen, als der Butler ihr mitteilte, dass Mr Pitt im Vestibül sei.
»Lassen Sie die Kutsche warten, und führen Sie ihn herein«, gebot sie ohne zu zögern und ging in ihren Salon. Die Vorhänge waren zugezogen, weil es regnete und sie es nicht gern sah, wie sich der Lichtschein in den Tropfen spiegelte, die von den Bäumen herabfielen. Sie war kaum eingetreten, als sie hörte, wie Pitt dem Butler dankte. Im nächsten Augenblick war er da und schloss die Tür hinter sich. Er wirkte bleich und durchgefroren. Sein Haar war vom Regen durchnässt und stand in alle Richtungen ab. Gesicht und Kleidung waren stark verschmutzt.
»Du wolltest gerade ausgehen«, sagte er mit einem Blick auf das herrliche Abendkleid mit den hoch angesetzten Ärmeln und dem taubengrauen Schimmer von Satin unter elfenbeinfarbener Spitze. »Entschuldige bitte.« In seiner Stimme wie auch in seiner Körperhaltung lag eine Entschlossenheit, die ihr klar machte, dass sie unmöglich gehen konnte.
»Das ist jetzt nicht wichtig.« Sie tat die Angelegenheit mit einer winzigen Handbewegung ab, bei der die Diamanten ihrer Ringe aufblitzten. »Soll ich die Köchin bitten, uns etwas zu machen? Du siehst ein bisschen aus wie … ein Pferd nach einem schweren Rennen … das es verloren hat.«
Er lächelte. »Ich habe Grund zu der Annahme, dass ich gewonnen haben könnte. Ja. Es ist mehr die Kälte als Hunger. Ich …« Er hielt inne. Er zitterte.
»Setz dich«, gebot sie. »Und zieh um Gottes willen den Mantel aus!« Sie griff nach der Klingel. Als der Butler kam, trug sie ihm auf, er solle den Kutscher mit einer Entschuldigung schicken, dass sie leider nicht kommen könne. Die Köchin solle eine Mahlzeit für zwei Personen zubereiten und er selbst unverzüglich einen heißen Grog bringen, anschließend Pitts Mantel mit einem feuchten Schwamm säubern und danach zum Trocknen aufhängen.
»So«, sagte sie und setzte sich ihm gegenüber. »Was gibt es, Thomas?«
Er fasste seine Erlebnisse in wenigen Worten zusammen, stellte aber ausführlich dar, was er über Magnus Landsboroughs Tod wusste und was Kydd ihm gesagt hatte. »Es tut mir sehr Leid«, sagte er leise. »Das wird für die Landsboroughs bitter werden, aber ich kann die Sache nicht auf sich beruhen lassen.«
»Natürlich nicht«, stimmte sie zu. Ihre Kehle war wie zugeschnürt, sodass sie kaum schlucken konnte. Sie dachte an Sheridan und gleich darauf an Enid. Die beiden Geschwister waren einander so nahe, und dennoch hatte ihr Sohn den seinen getötet. Wie würden sie darüber hinwegkommen? »Vermutlich hättest du mir nichts davon gesagt, wenn es den geringsten Zweifel gäbe?« Sie meinte das nicht wirklich als Frage, denn ihr war klar, dass all das durchaus einen Sinn ergab, so schrecklich dieser auch war. Wenigstens war Pitt in Sicherheit, auch wenn Voisey nach wie vor lebte und daher eine fortwährende Gefahr bedeutete. »Und dieser Kydd hat also gesagt, dass Magnus’ Vater dort war und versucht hat, ihn von seinen anarchistischen Überzeugungen abzubringen?«
»Ja. Das ist auch ganz natürlich. Bei meinem Sohn hätte ich genauso gehandelt. Kydd hat sich über Magnus achtungsvoll, und ich denke auch, mit Wärme geäußert. Er hat sogar dessen Kätzchen sozusagen adoptiert.«
»Magnus hatte ein Kätzchen?«, fragte Vespasia erstaunt. »Hat er nicht auf Katzenhaare ebenso empfindlich reagiert wie die übrigen Landsboroughs? Da hätte er doch sicher keine Katze gehalten, weil er sonst ständig hätte niesen müssen und kaum Luft bekommen können.«
»Ja«, sagte Pitt. »Ein kleines schwarzes Knäuel. Sie heißt Mite. Sie kann nicht älter gewesen sein als ein paar Wochen.«
»Bestimmt hat dich der Mann belogen, Thomas. Alle Angehörigen der Familie Landsborough haben eine Katzenallergie.«
»Eine solche Lüge scheint keinen Sinn zu ergeben«, sagte Pitt nachdenklich. »Es würde doch keinen Unterschied machen. Bist du sicher?«
»Ich … «, setzte sie an, um zu sagen, dass sie sicher war, dann ging ihr auf, dass es sich um eine bloße Vermutung handelte. Ihr war bekannt, dass Sheridan und Enid keine Katzen in ihrer Nähe dulden konnten, wie auch Piers und, soweit sie wusste, Sheridans und Enids Vater. Vielleicht war Magnus das Leiden erspart geblieben. Er ähnelte seiner Mutter in vielen Dingen mehr als dem Vater – beispielsweise hatte er Cordelias dunkle Hautfarbe. Beim Körperbau konnte man nichts sagen, denn Sheridan wie auch Cordelia waren ziemlich groß. Während er schlank geblieben war, war sie etwas fülliger geworden. Als sie Magnus vor einigen Jahren zuletzt gesehen hatte, schien er den Landsboroughs weder in seiner Hauttönung noch in seinem Gesicht besonders ähnlich zu sein. Sie erinnerte sich lediglich an sein Lächeln und seine kräftigen Zähne.
