KAPITEL 8
Ohne weiter auf Yancy zu achten, machte Pitt auf dem Absatz kehrt und eilte ans Ende der Straße, dem Feuerschein entgegen. Aus den wüst aufgerissenen Dächern stiegen Flammensäulen zum Himmel empor. Als er näher kam, biss ihn der Rauch in die Lunge. Menschen schrien und weinten. Manche standen da wie erstarrt, als seien sie so benommen oder verwirrt, dass sie nicht wussten, was sie tun sollten. Andere rannten ziellos umher oder stolperten hierhin und dorthin. Immer noch stürzte Schutt auf den Gehweg, fielen um die Menschen herum brennende oder verkohlte Holzstücke sowie Glassplitter zu Boden, scharf wie Dolche.
Als Pitt das Ende der Scarborough Street erreichte, würgte ihn der Rauch im Hals, und die Hitze brannte in seinem Gesicht. Auf der Straße lagen Verletzte, in sich zusammengekrümmt wie ein Haufen Lumpen, die Glieder sonderbar verdreht. Manche regten sich nicht, sodass unklar war, ob sie noch lebten. Überall um sich herum sah Pitt Blut, Staub und Gesteinstrümmer, rauchendes Holz, Ziegel und Scherben. Menschen riefen, weinten, jemand schrie. Ein Hund bellte unaufhörlich. All das wurde übertönt vom Prasseln der Flammen, die aus den Resten der drei letzten Häuser schlugen. Die große Hitze ließ Holz zerbersten, und wie aus der Hand eines Messerwerfers geschleudert flogen Dachziegel durch die Luft, ihre Kanten scharf wie Klingen.
Pitt blieb stehen und versuchte, das Entsetzen zu unterdrücken, das in ihm aufstieg, und Herr seiner Sinne zu bleiben. Hatte schon jemand die Feuerwehr alarmiert? Brennende Holzstücke fielen bereits auf die Dächer der Häuser in der nächsten Straße. Was war mit Ärzten? War jemand in der Nähe, der Hilfe leisten konnte? Er eilte weiter, bemüht, festzustellen, ob es irgendeine Art von Ordnung in all dem Tohuwabohu und Entsetzen gab, das vom grellen Feuerschein hell beleuchtet wurde.
»Hat jemand die Feuerwehr gerufen?«, überschrie er das Dröhnen und Krachen, mit dem eine weitere Mauer nachgab. »Die Leute müssen da raus!« Er nahm eine alte Frau am Arm und wies sie an: »Gehen Sie ans Ende der Straße, fort von der Hitze. Wenn Sie hier stehen bleiben, fallen Ihnen noch Trümmer auf den Kopf.«
»Mein Mann is noch im Bett«, sagte sie mit ausdruckslosen Augen. »Er is betrunk’n nach Hause gekomm’n. Ich muss ’n da raushol’n. Sons’ verbrennt er.«
»Sie können jetzt nichts für ihn tun.« Er ließ sie nicht los. Ein junger Mann stand mit bloßen Füßen wenige Schritte entfernt und zitterte am ganzen Leibe. »He!«, rief Pitt ihm zu. Er wandte sich langsam um. »Bringen Sie sie außer Gefahr«, forderte er ihn auf. »Die anderen auch. Helfen Sie mir.«
Langsam öffnete und schloss der junge Mann die Augen. Er schien allmählich wieder in die Wirklichkeit zurückzukehren und führte Pitts Anweisung aus. Auch andere fingen an zu reagieren, machten sich daran, Verletzte zu bergen, und brachten Kinder aus der unmittelbaren Gefahrenzone.
Pitt trat zu der nächsten Gestalt am Boden und beugte sich über sie. Es war eine junge Frau mit von Blut verklebten Haaren, die halb auf dem Rücken lag, die Beine an den Knien eingeknickt. Ein einziger Blick auf ihr Gesicht genügte – hier kam jede Hilfe zu spät. Ihre Augen waren gebrochen. Während er neben ihr kniete, mischte sich in ihm ein Gefühl der Übelkeit mit unendlicher Wut. Die Leute müssten vom Staatsschutz erwarten können, dass er solche Tragödien verhinderte. Das hier hatte weder mit Idealismus noch dem Wunsch nach Reformen zu tun, war unverhüllter Wahnsinn, eine Unmenschlichkeit, die auf nichts als Dummheit und Hass zurückging.
