KAPITEL 5

Am selben Vormittag, an dem Pitt die St.-Paul’s-Kathedrale auf suchte, um mit Voisey zusammenzutreffen, rief Charlotte ihre Schwester Emily an und teilte ihr mit, sie würde gern zu ihr kommen, um mit ihr über eine ziemlich wichtige Angelegenheit zu sprechen. Daraufhin sagte Emily der Schneiderin und der Putzmacherin unter Hinweis auf einen wichtigen Termin telefonisch ab und blieb zu Hause.

Sie empfing Charlotte in ihrem Boudoir. Unter einem Gemälde des Schlosses von Bamburgh mit dem Meer im Hintergrund standen ihr Stickrahmen und ein Korb mit Seidengarn in allerlei Farben.

Emily trug ein Morgenkleid aus feinem Seidenmusselin in ihrer Lieblingsfarbe Blassgrün. Genau genommen war es nach der Mode des Vorjahres geschnitten, doch das wäre nur jemandem aufgefallen, der sich intensiv mit derlei Dingen beschäftigte. Solche Menschen waren schon im Bilde, wenn sie sahen, wie ein Rock fiel oder ein Ärmel sich bauschte, wo eine Perle oder eine Schleife angebracht war.

An Emily waren die Jahre nahezu spurlos vorübergegangen. Noch mit Mitte dreißig war sie ausgesprochen schlank – sie hatte nur zwei Kinder geboren und nicht ein halbes Dutzend, wie so manche ihrer Bekannten –, und ihre Haut war von der alabasternen Zartheit der Naturblonden. Auch wenn sie keine wirkliche Schönheit war, besaß sie doch natürliche Eleganz und Charakter. Vor allem aber wusste sie genau, was ihre Erscheinung unterstrich und was nicht. So mied sie alles Auffällige und trug bei wichtigen Anlässen Grau und Violett in allen Schattierungen oder das kühle Grün und Blau des Wassers. Etwas Rotes hätte sie um keinen Preis angezogen – lieber wäre sie erfroren.

Charlotte sah sich wegen ihrer beschränkten finanziellen Mittel zu größerer Bescheidenheit genötigt und hatte sich so manches Mal, wenn sie sich in Gesellschaft begeben musste, entweder von Großtante Vespasia oder von Emily ein Kleid ausleihen müssen. Letzteres war nicht ganz einfach, da sie eine gute halbe Handbreit größer war als ihre Schwester. Auch bei den Farben musste sie wegen ihres warmen Hauttons, der wie Bernstein war, ihrer grauen Augen und ihres wie poliertes Mahagoni glänzenden Haares Kompromisse eingehen.

Diesmal allerdings wollte sich Charlotte lediglich mit Emily unterhalten. Zu diesem Anlass genügte ein graublaues Musselinkleid mit weiten Ärmeln den Ansprüchen.

»Charlotte!« Emily trat ihr in der Tür ihres Boudoirs entgegen, Freude lag auf ihren Zügen. Nach einer flüchtigen Umarmung tat sie einen Schritt zurück. »Was gibt es? Irgendetwas muss passiert sein, sonst würdest du nicht um diese Tageszeit herkommen. Geht es um einen von Thomas’ Fällen?« Ihre Stimme klang eindringlich, fast hoffnungsvoll.

Charlotte musste daran denken, wie oft sie sich beide bei Mordfällen an Pitts Ermittlungen beteiligt hatten. Gewöhnlich war das Tatmotiv Habgier, Machthunger oder die Angst vor Entdeckung gewesen. Sie beide hatten in solchen Situationen Dinge getan, die ihr im Rückblick unbegreiflich erschienen, ohne dass sie sich dessen jedoch schämte. Immerhin hatten sie so manches Mal der Wahrheit zum Sieg verholfen und zumindest für eine Art von Gerechtigkeit gesorgt, doch hatte es auch tragische Fälle gegeben. Ganz wie Emily trauerte auch sie diesen Zeiten nach. Mittlerweile waren solche Abenteuer nicht mehr möglich, denn erfreulicherweise nahm Jack seine Karriere als Politiker inzwischen so ernst, dass sich seine Gattin nicht mehr auf derlei Dinge einlassen konnte. Hinzu kam, dass Pitts Arbeit beim Staatsschutz nicht nur gefährlicher war als seine frühere Tätigkeit bei der Polizei, sie unterlag auch strengerer Geheimhaltung. Es hätte keinen Sinn gehabt, etwas zu bedauern oder sich zu grämen, da diese Wendung unvermeidlich gewesen war.

»In gewisser Hinsicht hat es mit seiner Arbeit zu tun«, antwortete Charlotte auf Emilys Frage. Sie folgte ihr ins Zimmer und setzte sich. »Es geht um den Sprengstoffanschlag der Anarchisten in der Myrdle Street. Du weißt schon, den, bei dem der junge Landsborough ums Leben gekommen ist«, fügte sie hinzu.

Emilys Gesicht verdüsterte sich. »Ist das nicht entsetzlich? Und wie viel Schaden dabei angerichtet worden ist! Sein Tod ist natürlich eine Katastrophe. Trotzdem fragt man sich unwillkürlich, was um Himmels willen er mit solchen Menschen zu tun hatte! Und jetzt versuchen bestimmte Leute im Unterhaus ein Gesetz einzubringen, das der Polizei mehr Waffen geben und es ihr ermöglichen soll, beim kleinsten Anlass Hausdurchsuchungen vorzunehmen. Jack fürchtet, wenn das durchkommt, würden die Leute der Polizei das Leben schwerer machen, statt sie zu unterstützen, womit das Rad um Jahre zurückgedreht würde.« Ihre Augen waren tief umschattet. »Ich weiß nicht, ob die Lage wirklich so schlimm ist, wie er sie hinstellt, jedenfalls lässt er sich durch nichts dazu bringen, seinen Widerstand dagegen aufzugeben.«

Charlotte sah ihre Schwester an, die ungeachtet des Sonnenlichts und der leuchtenden Farben, der Vasen voller Blumen und des Geruchs nach frisch gemähten Gras, der durch das halb offen stehende Fenster hereinwehte, mit verkrampften Händen und besorgter Miene in sich zusammengesunken auf dem eleganten Sofa saß. Sie war unverkennbar voller Beklemmung.

»Du findest es nicht richtig, dass er sich der Sache entgegenstellt?«, fragte Charlotte. Ihrer Ansicht nach hätte Emily nach Jacks vertändelten Jugendjahren eigentlich erleichtert sein müssen, dass er sich offen einer Auseinandersetzung stellte, wenn nicht gar stolz darauf, dass er so entschlossen und zielstrebig geworden war. Immerhin hatte sie lange genug darauf gehofft, dass er die Dinge ernster nahm, und ihn mit vielen guten Worten in diese Richtung gedrängt.

Unwillig verzog Emily den Mund. »Es ist ein hässlicher Kampf!«, stieß sie hervor. »Vielen liegt die Sache sehr am Herzen, weil sie Angst haben. Angst aber macht die Menschen gefährlich. Tanqueray, der das Gesetz mit aller Gewalt durchboxen will, ist eigentlich eine Null; andere haben ihn vorgeschoben. Hinter der Initiative steckt eine mächtige Gruppe, die entschlossen ist, kurzen Prozess mit jedem zu machen, der sich ihr in den Weg stellt.«

Fast hätte Charlotte gelächelt, unterdrückte dann aber den Impuls. Hielt Emily etwa die Auseinandersetzungen, denen sich Pitt immer wieder stellen musste, für ungefährlich? Glaubte sie womöglich, dass er dabei nichts zu verlieren hatte? Wie es aussah, war es für sie das erste Mal, dass sie nachts allein wach im Bett lag, krank vor Angst um jemanden, den sie liebte, und ohne eine Möglichkeit, ihm zu helfen, so sehr sie das auch wünschte. Charlotte kannte das längst, hätte allerdings nicht sagen können, dass sie sich daran gewöhnt hatte. Leicht war es nie.

»Weißt du, wer zu den Befürwortern des Antrags gehört?«, fragte sie. Von den Gefahren wollte sie erst sprechen, wenn sie sicher war, dass sie ihren eigenen Zorn hinlänglich zügeln konnte.

»Ich könnte dir ein Dutzend Namen nennen!«, sagte Emily sogleich. »Einige haben sehr hohe Ämter und würden keine Sekunde zögern, Jack oder jeden anderen ins Messer laufen zu lassen, der ihre Pläne zu durchkreuzen versucht. Was sagt Thomas dazu? Möchte er, dass die Polizei Schusswaffen bekommt? Jack behauptet, dein Mann sei dagegen, aber vielleicht sieht er ja die Dinge nach der Schießerei in der Long Spoon Lane anders.«

Charlotte biss sich auf die Lippe. Eigentlich hatte sie nicht sagen wollen, dass er überhaupt nicht mit ihr über diese Angelegenheit sprach, sie völlig von dieser Sache ausschloss, doch schien es ihr fast unmöglich, das jetzt noch für sich zu behalten. Immerhin verstand sie Emilys Angst nur allzu gut. Auch in dieser Situation mussten sie zusammenhalten.

»Er ist nach wie vor dagegen«, sagte sie leise und sah Emily offen an. »Außerdem beschäftigt ihn irgendetwas weit mehr, als er mir sagt. Ich glaube, das tut er nicht nur wegen der damit verbundenen Gefahr, sondern weil er traurig ist und sich schämt.«

»Weshalb schämt er sich denn?«, fragte Emily überrascht.

»Es hat nichts mit ihm selbst zu tun«, verbesserte sich Charlotte rasch. »Er schämt sich für die Polizei. Er hat gesagt, man erhebe Korruptionsvorwürfe gegen sie, und ich vermute, dass es schlimmer ist, als er zugibt. Er hat so gut wie niemanden, dem er trauen kann.«

»Korruption bei der Polizei!«, stieß Emily hervor. Jetzt war die letzte Spur von Gelassenheit aus ihrem Gesicht verschwunden. »Kein Wunder, dass Jack der Gedanke, ihr Waffen in die Hand zu geben, zuwider ist. Wenn er das im Unterhaus als Argument vortragen könnte …«

»Auf keinen Fall!« Abwehrend hielt ihr Charlotte die erhobene Hand entgegen, als könne sie sie damit zurückhalten. »Vergiss nicht, dass Wetron Leiter der Wache in der Bow Street ist. Wenn zum Beispiel der Innere Kreis hinter der Sache steckt, wäre zwangsläufig auch der eine oder andere Parlamentarier in sie verwickelt.«

Emilys Gesichtsmuskeln spannten sich an. »Die Leute vom Inneren Kreis wollten, dass sich Jack ihnen anschließt. Hast du das gewusst? Er hat abgelehnt.« Sie schluckte. »Manchmal wünschte ich, er säße nicht im Unterhaus. Dann könnte er in aller Seelenruhe und völlig gefahrlos irgendeinen freien Beruf ausüben.« Das Geständnis schien ihr peinlich zu sein, denn Charlotte sah, dass sie sich auf die Lippe biss.