Dann fiel ihr ein, wo sie einmal sehr flüchtig ein Lächeln ähnlich dem von Magnus gesehen hatte, und ein Dutzend Eindrücke gingen ihr wild durch den Kopf. Dann tauchte ein neuer auf, ein bezeichnender, der an die Stelle der Empfindungen trat, die sie bei jeder Begegnung im Hause Landsborough unter der Oberfläche gespürt hatte: Enids Hass, Cordelias Wut und Sheridans Gleichgültigkeit seiner Frau gegenüber. Sofern sie Recht hatte, ergab das Ganze einen fürchterlichen Sinn, und sogar die Katze passte dazu.
Pitt sah sie abwartend an.
Ihr verschwamm alles im Kopf, und zugleich fühlte sie sich von einem Kummer überwältigt, in den sich deutlich ein Schuldgefühl mischte. Sie war Sheridan mit so viel Zuneigung begegnet, hatte in ihm einen angenehmen Gefährten gefunden, mit ihm lachen können, es war eine Freundschaft gewesen, die in keiner Weise von Pflichten diktiert wurde, bei der keiner etwas erwartete oder einen Vorteil suchte. Beide waren einsam gewesen, hatten sich nach Schönheit gesehnt, nach kleinen Freuden, die man allein nicht wirklich auskosten konnte.
»Was hast du?«, fragte Pitt. Möglicherweise ging es um etwas, das seine Aufmerksamkeit erforderte.
Sie sah ihn an. Überrascht merkte sie, wie leicht es ihr fiel, ihm anzuvertrauen, was sie zu sagen hatte.
»Ich glaube, Cordelia hatte eine Affäre«, teilte sie ihm mit. »Magnus litt nicht an einer Katzenallergie, weil Edward Denoon sein Vater war – und nicht Sheridan Landsborough. Das ist der Grund für den Hass Enids auf ihren Mann und ihre Schwägerin wie auch dafür, dass Sheridan nichts für seine Frau empfindet. Diese Gleichgültigkeit ist die tiefste Kränkung, die sie sich vorstellen kann. Das erklärt alles, was ich schon zuvor halb geahnt und halb verstanden habe.«
Er sagte nichts. Sie sah seinem Gesicht an, dass er überlegte, was diese Enthüllung zu bedeuten hatte, dass er allen Verwicklungen nachging und festzustellen versuchte, ob und inwieweit das den Mordfall in einem anderen Licht erscheinen ließ. War sich Piers Denoon im Klaren darüber gewesen, dass der Mann, den zu erschießen man ihn gezwungen hatte, nicht sein Vetter, sondern sein Halbbruder war? Wenn Wetron das gewusst hatte, war es ihm vermutlich gleichgültig gewesen. Es war lediglich eine weitere parallel verlaufende Tragödie.
»Was wirst du tun?«, fragte sie.
Er wirkte müde. »Das weiß ich noch nicht. Piers Denoon muss festgenommen und unter Anklage gestellt werden, aber vorher müssen wir etwas gegen Tanquerays Gesetzentwurf unternehmen. Das hat im Augenblick Vorrang.« Sein Gesicht war angespannt, seine Haut bleich, und um seine Augen lagen tiefe Schatten. »Es sieht ganz so aus, als ob Voisey gegenwärtig die Oberhand hätte. Er besitzt nach wie vor den Beweis dafür, dass Simbister für den Anschlag in der Scarborough Street verantwortlich ist und zwischen ihm und Wetron eine Beziehung besteht – immer vorausgesetzt, er hat mir die Wahrheit gesagt. Ich wage nicht anzunehmen, dass sich das nicht so verhält.«
»Nein.« Vespasia fühlte sich sonderbar leer. Sie hatte von Anfang an damit gerechnet, dass Voisey Pitt in den Rücken fallen würde, sobald er eine Gelegenheit dazu sah. Wer mit dem Teufel essen wollte, brauchte in der Tat einen sehr langen Löffel. Trotz der reichlichen Erfahrung, die Pitt mit Tragödien und aller Art menschlicher Selbstsucht, Überheblichkeit und Hass hatte, überraschte ihn Bosheit stets aufs Neue. Er sah den Menschen, wo andere, weniger großmütige Naturen nichts als das Verbrechen gesehen hätten. Es war sinnlos, ihm zu sagen, er hätte nicht so vertrauensselig sein dürfen. Wahrscheinlich wusste er das selbst. Und außerdem wollte sie nicht, dass er diesen ganz besonderen Wesenszug einbüßte, der zugleich seine Stärke und seine Schwäche war. »Vielleicht wird es später eine Gelegenheit geben, an ihn zu denken.« Sie lächelte trübselig, aber unendlich sanftmütig. »Doch ich fürchte, dass wir dafür all unsere Vorstellungskraft und Intelligenz zusammennehmen müssen. Bisher weiß Voisey nicht, dass du noch lebst, und er könnte daher morgen so handeln, als wärest du tot.«
»Du meinst den Gesetzentwurf?« Seine Stimme klang etwas gequetscht. »Du meinst, er wechselt ins andere Lager und unterstützt ihn jetzt?«
»Ich an seiner Stelle«, sagte sie langsam, »würde Simbisters Beteiligung am Anschlag in der Scarborough Street öffentlich machen und diesen unübersehbaren Beweis für Korruption dazu benutzen, mich gegen den Gesetzentwurf zu stellen, jedenfalls vorläufig.«
»Und danach?« Sie sah seinen Augen an, dass er die Antwort kannte.