Einige Schritte weiter hörte er ein Stöhnen. Es war nicht der richtige Zeitpunkt, sich seinen Gefühlen hinzugeben; damit würde er niemandem beistehen. Er erhob sich und ging zu der Frau hinüber, die gestöhnt hatte. Um sich vor der herüberwehenden glühenden Asche zu schützen, musste er die Augen schließen und den Kopf beiseite drehen. Wieder glitten Ziegel von den Dächern und prallten auf Gehweg und Straßenpflaster. Jetzt war er bei der Frau angelangt. Sie hatte ein gebrochenes Bein und eine blutende Armwunde. Vermutlich litt sie große Schmerzen, doch schien ihr vor allem das unaufhörlich fließende Blut Angst zu machen.
»Das wird schon wieder«, sagte er mit Zuversicht in der Stimme. Mit einem Stück Stoff, das er aus ihrem Unterrock riss, legte er ihr einen Notverband an. Womöglich saß der zu fest, aber er musste unbedingt die Blutung zum Stillstand bringen. Sicherlich war inzwischen jemand unterwegs, um einen Arzt zu holen.
»So.« Er erhob sich, bückte sich dann und half ihr, sich auf das unverletzte Bein zu stellen. Sie war schwer und nicht besonders beweglich; offensichtlich war sie nicht mehr die Jüngste. Es kostete ihn seine ganze Kraft, ihr Gewicht aufzufangen, und fast hätte er dabei das Gleichgewicht verloren. »Stützen Sie sich auf mich. Ich bringe Sie zur nächsten großen Straße«, sagte er.
Sie dankte ihm, und sie machten sich auf den Weg. Als er sich abermals dem Ort des Unheils zuwandte, nachdem er die Frau in der Obhut einer Nachbarin gelassen hatte, erkannte er im Schein der Flammen Victor Narraways schlanke Gestalt. Die Haare standen ihm wild vom Kopf ab, sein von Ruß bedecktes Gesicht leuchtete im Feuerschein rot. Er wirkte mitgenommen.
Pitt traute seinen Augen nicht. »Wie sind Sie denn so schnell hierher gekommen?« Er musste schreien, um den Lärm zu übertönen. »Wussten Sie etwa davon?«
»Natürlich nicht, Sie Narr«, fuhr ihn Narraway an und kam näher auf ihn zu. »Ich bin Ihnen gefolgt.«
»Wirklich?« Pitt konnte es kaum fassen. »Warum?«
Ein weiteres Haus sank in sich zusammen, und mit lautem Dröhnen schossen Flammen empor wie aus einem Vulkankrater. Beide wichen vor der Hitze zurück, die ihnen Haare und Gesichter versengte. Dabei stolperte Pitt über einen Balken und die Leiche eines Mannes. Hätte ihn Narraway nicht kräftig am Arm gefasst, er wäre zu Boden gestürzt. Nur mit Mühe kam er wieder auf die Beine.
Die erste Feuerspritze traf ein. Die vorgespannten Pferde keuchten, und es kostete den Kutscher Mühe, sie zu bändigen. Ihr folgte sogleich eine zweite, doch erkannten die Feuerwehrmänner auf den ersten Blick, dass es sinnlos war, einen dieser Brände löschen zu wollen. Ihnen blieb lediglich die Möglichkeit, dafür zu sorgen, dass das Feuer nicht auf die Gebäude in den benachbarten Straßen übergriff.
Ein jüngerer Mann mit einer Tasche in der Hand bahnte sich seinen Weg durch die Trümmer, wobei er sich von Zeit zu Zeit bückte.
Narraway rief etwas, was Pitt aber nicht hören konnte. Den Kopf schüttelnd ging er dorthin, wo sich der Mann, vermutlich ein Arzt, bemühte, jemandem auf die Beine zu helfen, der sehr schwer zu sein schien.
Mehrere Male durchsuchten Pitt und Narraway gemeinsam die Trümmer nach Lebenden und zerrten dabei Balken und Teile des Mauerwerks auseinander. Narraway war kräftiger, als sein Körperbau vermuten ließ, und beide setzten ihre Tätigkeit fort, bis sie sicher waren, dass sie nichts mehr zu tun vermochten.
Schließlich sanken die Flammen in sich zusammen, das Bersten und Klirren ertönte seltener. Inzwischen waren auch mehr Helfer eingetroffen, Fahrzeuge gekommen, um erst die Verletzten und dann die Toten abzutransportieren. Immer wieder sah Pitt, wie sich der Feuerschein auf blank polierten Uniformknöpfen oder in einem Polizeihelm spiegelte. Erst als er ein Stück beiseite getreten war und die Trümmerlandschaft musterte, fiel ihm auf, dass diese Insignien staatlicher Gewalt nicht mehr den beruhigenden Anblick boten wie noch vor wenigen Wochen.