»Wäre es dir tatsächlich lieber, wenn er anders wäre, als er ist?«, fragte sie. Dann lächelte sie halbherzig, als sie an ihre eigene Schwäche denken musste. »Mir geht es übrigens mitunter ebenso. Oft denke ich, wenn Thomas ein einfacher Polizist geblieben wäre und nur tun müsste, was man ihm sagt, hätte er keine Entscheidungen zu treffen brauchen, die anderen nicht recht sind, und er wäre nicht ständig gefährdet. Natürlich wären wir ärmer. Dir würde es nichts ausmachen, wenn Jack es nicht weit gebracht hätte, denn du hast genug geerbt – was aber ist mit Jack? Ihm wäre das bestimmt schrecklich zuwider.«

»Ich weiß, ich weiß«, gab Emily zu und senkte den Blick. »Es spielt ohnehin keine Rolle, wie wir die Dinge gern hätten. Wir müssen uns ihnen stellen, wie sie sind. Im Übrigen widersetzen sich einige gute Leute dem Antrag – Somerset Carlisle gehört selbstverständlich dazu.« Sie nannte ein halbes Dutzend weiterer Namen, jeweils mit einem knappen, bisweilen ein wenig negativ klingenden Kommentar. »Andererseits verlangt eine ganze Anzahl wohlhabender Bürger von den Vertretern ihrer Wahlkreise, sie sollen dafür sorgen, dass auf den Straßen Frieden herrscht und sich jeder zu Hause sicher fühlen kann. Sie sprechen sich für schärfere Gesetze aus und sagen, die Polizei könne nur dann etwas gegen das Verbrechen unternehmen, wenn man ihr die Macht und die Waffen gibt, die sie braucht.« Sie sah Charlotte aufmerksam an. »Einer der schärfsten Gegner des Antrags ist Charles Voisey. Er argumentiert geradezu brillant dagegen, sagt Jack.«

»Oh.« Charlottes Gedanken jagten sich. Sie musste an eine finstere Nacht in Dartmoor denken, in der sie, Gracie und die Kinder mit Tellmans Unterstützung Hals über Kopf aus dem dort gemieteten Häuschen hatten fliehen müssen. Dann kamen ihr lange Abende in Erinnerung, die sie allein in der Keppel Street verbracht hatte, während sich Pitt in Whitechapel aufhielt, ohne dass sie eine Vorstellung gehabt hätte, wann oder ob er zurückkehren würde. Er hatte dort in einer geheimen Wohnung hausen müssen und war auf der Suche nach einem Mörder nächtens im bleichen Schein der Gaslaternen durch die Schatten der dunklen Gassen gezogen. All das war Voiseys Werk gewesen, der Pitt mit einem abgrundtiefen Hass verfolgte. Sie verstand gut, warum er diesen Kampf im Unterhaus führte, und sei es nur, um seinen Widersacher Wetron an der Durchsetzung seiner Ziele zu hindern.

»Er ist nicht unbedingt der Verbündete, den ich mir gewünscht hätte«, sagte Charlotte mit spöttischem Lächeln, »vielleicht aber ist er besser als keiner.«

»Mir wären andere auch lieber.« Emily sah sie aufmerksam an. Offensichtlich empfand sie mit ihrer Schwester, auch wenn sie nicht im Detail wusste, was diese durchlitt, da sie die Geschichte nicht in allen Einzelheiten kannte. »Übrigens ist seine Schwester, Mrs Cavendish, wieder in den Salons aufgetaucht. Es heißt sogar, dass sie noch einmal heiraten wird, und zwar ziemlich gut. Das aber nur nebenbei. Ich will versuchen, mehr über die betreffenden Abgeordneten herauszubekommen. Weißt du, manchmal wünschte ich, wir Frauen hätten das Wahlrecht, dann müssten die Männer mehr auf uns hören.«

»Darauf zu warten können wir uns kaum leisten!«, gab Charlotte zurück. »Wir sollten unbedingt gleich überlegen, auf wessen Hilfe wir bauen können.«

Sie dachten eine Weile nach, machten Vorschläge, die sie teils gleich wieder verwarfen, teils beibehielten. Dies gemeinsame Pläneschmieden, bei dem sie sich ihrer Schwester menschlich verbunden fühlte, hatte Charlotte gefehlt.

Um die Mittagszeit hörten sie Schritte, und einen Augenblick später stand Jack in der Tür. Er war offenkundig überrascht, seine Schwägerin dort anzutreffen. Man sah ihm an, dass er Sorgen hatte.

Emily stand rasch auf. In der Art, wie sie sich ihm zuwandte und ihn begrüßte, lag eine Fürsorglichkeit, die Charlotte nicht an ihr kannte, zugleich aber auch unübersehbare Furcht.

»Wir haben gerade über das Polizeigesetz gesprochen«, sagte Charlotte, um ihre Anwesenheit zu erklären. »Thomas ist davon sehr betroffen.«

»Ich weiß«, sagte Jack. »Er war am frühen Vormittag bei mir. Leider konnte ich ihm keine besonderen Hoffnungen machen.« Er ließ sich im dritten der bequemen Sessel mit den groß geblümten Bezügen nieder, wirkte aber alles andere als entspannt. Etwas schien ihn zu bedrücken, und es sah aus, als beunruhige es ihn, dass Emily nicht allein war.

Emily stand in der Mitte des Raumes. Das Sonnenlicht malte helle Flecke auf den Teppich und das polierte Holz des Dielenbodens um ihn herum. Die späten Tulpen dufteten in der Hitze des Tages betäubend.

»Wir waren gerade dabei, uns zu überlegen, wer im Kampf dagegen hilfreich sein könnte. Da ist uns der eine oder andere Name eingefallen.«

Mit finsterer Miene sagte Jack: »Es wäre mir lieber, du würdest dich da heraushalten. Ich weiß deine Hilfe immer zu schätzen, aber diesmal bitte nicht.« Auf ihr Gesicht trat ein Ausdruck von Zorn und Unbehagen, und er sah, wie sie unwillkürlich eine feindselig wirkende Haltung einnahm. »Das wird kein Spaziergang«, versuchte er zu erklären. »Die Leute haben Angst. Edward Denoon hat alle möglichen Schreckensbilder von Gewalttaten an die Wand gemalt, so, als wäre jeder von uns in Gefahr, einem Sprengstoffanschlag zum Opfer zu fallen, nur weil die Polizei noch nicht weiß, wer diese Anarchisten sind.«

»Man wird sie finden!«, sagte Charlotte eine Spur schärfer, als sie beabsichtigt hatte. In ihren Ohren hatte Jacks Äußerung wie eine Kritik an Pitt geklungen. »Du kannst nicht erwarten, dass ein Mordfall in zwei, drei Tagen aufgeklärt wird.«

Jack sah müde aus, dabei war es erst Mittag. »Nein«, stimmte er matt zu.

Emily war sehr bleich. »Wenn es aussichtslos ist, bei der Sache die Oberhand zu behalten, ruiniere dir deine Karriere nicht damit, dass du es versuchst«, sagte sie und musste schlucken. »Das hat keinen Sinn. Natürlich erwartet niemand, dass du dich für das Gesetz aussprichst, aber du brauchst doch auch nichts dagegen zu sagen. Überlass das Somerset Carlisle und Charles Voisey. Ich verspreche dir auch, dass ich niemanden um Unterstützung bitten werde!«

Er sagte nichts.

»Jack!« Sie tat einen Schritt auf ihn zu. »Jack?«

Charlotte war überrascht und beunruhigt. Zum ersten Mal begriff sie, dass Emily wirklich Angst hatte, und sie fragte sich, wie lange sie selbst schon mit der Furcht lebte, Pitt könne etwas zustoßen. Die Eindringlichkeit, mit der ihre Schwester auf Jack einsprach, ging sicher darauf zurück, dass sie an ein Leben in Sicherheit gewöhnt und ihr diese innere Unruhe bisher erspart geblieben war. Sie sah aber auch seinen Ärger darüber, dass man ihn zwang, etwas zu tun, dem er sich nicht entziehen konnte, so gern er das getan hätte, weil er dessen negative Folgen nicht abzuschätzen vermochte. Ihm war klar, dass der bevorstehende Zusammenprall von Machtgruppen Opfer fordern würde. Genau aus diesem Grund wollte er seine Frau aus der Sache heraushalten.

Charlotte erhob sich und lächelte ihrer Schwester zu. »Eventuell sollten wir das wirklich besser sein lassen.«

Emily gab sich einen Ruck. »Du hast Recht. Vielleicht ist es ja so auch ganz in Ordnung. Die Polizei muss dem Verbrechen Einhalt gebieten. Das will jeder von uns.«

»Darum geht es nicht«, gab Jack zur Antwort. »Es geht um die Art, wie sie das tut. Außerdem ist Anarchie nicht die einzige Art von Verbrechen.«

»Natürlich nicht«, stimmte sie zu. »Überall hört man, dass auch Diebstähle, Einbrüche und Fälle von Brandstiftung zunehmen. Hinzu kommt die Gewalttätigkeit auf den Straßen, ganz zu schweigen von Prostitution, Fälscherei und was weiß ich nicht alles.«

»Das habe ich nicht gemeint.« Er sah unglücklich drein, als wolle er am liebsten gar nicht darüber reden. »Ich muss mich gegen diesen Antrag stellen, Emily. Er geht von falschen Voraussetzungen aus. Er ist …«

»Das musst du nicht!«, sagte sie aufbrausend. »Ihr kommt ohnehin nicht damit durch. Überlass das lieber anderen, zum Beispiel Charles Voisey. Mag er es tun, wenn er das unbedingt will. Falls ihm was passiert, ist das völlig einerlei. Oder Somerset Carlisle, wenn er so leichtsinnig ist, den Kopf dafür hinzuhalten.« Sie tat einen Schritt auf ihn zu. Als sie sich über ihn beugte und nach seinen Jackettaufschlägen griff, brach sich das Sonnenlicht in den Diamanten ihres Ringes. »Bitte, Jack! Du bist zu wertvoll, als dass du deine Karriere im Kampf um eine von vornherein verlorene Sache zugrunde richten dürftest.« Während sie Luft holte, um weiterzureden, fiel er ihr ins Wort: »Das ist noch nicht alles, Emily.« Er nahm ihre Hände und schob sie sanft von sich fort. Seine Stimme klang entschlossen. Der sonst so charmante Mann war unvermittelt von einer Entschlossenheit, die fast kalt wirkte. Charlotte fiel auf, dass auch ein wenig Furcht darin mitschwang. Ihr war nicht klar, ob Emily das ebenfalls merkte. Er fühlte sich verpflichtet, gegen das Gesetz zu kämpfen, obwohl er wusste, dass der Preis dafür sehr hoch sein konnte.

Charlotte trat näher auf ihn zu. »Jack, du hast gesagt, dass das noch nicht alles ist. Was meinst du damit?«

»Bisher denkt man nur darüber nach«, sagte er, doch auf seinem Gesicht lag tiefe Sorge. »Vielleicht kommt es ja auch nicht dazu, aber falls doch, muss ich unbedingt versuchen, den Leuten in den Arm zu fallen.« Er sah erneut Emily an. »Tut mir Leid«, sagte er entschuldigend, »aber mir bleibt keine Wahl. Die Polizei soll das Recht bekommen, Dienstboten auszufragen, ohne dass ihre Herrschaft davon weiß oder die Erlaubnis dazu gegeben hat.«

Emily war verblüfft. »Worum soll es dabei um Gottes willen gehen? Diebesgut? Schusswaffen? Oder was sonst?«

»Das wird niemand wissen.« Das gewohnte entspannte Lächeln trat flüchtig auf sein Gesicht, verschwand aber gleich wieder. »Das ist ja der springende Punkt. Sie können alles fragen! Wer war zu Besuch im Hause, wie viel Geld gibt die Familie aus, wohin hat dich dein Kutscher gefahren, mit wem hast du gesprochen, wem hast du Briefe geschrieben, von wem hast du welche bekommen? Was stand darin?«

Emily schüttelte den Kopf. »Aber warum nur? Welches Interesse könnte die Polizei daran haben?«

Charlotte begriff sogleich, was hinter dieser Ungeheuerlichkeit stand. Allerdings war sie auch mit der Arbeit der Polizei vertrauter und wusste von Pitt, wie groß die Gefahren der Korruption waren. »Das würde der Erpressung Tür und Tor öffnen«, sagte sie leise. Ihr Inneres krampfte sich zusammen. »Wer die richtigen Fragen stellt, kann auf diese Weise Belege für fast jeden Schuldvorwurf finden. Wir würden alle in Angst und Schrecken vor übler Nachrede, Gerüchten und Missverständnissen leben. Es ist widersinnig! Bisher hatten Dienstboten Angst, dass sie keine neue Stelle bekommen, wenn ihr gegenwärtiger Arbeitgeber Schlechtes über sie sagt – und in Zukunft würden wir in Angst vor unseren Dienstboten leben. Eine unzutreffende Behauptung der Polizei gegenüber, und wir würden unseren guten Ruf verlieren. Ein solcher Vorschlag hat doch sicherlich keinerlei Aussicht, Gesetz zu werden, oder?«