»Wetron ebenso vernichten«, sagte sie. »Dann seine Stelle einnehmen, den alten Inneren Kreis wieder zusammenführen und beherrschen wie zuvor. Wie ich Voisey kenne, wird er grausige Rache an denen üben, die ihn verraten haben.«
Pitt saß reglos da und dachte nach. »Ja.« Auf seinem Gesicht lag eine tiefe Mattigkeit.
Sie schwieg eine Weile. »Er wird dir nie im Leben verzeihen, Thomas«, sagte sie schließlich.
Er hob den Blick. »Das ist mir klar. Ich besitze immer noch das Beweismaterial für die Beteiligung seiner Schwester an der Ermordung des Geistlichen Wray. Ob ich das verwenden soll? In dem Fall bliebe mir aber nichts mehr, womit ich Charlotte schützen könnte. Und das weiß er.«
»Natürlich weiß er das«, bestätigte sie. »Das ist der Haken dabei, wenn man seine letzte Karte ausspielt. Was würde dir danach bleiben?«
Er sah sie mit dem Ausdruck unverhüllter Besorgnis an. Ein kaum wahrnehmbares Lächeln, das seiner eigenen Verletzlichkeit galt, umspielte seine Lippen. »Ich nehme an, dass auch Charlotte es nicht verwenden würde, selbst wenn ich tot auf dem Grund der Themse läge. Sie würde es zurückbehalten, um Daniel und Jemima zu schützen, und auch das ist ihm klar. Ich hatte mich gefragt, warum er keine Angst hatte, mich umbringen zu lassen. Ich hätte daran denken müssen.«
»Es hat keinen Sinn zu überlegen, was man hätte tun sollen und was nicht, mein Bester«, sagte sie. »Wir wollen die Ereignisse des heutigen Abends überschlafen und sehen, was der neue Tag bringt. Ich komme um neun Uhr zu euch, sobald ich die Morgenzeitungen gelesen habe. Jetzt musst du mir gestatten, dass ich dich von meinem Kutscher nach Hause bringen lasse. Bitte widersprich mir da nicht.«
Das tat er allerdings nicht, sondern war dankbar und sagte ihr das auch.
Pitt schlief besser, als er erwartet hatte. Ursprünglich hatte er Charlotte nicht in Einzelheiten berichten wollen, was geschehen war. Nicht nur, weil er sie nicht unnötig ängstigen wollte, sondern auch, weil es ihm peinlich war, dass er Voiseys Worte für bare Münze genommen hatte. Das war töricht gewesen, ganz gleich, wie wahrscheinlich sie geklungen oder wie sehr die Umstände gedrängt haben mochten.
Allerdings erriet sie so viel, dass er ihr die Sache nicht vorenthalten konnte, ohne sie zu belügen. Es erwies sich, dass sie weit mehr Verständnis aufbrachte, als er angenommen hatte. Zu seiner großen Erleichterung kritisierte sie ihn nicht, sondern gab sogar zu, dass sie das Beweismaterial gegen Mrs Cavendish aus genau den von ihm vermuteten Gründen nicht verwendet hätte.
Als er am nächsten Morgen nach unten ging, beschäftigten ihn Familienangelegenheiten, bis die Kinder zur Schule mussten. Dann schlugen er, Charlotte und Gracie die Zeitungen auf. Sie hatten kaum mehr als die Schlagzeilen gelesen, als Vespasia eintraf, bald darauf gefolgt von Tellman und etwas später von Victor Narraway, den Vespasia hinzugebeten hatte. Sie alle machten bedenkliche Gesichter.
Die Times lag aufgeschlagen auf dem Küchentisch, um den sie alle herumsaßen. Auch die übrigen Blätter brachten die Geschichte; sie unterschieden sich lediglich darin, dass sie jeweils andere Aspekte hervorhoben.
Alles war am Vorabend geschehen, rechtzeitig für die Morgenausgabe. Natürlich, dachte Pitt geknickt. Bestimmt hatte Voisey das im Hinblick darauf genauestens geplant. Er konnte nicht zulassen, dass Narraway Zeit für eine Reaktion oder für die Annahme blieb, dass Pitt tot war und daher nicht tätig werden konnte.
Wie es aussah, war Voisey mit dem Beweis für Simbisters Korruption zum Innenminister gegangen. Offenbar hatte er sich entschieden, die Ermordung Magnus Landsboroughs durch Piers Denoon zu verschweigen und die systematische Erpressung kleiner Geschäftsleute, die mit Kleinbeträgen umgingen, wie Wirte, Ladeninhaber und dergleichen, in den Vordergrund gestellt – gewöhnliche Menschen, die den größten Teil der Bevölkerung ausmachten.
Dann war er auf den Sprengstoff im Laderaum der Josephine zu sprechen gekommen und hatte Beweise dafür vorgelegt, dass er von Grover stammte und zwischen diesem und Simbister eine enge Beziehung bestand. Ergänzt hatte er den Bericht um eine dramatische Schilderung des Mordversuchs, den Grover an ihm selbst, Voisey, und einem Beamten des Staatsschutzes verübt hatte, dessen Namen er aus Geheimhaltungsgründen nicht nennen dürfe.
All das las sich sehr spannend. Nicht nur wurde die Empörung über den weitgehenden Machtmissbrauch deutlich, das Ganze war auch mit menschlichen Empfindungen verbrämt. Offensichtlich sollte die Sache an den kommenden Tagen, wenn nicht gar über mehrere Wochen hinweg, weiter ausgesponnen werden. Die Leser würden den Verkäufern die Blätter aus den Händen reißen, um auf keinen Fall etwas zu verpassen.