Er stand neben einem bis oben hin mit Trümmern beladenen Fuhrwerk. Narraway, einige Schritte weiter auf der anderen Seite, hielt ihm wortlos einen Blechbecher mit Wasser hin. Pitt wollte etwas sagen, doch kamen keine Laute aus seiner Kehle. Er nahm den Becher und trank. Dann brachte er ein »Danke« heraus.
Inzwischen war es vollständig dunkel geworden. Nur noch in zweien der Häuser sah man den roten Widerschein der niedergebrannten Feuer. Die Feuerwehr hatte die Dächer der umliegenden Gebäude mit reichlich Wasser getränkt, damit die Flammen dort keine Nahrung fanden.
Narraway nahm den Becher wieder an sich und hob ihn an die Lippen. Verblüfft sah Pitt, dass seine mit Blut und Asche bedeckte Hand dabei zitterte. Zum ersten Mal erkannte er in Narraways Augen Angst, die aber nichts mit ihm selbst zu tun hatte. Auch wenn er kein tollkühner Draufgänger war, hatte er ohne das geringste Zögern in unmittelbarer Nähe der einstürzenden Mauern geholfen, Menschen zu retten. Angst und Sorge bereitete ihm nun außer der ausufernden Gewalttätigkeit vermutlich die Reaktion, die auf diesen zerstörerischen Akt folgen würde. Immerhin war dem Anschlag fast der ganze Straßenzug zum Opfer gefallen. Keins der Häuser war mehr bewohnbar oder würde sich instand setzen lassen. Hier gab es nur noch eines: die Trümmer beiseite räumen und alles neu aufbauen.
Weit schlimmer aber war, dass mindestens fünf Menschen ihr Leben eingebüßt hatten und weitere zwanzig verletzt worden waren, wenn nicht gar mehr, einige davon lebensgefährlich. Diesmal hatte es keine Warnung gegeben, und allem Anschein nach war mindestens dreimal so viel Dynamit eingesetzt worden wie in der Myrdle Street. Der Staatsschutz hatte nicht die geringste Vorstellung davon, wer die Täter sein konnten.
Pitt sah, dass der von Kopf bis Fuß mit Schmutz bedeckte Narraway erschöpft wirkte. Zweifellos war dessen Haut ebenso versengt wie seine eigene, schmerzte seine Lunge mit jedem Atemzug, dröhnte ihm der Kopf und brannten seine Glieder ebenso sehr wie die Pitts. Vor allem aber dürfte er wohl das allumfassende und quälende Bewusstsein empfinden, eine Niederlage erlitten zu haben. Ganz davon zu schweigen, dass es ihm nicht gelungen war, dies Vorkommnis zu verhindern, wie das vom Staatsschutz erwartet wurde, hatten sie weder einen der Täter zu fassen bekommen, noch besaßen sie Hinweise auf die Täter oder auch nur eine Fährte, der sie folgen könnten. Sie hatten nicht den geringsten Ansatzpunkt, nichts, worauf sich die hoffnungsvolle Aussage stützen ließe, so etwas werde sich nicht wiederholen. Es konnte ganz im Gegenteil jederzeit aufs Neue dazu kommen, sooft den Anarchisten der Sinn danach stand.
Narraway erwiderte seinen Blick. Beide hätten gern etwas gesagt, aber die Wahrheit brauchte keine Worte, und tröstliche Lügen waren ebenso sinnlos wie töricht.
Narraway nahm noch einen Schluck Wasser und gab Pitt den Becher erneut. Er leerte ihn.
»Gehen Sie nach Hause«, sagte er zu Pitt, nachdem er sich geräuspert hatte. »Hier kann heute Abend niemand mehr etwas tun.«
Pitt, der ebenso wenig gewusst hätte, was sich am nächsten Tag tun ließe, drängte es, in die Sicherheit der Keppel Street zurückzukehren. Mit einem Mal empfand er tiefes Mitgefühl für Narraway, der keinen solchen Hort häuslicher Behaglichkeit hatte, niemanden, der ihn bedingungslos liebte und ihm Sicherheit gab. Auf keinen Fall durfte er ihn spüren lassen, dass ihm das bewusst war. »Danke«, sagte er. »Gute Nacht.«
Ihm war gar nicht aufgefallen, dass es schon so spät war. Als er kurz vor Mitternacht die Haustür aufschloss, kam Charlotte sogleich vollständig angekleidet aus dem erleuchteten Wohnzimmer in den Flur.