Jack wandte sich ihr mit umschatteten Augen zu. »Ich weiß nicht recht. Immerhin wäre eine Menge Macht damit verbunden. Es würde genügen, dass sich ein Polizeibeamter gekränkt fühlt, sich hervortun oder jemandem eins auswischen will. Die Möglichkeiten sind endlos. Anfangs würde man das Gesetz vielleicht wirklich nur in Fällen anwenden, in denen es um den Verdacht der Anarchie oder des Landesverrats geht, dann aber würde man es auf Diebstahl, Unterschlagung oder Betrug ausdehnen und schließlich dazu übergehen, Erpresser selbst zu erpressen. Die Polizei könnte so gut wie alles tun, was in ihrem Belieben steht, weil jeder Bürger verletzlich wäre.«

»Aber wir haben doch nichts zu …«, setzte Emily an. »Verbergen?«, fragte er mit gehobenen Brauen. »Wer sagt denn, dass es dabei um die Wahrheit geht? Was ist mit faulen oder aufsässigen Dienstboten oder mit solchen, die sich über ihre Herrschaft ärgern, solchen, die man bei einem Diebstahl ertappt hat, die trinken oder spielen, ein unerlaubtes Verhältnis haben oder einfach nur auf Geld oder Macht aus sind?« Seine Stimme wurde schärfer. »Gefährlich wären sogar solche, die Angst haben, verliebt sind oder sich leicht beeinflussen lassen. Es könnte auch sein, dass jemand einem Angehörigen helfen will, der in Schwierigkeiten ist oder …«

»Schon gut!«, rief Emily aus. »Ich habe verstanden! Es ist unvorstellbar. Kein Parlament, dessen Mitglieder bei klarem Verstand sind, würde ein solches Gesetz erlassen.«

»So würde man es ja auch nicht formulieren!«, sagte er verzweifelt. »Dem Wortlaut nach ginge es nur um das Recht der Polizei, Dienstboten ohne Wissen der Herrschaften zu befragen. Als Grund dafür würde man anführen, dass man sie auf diese Weise von dem Druck befreien will zu lügen, um ihre Stellung nicht zu gefährden.«

»Geht das nicht jetzt schon?«, fragte Charlotte verwirrt.

»Natürlich kann die Polizei Dienstboten wie jeden anderen Bürger verhören«, gab Jack zur Antwort. »Aber nicht ohne Wissen ihrer Herrschaft. Wenn das Gesetz durchkäme, hätten die Wände im eigenen Hause außer Ohren auch Augen, und das beileibe nicht nur in Küche und Esszimmer, sondern sogar im Schlafzimmer! Die Neuerung liegt darin, dass man die Sache mit der Behauptung verbrämt, man wolle die Bevölkerung vor der Anarchie schützen. In einem solchen Fall müsste die Polizei keine Gründe nennen. Gegenwärtig ist ein begründeter Verdacht nötig, dass ein bestimmter Mensch eine bestimmte Straftat begangen hat, um ihn offen befragen zu können. Künftig würde das insgeheim geschehen und ohne dass man einen Grund brauchte. Die Sache würde ganz harmlos anfangen und immer weiter um sich greifen, ohne dass wir es merkten.«

Emily senkte den Blick. »Ich verstehe. Ja, dagegen musst du dich wohl stellen«, sagte sie resigniert. Offenkundig hatte sie sich mit der Sache abgefunden.

»Wann hast du davon erfahren?«, fragte ihn Charlotte.

»Heute Morgen. Nachdem Thomas mich verlassen hat, um … um seine Dienststelle aufzusuchen, nehme ich an. Ich konnte es ihm also noch nicht sagen. Er muss das unbedingt wissen. Tut mir aufrichtig Leid, ich wollte euch beide nicht damit belasten.« Mit freundlichem Blick, Bedauern in der Miene, wandte er sich Emily zu. »Verstehst du, warum ich es tun muss, ganz gleich, was es mich kostet? Wenn ich nicht davon erfahren hätte, könnte ich mich heraushalten, aber ich weiß es nun einmal.«

»Wer hat es dir gesagt?«, fragte Emily.

»Voisey. Aber es entspricht der Wahrheit. Inzwischen habe ich den Entwurf auch gesehen.«

»Voisey?«, stieß Emily wütend hervor.

Er fasste sie sanft an den Schultern und hielt sie fest. »Es stimmt. Ich werde das weitergeben – wenn nötig, bis zum Premierminister – , bevor ich etwas unternehme, und du darfst mir glauben, niemand in Westminster wäre glücklicher als ich, wenn sich die Sache als blinder Alarm herausstellen sollte – aber das wird es vermutlich nicht. Die Polizeiführung hat diese Vollmacht mit der Begründung verlangt, der Staatsschutz habe sich als unfähig erwiesen, die Gewalttaten der Anarchisten und das zunehmende Verbrechen einzudämmen.« Ein leiser Schauer überlief ihn. »Sie haben erklärt, sie müssten die Möglichkeit haben, notfalls so vorzugehen, um die Bevölkerung zu schützen. Ohnehin wäre die Erteilung der Vollmacht keine große Sache, und man werde nur in den seltensten Fällen Gebrauch davon machen. Doch wenn sie die erst einmal haben, kann ihnen niemand das Handwerk legen, denn es ist nichts vorgesehen, was einen Missbrauch verhindern könnte. Die Lebenserfahrung lehrt uns aber, dass es zum Wesen der Macht gehört, den Menschen zu korrumpieren.«

Emily sah zu Charlotte und dann wieder zu Jack hin. »Von mir aus«, sagte sie zögernd. »Trotzdem habe ich Angst.«

»Mir geht es genauso«, sagte er leise, nahm eine Hand von ihrer Schulter und liebkoste ihre Wange. »Ich habe auch Angst.«


Nach dem Mittagessen ließ sich Charlotte von Jack die Erlaubnis geben, Vespasia zu berichten, was er gesagt hatte. Sie schlug Emilys Angebot aus, sie mit ihrer Kutsche hinbringen zu lassen, da es ihr verlockender erschien, die gut zwei Kilometer im Sonnenschein des Frühsommers zu Fuß zu gehen. Das würde ihr Gelegenheit geben, nicht nur innerlich zur Ruhe zu kommen, sondern auch ihre Gedanken zu ordnen. Raschelnd fuhr ein angenehmer leichter Wind durch das Laub der Bäume, sodass die Blätter wechselnde Schattenmuster auf den Boden malten. In vorüberfahrenden offenen Kutschen saßen nach der letzten Mode gekleidete Frauen, deren Hüte mit Federn, großen Satinschleifen und Rüschen geschmückt waren. Von all dem sah sie so gut wie nichts.

Vespasia, die ein Kleid aus grauvioletter Seide trug, wollte gerade zu einem Nachmittagsbesuch aufbrechen, als Charlotte eintraf. Als sie aber merkte, wie enttäuscht die Jüngere darüber zu sein schien, gab sie ihr Vorhaben auf.

»Was gibt es?«, fragte sie, als sie sich gesetzt hatten. Charlottes Besorgnis war ihr nicht verborgen geblieben. Aus dem stillen Salon fiel der Blick auf den grünen Rasen; im Beet davor bildete eine früh blühende gelbe Kletterrose einen freundlichen Farbfleck.

»Gerade als ich mich mit Emily über den Gesetzentwurf unterhielt, bei dem es darum geht, der Polizei mehr Schusswaffen zu geben und größere Vollmachten einzuräumen«, sagte Charlotte, »ist Jack nach Haus gekommen und hat uns von einer weiteren Entwicklung berichtet, die das Ganze noch viel bedrohlicher erscheinen lässt als zuvor – als ob es nicht schon schlimm genug gewesen wäre.« Der alten Dame gegenüber nahm sie kein Blatt vor den Mund. Nicht nur gab es dazu keinen Anlass; es hätte sie auch angesichts ihrer engen Beziehung nur gekränkt. »Es gibt bereits jetzt viel böses Blut, und es sieht ganz so aus, als ob sich die Sache noch mehr zuspitzen würde, sobald weitere Verbrechen bekannt werden, die über das Alltägliche hinausgehen.«

»Dass es dazu kommen wird, darauf dürfen wir uns verlassen«, sagte Vespasia finster. »Aber wir sind nicht ganz hilflos. Ich habe den Eindruck, dass sich Jack in der Politik mittlerweile recht gut zurechtfindet, und so denke ich, dass er unbedingt auf unserer Seite stehen wird. Auch auf Somerset Carlisle können wir zählen. Er hat stets gegen jede Art von Ungerechtigkeit gekämpft, ganz gleich, was ihn das selbst kosten mochte.«

Charlotte sah, wie sich ein Schatten auf Vespasias Gesicht legte. Sie wartete. Es wäre taktlos, sie nach dem Grund zu fragen. »Früher hätte ich als sicher angenommen, dass sich auch Lord Landsborough mit allem Nachdruck gegen ein solches Gesetz ausspricht«, fuhr Vespasia leise und mit betrübter Stimme fort. »Sein Einfluss hätte genügt, zwei oder drei Minister mit auf unsere Seite zu ziehen. Aber da sein einziger Sohn bei diesem Anschlag ums Leben gekommen ist, ist es denkbar, dass er die Dinge jetzt anders sieht oder sich zumindest veranlasst fühlt, sich aus der Arena herauszuhalten.« Sie runzelte die Stirn. »Aber du hast gesagt, dass es noch schlimmer ist, als du angenommen hattest. Gibt es eine neue Entwicklung?«

»Ja. Zwar ist die Sache, von der Jack gehört hat, wohl noch nicht spruchreif, aber er macht sich die größten Sorgen.« Charlotte konnte die beklemmende Angst in ihrer eigenen Stimme hören. »Die Polizei soll die Möglichkeit bekommen, Dienstboten ohne Wissen oder Erlaubnis ihrer Herrschaft zu befragen.«

Vespasia erstarrte. »Und wonach?«

»Nach allem Möglichen. Niemand würde je etwas davon erfahren, da das insgeheim geschehen würde.« Charlotte sah sie aufmerksam an und erkannte, wie sich allmählich auf Vespasias Zügen abzeichnete, dass sie die Tragweite des Vorhabens erfasst hatte.

»So ein Gesetz hätte doch nie im Leben Aussichten durchzukommen?« Vespasia stieß die Luft langsam aus. »Das wäre geradezu ein Freibrief für Erpressung. Es würde …« Sie sprach nicht weiter. »Vermutlich steckt dahinter nichts weiter als die nackte Angst von Leuten, die sich nicht überlegt haben, welche Folgen das haben würde.« Sie wirkte mit einem Mal müde. »Manchmal kann man sich angesichts der Dummheit der Menschen nur an den Kopf fassen. Jeder, der mit Dienstboten zu tun hat, weiß, dass sie genauso sind wie alle anderen Menschen auch – es gibt gute, schlechte und solche, die weder das eine noch das andere sind. Wie wir alle haben sie ihre Leidenschaften und Eifersüchteleien, sind habgierig und ehrgeizig. Auch kann man sie in seinem eigenen Sinne beeinflussen, genauso, wie sie es bisweilen umgekehrt tun. Manche reden der Herrschaft nach dem Mund, um ihr zu Gefallen zu sein, andere nutzen jede Gelegenheit, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken oder einen Konkurrenten auszustechen.«

»Vielleicht können die Ehefrauen der Abgeordneten ihre Männer davon überzeugen, dass ein solches Gesetz eine ausgemachte Dummheit wäre?«, fragte Charlotte, ohne so recht daran zu glauben. »Ist es nicht sonderbar, was manche Leute tun, wenn sie Angst haben? Aber soweit ich weiß, haben wir einen Verbündeten.«

»Wer soll das sein?«

Trotz der Wärme des vom Sonnenlicht erfüllten Raumes überlief es Charlotte kalt, als sie sagte: »Charles Voisey.«

Mit hochgerecktem Kinn saß Vespasia reglos da. Sie schien in weite Fernen zu blicken. »Aha. Ich frage mich, ob er das aus Liebe zur Freiheit des Bürgers tut oder aus Hass auf die Polizei, die sich für ihn in Hauptkommissar Wetron verkörpert.«

»Bestimmt aus Hass auf Wetron«, gab Charlotte sogleich zurück. »Aber nicht das macht mir Sorge«, erklärte sie, »sondern dass Thomas in die Sache verwickelt ist und damit auf derselben Seite wie Voisey steht. Er hat mir nur sehr wenig darüber gesagt – offen gestanden weicht er mir seit neuestem aus, was ihm überhaupt nicht ähnlich sieht. Ich habe zufällig durch Jack davon erfahren, sonst wüsste ich nicht, in welchem Lager Voisey steht. Ich vergehe vor Angst um Thomas. Ich weiß nicht, ob ihm klar ist, wie sehr Voisey von Hass zerfressen wird.« Sie biss sich auf die Lippe, weil sie den Eindruck hatte, Pitt in gewisser Weise zu verraten, indem sie so offen über die Sache sprach. Sofern sie es aber nicht tat, konnte sie Vespasia auch nicht um Hilfe bitten. Das wiederum war möglicherweise das Einzige, was Pitt vor einer Katastrophe bewahren konnte.