Auch Denoon brachte die Geschichte in seiner Zeitung, stellte sie aber zurückhaltender dar. Im Vordergrund stand dabei die Frage, wie es zu einer solchen Tragödie hatte kommen können. Dann drückte er seine Vermutung aus, man werde die Erklärung sicherlich bald nachliefern und diesem Treiben ein Ende bereiten, sowie die Überzeugung, dass es sich um einen Einzelfall handele.
Mit alldem aber würde er nicht verhindern können, dass man Tanquerays Gesetzentwurf auf Eis legen würde. Die Vorstellung, ein Mann wie Simbister könne über eine Art bewaffneter Privattruppe mit weitgehenden Vollmachten gebieten, war unerträglich.
»Das wird aber nur ein kurzer Aufschub sein«, sagte Narraway mit finsterer Miene. »Solange niemand einen Beweis dafür liefert, dass auch Wetron in diese Sache verwickelt ist, lässt sie sich als Versagen eines einzelnen korrupten höheren Beamten darstellen, der seine Männer auf einen falschen Weg geführt hat.«
Gracie hatte den Kessel aufgesetzt und stand jetzt mit dem Rücken zum Herd. Sie hatte Tellman einen kurzen Blick zugeworfen und ihm verständnisinnig zugenickt. Die Tassen standen auf dem Küchentisch, daneben ein Krug Milch aus der Speisekammer und die Zuckerschale. Als Dampf aus dem Kessel zu steigen begann, nahm Gracie rasch die Teedose vom Regal.
»Es sieht ganz so aus, als sei Sir Charles wieder ein Held«, sagte Vespasia trocken.
Charlotte, die neben der Anrichte mit dem blau-weißen Porzellan stand, weil sie vor Aufgeregtheit nicht hätte ruhig sitzen bleiben können, stieß ein kurzes Lachen aus. »Ich wünschte, uns würde eine Möglichkeit einfallen, auch diese Sache gegen ihn zu wenden!« Damit bezog sie sich darauf, dass es ihnen seinerzeit gelungen war, Voisey im Zusammenhang mit Mario Corenas Tod zu überlisten.
Narraway sah mit sonderbarem Gesichtsausdruck zu ihr hin. Sein Mienenspiel ließ sich nicht recht deuten. »Ich glaube, diesmal war er gerissener als wir«, sagte er, erst zu ihr und dann zu den anderen gewandt. Sofern er der Ansicht war, Pitt habe Voisey die Gelegenheit dazu gegeben, ließ er sich das nicht anmerken, auch nicht am Ton seiner Stimme. »Ich glaube, er hat sich vom Staatsschutz das Eisen aus dem Feuer holen lassen und ihn dann, als er seinen Augenblick gekommen sah, sozusagen aus dem Rennen geworfen.«
»Aber es muss doch etwas geben, was wir tun können!«, begehrte Charlotte auf. Sie sah von einem zum anderen. »Wenn wir weder Macht noch Waffen haben, können wir die Leute dann nicht wenigstens mit ihren eigenen schlagen?«
Narraway sah sie aufmerksam an. Ein belustigtes Lächeln lag um seine Mundwinkel.
Charlotte sah an Vespasias Augen, dass diese verstand, was sie meinte. Sie war ebenfalls eine Frau und hatte ihren Gedankengang genau erfasst. Wer klug genug ist und den Gegner hinreichend gut kennt, kann seine eigene Schwäche in Stärke verwandeln.
»Wir wollen alles notieren, was wir über die Gegenseite wissen«, sagte sie. »Dabei fällt uns vielleicht die eine oder andere Möglichkeit ein.« Sie sah auf Tellman. »Sie arbeiten doch für Wetron, seit Thomas nicht mehr in der Bow Street ist. Bestimmt ist Ihnen da dies und jenes aufgefallen, und sicherlich haben Sie sich Ihr Urteil über den Mann gebildet. Was ist sein Ziel? Wovor hat er unter Umständen Angst? Gibt es jemanden außer ihm selbst, an dem ihm liegt? Jemand, auf dessen gute Meinung er Wert legt oder sogar angewiesen ist?«
Nachdem sich Tellman von seinem Erstaunen darüber erholt hatte, dass Lady Vespasia ihn um seine Ansicht bat, überlegte er gründlich. Analytisches Vorgehen war nicht die Art, wie er normalerweise Probleme behandelte, und so musste er sich erst ein wenig darauf einstimmen.
Alle warteten. Das Wasser im Kessel begann zu sieden, Gracie goss den Tee auf und stellte die Kanne auf den Tisch, wo er noch eine Weile ziehen musste.
»Macht«, sagte Tellman, unsicher, ob es das war, worauf sie hinauswollte.
»Ist er ruhmsüchtig?«, fragte sie.
Er wusste nicht, was er darauf sagen sollte.
Pitt erwog, für ihn einzuspringen, biss sich dann aber auf die Zunge.
»Möchte er bewundert oder geliebt werden?«, fuhr Vespasia fort.
»Das glaube ich nicht«, gab Tellman zur Antwort. »Ich denke, ihm ist es lieber, wenn die Leute Angst vor ihm haben. Sicherheit ist ihm sehr wichtig, deswegen geht er keine Risiken ein.«
»Ist er tapfer?«, fragte sie leise und mit einem Anflug von Sarkasmus in der Stimme.
Tellman lächelte kaum wahrnehmbar. »Nein, Lady Vespasia, das glaube ich nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er seinen Gegnern offen gegenübertreten möchte.«
Narraway nickte knapp, sagte aber nichts.