»Mir fehlt nichts!«, sagte er ein wenig zu laut, als er das Entsetzen auf ihrem Gesicht erkannte. »Ich muss mich nur waschen, dann sind alle Spuren beseitigt.«
»Thomas! Was …«, stieß sie mit vor Schreck geweiteten Augen hervor. Fast alles Blut war aus ihren Wangen gewichen. »Was ist passiert?«
»Wieder ein Sprengstoffanschlag«, gab er zur Antwort. Er hätte sie gern in die Arme genommen, doch damit hätte er nicht nur ihr Kleid beschmutzt, sondern auch den durchdringenden Brandgeruch weitergegeben.
Ohne darauf zu achten, schlang sie die Arme um ihn, hielt ihn fest an sich gedrückt und küsste ihn. Dann legte sie den Kopf an seine Schulter und hielt ihn fest, als könne er ihr davonlaufen, sobald sie ihn losließ.
Unwillkürlich musste er lächeln. Er berührte sie sanft und freute sich, in der Sicherheit seines Hauses zu sein, sie in seinen Armen zu halten. Ihre Haare hatten sich gelöst. Er zog die wenigen Nadeln heraus, die noch an Ort und Stelle waren, und ließ sie achtlos fallen. Mit den Fingern strich er ihr über das jetzt schulterlange Haar und genoss dessen kühle Weichheit – wie lose fallende Seide. Es war so glatt, dass man an eine Flüssigkeit hätte denken können, und es roch angenehm. Fast war es, als habe er sich den Großbrand, die Trümmer und das viele Blut nur eingebildet.
Er bedauerte Narraway und hätte, wenn er an ihn gedacht hätte, sogar Voisey bedauert.
Am nächsten Morgen fuhr Pitt aus dem Schlaf hoch. Die Stille des Schlafzimmers dröhnte ihm förmlich in den Ohren. Unvermittelt und mit aller Macht kehrte die Erinnerung an die Ereignisse des Vorabends zurück. Charlotte war bereits aufgestanden. Am Licht, das durch einen kleinen Spalt zwischen den geschlossenen Vorhängen hereindrang, sah er, dass es schon vollständig hell sein musste, denn ein schmaler goldener Strich lief über den Fußboden. Von der Straße herauf hörte er Hufschlag und das Knarren von Wagenrädern.
Eilig stand er auf. Charlotte hatte ihm frische Kleidung herausgelegt. Vermutlich hatte sie die getragene gleich in die Waschküche gebracht, damit nicht das ganze Haus nach Rauch und Asche roch.
Er rasierte sich, zog sich an und war eine Viertelstunde später unten. Auch wenn sein Körper von den Anstrengungen des Vortages schmerzte und seine Haut mehr Abschürfungen aufwies, als er zählen konnte, fühlte er sich ausgeruht, zumal die befürchteten Albträume ausgeblieben waren. Jetzt hatte er vor allem Hunger.
Die Wanduhr in der Küche zeigte neun Uhr. Charlotte, die das Frühstücksgeschirr abwusch, drehte sich mit einem Lächeln zu ihm um.
Gracie kam mit Eiern aus der Speisekammer und wünschte ihm einen guten Morgen. Er ließ zu, dass sich die beiden um sein leibliches Wohl kümmerten, doch weil er auf dem Tisch keine Zeitung sah, fragte er, was es Neues gebe.
»Die Sache von gestern Abend sieht sehr übel aus«, sagte Charlotte schließlich, nachdem er seine dritte Scheibe Marmeladenbrot gegessen hatte, und goss ihm Tee nach. Sie ging in die Speisekammer und kam mit drei Zeitungen zurück, die sie ihm auf den Tisch legte.
Als er die Schlagzeilen sah, war er froh, dass sie ihm das bis nach dem Frühstück vorenthalten hatte. Am vernichtendsten äußerte sich Denoon. Er kritisierte die Polizei nicht etwa, sondern erklärte, sie sehe sich einer unmöglichen Aufgabe gegenüber. Nicht einmal dann, wenn sie über mehr Personal, mehr und bessere Schusswaffen und die Vollmacht verfüge, Menschen bei dringendem Tatverdacht festzunehmen, dürfe man erwarten, dass sie imstande sei, solche Gräueltaten zu verhindern. Dafür brauche sie zusätzlich die Möglichkeit, sich Informationen zu beschaffen, bevor sich die Gewalttätigkeit zu solchen Extremen steigere. Sie müsse wissen, was für Menschen Mord und Zerstörung dieses Ausmaßes planten, Vorstellungen nährten, aus denen ein solcher Feldzug gegen die einfachen Bewohner Londons und höchstwahrscheinlich des ganzen Landes erwuchs.