Vespasia nickte bedächtig.

»Ich kenne Menschen wie Voisey«, fuhr Charlotte fort. »Thomas nicht. Seiner Überzeugung nach muss ein Herr aus der feinen Gesellschaft automatisch gewisse Tugenden besitzen und würde sich nie im Leben zu bestimmten niedrigen Verhaltensweisen herablassen. So aber verhält es sich nicht.« Verzweifelt sah sie zu Vespasia hin, die aufmerksam zuhörte. »In seiner Großmut neigt er dazu, in anderen das Gute zu sehen. Ihm ist Hass fremd – jedenfalls die Art von unerbittlichem, die ich in Voiseys Augen gesehen habe, als ihm die Königin den Adelstitel verliehen hat. Der Mann würde alles auf der Welt darum geben, sich dafür an uns rächen zu können.«

Vespasia stieß einen leisen Seufzer aus. »Ich nehme an, dass du keine Vorstellung hast, was Thomas zu tun gedenkt, um Voisey mit in die Sache einzubeziehen?«

»Nein.«

»Dann müssen wir Material finden, das wir gegebenenfalls gegen Voisey verwenden können. Wir wissen nicht genug über ihn. Vielleicht ist es nützlich, wenn wir uns an die Geschichte von David und Goliath erinnern …«

»Ist er denn wirklich ein Goliath?«, fragte Charlotte kläglich. »Gewiss, in der Bibel siegt David, aber im wirklichen Leben ziehen die Davids oft den Kürzeren. Ich nehme an, dass die Geschichte keinen Sinn hätte, wenn es anders wäre.« Mit einem schiefen Lächeln fügte sie hinzu: »Zwar bin ich ziemlich sicher, dass wir den lieben Gott auf unserer Seite haben, doch ist mein Glaube an die Rechtmäßigkeit unserer Sache nicht so unerschütterlich, dass ich mich dem ganzen Heer der Philister mit nichts als einer Schleuder und einer Hand voll Steine entgegenstellen möchte. Ich bin wohl ziemlich kleingläubig, wie? Oder bin ich einfach nicht so anmaßend und eher realistisch?«, scherzte sie, um den peinigenden Schmerz zu übertönen, den sie um Pitts willen empfand.

»Ich beabsichtige den Kampf mit Goliath nicht ganz allein aufzunehmen«, gab Vespasia nicht ohne Schärfe zurück. »Mit meinen Worten habe ich mich auf die Aussage bezogen, dass Goliath eine undurchdringliche Rüstung trug, die seine Schläfen ungeschützt ließ – eine kleine, aber überaus verwundbare Stelle für jemanden, der genau zu zielen versteht. Wo ist Charles Voisey verwundbar? Wir brauchen etwas, worauf wir zielen können.«

»Ich weiß es nicht!«, sagte Charlotte und schluckte. »Entschuldige, aber ich habe das Gefühl, dass meine Angst mit mir durchgeht. Thomas hat der Korruptionsvorwurf gegen die Polizei schrecklich mitgenommen. Zumindest ein Teil der Männer arbeitet in der Bow Street, wo er früher war. Es tut mir weh zu sehen, dass ihm das so nahe geht.«

Vespasia seufzte. »Ich nehme an, dass man mit Korruption rechnen muss, wenn man jemanden wie Wetron in eine solche Stellung bringt. Vermutlich bist du deiner Sache absolut sicher?«

»Nein, aber ich habe gute Gründe, anzunehmen, dass es sich so verhält«, gab Charlotte zur Antwort. »Tellman macht Gracie den Hof …«

Plötzlich lächelte Vespasia mit unverhüllter Freude. »Meine Liebe, dessen bin ich mir durchaus bewusst. Sie wird dir bestimmt sehr fehlen.«

»Unbedingt. Ich weiß gar nicht, wie das Leben bei uns ohne ihre Kommentare zu allem und jedem sein wird. Mir ist die Vorstellung zuwider, eine andere ins Haus nehmen zu müssen, und Daniel und Jemima werden bestimmt todunglücklich sein, aber mir ist klar, dass das Leben für Gracie weitergehen muss.«

»Was hat das Ganze mit der Korruption in der Bow Street zu tun?«

»Gestern Abend wollte Tellman eigentlich mit Gracie ausgehen, hat ihr aber abgesagt«, gab Charlotte zur Antwort, »und gleich für heute Abend mit. Das bedeutet, dass er etwas außerordentlich Wichtiges zu tun hat, das keinen Aufschub duldet. Daraus, dass er ihr keine Erklärung abgegeben hat, haben wir beide geschlossen, dass es etwas ist, was er für Thomas tut – und das kann gegenwärtig nur mit Anarchie und Korruption zu tun haben.«

»Du hast Recht, das klingt plausibel«, nickte Vespasia. »Umso dringender ist es, Voiseys schwache Stelle herauszubekommen. Es muss etwas geben, was ihm wichtig ist, etwas, was er unbedingt haben oder auf keinen Fall verlieren möchte, irgendeine Leidenschaft oder ein Bedürfnis. Und wenn sich Thomas durch sein Ehrgefühl daran gehindert sieht …«

»Das würde er bestimmt.«

»Das vermute ich auch. Aus diesem Grunde schätzen wir beide ihn umso mehr«, sagte Vespasia ohne zu zögern. »Auf jeden Fall müssen wir etwas finden, womit wir ihn schützen können, ganz gleich, ob wir dann später Gebrauch davon machen oder nicht. Was glaubt Voisey deiner Ansicht nach auf diese Weise gewinnen zu können? Geht es einfach nur um Rache an Wetron?«

Charlotte wollte schon sagen, dass sie das vermute, dachte dann aber ein wenig gründlicher nach. »Ich weiß nicht recht. Vielleicht will er Thomas auf irgendeine Weise als Mittel zum Zweck benutzen, um Wetron zu vernichten und dann selbst dessen Stelle einzunehmen? Wir brauchen eine Waffe, nicht wahr? Allerdings hätte ich möglicherweise Angst, sie zu benutzen, wenn ich eine besäße.« Sie sah Vespasia eindringlich an, suchte in ihren Augen verzweifelt nach einer tröstlichen Antwort, die ihre Angst vertreiben konnte.

»Natürlich würdest du sie benutzen«, sagte Vespasia, ohne zu zögern. »Das tut jede Frau, wenn Menschen in Gefahr sind, die sie liebt. Wenn ihr Mann oder ihre Kinder bedroht werden, kämpft sie bis zum Tode und denkt über die Folgen erst nach, wenn sich daran nichts mehr ändern lässt. Und ich zweifle, dass sie es dann bedauern würde. Wie gesagt, wir brauchen eine Waffe. Manchmal genügt schon das Wissen, worin sie bestehen könnte.«

»Meinst du?«, fragte Charlotte zweifelnd. »Oder würde er den Bluff durchschauen?«

»Was für einen Bluff?«, fragte Vespasia freundlich.

Charlotte zog es vor, das Thema zu wechseln. »Es tut mir Leid, dass ich deine Pläne für den Nachmittag durcheinander gebracht habe. Hoffentlich habe ich dir damit keine allzu großen Ungelegenheiten bereitet. Auf jeden Fall bin ich dir wirklich dankbar, dass du dir die Zeit genommen hast, mir zuzuhören. Ich wüsste niemanden außer dir, dem ich mein Herz hätte ausschütten können.«

Vespasia lächelte. Ihr war anzusehen, dass sie sich freute. »Ich hatte nichts Wichtiges zu tun«, sagte sie mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Bitte überleg dir, was du in Bezug auf Voisey tun willst. Da er und Jack hinsichtlich Tanquerays Vorhaben einer Meinung sind, kann es dir niemand übel nehmen, wenn du dich mit ihm beschäftigst. Aber halte ihn keine Sekunde lang für dumm, und nimm auch nicht an, dass er dich unterschätzen wird.« Vespasia erhob sich. »Ich werde mich einmal sehr ausführlich mit dem Thema Anarchie beschäftigen und festzustellen versuchen, warum in aller Welt ein junger Mann wie Magnus Landsborough bereit sein sollte, dafür ein ausgesprochen behagliches Leben aufzugeben.«

Auch Charlotte stand auf. »Ich bin dir wirklich sehr dankbar«, sagte sie leise.

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»Halt bloß den Mund«, sagte Emily eindringlich, als sie und Charlotte sich am Nachmittag auf der Besuchergalerie des Unterhauses niederließen. Die Debatte, in der es um den von Tanqueray eingebrachten Gesetzesantrag gehen sollte, konnte jeden Augenblick beginnen. Um sie herum hörte man das Rascheln von Seide, während sich nach der neuesten Mode gekleidete Damen links und rechts von ihnen niederließen. Emily beugte sich über die Brüstung und flüsterte aufgeregt: »Da ist er.«

Charlotte folgte ihrem Blick, konnte aber Jacks ihr wohlbekannten Kopf nicht sehen. »Wo?«, fragte sie.

»Etwa in der Mitte, gleich in der zweiten Reihe«, gab Emily zur Antwort. »Rötlich-brünett, ungefähr wie ein ausgeblichener Fuchs.«

»Wer?«

»Nicht Jack, Charlotte, Voisey!«, zischte sie.

»Ach so. Und wer ist dieser Tanqueray?«

»Das weiß ich nicht. Er soll um die Mitte vierzig sein; ich habe aber keine Ahnung, wie er aussieht.«

Die Sitzung begann. Der feierlich in seine Amtsgewänder samt Perücke gekleidete Präsident des Unterhauses bat um Ruhe. Der Innenminister sprach zum Thema Anarchisten und allgemeiner Gewalttätigkeit im East End und erklärte, die Regierung habe die Lage sorgfältig geprüft und werde ihr weiteres Vorgehen dementsprechend planen.

Von den gegenüberliegenden Bänken der Opposition wurde gezischt. Einzelne Buh-Rufe ertönten. Nach einigen Augenblicken, in denen sich allgemeines Durcheinander, gegenseitige Schmähungen und Beifall abwechselten, erhob sich ein Mann mit einem ausdruckslosen weichen Gesicht. Das Licht brach sich in seinem dichten Haar, das an den Schläfen langsam weiß wurde.

Der Präsident rief das ehrenwerte Mitglied für den Wahlbezirk Newcastle-under-Lyme auf.

»Das muss Tanqueray sein«, flüsterte Emily ihrer Schwester zu. »Ich weiß, welchen Wahlkreis er vertritt.«

Als Erstes erklärte der Abgeordnete, wie betroffen alle Mitglieder des Unterhauses über den Vorfall in der Myrdle Street seien, bei dem so viele Menschen schwere Verluste erlitten und Todesängste ausgestanden hatten. Dann wandte er sich ganz allgemein dem East End zu und wies darauf hin, dass die Umtriebe der Anarchisten auf ganz London überzugreifen drohten.

»Ehrenwerte Mitglieder des Hauses, wir müssen uns dieser Bedrohung ungesäumt stellen!«, sagte er mit Nachdruck. Alles wartete mit angehaltenem Atem auf seine nächsten Worte. Tanqueray umriss, welche Maßnahmen ihm vorschwebten. Dazu gehörte, dass man jede Polizeiwache mit Schusswaffen ausrüsten solle. Außerdem regte er an, man möge dafür sorgen, dass Streifenbeamte das Recht bekamen, beliebige Passanten auf der Straße anzuhalten und zu durchsuchen und diese Durchsuchung auch auf deren Wohnungen oder Geschäftsräume auszudehnen.