»Das könnte uns nützlich sein«, sagte Vespasia und schürzte die Lippen ein wenig. »Feiglinge kann man aus dem Konzept bringen und zu übereiltem Handeln veranlassen, wenn die Zeit knapp ist und sie sich bedroht fühlen.« Sie wandte sich an Pitt. »Ist Sir Charles ebenfalls feige, Thomas?«
Er brauchte nicht lange zu überlegen und sagte: »Nein, Tante Vespasia, er würde dir notfalls von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten. Ehrlich gesagt habe ich den Eindruck, dass es ihm sogar Freude machen würde.«
»Weil er damit rechnet, dass er Sieger bleibt«, sagte Vespasia. »Aber er ist auf Rache aus?«
Alle wussten, dass es sich dabei um eine rhetorische Frage handelte, trotzdem sagte Pitt: »Ja.«
»Weiß Wetron das?«, wandte Vespasia sich erneut an Tellman.
»Ich glaube schon«, gab dieser zur Antwort.
»Falls nicht, könnten wir ihm das mitteilen«, warf Charlotte ein.
Narraway sah sie mit gefurchter Stirn scharf an.
»Wenn das unser Wunsch wäre«, fügte sie rasch hinzu.
Gracie vereinfachte das Ganze mit dem Satz: »Se mein’n, wir woll’n de beid’n auf’nander hetz’n?« Sie goss den Tee ein.
Vespasia lächelte ihr zu. »Bewundernswert knapp zusammengefasst«, sagte sie. »Da wir allem Anschein nach im Unterschied zu den anderen über keine Waffen verfügen, müssen wir uns der ihren bedienen oder ihnen den Sieg gönnen – was mir offen gestanden völlig gegen den Strich geht.«
Narraway sah zuerst auf Pitt, dann auf sie. »Wetron hat ein Netz von Korruption geschaffen, bei dem die Beamten mehrerer Reviere – wir wissen noch nicht genau, wie viele es sind – von einfachen Leuten Geld erpressen. Die Schmutzarbeit überlassen sie Kriminellen wie beispielsweise Taschen-Jones. Mit diesen Einnahmen finanziert Wetron sein Imperium. Unterstützt von Männern wie Edward Denoon und dessen Zeitung, hat er die Stimmung in der Öffentlichkeit so weit hochkochen lassen, dass die Bereitschaft besteht, ja, geradezu der Wunsch, die Polizei mit Schusswaffen auszurüsten und ihre Vollmachten zu erweitern, ohne dass die Möglichkeit eines Missbrauchs ernsthaft erwogen wird. Die Sprengstoffanschläge und Magnus Landsboroughs Ermordung haben dafür gesorgt, dass die Zeit für eine solche Gesetzgebung jetzt reif zu sein scheint.«
Pitt begriff, und er sah, dass Charlotte sowie Vespasia ebenfalls verstanden hatten. Tellman machte ein finsteres Gesicht.
Narraway fuhr fort, wobei er betont nicht zu Charlotte hinsah, als fürchte er, ihr in die Augen zu blicken. »Allem Anschein nach verfügt Voisey über unwiderlegliches Material, mit dessen Hilfe er Wetron vernichten kann, indem er dessen Verbindung mit Simbister und dem Anschlag in der Scarborough Street sowie die Beziehung beweist, die zwischen Piers Denoon und dem Mord an Magnus Landsborough besteht.« Er sah Pitt an. »Das Material besitzt Voisey noch?«
»Ja«, sagte Pitt unglücklich. »Wir haben die Protokolle der Aussagen im Zusammenhang mit den Erpressungen, aber Voisey hat die Beweise für Wetrons Verwicklung in die Geschichte in der Scarborough Street. Zumindest sagt er das.«
»Glauben Sie ihm?«
Pitt zögerte. »Ja.«
Vespasia setzte ihre Tasse ab. »Die Frage ist doch gewiss, ob Wetron es sich leisten kann, ihm nicht zu glauben?«
Narraway nickte anerkennend. »Genau, Lady Vespasia. Falls Wetron das weiß, bleibt ihm keine Wahl, als etwas gegen Voisey zu unternehmen. Ihm ist klar, dass Voisey nicht nur danach lechzt, sich an dem Mann zu rächen, der ihn verdrängt hat, sondern erneut die Führung des Inneren Kreises übernehmen will. Er ist überzeugt, Pitt aus dem Weg geräumt zu haben, und wird sich jetzt Wetron vornehmen, ohne weitere Zeit zu verlieren.«
»Denkbar, dass Wetron das weiß, aber ebenso ist es möglich, dass er es nicht weiß«, gab Pitt zu bedenken. »Unter Umständen arbeitet er darauf hin, dass der Gesetzentwurf im Unterhaus durchkommt. Trotz all seiner gegenteiligen Behauptungen darf man die Möglichkeit nicht von der Hand weisen, dass Voisey das ebenfalls wünscht. Anschließend würde er unauffällig an Wetrons Stelle im Inneren Kreis treten und einen seiner Spießgesellen zu Wetrons Nachfolger in der Bow Street machen. Das gäbe diesem die Möglichkeit, weit unauffälliger mit der Erpressung fortzufahren. Die Anschläge würden aufhören, Anarchisten festgenommen, vor Gericht gestellt und hingerichtet – und das alles würde man in der Öffentlichkeit breittreten. Die Mächtigen wären zufrieden, Voisey würde nicht nur ernten, wo Wetron gesät hat, sondern auch als Held dastehen. Und eines Tages würde er dann das Amt des Premierministers anstreben.«
Tellman hatte bisher nur wenig gesagt. Vespasia sah ihn aufmerksam an, weil ihr bewusst war, dass er als Einziger Wetron die nötigen Hinweise geben und dafür sorgen konnte, dass dieser merkte, wie dringend er handeln musste. Sein angespanntes, eingesunkenes Gesicht zeigte ihr, dass ihm das sehr wohl bewusst war. Vielleicht war ihm auch die damit verbundene Gefahr klar – doch wie stand es um die moralische Seite? Wetron wie Voisey waren rücksichtslose Mörder. Inwieweit wäre jeder der hier in der Küche Anwesenden, der in diesen Rivalitätskampf eingriff, am Ergebnis mitschuldig?