Der kunstlos aufgebaute Leitartikel war ein einziger Aufschrei leidenschaftlicher Empörung, der sein Echo sicherlich in der Hälfte aller englischen Haushalte finden würde. Polizei, Staatsschutz und nicht einmal die Regierung, hieß es, könnten voraussagen, wo oder wann es zu einem weiteren grauenvollen Verbrechen dieser Art kommen könne, welche Häuserzeile als nächste in Schutt und Asche gelegt würde, weit schlimmer als in der Myrdle Street.
Bei dem dortigen Anschlag war niemand ums Leben gekommen, weil die rechtzeitige Warnung es den Menschen ermöglicht hatte, ihre Häuser vorher zu verlassen. Diesmal hatte es solche Rücksicht nicht gegeben. Musste man als Nächstes mit noch Schlimmerem rechnen? Mit noch mehr Toten, einem Flächenbrand, der sich nicht eingrenzen ließ? Gegen sehr viel größere Brände sei die Feuerwehr mit ihren Mitteln machtlos. Sie habe weder genug Männer noch das nötige Material an Ort und Stelle, ja, nicht einmal genug Wasser. In einer solchen Situation könnten ganze Stadtviertel niederbrennen.
Um einer solchen entsetzlichen Verwüstung vorzubeugen, hieß es weiter, seien extreme Maßnahmen erforderlich. Man müsse der Regierung die Macht geben, die Bürger zu schützen, die sie gewählt hatten, denn darauf hätten diese einen Anspruch. Wenn dafür Gesetze erforderlich seien, müsse man diese erlassen, bevor es zu spät sei. Das sei nicht nur eine Frage von Ehre, Vaterlandsliebe und normalem menschlichen Anstand, das Überleben der Gesellschaft hänge davon ab.
Wohl hatte Pitt damit gerechnet, etwas in dieser Art zu lesen, doch als er es gedruckt vor sich sah, gewann es eine Wirklichkeit, der er sich, wie er sich eingestehen musste, nur ungern stellte.
Als er den Blick hob, merkte er, dass Charlotte ihn erwartungsvoll ansah.
»Das ist doch abstoßend, findest du nicht auch?«, fragte sie leise.
»Unbedingt.« In ihren Augen konnte er sehen, dass ihr das Ausmaß der Möglichkeiten ebenso bewusst war wie ihm.
»Was können wir tun?«
Er musste lächeln, weil sie sich mit eingeschlossen hatte. »Ich gehe noch einmal zu den festgenommenen Anarchisten, um ihnen ein paar Fragen zu stellen, obwohl ich nicht glaube, dass sie uns weiterhelfen können«, sagte er. »Eigentlich bin ich überzeugt, dass keiner aus ihrer Gruppe für diesen Anschlag verantwortlich ist. Vielleicht sind sie aber eher bereit zu reden, wenn sie erfahren, dass diesmal mindestens fünf Menschenleben zu beklagen sind. Du unternimmst bitte nichts, außer vielleicht Emily ein wenig beizustehen.« Er sah sie aufmerksam an. »Jack ist einer unserer wenigen zuverlässigen Verbündeten im Kampf gegen die umfassenden Polizeivollmachten. Es kann ihn teuer zu stehen kommen.«
»Meinst du, in Bezug auf seine Karriere?«, fragte sie.
»Möglich ist alles.«
Sie lächelte trübselig. »Danke, dass du es nicht herunterspielst. Ich hätte es ohnehin nicht geglaubt.«
Er stand auf, gab ihr einen flüchtigen Kuss und ging zur Haustür, um sich die Schuhe anzuziehen. Ihm war bewusst, dass sie in der Küche stand und ihm nachsah.
Als Ersten suchte er Carmody auf, der rastlos in seiner Zelle auf und ab ging. Allem Anschein nach war er innerlich so unruhig, dass er sich nicht setzen konnte. Als er hörte, wie sich der Schlüssel im Schloss der schweren Stahltür drehte, fuhr er herum, um zu sehen, wer da kam. Seine Haare waren verfilzt, und sein sommersprossiges bleiches Gesicht wirkte nahezu grau.