Billigende Zurufe ertönten. Manche der Abgeordneten zollten ihm Beifall, andere riefen: »Hört! Hört!«

Wie erstarrt wartete Charlotte auf den noch weiter gehenden Vorschlag, man solle auch Dienstboten ohne Wissen und Willen ihrer Herrschaft befragen können. Sie warf einen kurzen Blick auf Emily, die ihn mit einem trübseligen Lächeln erwiderte.

Vor ihnen ergriff eine füllige Frau in einem Kleid aus einem leichten Woll-Seide-Gemisch die Hand der jüngeren neben ihr. »Na bitte, meine Liebe«, flüsterte sie tief befriedigt. »Ich habe gleich gewusst, dass man uns beschützen wird.«

Tanqueray legte sein Vorhaben in Einzelheiten dar, wobei er es nicht versäumte, zahlreiche Geschichten von einfachen Leuten einzuflechten, die Opfer von Diebstahl, Brandstiftung und Gewaltandrohung geworden waren. Auf jede einzelne folgten Ausrufe des Mitgefühls oder der Empörung. »Wir müssen tun, was wir können«, schloss er, »es ist unsere Pflicht den Menschen im Lande gegenüber, alles zu unternehmen, wozu wir befugt sind. Lassen Sie mich Ihnen versichern – ich werde in meinen Bemühungen nicht nachlassen, bis unsere Polizei jede erdenkliche Unterstützung bekommen hat und ihr jeder Schutz zuteil wird, den sie bei der Erfüllung ihrer Aufgabe braucht, die darin besteht, die Sicherheit der Bürger zu gewährleisten.«

Als er sich unter brausendem Beifall setzte, bat Jack Radley, von seinem Fraktionsführer unterstützt, um das Wort.

Emily lächelte, doch an der Art, wie sie ihre Hände zu Fäusten ballte, sodass der Stoff ihrer Handschuhe über den Knöcheln spannte, erkannte Charlotte den Grad ihrer Erregung.

»Der geschätzte Kollege spricht davon, wie sehr einfache Leute unter Straftaten leiden«, begann Jack. »Er hat völlig Recht, wenn er sagt, dass man sie schützen muss, sei es in ihrem Privatleben, sei es am Arbeitsplatz. Das zu tun ist die vorrangige Aufgabe der Polizei.«

Zustimmendes Murmeln erhob sich. Tanqueray sah selbstzufrieden drein.

Voiseys Gesicht verfinsterte sich.

»Allerdings dient es meiner Ansicht nach diesem Zweck nicht, wenn wir ihnen das Recht auf Menschenwürde und ungestörtes Privatleben verweigern, das wir ganz selbstverständlich für uns in Anspruch nehmen«, fuhr Jack fort.

Verblüfftes Schweigen trat ein. Verwirrt wandten sich Abgeordnete wie Zuschauer einander zu. Was mochte er damit meinen?

»Sitzt hier irgendjemand, dem es recht wäre, wenn Polizeibeamte seine Wohnung durchsuchten?«, fragte Jack und sah in die Runde. »Wenn sie seine Briefe läsen und seine Habe durchwühlten?«, fuhr er fort. »Womöglich sogar seine Kleidungsstücke und andere persönlichen Gegenstände, sein Schlafzimmer, sein Arbeitszimmer, ja, sogar die Kleider, Unterröcke und Handschuhe seiner Frau, weil sie vermuten, dort könne etwas verborgen sein, was er dem Gesetz nach nicht haben darf?«

Lautstark drückten einige Abgeordnete ihre wütende Ablehnung aus. Sie wandten sich fragend einander zu, als wollten sie sich vergewissern, dass solch abwegige Gedanken unmöglich Unterstützung finden könnten.

Emily stöhnte auf und schloss die Augen. Sie saß mit starren Schultern vorgebeugt da, die Hände im Schoß verkrampft.

Charlotte merkte, dass sie Angst hatte. Ihr war bekannt, dass auf Patronage angewiesen war, wer in der Gesellschaft wie in der Politik Erfolg haben wollte. Man hätte glauben können, Jack, der kurz vor dem Aufstieg stand, für den er so hart gearbeitet hatte, lege es darauf an, sich mit seinen Worten Feinde zu machen.

»Sofern man der Polizei diese Möglichkeit gibt«, fuhr er mit unerbittlicher Offenheit fort, als wolle er sein Schicksal endgültig besiegeln, »was kann sie dann, von nichts als einfacher Neugier getrieben, nicht alles tun? Die Rechnung Ihres Weinlieferanten lesen? Briefe Ihres Schneiders, Ihres Bankiers, Ihres Schwiegervaters … oder gar, Gott behüte – solche Ihrer Geliebten?« Vereinzelt ertönte Lachen, das aber nichts mit Erheiterung, sondern eher mit Hysterie zu tun hatte.

»Und was werden die Dienstboten tun?«, fragte Jack, wobei er betont die Achseln hob.

Emily setzte sich aufrecht hin und reckte den Hals, so weit sie konnte.

»Wenn die Polizei im Haus sämtliche Habseligkeiten aller Bewohner durchsucht, hat die Köchin den Vorwand, den sie schon lange sucht: Sie kündigt!« Das war eine schreckliche Vorstellung, denn wer eine gute Köchin hatte, wollte sie auf keinen Fall verlieren. Häufig hing von ihr ab, welches Ansehen eine Familie in der Gesellschaft genoss.

Stumm zollte Charlotte ihm Beifall. Die Art, wie er die Abgeordneten auf ihr Bedürfnis nach Behaglichkeit und darauf hingewiesen hatte, wie gefährdet ihr Ansehen bei anderen sein konnte, war meisterhaft. Auf beiden Seiten des Hauses erhob sich Gemurmel. Wieder wandten sich entgeisterte Gesichter einander zu.

Jack fuhr fort, kaum dass ein wenig Stille eingetreten war. Ohne das Thema Dienstboten wieder anzusprechen, wies er darauf hin, dass die Polizeibeamten, die überwiegend der Bevölkerungsschicht angehörten, deren Mitglieder man am ehesten auf der Straße anhalten oder durchsuchen würde, bei ihrer Arbeit auf die Unterstützung der Allgemeinheit angewiesen waren. Er lieferte eindrucksvolle Beispiele dafür und erklärte abschließend, seiner Meinung nach beruhe Tanquerays Gesetzesantrag nicht nur auf einer falschen Einschätzung der Lage, sondern schieße auch weit über das Ziel hinaus.

Zwei weitere Abgeordnete unterstützten Tanqueray mit ihren Wortmeldungen, wobei sie teils auf Emotionen, teils auf Vernunftargumente zurückgriffen.

Dann erhob sich Voisey. Völlige Stille trat ein. Die Frau in Schwarz, die neben Charlotte saß, murmelte etwas, das wie Zustimmung klang. Charlotte wusste nicht, ob der Frau im voraus bekannt war, was Voisey sagen würde.

Zuerst lobte er Jack für seine Worte und für seinen Mut, dass er seine Meinung ohne Rücksicht auf die möglichen Folgen vertreten habe. Damit habe er bewiesen, dass er ein Mann unerschütterlicher Grundsätze und nicht auf seinen Eigennutz bedacht sei. Bei diesen Worten warf Emily ihrer Schwester einen wehmütigen Blick zu. Charlotte nickte bestätigend und sah dann wieder auf Voisey. Ganz gleich, was er sagte, sie durfte nie vergessen, dass er ihr Feind war. Sie musste ihn genauestens beobachten, bis sie wusste, an welcher Stelle er verwundbar war, sei es im Privatleben, sei es in seiner Karriere. Es mochte sein, was es wollte: ein Traum, eine Hoffnung, ein Fehler, was auch immer.

Voisey fuhr fort. Ohne weitere Argumente anzuführen, stellte er die Frage, ob es klug sei, den Männern, die tagein, tagaus mit gewalttätigen Mitgliedern der Gesellschaft zu tun hatten, Schusswaffen in die Hand zu geben. War es nicht auf diese Weise letzten Endes möglich, dass Rechtsbrechern, insbesondere Anarchisten, noch mehr Waffen in die Hände fielen? Würde das womöglich in einem offenen Krieg auf der Straße enden, bei dem die eigentlichen Verlierer unschuldige Bürger wären, sei es als Geiseln, sei es als Opfer? Das sei nicht nur schlecht für das Wirtschaftsleben, sondern werde letztlich auch Wählerstimmen kosten. Mit diesem Argument zielte er bewusst auf die niedrigsten Beweggründe seiner Kollegen. Seine Handlungsweise erschien Charlotte in ihrer Verschlagenheit verächtlich, aber sie musste sich eingestehen, dass sie ihre Wirkung nicht verfehlen dürfte. Niemand buhte oder zischte; die Rede wurde mit unruhigem Schweigen aufgenommen.

Charlotte und Emily blieben sitzen, bis sich eine günstige Gelegenheit ergab, unauffällig aufzubrechen. Dann entschuldigten sie sich bei den Umsitzenden, stiegen die Treppen hinab und verließen das Parlamentsgebäude.

»Er opfert seine Karriere für nichts und wieder nichts auf!«, stieß Emily wütend hervor. Damit meinte sie natürlich Jack.

»Findest du etwa, wir sollten nur dann tun, was wir für richtig halten, wenn es uns nichts kostet?«, fragte Charlotte zweifelnd. Sie unternahm nicht den geringsten Versuch, das Entsetzen aus ihrer Stimme herauszuhalten.

Emily funkelte sie an. »Sei doch nicht so blöd!«, fauchte sie. »Ich habe lediglich gesagt, dass es sinnlos ist, ein überflüssiges Opfer zu bringen. Es wäre viel vernünftiger, wenn er sein Pulver trocken hielte, um dann zu schießen, wenn er etwas erlegen kann.« Sie schritt so rasch aus, dass sie fast über ihre eleganten schwarz-weißen Röcke gestolpert wäre und Charlotte Mühe hatte, ihr zu folgen. »In der Politik geht es nicht um große Gesten, sondern darum, wer zum Schluss die Oberhand behält!«, fuhr sie fort. »Er vertritt andere Menschen. Aber die haben ihn nicht gewählt, damit er den Helden spielt, mit großartigen und sinnlosen Gesten herumstolziert und in den Feuerschlund der feindlichen Geschütze hineinreitet, nur weil das tapfer ist und er sein eigenes Gewissen damit beruhigen kann – die haben ihn gewählt, damit er etwas bewirkt.«

»Ich dachte immer, die Wähler erwarten von ihrem Abgeordneten, dass er ihre Ansichten vertritt«, sagte Charlotte, ohne auf den militärischen Vergleich und die Anspielung auf Lord Tennysons berühmtes Gedicht einzugehen.

»Natürlich soll er das, aber doch so, dass dabei ein Ergebnis herauskommt. Sonst könnte das jeder Dummkopf!« Emily ging immer schneller, sodass Charlotte ihren Schritt noch einmal beschleunigen musste, um nicht zurückzubleiben. Die Röcke schlugen ihr wild um die Beine, und fast hätte sie einen jungen Mann umgerannt, der ihr entgegenkam.

»Entschuldigung«, sagte sie.

»Ich nehme an, ich kann nicht erwarten, dass du das verstehst«, spann Emily den Faden fort. »Du warst ja auch nie in dieser Situation.«

»Ich habe mich nicht bei dir entschuldigt!«, stieß Charlotte empört hervor. »Ich habe jemanden angestoßen.«

»Dann pass gefälligst auf, wo du gehst!«

»Glaubst du eigentlich, du hast als Einzige einen Mann, der sich in Gefahr begibt, um zu tun, was er für richtig hält?«, wollte Charlotte wissen. »Wie unglaublich ichsüchtig du bist.«

Emily blieb so unvermittelt stehen, dass zwei Männer, die hinter ihr gingen, alles Geschick aufbieten mussten, um ihr im letzten Augenblick auszuweichen.