Ein Blick auf Victor Narraways Gesicht zeigte ihr, dass in ihm widerstrebende Empfindungen miteinander kämpften. Der entschlossene Teil seines Wesens, der es gewohnt war, Entscheidungen zu treffen, auch wenn deren Auswirkungen noch so bitter waren, schien im Widerstreit mit etwas unendlich Verletzlichem zu liegen.
Ihr war klar, dass Pitt das ebenfalls merkte. Allerdings hatte sie nicht damit gerechnet, in seinen Augen Verständnis dafür zu sehen, Mitgefühl, als wären er und Narraway einander in gewisser Hinsicht gleich.
Gracie spürte das Unbehagen, das in der Luft lag, sah die Blicke, die getauscht wurden, und bekam Angst. Unwillkürlich wandte sie sich an Tellman. »Sags’ du’s dem, Samuel?« Ihre Stimme klang ein wenig zittrig und unsicher.
Er sah sie liebevoll an, doch lag in seinem Blick keinerlei Zaudern. »Außer mir kommt keiner dafür infrage«, sagte er. »Er wird uns nicht schaden. Ich habe ihm nichts getan – jedenfalls weiß er nichts davon«, fügte er kläglich hinzu.
»Sei nich dumm!«, fuhr sie ihn an. »Der weiß genau, auf welcher Seite du stehs’! Da is es dem egal, ob er ’s beweis’n kann oder nich, der will sich einfach an jemand schadlos halt’n, un da komms’ du ihm grade richtig.« Sie wandte sich an Pitt. »Mr Pitt, Sie müss’n ihm sag’n, dass er’s nich tun soll. Das geht nich. Se könn’n nich …«
»Die Sache ist für alle gefährlich«, unterbrach Narraway sie. »Er ist der Einzige, dem Wetron Glauben schenken wird. Wenn wir nichts unternehmen, würden wir Voisey den Sieg überlassen. Vergessen Sie nicht, dass er sich in dem Fall an dieser Familie rächen wird.« Die umfassende Handbewegung, die er machte, schloss sie mit ein. »Es wird nicht lange dauern, bis er erfährt, dass Pitt noch lebt. Dann wird ihm niemand mehr in den Arm fallen können.«
Gracie funkelte ihn an, doch erstarben ihr die aufbegehrenden Worte auf den Lippen.
»Das wird schon gut«, versicherte ihr Tellman. »Uns bleibt ohnehin keine Wahl. Mr Narraway hat Recht. Wenn wir Voisey so viel Macht überlassen, nimmt er sich als Nächstes uns vor.«
Sie lächelte ihm trübselig zu. In ihrem Blick mischten sich Stolz und Angst. Sie presste die Lippen so fest zusammen, dass man nicht sehen konnte, ob sie zitterten.
Narraway nickte Tellman zu. »Ich kann es Ihnen nicht befehlen, aber wie Sie selbst sagen, sind Sie der Einzige von uns, der es tun kann.«
»Ja, Sir«, bestätigte Tellman.
Vespasia sah zu Narraway hin. »Und wenn Wetron sich Voiseys auf welche Weise auch immer entledigt – oder im Gegenteil Voisey sich seiner entledigt –, was sollen wir dann Ihrer Ansicht nach mit dem tun, der übrig bleibt?«
»Das kommt darauf an, welcher der beiden es ist«, erwiderte er.
»Das ist keine Antwort, Mr Narraway.« Sie sagte das leichthin, aber ihr Blick war hart.
Er lächelte. »Ich weiß.«
Pitt rutschte ein wenig auf seinem Stuhl vor.
Vespasia wandte sich ihm zu. »Thomas?«
»Wetron kann Voisey unmöglich vor Gericht bringen«, sagte er zu ihr gewandt, doch war klar, dass er zu allen sprach. »Er wird einen Weg finden, sich Voisey vom Hals zu schaffen und dabei an seine eigene Sicherheit zu denken. Höchstwahrscheinlich wird das nicht ohne Gewalttätigkeit abgehen.«
Vespasia sah zu Charlotte hin, um die sie sich sorgte, und erkannte die Angst auf ihren Zügen. Dann blickte sie zu Narraway und begriff. Sofern er absichtlich nichts gesagt hatte, lag es an dem weicheren Teil seines Wesens, den sie einen flüchtigen Moment lang gesehen und nicht sofort erkannt hatte.
Narraway forderte Tellman auf, Pitt umgehend Bericht zu erstatten. »Halten Sie sich nicht zurück. Wenn das Mitgefühl Sie packen sollte, denken Sie einfach an die Toten in der Scarborough Street.«
Vespasia sah den Widerwillen auf Tellmans Zügen. »Denken Sie nicht an die Scarborough Street«, sagte sie. »Diesen Menschen kann man nicht mehr helfen; sie sind bereits tot oder verkrüppelt. Denken Sie lieber an die Straße, die als nächste und als übernächste an der Reihe wäre.«
Tellman nahm sich diese Worte zu Herzen, und bald darauf löste sich die kleine Runde auf. Er trat auf die Straße hinaus und ging rasch bis zur Tottenham Court Road. Dort hielt er die erste Droschke an, die er sah, und ließ sich zur Bow Street fahren. Falls er sich Zeit nahm, nachzudenken, würde er möglicherweise die Spontaneität einbüßen, das Hochgefühl, das ihm die Besprechung in der Küche des Hauses in der Keppel Street vermittelt hatte. Ganz davon abgesehen gab es, wie alle sehr richtig gesagt hatten, keine Zeit zu verlieren.