»Wer hat das getan?«, stieß er in anklagendem Ton hervor. »Das ist Mord! Warum sind Sie den Leuten nicht in den Arm gefallen? Was ist mit Ihnen los? Wer steckt hinter dem Anschlag? Die Iren, die Russen, die Polen oder die Spanier?«
»Vermutlich keiner von all denen«, sagte Pitt so gelassen er konnte. »Woher wissen Sie überhaupt, was passiert ist?«
»Hier reden alle darüber«, rief Carmody aus. »Die Wärter zählen die Stunden, bis mein Freund und ich verurteilt und gehängt werden. Mit uns hat das aber nichts zu tun. Wir haben es Ihnen doch gesagt: Wir wollten der Korruption bei der Polizei ein Ende bereiten, hatten es nur auf den verdammten Grover abgesehen, aber nicht im Traum die Absicht, die Bewohner eines ganzen Straßenzuges umzubringen.«
»Alles weist darauf hin, dass es sich nicht um ausländische Anarchisten handelt«, sagte Pitt.
»Wir … waren … es … nicht!«, schrie ihm Carmody mit zitternder Stimme entgegen. »Hören Sie eigentlich nicht, was ich sage? So ein bestialisches Vorgehen, das der Freiheit, der Ehre und der Menschenwürde Hohn spricht, passt weder zu unseren Zielen noch zu unseren Methoden. Es ist blanker Mord – und wir sind keine Mörder.«
Zwar glaubte Pitt ihm, war aber noch nicht bereit, das zu sagen.
»Magnus Landsborough ist tot«, gab er zu bedenken und lehnte sich an die Mauer. »Sie und Welling befinden sich in Haft. Ist Ihnen je der Gedanke gekommen, dass der Zweck des Anschlags in der Myrdle Street darin bestanden haben könnte, Sie drei aus dem Weg zu schaffen?«
Carmody setzte zu sprechen an, sagte aber nichts. Der letzte Blutstropfen wich aus seinem Gesicht. »Großer Gott!«, entfuhr es ihm. »Sie meinen … Nein!« Den Kopf schüttelnd wiederholte er das letzte Wort immer wieder, wohl, um sich selbst zu überzeugen. Er ließ Pitt keine Sekunde aus den Augen.
»Warum nicht?«, fragte ihn dieser. »Vielleicht hatte jemand in Ihrer Gruppe andere Pläne als Sie, gewalttätigere. Es scheint ja unübersehbar jemanden zu geben, der auf Biegen und Brechen eine Entscheidung sucht!«
»Nein!« Doch das war nichts als ein leeres Wort. Carmody begriff, und während die Sekunden verstrichen, ging ihm immer mehr auf, dass Pitts Theorie einen Sinn ergab. Unvermittelt setzte er sich auf seine Pritsche, als hätten die Beine unter ihm nachgegeben.
»Jemand, den Sie kennen, hat Magnus erschossen«, fuhr Pitt leise, aber mit Nachdruck fort. »Wer auch immer das war, wusste, wohin Sie sich nach der Detonation des Sprengsatzes in der Myrdle Street flüchten würden. Dort hat er auf Sie gewartet, Magnus getötet und ist dann durch die Hintertür entkommen, vorbei an den Polizeibeamten, die vermuteten, es sei einer unserer Männer, der einen von Ihnen verfolgte. Ein solches Vorgehen setzt nicht nur Intelligenz, gründliche Planung und eine sorgfältige Ausführung voraus, sondern auch die Kenntnis der Absichten Ihrer Gruppe. Welchen anderen Grund hätte einer von Ihnen haben können, Magnus’ Tod zu wünschen, als den, an dessen Stelle selbst Anführer zu werden?«
Carmody fuhr sich mit beiden Händen heftig durch die Haare. Mit verzerrtem Gesicht stieß er hervor: »Das ist ein Albtraum!«
»In keiner Weise«, sagte Pitt nüchtern. »Rechnen Sie nicht damit, dass Sie daraus aufwachen – es ist die Wirklichkeit. Ihnen bleibt nur eins, nämlich uns jetzt die Wahrheit zu sagen. Wer sollte an Magnus’ Stelle treten, falls diesem etwas zustieß? Und kommen Sie mir nicht damit, Sie hätten noch nie über diese Möglichkeit nachgedacht. Ein solches Verhalten wäre mehr als töricht. Sie mussten jederzeit damit rechnen, dass einer von Ihnen gefasst oder getötet wurde.«
»Kydd«, sagte Carmody flüsternd. »Zachary Kydd. Aber ich hätte geschworen, dass er jede einzelne unserer Überzeugungen teilt. Darauf hätte ich mein Leben verwettet.«
»Sieht ganz so aus, als hätten Sie ebenso verloren wie gestern Abend die Leute in der Scarborough Street.«
Carmody sagte nichts.