»Damit tust du mir Unrecht!«, begehrte sie auf, ohne auf die Männer zu achten.

»Nicht im Geringsten«, gab Charlotte zurück. »Entschuldigung«, sagte sie zu den Männern. »Sie ist überreizt.« Dann wandte sie sich erneut Emily zu. »Falls du dir selbst gegenüber ehrlich wärest – von mir wollen wir gar nicht reden –, würdest du das gar nicht anders wollen. Wenn er sich den Problemen nicht stellte, hättest du nichts für ihn übrig. Schon möglich, dass du ihn nach wie vor liebtest, aber du würdest ihn auch verachten – und diese Art von Liebe ist nicht von langer Dauer.«

Emily machte ein entsetztes Gesicht. Von einem Augenblick auf den anderen war ihre Wut verraucht.

»Tut mir Leid, Charlotte«, sagte sie zerknirscht. »Ich habe so schreckliche Angst, dass er sich fürchterliche Unannehmlichkeiten damit einhandelt und nicht weiß, wie er da wieder herauskommt. Und ich habe keine Ahnung, wie ich ihm helfen könnte.«

Charlotte konnte sich genau vorstellen, was Emily empfand: Hilflosigkeit und Zorn darüber, wie ungerecht es in solchen Situationen zuging. Damit aber hätte sie rechnen müssen. Schließlich wusste sie genau, nach welchen Gesetzen die Gesellschaft funktionierte, und Jack war das ebenfalls bekannt. Er war den Weg gegangen, für den er sich entschieden hatte, weil das seinem Wunsch entsprach – genauso, wie es Pitt schon so oft getan hatte.

»Helfen kannst du ihm nur damit, dass du an ihn glaubst«, sagte Charlotte freundlich. Sie kannte keinen anderen Wunsch, als ihrer Schwester beizustehen. »Sorg dafür, dass er nicht an sich selbst zweifelt, und erweck vor allem nicht den Eindruck, dass du kein Vertrauen in ihn hast, selbst wenn du vor Angst verrückt zu werden glaubst.«

»Machst du das so?«, fragte Emily.

»Mehr oder weniger. Na ja, eigentlich weniger«, gab Charlotte zu. »Ich werde jetzt als Nächstes versuchen, so viel wie möglich über Charles Voisey in Erfahrung zu bringen. Er muss irgendwo verwundbar sein, und ich will feststellen, wo. Ich melde mich bei dir, sobald ich etwas weiß.« Sie lächelte ein wenig, wandte sich um und ging fort.

Es war ihre Absicht gewesen, Voisey aufzuspüren und womöglich sogar mit ihm zu sprechen. Wie sich zeigte, sprach er sie an.

»Guten Tag, Mrs Pitt.«

Sie fuhr herum und sah, dass er einige Schritte hinter ihr stand, ein feines Lächeln auf den Zügen.

»Guten Tag, Sir Charles.« Sie musste sich räuspern. Es ärgerte sie, dass er sie überrumpelt hatte. »Ihre Rede vorhin war sehr eindrucksvoll.«

Seine Augen weiteten sich kaum wahrnehmbar, sodass sie nicht sicher sein durfte, ob sie sich das nur eingebildet hatte. »Nehmen Sie etwa Anteil an der Frage, ob die Polizei bewaffnet sein soll oder nicht, Mrs Pitt? Ihr Mann ist doch jetzt beim Staatsschutz. Da kann er sicher jederzeit eine Schusswaffe tragen, wenn er der Ansicht ist, dass die Situation das erfordert?« Er senkte die Stimme ein wenig. »Wie bei der Belagerung des Hauses in der Long Spoon Lane. Bestimmt waren Sie sehr erleichtert, dass er unverletzt geblieben ist. Unangenehme Sache, das.« Er verzog die Lippen zu einem Lächeln, doch sein Blick war hart und beherrscht, und einen kleinen Augenblick lang brachte er es nicht fertig, seinen Hass zu verbergen.

»Gewiss«, sagte sie, und es gelang ihr, ihre Worte fast neutral klingen zu lassen. »Der Staatsschutz hat nun einmal die Aufgabe, sich mit unangenehmen Dingen und daher zwangsläufig auch mit sehr unangenehmen Menschen herumzuschlagen.« Sie zwang sich zu einem Lächeln, nicht, weil sie annahm, er könne es für aufrichtig halten, sondern um ihm zu zeigen, dass sie über mehr Selbstbeherrschung verfügte als er. »Ich bin so froh, dass Sie es für unklug und überflüssig halten, der Polizei mehr Schusswaffen oder größere Vollmachten zur Durchsuchung von Menschen ohne triftigen Grund zu geben. Sie haben völlig Recht mit Ihrer Überzeugung, dass der Polizei nichts so sehr hilft wie die Unterstützung durch die Bevölkerung. Das dient den Interessen aller.«

Er sah sie aufmerksam an, wollte in ihrem Gesicht lesen, ob hinter ihren Worten eine tiefere Bedeutung lag. Sie sah ihm seine Unsicherheit an. Er hätte gern gewusst, ob Pitt seine Geheimnisse mit ihr teilte.

»Den Interessen aller sicherlich nicht, Mrs Pitt«, sagte er ruhig. »Möglicherweise Ihren und meinen. Aber es gibt Menschen, deren Ehrgeiz in eine andere Richtung zielt.«

»Davon bin ich überzeugt«, stimmte sie zu und zögerte dann. Sollte sie ihn wissen lassen, wie weit sie die Situation durchschaute?

Er sah das und lächelte. »Auf Wiedersehen, Mrs Pitt«, sagte er und schien dabei fröhlich. »Die Begegnung mit Ihnen war mir ein unerwartetes Vergnügen.« Mit diesen Worten ging er rasch davon. Sie hatte das eigenartige Gefühl, im Nachteil zu sein, und ihr blieb die Erinnerung an den Augenblick unverhüllten Hasses, der sich tief in ihr Bewusstsein eingebrannt hatte.


Vespasia zerbrach sich den Kopf auf der Suche nach einem brauchbaren Vorwand für einen erneuten Besuch bei Cordelia Landsborough. Kein auch nur annähernd feinfühliger Mensch suchte von sich aus ein Trauerhaus auf. Nur eins konnte einen solchen Besuch rechtfertigen: Cordelias Wunsch, an der Verwirklichung von Tanquerays Gesetzentwurf mitzuwirken.

Die Kutsche rollte durch stille Wohnstraßen mit eleganten georgianischen Häusern, vor deren Fassaden sich die Bäume mit jungem Laub geschmückt hatten. Nur wenige Menschen waren auf den Gehwegen zu sehen, meist Frauen, die ihren Teint mit Sonnenschirmen schützten und durch deren Röcke raschelnd der Wind fuhr.

Vespasia dachte an Charlotte und an die Angst, die sie in ihrer Stimme gehört hatte, als sie davon gesprochen hatte, es könne sich als notwendig erweisen, gegen Voisey vorzugehen, sofern dieser für Pitt zur Bedrohung wurde. Nicht die Sorge, dabei selbst verletzt zu werden, bereitete ihr Furcht, sondern die Möglichkeit, andere zu verletzen, und das Bewusstsein, dass sie es tun würde.

Mit einem Mal kam Vespasia der Einfall, nach dem sie gesucht hatte. Als sie vor dem Haus der Landsboroughs ausstieg, wusste sie genau, was sie sagen würde, falls Cordelia sie empfing. Sie würde alles tun, um möglichst nicht abgewiesen zu werden.

Wie sich zeigte, war das nicht nötig, denn sie wurde ohne Umschweife durch das schwarz verhängte Vestibül in den Salon geführt. Dort stand Cordelia am Fenster und sah auf den Rasen und die frühen Sommerblumen.

»Wie aufmerksam von Ihnen, so bald wieder zu kommen«, sagte sie. Es klang in keiner Weise unfreundlich oder gar giftig, und auf ihren bleichen, erschöpften Zügen lag kein Hinweis darauf, dass sie nicht meinte, was sie sagte.

Einen Augenblick lang hatte Vespasia Mitleid mit ihr. Auf dem Gesicht dieser herben Schönheit hinterließ der Kummer tiefere Spuren als in weicheren, weiblicheren Gesichtern. Tiefe Linien zogen sich von der Nase zum Mund, und ihre Lippen wirkten blutleer. Ihre von Natur aus tiefschwarzen Brauen sahen über ihren eingesunkenen Augen, unter denen dunkle Schatten lagen, wie offene Wunden aus.

»Man könnte meinen Besuch als zudringlich auffassen«, sagte Vespasia, »aber ich hoffe, dass Sie das nicht tun. Mir geht die Gewalttätigkeit der Anarchisten und der Schrecken, den alle möglichen Menschen vermutlich dabei empfinden, nicht aus dem Kopf. Wir müssen dagegen ankämpfen, und ich bewundere den Mut und die Selbstlosigkeit, mit der Sie das tun, obwohl Sie gerade jetzt einen so schweren Verlust erlitten haben.« Mit der letzten Äußerung war es ihr ernst, denn so wenig sie Cordelia stets hatte leiden können, die ihr gelegentlich grausam und selbstsüchtig erschienen war, war sie doch jetzt voll Bewunderung für die Stärke, die diese Frau an den Tag legte.

Vielleicht hörte Cordelia diese Aufrichtigkeit aus ihren Worten heraus. »Danke«, sagte sie. »Ich weiß zu schätzen, dass Sie meine Gefasstheit nicht als Gleichgültigkeit gegenüber dem Tod meines Sohnes missdeuten.«

»Ich bitte Sie! Der bloße Gedanke wäre widersinnig und für Sie beleidigend«, beeilte sich Vespasia zu sagen. »Man weint seine Tränen im stillen Kämmerlein und nicht vor den Augen der Welt. Ich bin gekommen, weil mir, während ich hin und her überlegt habe, was wir tun könnten, um gegen solche Dinge zu kämpfen, dies und jenes eingefallen ist. Auch ist mir klar, dass wir es uns nicht erlauben können abzuwarten, bis günstigere Umstände eingetreten sind. Wir haben es mit Gegnern zu tun, die nicht uns persönlich feindlich gesinnt sind, sondern der Sache, die wir vertreten. Sie werden nicht zögern, gerade dann zuzuschlagen, wenn sie uns für besonders verwundbar halten.«

Cordelia sah sie neugierig an; das Paradoxe an der Situation entging ihr nicht. »Sie meinen, wir haben Feinde im Unterhaus?«, fragte sie.

»Unbedingt, und zwar aus einer ganzen Reihe von Gründen«, erläuterte Vespasia. »Manche werden einfach die Meinung vertreten, dass es unklug sei, der Polizei mehr Macht einzuräumen, andere werden ihren eigenen Ehrgeiz und ihre Vorlieben in den Vordergrund rücken. Dann gibt es natürlich auch noch die, die solche Situationen dazu nutzen, persönliche Auseinandersetzungen zu führen. Auf keinen Fall dürfen wir zulassen, dass uns irgendeine dieser Gruppierungen in einen Hinterhalt lockt.«

»Einen Hinterhalt?«, sagte Cordelia nachdenklich. Sie schien nicht sicher zu sein, ob es das richtige Wort war. »Ich nehme an, dass Sie einen Plan haben, wie wir uns verteidigen können, wenn Sie sozusagen mit dem Schwert in der Hand hier auftauchen?«

»Ich glaube schon. Aber zu dessen Ausführung ist Ihre Hilfe unerlässlich«, sagte Vespasia, die mit der Absicht gekommen war, möglichst viele Informationen über die Gegenseite zu erlangen. Sie standen so dicht nebeneinander am Fenster, dass sich ihre Röcke berührten. »Ich bin sicher, dass Sie weit mehr wissen als ich, aber ganz davon abgesehen müssen wir zusammenarbeiten.«

Cordelia zögerte. Sie war auf keinen Fall bereit, sich hinters Licht führen zu lassen. Immerhin war dieser Vorschlag angesichts ihrer früheren Beziehung geradezu revolutionär.