Auf der Wache suchte er nach einer flüchtigen Begrüßung des Diensthabenden Wetrons Zimmer auf. Da er noch unsicher war, ob er wollte, dass andere von seinem Vorhaben erfuhren, hatte er nicht gefragt, ob der Vorgesetzte im Hause sei.
Auf sein Klopfen ertönte ein ungeduldiges ›Herein‹.
Er trat ein. »Guten Morgen, Sir«, sagte er ohne zu zögern und schloss die Tür hinter sich. Seine Stimme war angespannt und eine Spur höher als sonst.
Wetron stand am Fenster. Er wandte sich um und sah Tellman verärgert an. Auf seinem Gesicht mischte sich Besorgnis mit einer Art Siegesgewissheit. »Guten Morgen. Tut mir Leid, was ich über Pitt gehört habe. Konnte den Mann nie ausstehen, aber ich weiß, dass Sie ihm verbunden waren.«
Tellmans Gedanken jagten sich. Offenbar hatte jemand Wetron mitgeteilt, dass Pitt nicht mehr lebte – jetzt schon! Er hatte drei Möglichkeiten: das zu bestreiten, so zu tun, als wisse er selbst schon davon, oder vollständige Unwissenheit zu heucheln. Ihm blieben nur wenige Sekunden, um zu entscheiden, welche davon die für ihn günstigste war. »Sir?« Er versuchte, Zeit zu gewinnen, denn er konnte sich nicht den geringsten Fehler leisten.
»Heute Morgen hat man ihn aus der Themse gezogen«, sagte Wetron und sah ihn mit boshafter Freude an. »Sieht ganz so aus, als ob ihn die Anarchisten erledigt hätten.«
»Ach, das meinen Sie.« Mit einem Mal sah Tellman eine Lösung vor sich. Er hatte die Möglichkeit, das als Waffe zu benutzen. »Sieht mir ganz so aus, als ob sich Mr Simbister wehren wollte. Finden Sie nicht auch? Sozusagen sein letztes Aufbäumen.«
Röte stieg Wetron ins Gesicht. Einen Augenblick lang schien er unsicher. Am liebsten hätte er Tellman angebrüllt, ihn in seinem Schmerz verhöhnt. Dann gewann sein Kalkül die Oberhand; er überlegte, was seinen Zwecken am ehesten dienlich war, und sagte gelassen: »Wollen Sie damit sagen, dass Ihnen Simbisters Korruption bekannt war?«
»Ich weiß, was heute Morgen in den Zeitungen stand, Sir«, gab er zurück. »Über Sir Charles Voisey kann ich mehr sagen.«
»Ach ja?« Wetron hob die Brauen. »Wie kommt das? Mir ist nicht bekannt, dass es zu Ihren Ermittlungsaufträgen gehört hätte, Erkundigungen über Unterhausabgeordnete einzuziehen.«
Ein Schauder überlief Tellman. Wie leicht konnte er jetzt zu viel oder das Falsche sagen, sich zu sicher fühlen. Das war der Augenblick der Wahrheit. »Nein, Sir«, sagte er mit gespielter Schüchternheit. »Ich mache dem Hausmädchen der Pitts den Hof, Sir, und war zufällig heute Morgen da.«
»Dann muss ich annehmen, dass Pitts Tod Sie ziemlich kalt lässt«, sagte Wetron verblüfft. »Sollten Sie Charakterzüge besitzen, die mir unbekannt sind?«
»Ich glaube nicht, Sir. Mr Pitt geht es gut. Ich weiß nicht, wen man aus dem Fluss gezogen hat. Vielleicht einen armen Kerl, der ihm ähnlich sieht. Wenn ich offen sprechen darf, habe ich den Eindruck, dass Sir Charles Ihnen ganz bewusst eine Lüge aufgetischt hat, Sir.« Er entspannte sich ein wenig. »Soweit ich von Mr Pitt und meinen eigenen Beobachtungen weiß, Sir, scheint er Sie nicht besonders gut leiden zu können. Er steckt auch sozusagen hinter der Sache mit Mr Simbister.«
Wetron regte sich nicht. »Wie kommen Sie darauf?«
Jetzt war der richtige Zeitpunkt gekommen, ihm zu sagen, was nötig war, damit Narraways Plan aufging. »Er hat dem Staatsschutz den Hinweis zugespielt, dass Mr Simbister mithilfe von Kriminellen Geld bei den Gastwirten eintreibt, und auch festgestellt, dass das von den Anarchisten verwendete Dynamit auf einem Boot in der Nähe von Shadwell gelagert wurde.«
In Wetrons Augen glitzerte Kälte. Sein Gesicht schien vollständig blutleer zu sein. »Und woher wissen Sie das, Tellman? Das klingt ganz so, als hätten Sie länger für den Staatsschutz gearbeitet als für die Polizei, die Sie bezahlt. Auf welcher Seite stehen Sie eigentlich? Ich hätte es mir doch denken können!«
»Wie ich schon gesagt habe, Sir, ich mache Mr Pitts Hausmädchen den Hof und war zufällig heute Morgen da. Da habe ich es von Mr Pitt selbst gehört. Sir Charles wollte ihn gestern Abend umbringen, hat es aber nicht geschafft.«
»Waren Sie dabei?«, wollte Wetron wissen. Tellman machte ein bekümmertes Gesicht. »Nein, Sir! Ich war hier, ich hatte Dienst!«
»Warum sind Sie zu mir gekommen?«, fragte Wetron. Seine Lippen waren so fest zusammengepresst, dass der Mund aussah wie mit einem Messer ins Gesicht geschnitten.