»Wo wird er sich Ihrer Ansicht nach jetzt aufhalten? Wenn Sie nicht wollen, dass es so weitergeht wie gestern, müssen wir ihn fassen.«
Carmody sah ihn mit kläglichem Blick an. »Sie verlangen von mir, dass ich einen Freund ans Messer liefere.«
»Sie müssen sich entscheiden. Sie können nicht gleichzeitig Ihrem Freund und Ihren Grundsätzen treu bleiben. Selbst wenn Sie nichts sagen, ist das eine Entscheidung.«
Carmody schloss die Augen. »Er wohnt in Shadwell, in der Nähe der Hafenanlagen, ungefähr in der Mitte der Garth Street. Die Nummer weiß ich nicht, aber das Haus steht auf der Südseite der Straße. Es hat eine braune Tür.«
»Danke. Eins noch. Könnten Sie mir den alten Mann beschreiben, der des Öfteren mit Magnus Landsborough gesprochen hat? Sagen Sie mir alles, was Sie über ihn wissen.«
Zögernd und ohne seine innere Bewegung vollständig verbergen zu können, beschrieb Carmody die heftigen Auseinandersetzungen, die Magnus bei seinen Begegnungen mit dem Herrn gehabt hatte. Immer mehr wuchs Pitts Überzeugung, dass es sich um Magnus’ Vater gehandelt haben musste. Der Herr habe etwas von Magnus gewollt, dem sich dieser stets widersetzt habe. Zweimal hatte Carmody während dieser Unterredungen auch einen jüngeren Mann in größerer Entfernung gesehen. Man hätte annehmen können, er sei dem alten Mann gefolgt; er habe sich aber stets so unauffällig im Hintergrund gehalten, dass Carmody seiner Sache nicht sicher war. Unübersehbar bedrückte Carmody die Erinnerung, und er schien von quälenden Bildern heimgesucht zu werden, als Pitt ging.
Voisey hatte angeregt, dass sie sich bei ihrer nächsten Begegnung am Denkmal Turners treffen sollten, und zwar wie zuvor um zwölf Uhr mittags. Vermutlich würde er nach dem Anschlag vom Vortag jetzt dort sein.
Pitt verspätete sich um fünf Minuten. Als er Voisey sah, der sich ganz gegen seine Art immer wieder umdrehte und auf dem schwarz-weißen Marmorboden unruhig von einem Bein aufs andere trat, ärgerte er sich über die große Erleichterung, die ihn überkam, empfand sie zugleich aber auch als ein wenig belustigend.
Voisey, der ihn aus der Gegenrichtung erwartet zu haben schien, drehte sich erst im letzten Augenblick um. Auch er schien erleichtert. »Ist es so schlimm, wie es die Zeitungen hinstellen?«, erkundigte er sich.
»Ja. Es wird sogar noch schlimmer.«
»Wirklich?« Bitterkeit schwang in Voiseys Stimme mit. »Wie soll das aussehen?«, fragte er sarkastisch. »Zwei zerstörte Straßenzüge? Drei? Vielleicht wieder ein Flächenbrand, der ganz London in Schutt und Asche legt? Offenbar hatten wir gestern Abend verdammtes Glück, dass es nicht schlimmer gekommen ist. Wenn man bedenkt, dass Ebbe herrschte und den ganzen Sommer über kaum Regen gefallen ist, hätte ohne weiteres die Hälfte von Goodman’s Fields abbrennen können.«
»Warten Sie, bis Ihr Unterhaus heute Nachmittag zusammentritt«, erwiderte ihm Pitt. »Bestimmt wird man auch ohne weitere Anschläge verlangen, dass Tanquerays Gesetzesantrag sofort gebilligt wird, einschließlich der Vollmacht für die Polizei, Dienstboten zu befragen. Haben Sie den Leitartikel Denoons gelesen?«
Voisey wandte sich ab und begann auszuschreiten, als sei ihm das Stillstehen unerträglich. »Selbstverständlich. Das ist seine große Stunde, nicht wahr? Sie haben völlig Recht – die Befürworter des Antrags werden den Vorfall dazu benutzen, das Gesetz durchzupeitschen!«, sagte er mit Nachdruck.
Pitt musste große Schritte machen, um ihn einzuholen.
»Meinen Sie, dass wir noch einmal ein so bedeutendes Genie wie Sir Christopher Wren hervorbringen würden, um London wieder aufzubauen, falls die Stadt erneut halb niederbrennt?«, fragte Voisey finster. »Sie wissen ja, hiermit hat man 1675 angefangen.« Er wies auf die gewaltige Rotunde der Kathedrale, in der sie sich befanden. »Nur neun Jahre nach dem großen Brand. Vollendet wurde sie 1711.«
Pitt sagte nichts. Er konnte sich London nicht ohne St. Paul’s vorstellen.