Vespasia wartete. Es wäre unklug, rasch vorzugehen, denn dann wäre ihre eigene Verwundbarkeit erkennbar. Ungeachtet ihres Mitgefühls für Cordelia durfte sie sich keineswegs dazu verleiten lassen, das wahre Wesen dieser Frau zu übersehen. Mit schwachem Lächeln fügte sie hinzu: »Zumindest in dieser Sache.«

Cordelia entspannte sich. »Darf ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten?«

»Danke«, antwortete Vespasia, »sehr gern.«

Cordelia betätigte den Klingelzug.

Nachdem sie dem Mädchen Anweisungen gegeben hatte, setzten sich beide und strichen ihre Röcke mit nahezu identischen Bewegungen glatt. Jetzt war der richtige Zeitpunkt für die Ausführung von Vespasias Plan. Sie hatte das Bündnis geschmiedet und musste nunmehr eine rechtfertigende Begründung liefern.

»Die Gegenseite wird unsere Motive in Zweifel ziehen«, begann sie. »Daher müssen wir sicher sein, dass wir unwiderlegliche und nachvollziehbare Gründe haben, und nichts als diese vortragen. Zu weitschweifige Erklärungen würden wie eine Entschuldigung wirken.«

Cordelia schien von diesen Worten nicht beeindruckt zu sein.

»Man wird keine Möglichkeit haben, Sie oder Mr Denoon zu kritisieren.« Vespasia gab sich die größte Mühe, ihre Stimme nicht ungeduldig klingen zu lassen. »Und möglicherweise auch nicht Mr Tanqueray, obwohl ich über ihn nicht genug informiert bin, als dass ich meiner Sache in Bezug auf ihn sicher sein könnte. Wie aber sieht es mit unseren anderen Verbündeten aus? Es ist ganz klar, dass man als Ersten immer den verwundbarsten Gegner herausgreift und später einen nach dem anderen von denen aufs Korn nimmt, die ihn unterstützen.«

Plötzlich erhellte sich Cordelias Gesicht. »Natürlich«, bestätigte sie. »Und das funktioniert auch umgekehrt. Wir sind also gut beraten, wenn wir festzustellen versuchen, wer unsere Gegner sind.«

Vespasia gelang es, ihre Augen, ihre Stimme und auch die Hände zu beherrschen, die scheinbar gelöst in ihrem Schoß lagen. Ihr war klar, dass sie ein gefährliches Spiel spielte. »Genau so ist es«, stimmte sie zu. »Einer von ihnen dürfte Somerset Carlisle sein. Er ist etwas exzentrisch, aber beliebt«, erklärte sie. »Manche haben ihn zu verleumden versucht, damit aber nicht viel Erfolg gehabt. Außerdem dürfte da wohl Jack Radley sein. Er ist mit meiner Familie von ferne verschwägert, spielt im Unterhaus aber so gut wie keine Rolle. Ich nehme an, dass man es für eine Verzweiflungstat halten würde, wenn ihn jemand angriffe, und wir wollen ja wohl weder boshaft erscheinen noch den Eindruck erwecken, wir hätten es nötig, zu verzweifelten Mitteln zu greifen.«

»Diese Männer scheinen in der Tat belanglos zu sein«, gab ihr Cordelia Recht. »Gibt es jemanden, um den wir uns Sorgen machen müssten?« In ihren Augen lag zwar eine leichte Belustigung, aber sie hörte zu. Ihr war klar, dass Vespasia ohne etwas Handfestes nicht gekommen wäre.

»Sir Charles Voisey hat weit mehr Einfluss, als man auf den ersten Blick annehmen sollte«, sagte Vespasia. Sie hoffte, dass es kein falscher Schachzug war, Cordelias Aufmerksamkeit auf ihn zu lenken.

Cordelias schwarze Brauen hoben sich fragend. »Tatsächlich? Ich habe von ihm zum ersten Mal im Zusammenhang mit der merkwürdigen Republikaner-Geschichte gehört, als er den seltsamen Italiener erschossen und damit, wie es aussieht, unsere Königin gerettet hat. Ich habe nie so recht gewusst, was ich von der Sache glauben soll und was nicht.«

Vespasia spürte, wie ihr Herzschlag aussetzte, denn ›der seltsame Italiener‹, von dem Cordelia so herablassend sprach, war Mario Corena, Vespasias große Liebe, gewesen, und der Verlust schmerzte sie wie am ersten Tag.

Außerstande, Cordelia in die Augen zu sehen, senkte Vespasia den Blick auf die Hände, die in ihrem Schoß ruhten. »Voisey hat Verbindungen bis in die allerhöchsten Kreise«, sagte sie gefasst, »Freunde und Feinde an vielen Orten. Sie wissen ja, wie das ist. Männer gehen Verpflichtungen ein und erfahren dabei dies und jenes.«

»Sie meinen …«, setzte Cordelia an.

Sie konnte ihren Satz nicht zu Ende sprechen, da das Mädchen hereinkam und ihr mitteilte, das Ehepaar Denoon sei eingetroffen. Sie wollte wissen, ob sie sie im Damenzimmer warten lassen oder in den Salon führen sollte.

Cordelia blieb nichts anderes übrig, als Schwager und Schwägerin zu empfangen. Sie unterdrückte die Enttäuschung darüber, dass ihre Unterhaltung mit Vespasia auf diese Weise unterbrochen wurde, und sagte dem Mädchen, sie solle Mr und Mrs Denoon hereinführen.

Selbstverständlich trug auch Enid Trauer, hatte aber das Schwarz durch eine außergewöhnlich schöne Kamee, die sie an einem Samtband um den Hals trug, ein wenig aufgehellt. Da sie blond war, wirkte sie ganz von selbst lebensfroher als die schwarzhaarige Cordelia. Während Vespasias Anwesenheit sie nur leicht zu verblüffen schien, trat Denoon Vespasia mit finsterer Miene gegenüber. Zwar wahrte er die Formen der Höflichkeit, unternahm aber nicht den geringsten Versuch, den Eindruck zu erwecken, als freue er sich, im Kreis der Familie eine Außenstehende vorzufinden.

Cordelia machte sich sogleich daran, die Situation zu erklären, und sagte, als die Begrüßung vorüber war, ohne lange Vorrede: »Lady Vespasia liegen unsere Interessen sehr am Herzen. Gerade hat sie mich darauf hingewiesen, wie wichtig es ist, dass wir uns nicht nur selbst vor politisch motivierten Angriffen schützen, sondern auch unsere Verbündeten.«

»Sehr aufmerksam von Ihnen, Lady Vespasia, aber ganz und gar unnötig«, bemerkte Denoon kalt. Auf seinem Gesicht lag unübersehbar Selbstgefälligkeit. »Ich bin über diese Dinge bestens auf dem Laufenden. Ein Einfaltspinsel kann nicht gut Herausgeber einer Zeitung sein.«

Angesichts dieses ungehobelten Ausfalls fuhr Cordelia auf, vielleicht, weil sie Vespasias Hilfe wünschte. »Wenn dir Charles Voiseys geheime Verbindungen bekannt sind, hättest du mir ruhig etwas davon sagen können«, sagte sie eisig.

Denoon erstarrte. »Was ist mit Voisey?«

Vespasia sah, wie sich seine Nackenmuskeln spannten und er seine Körperhaltung ein wenig änderte. Zwar hatte sie gewusst, dass er auf Wetrons Seite stand, doch ging ihr in diesem Augenblick auf, dass er wohl auch dem Inneren Kreis angehörte und daher über die Rolle im Bilde war, die Voisey dort gespielt hatte, bevor es zum Bruch gekommen war. Um solche Dinge zu erfahren, war sie in das Trauerhaus gekommen.

»Nun«, sagte sie mit nahezu ausdruckslosem Gesicht. »Bekanntlich spricht er sich gegen den Gesetzesantrag aus, und alles deutet darauf hin, dass er entschlossen ist, seinem Standpunkt mit gewissem Nachdruck Geltung zu verschaffen.«

»Woher wissen Sie das?«, fragte er herausfordernd.

Sie hob leicht die Brauen. »Wie bitte?«

»Woher wissen …?« Er hielt inne.

Enid ergriff das Wort. »Ist er etwa ein Befürworter der Anarchie?«, fragte sie und nieste dann heftig. »Entschuldigung.« Sie suchte in ihrem Ridikül nach einem Taschentuch. Ihre hellen, blassen Augen begannen zu tränen.

Vespasia war höflich genug, so zu tun, als habe sie nichts bemerkt. »Ich glaube nicht«, gab sie zur Antwort. »Eine solche Haltung könnte er sich unmöglich leisten. Ich nehme an, er wird sagen, dass die Polizei bereits genug Schusswaffen besitzt und Angaben über das Treiben umstürzlerischer Gruppen weit wertvoller sein würden als die Vollmacht, Menschen nach Gutdünken zu durchsuchen, und dass die Polizei höchstwahrscheinlich keine Unterstützung von der Bevölkerung erwarten dürfe, wenn sie die Menschen schikaniert und ihre Macht missbraucht.«

Enid nieste erneut. Es sah ganz so aus, als sei bei ihr eine Erkältung im Anzug. Ihre Augenlider waren gerötet.

»Haltlose Behauptungen«, tat Denoon ihre Worte ungeduldig ab. »Wenn die Polizei die Vollmachten hätte, um die Angaben zu bekommen, von denen Sie sprechen, hätte sie den Anschlag in der Myrdle Street verhindert. Das liegt ja wohl auf der Hand.«

Vespasia zögerte. Ein Hinweis darauf, dass die Polizei trotz Schusswaffen und Durchsuchungen Magnus Landsboroughs Beteiligung an dem Anschlag nicht entdeckt hätte, wäre unnötig grausam und könnte sie dem Verdacht aussetzen, Voiseys Position zu verteidigen. Bei dem Spiel, das sie spielte, ging es nicht nur um Fakten, sondern auch um Emotionen.

»Ich bin weder eine Fürsprecherin Sir Charles’, noch vertrete ich seinen Standpunkt, Mr Denoon«, sagte sie sanft und mit einer Andeutung von Herablassung. »Ich will lediglich darauf hinweisen, dass das, was er im Unterhaus vorträgt oder möglicherweise in Zeitungen von sich gibt, den Eindruck erweckt, vernünftig zu sein. Ich bin mit der Absicht hergekommen, Sie darauf aufmerksam zu machen, dass er Mr Tanquerays Gesetzesvorlage mit größter Wahrscheinlichkeit scharf bekämpfen wird.«

Denoon stieß leise die Luft aus. »Ja, natürlich«, sagte er etwas ruhiger. »Wissen Sie, ob ihn das Thema aus persönlichen oder aus politischen Gründen interessiert?« Er tat so, als betrachte er sie gleichmütig, war aber erkennbar voll angespannter Aufmerksamkeit.

Enid, die sich inzwischen auf dem großen Sofa niedergelassen hatte, nieste erneut und stand auf. Ihre Augenlider wirkten geschwollen.

Vespasia hob mit einer eleganten und weitläufigen Bewegung ein wenig die Schultern. »Ich habe nicht die geringste Ahnung«, log sie.

Ungehalten sagte Cordelia: »Wahrscheinlich beides. Es ist nicht zu übersehen, dass der Mann vor Ehrgeiz förmlich platzt.« Sie sah zu ihrer Schwägerin hin. »Setz dich lieber da in den Sessel«, bot sie ihr an. »Edward, würdest du bitte das Fenster öffnen?« Sie sagte das im Befehlston, wie man einem Dienstboten eine Anweisung erteilt, bei dem man nicht im Entferntesten auf den Gedanken kommt, er könne nicht gehorchen.

Mit finsterer Miene sah er sie an, ohne sich vom Fleck zu rühren.

»Enid leidet unter den Katzenhaaren!«, fuhr sie ihn an. »Du weißt doch, dass sie gegen Katzen allergisch ist! Dem armen Sheridan geht es genauso. Ich habe strenge Anweisung gegeben, dass das Vieh im Dienstbotentrakt bleiben soll, aber irgendwie muss es hier reingekommen sein und hat wohl einige Haare hinterlassen. Ich habe es heute Morgen hinausgescheucht.«

Widerwillig ging Denoon zum Fenster und öffnete es unnötig weit, sodass die kühle Luft und der Geruch nach frisch gemähtem feuchtem Gras hereinkamen.