»Ich möchte, dass die Polizei im richtigen Licht erscheint und die Leute uns nicht für Verbrecher halten, Sir.« Das war glaubwürdig. Er hatte sein ganzes Arbeitsleben bei der Polizei verbracht, und das wusste Wetron. »Ich halte es für richtig, dass Mr Simbister aus dem Dienst entfernt wird. Es sieht ganz so aus, als sei er korrupt. Mr Pitt hat das eine oder andere fallen lassen, und das Übrige kann ich mir zusammenreimen. Sir Charles beabsichtigt auch, Sie aus dem Weg zu räumen, Sir. Danach will er einen seiner Männer hier einsetzen und die Sache auch auf die Bow Street ausdehnen. Das erpresste Geld soll in seine eigene Tasche fließen. Ich bin nicht bereit zuzulassen, dass das in dem Revier geschieht, in dem ich Dienst tue, Sir.«
Er holte tief Luft. »Ich will nicht behaupten, dass ich Sie so gut leiden kann wie Mr Pitt, aber ich will nicht, dass man Sie für etwas über die Klinge springen lässt, womit Sie nichts zu tun haben. So etwas gehört sich nicht. Auf keinen Fall möchte ich, dass ein Polizeibeamter von Sir Charles Voiseys Gnaden Leiter dieser Wache wird.«
»So, so«, sagte Wetron leise. »Und wofür glaubt mich Sir Charles Voisey ›über die Klinge springen‹ lassen zu können?«
»Das weiß ich nicht, Sir.« Jetzt zitterte Tellman, und er spürte einen dicken Kloß im Hals. »Es soll mit Erpressung und mit dem Mord an einem jungen Mann zu tun haben. Er behauptet, dass er ein Dokument hat, mit dem er diese Vorwürfe beweisen kann, die er Ihnen anhängen will.«
Das Schweigen im Raum wurde immer lastender, schien alles in sich aufzusaugen, sodass Tellman den Eindruck hatte, keine Luft mehr zu bekommen.
Wetron sah ihn an. Er bemühte sich, seine Wut zu beherrschen, versuchte, sich zum kühlen Nachdenken zu zwingen. Seine Reaktion auf Tellmans Worte machte deutlich, dass diese Vorwürfe auf Wahrheit beruhten.
Tellman spürte, wie sich sein Inneres immer mehr zusammenkrampfte.
»Das will er also tun?«, sagte Wetron ganz gelassen, aber mit rauer Stimme.
Stockend und seine Worte dehnend stieß Tellman hervor: »Ja-a, Sir. I-ich glaube, e-er hat das von langer Hand geplant. E-er ist schrecklich rachsüchtig. Deshalb hat er mit Mr Pitt zusammen so sehr gegen das Gesetz intrigiert – e-er wollte ihn in eine Falle locken.«
»Aber Sie haben doch gesagt, dass Pitt entkommen ist«, hielt ihm Wetron vor.
Tellman stieß die Luft aus. »Schon, Sir. Aber das war reines Glück. Jemand ist auf dem Fluss vorbeigekommen und hat ihn gerettet.«
»Ein Fehler«, sagte Wetron befriedigt. »Man sollte immer alles selber machen. Nun, wenn Sir Charles meine Position und die Früchte meiner Arbeit will … er kann sie haben! Vorzüglich, Tellman. Wirklich vorzüglich. Ich werde zusehen, dass er sie bekommt – und alles Negative, was damit zusammenhängt.«
Er sah zur Uhr auf dem Kaminsims, griff hastig zum Telefon und führte ein kurzes Gespräch. Dann wandte er sich wieder Tellman zu: »Er ist tatsächlich noch zu Hause. Ausgezeichnet. Genau da, wo er auch das Beweismaterial hat. Ich gehe hin und nehme ihn fest.«
Seine Stimme zitterte ein wenig vor plötzlicher Erregung. »Sagten Sie nicht, er hat Pitt zu ermorden versucht? Bei einem so gewalttätigen Menschen sollte ich dann wohl besser eine Schusswaffe mitnehmen. Womöglich leistet er Widerstand.« Das Lächeln auf seinem Gesicht zeigte eine wilde Freude. »Pitt ist ein Dummkopf, aber dass er bei dem Abenteuer gestern Abend entkommen ist, kann sich unter Umständen als nützlich erweisen. Bestimmt lügt er nicht. Wenn man ihn befragt, wird er sagen, dass Voisey versucht hat, ihn zu töten.« Er trat zu einem Schrank, nahm einen Schlüssel von der Uhrkette, schloss auf, nahm eine Pistole heraus, lud sie und steckte sie ein.
»Sie brauche ich nicht, Tellman«, sagte er und straffte sich. »Das ist eine Angelegenheit zwischen ihm und mir. Sie haben gute Arbeit geleistet.« Hoch aufgerichtet ging er an ihm vorüber zur Tür hinaus. Die Pistole in seiner Jackett-Tasche war nicht zu sehen.
Tellman wartete, bis er fort war, dann eilte er die Treppe hinab und zur Tür hinaus. Pitt wartete in einer Seitengasse einige hundert Meter entfernt. Sie mussten Wetron folgen und ihn genau im richtigen Augenblick packen, bevor er Voisey ermorden konnte. Dann hätten sie einen wie den anderen und obendrein alles Beweismaterial. In ihrem gegenseitigen Hass würden die beiden gegeneinander aussagen.
Er eilte die Straße entlang. Seine Schritte verhallten auf dem Pflaster.