»Danke«, sagte Enid und nieste erneut. »Entschuldigung«, wandte sie sich an Vespasia. »Ich mag Katzen – sie sind ja auch sehr nützlich –, aber wir können keine im Hause halten. Piers und ich sind in dieser Hinsicht sehr empfindlich. Ein Leiden unserer ganzen Familie – bei Sheridan ist es ebenso.« Diese letzte Bemerkung richtete sie an Cordelia.

»Genau deswegen darf das Vieh den Dienstbotentrakt ja nicht verlassen«, erläuterte diese. »Sheridan geht nie dorthin.«

»Wo ist er überhaupt?«, fragte Denoon. »Wird er heute Nachmittag zu Hause sein? Seine Unterstützung in dieser Sache würde uns sehr nützen. Wenn er in der Angelegenheit das Wort ergreift, wird das größeren Eindruck machen als bei jedem anderen. Er würde der Sache Gesicht verleihen. Sofern er sich dazu entschließen könnte, seinen üblichen liberalen Standpunkt einmal aufzugeben, würde das mehr Menschen auf unsere Seite ziehen als alles andere, was ich mir denken könnte.«

»Natürlich kommt er«, sagte Cordelia. »Er hat sich verspätet!« Auf ihren Zügen mischte sich Ärger mit Geringschätzung.

»Ich denke, wir sollten zunächst ohne ihn fortfahren. Du kannst ihn ja von unseren Plänen in Kenntnis setzen, sobald er da ist.«

Vespasia, die sich ein wenig beiseite gedreht hatte, sah, dass Enid ihren Mann mit unversöhnlichem Hass im Blick anstarrte. Einen Moment später war es vorüber, und Vespasia fragte sich, ob sie es sich eingebildet oder das wechselnde Spiel des Lichts, das durch das Fenster hereinfiel, sie getäuscht hatte.

Im Vestibül hörte man Schritte und Stimmen. Dann wurde die Tür zum Salon geöffnet, und Sheridan Landsborough kam herein. Er sah sich um und begrüßte alle Anwesenden – Vespasia mit offenkundiger Überraschung und Freude –, ohne sich aber für sein Zuspätkommen zu entschuldigen. Es war, als sei ihm nicht bewusst, dass man ihn erwartet hatte. Auf seinem bleichen Gesicht lag Kummer, und seine Augen wirkten glanzlos. Enid sah ihn mit so tiefer Empfindung an, als dränge ein körperlicher Schmerz sie förmlich zu ihm hin, doch sie konnte ihm keinerlei Trost spenden. Seine Trauer entrückte ihn, und das verstand sie.

An Cordelia war nichts von dieser Wärme zu spüren. Wie so oft in solchen Fällen schien der Verlust die beiden weiter voneinander entfernt, statt einander näher gebracht zu haben. Jeder von ihnen gab sich seinem Schmerz auf seine eigene Weise hin: Sie war voll Wut, während er sich von der Außenwelt noch stärker zurückzog als sonst.

Denoon verhielt sich, als gehe ihn das alles nichts an. »Wir reden gerade darüber, wie wir Tanquerays Gesetzesantrag am besten fördern können«, sagte er zu Landsborough. »Lady Vespasia ist, wie es aussieht, überzeugt, dass man Charles Voisey in dieser Sache als Gegner ernst nehmen muss.«

Landsborough sah ihn nur mäßig interessiert an. »Tatsächlich?«

»Großer Gott, Sheridan«, sagte Cordelia mit finsterem Gesicht. »Wir müssen die Sache mit aller Kraft unterstützen, solange der ungeheuerliche Vorfall noch in allen Köpfen lebendig ist. Die Leute warten nicht, bis wir über unsere Trauer hinweggekommen sind.«

»So ist es«, gab ihr Denoon Recht, die Augen auf Landsborough gerichtet. »Du kennst Voisey doch bestimmt. Welche Schwächen hat er? Wo ist er verletzlich? Wenn ich Lady Vespasia richtig verstanden habe, muss man damit rechnen, dass er große Schwierigkeiten macht, auch wenn ich selbst nicht begreife, welchen Grund er dafür haben sollte.«

»Er dürfte wohl gegen den Antrag stimmen«, sagte Landsborough freundlich. Er setzte sich nicht. Es sah fast so aus, als wolle er die Möglichkeit haben, den Raum jeden Augenblick wieder zu verlassen. »Soweit ich gehört habe, vertritt er die Ansicht, dass Mäßigung bei einer Reform, die unerlässlich ist, wenn wir in der Gesellschaft weiterhin Frieden haben wollen, größere Erfolgsaussichten verspricht als ein hartes Vorgehen.«

»Der Mann ist Opportunist«, gab Denoon kalt zurück. »Du bist nicht realistisch, Sheridan, Du denkst zu gut von den Menschen.«

Aufgebracht sagte Vespasia: »Sehen Sie das wirklich so?«

»Meiner Überzeugung nach dient, was Voisey über eine friedliche Reform sagt, ausschließlich seinen eigenen Zwecken«, gab Denoon in einem Ton zur Antwort, der erkennen ließ, dass das eigentlich selbst einem Menschen wie ihr klar sein müsste.

»Gewiss«, gab sie zurück. »Aber darum geht es nicht. Für uns ist ausschließlich wichtig, was er sagen wird, nicht, was er denkt.«

Denoon lief tief dunkelrot an. Der Anflug eines Lächelns umspielte Cordelias Mund. »Ich hatte ganz vergessen, wie direkt Sie sein können, Vespasia«, sagte sie, und es klang fast vergnügt.

»Oder wie klug Sie sind«, fügte Landsborough hinzu.

Vespasia quittierte seine Bemerkung mit einem leichten Lächeln.

»Dann lassen Sie mich doch um Gottes willen in den Genuss Ihrer Ansichten kommen«, sagte Denoon missmutig.

Cordelia funkelte ihn an. »Ich hoffe sehr, dass Lady Vespasia mehr tun wird, als uns nur ihre Ansichten mitzuteilen. Da sie in Bezug auf die Dringlichkeit und die Ernsthaftigkeit eines Vorgehens gegen die Gewalttaten hierzulande unsere Meinung teilt und ebenso wie wir findet, dass man etwas unternehmen muss, damit die Polizei Mittel dafür in die Hände bekommt, bevor die Flut der Zerstörung über uns zusammenschlägt, kann ihr Handeln von großem Nutzen sein.«

Einen Augenblick lang sah man Denoons Gesicht an, wie schwer es ihm fiel, seine Überheblichkeit zu zügeln. Dann hatte er sich im Griff und wandte sich an Vespasia: »Das wäre großartig. Mir ist bewusst, dass Sie in der Gesellschaft beträchtlichen Einfluss haben, und das möglicherweise bei Menschen, auf deren Unterstützung wir angewiesen sind. Ich brauche wohl nicht zu betonen, dass es für uns unschätzbar wäre, wenn Sie diesen Einfluss geltend machen könnten.«

Das Mädchen brachte Tee, und die Unterhaltung wandte sich der praktischen Seite der Frage zu. Namen von Unterhausabgeordneten, von Herausgebern anderer Zeitungen und politischer Schriften wurden genannt, und man überlegte, auf welche Weise sich deren Unterstützung gewinnen ließe oder was man tun könnte, falls sie sich negativ äußerten.

Vespasia brach auf, sobald es die Höflichkeit gestattete. Sie entschuldigte sich mit weiteren Verpflichtungen und verabschiedete sich von Cordelia und Denoon. Enid hatte den Raum einige Minuten zuvor ohne nähere Erklärung verlassen. Vespasia bat, sie zu grüßen, und ging, von Landsborough begleitet, ins Vestibül hinaus.

Er teilte dem Butler mit, man möge ihre Kutsche vorfahren lassen. Während sie wartete, fiel ihr Blick zufällig auf einen Gang, aus dem eine Tür in den Garten führte. Dort stand Enid mit dem Rücken zu ihr in einem allem Anschein nach angeregten Gespräch mit einem gut aussehenden jungen Lakaien. Da dieser nicht die Livree der Familie Landsborough trug, war es wohl ihr eigener. Vespasia fiel sein Gesichtsausdruck auf, und so fasste sie ihn genauer ins Auge. Er stand vor Enid, die näher an ihn herangetreten war, als im Umgang mit Lakaien üblich, und sah ihr mit gesammelter Aufmerksamkeit ins Gesicht, so, als gebe sie ihm Anweisungen für eine komplizierte und höchst wichtige Aufgabe. Während sie leise und eindringlich auf ihn einredete, schien sie für nichts um sie herum Augen und Ohren zu haben.

Als sie aber Schritte auf dem Steinboden des Vestibüls hörte, unterbrach sich Enid mitten im Satz. Der Lakai vergrößerte den Abstand zu ihr, nahm die übliche ehrerbietige Haltung von Dienstboten ein und ging, vermutlich, um den ihm erteilten Auftrag auszuführen. Enid kehrte langsam ins Vestibül zurück und trat auf Landsborough zu, als sei nichts gewesen.

Nachdem sich Vespasia von Enid verabschiedet hatte, kehrte diese zu den anderen in den Salon zurück, während Landsborough Vespasia an die Kutsche begleitete.

»Glaubst du wirklich, dass es sinnvoll ist, der Polizei weitere Schusswaffen zu geben?«, fragte er mit besorgtem Gesicht, als sie den Gehweg erreicht hatten.

Sie zögerte. Er sah sie verwirrt an. Eindeutig erwartete er, dass sie seine Offenheit mit Ehrlichkeit vergalt. In früheren Zeiten hatten sie einander so manches Mal statt der Wahrheit lieber etwas Liebenswürdiges gesagt, doch nie mit der Absicht, den anderen zu täuschen. Beiden war klar gewesen, dass es lediglich darum ging, Dingen, die sonst verletzend hätten sein können, die Schärfe zu nehmen. Dieser Teil ihrer Beziehung aber gehörte längst der Vergangenheit an. An die Stelle des einstigen Begehrens waren Kummer und Weisheit getreten. Die Einsamkeit, die sie jetzt empfanden, war von anderer Art und bedurfte anderer Mittel, sie zu heilen.

Welche Art von Wahrheit würde er nun, da er so große Qual litt, ertragen können? Als ihr einfiel, mit welch überströmender Güte Enid ihn angesehen hatte, musste sie nicht nur an Cordelias Kälte denken, sondern auch daran, dass ihm diese völlig gleichgültig zu sein schien. Natürlich bestand die Möglichkeit, dass es zwischen den beiden auch andere Kümmernisse gab, die sie äußerstenfalls erraten konnte. Aber wie weit durfte sie ihm im Interesse aller trauen?

Eine Kutsche ratterte vorüber, und als sie den Blick hob, sah sie das Geschirr des Pferdes in der Sonne blitzen.

»Wir müssen der Anarchisten unbedingt Herr werden«, sagte sie. »Ich weiß aber noch nicht, wie.«

»Der Polizei mehr Macht zu geben dürfte nicht der richtige Weg dazu sein«, sagte er gemessen. »Magnus hat mir berichtet, dass sie ihre Kompetenzen bereits jetzt häufig überschreitet. Das Gesetz darf nicht nur dazu dienen, die Schuldigen zu fassen und zu bestrafen, es muss auch die Unschuldigen schützen, sonst ist es nichts als ein Freibrief für die Unterdrückung der Menschen.«

»Das ist mir klar.« Sie sah ihn aufmerksam an, bemüht, die Empfindungen hinter seinen Worten zu verstehen. Wie viel wusste er von dem, was Magnus getan hatte? Was konnte man ihm an Wahrheit zumuten?

»Trau auf keinen Fall Voisey«, sagte er plötzlich mit erstickter Stimme. »Bitte! Was immer du tust, Vespasia, überleg dir gut, wem du dich anvertraust. Die Gefahr ist weit größer, als dir bewusst sein dürfte.«

Dann, als befürchte er, jemand könne ihn aus einem der Fenster hinter ihm beobachten, verabschiedete er sich, half ihr in die Kutsche und neigte höflich den Kopf, als diese anfuhr.