Sie standen jetzt vor der zur Erinnerung an den Baumeister der Kathedrale angebrachten Gedenktafel. Voisey las vor: »Lector, si monumentum requiris, circumspice.« Er fuhr fort: »Ich nehme nicht an, dass Sie wissen, was das heißt.« Mit einer Flüsterstimme, in der sich Bewunderung und Bitterkeit mischten, sagte er: »Leser, wenn du ein Denkmal suchst – schau dich um.« Auf seinen Zügen lagen Schmerz und Ehrfurcht; seine Augen leuchteten.
Mit einem Mal sah Pitt zu seiner Verblüffung einen gänzlich anderen Voisey, einen, der sich danach sehnte, der Geschichte seinen Stempel aufzudrücken, etwas Einzigartiges zu hinterlassen. Er selbst hatte geerbt, würde aber, da er keine Kinder hatte, an niemanden etwas weitergeben. War es möglich, dass sein Hass zum Teil auf Neid beruhte? Wenn er starb, wäre es so, als habe er nie existiert. Pitt betrachtete das nach oben gewandte Gesicht des Mannes und erkannte darauf einige Augenblicke lang eine unverhüllte Sehnsucht.
Im Bewusstsein, damit tief in dessen Privatsphäre eingedrungen zu sein, sah er rasch beiseite.
Voisey nahm diese Bewegung wahr. Im selben Augenblick legte sich die Maske wieder auf seine Züge. »Vermutlich haben Sie keine Vorstellung, wer den Sprengsatz gezündet hat?«, fragte er.
»Vielleicht doch«, gab Pitt zur Antwort. Er konnte Voiseys Hass, der ihm stärker zu sein schien als zuvor, fast körperlich spüren. Niemand sonst befand sich in der Nähe, und das Geräusch von Schritten in der Ferne war so leise, dass es mit der Stille des Hintergrundes verschmolz. Sie waren so gut wie allein. »Der Mann, der für den Fall, dass Magnus Landsborough etwas widerfuhr, die Leitung der Anarchistengruppe übernehmen sollte, heißt Zachary Kydd. Möglicherweise hat er Landsborough auf dem Gewissen.«
»Sie glauben an eine interne Rivalität?« Die Verachtung auf Voiseys Gesicht war eindeutig.
Pitt spürte, wie ihm die Zornesader schwoll. »Der Täter muss jemand gewesen sein, der ihn kannte, einer der Anarchisten.«
»Warum?«, fragte Voisey ungläubig. »Um Scarborough Street in die Luft jagen zu können, brauchte doch niemand den jungen Landsborough aus dem Weg zu räumen!«
»Woher wollen Sie das wissen?«, fragte Pitt.
»Warum zum Teufel sollte das nötig gewesen sein? Wäre ihm Landsborough etwa in den Arm gefallen?« Herablassung mischte sich in seine Ungläubigkeit. »Auf welche Weise denn? Indem er die Polizei informierte, damit die mit einem großen Trupp anrückte? Soll das etwa heißen, jemand in der Gruppe hätte der Polizei vertraut?«
Mit betont übertriebener Geduld sagte Pitt: »Um solche Sprengsätze zu zünden, muss man sehr sorgfältig planen und braucht neben einer ganzen Menge Dynamit auch Menschen, die bereit sind, das eigene Leben aufs Spiel zu setzen. Vielleicht ist Kydd das erst aufgegangen, nachdem er Magnus’ Stelle eingenommen hatte.«
Voisey wollte dagegen aufbegehren, merkte dann aber, dass Pitt Recht haben konnte, und so gab er rasch nach. »Kydd also«, sagte er. »Was ist sein Motiv? Was will er erreichen?«
»Ich weiß nicht«, räumte Pitt mit einem schmalen Lächeln ein.
Ein Schatten trat in Voiseys Augen.
Pitt wartete.
»Für Wetron jedenfalls ist der Anschlag in der Scarborough Street Wasser auf seine Mühle«, sagte Voisey. »Nichts könnte seinen Zwecken mehr dienen. Halten Sie das wirklich für Zufall?«
Obwohl Pitt einen Mantel trug und es in der Kathedrale nicht kalt war, überlief ihn ein Schauder. Am liebsten hätte er sich dieser Schlussfolgerung entzogen, zumindest aber gern einen überzeugenden Grund gefunden, der dagegen sprach, doch fiel ihm keiner ein. »Glauben Sie, dass er dahintersteckt?«, sagte er leise.
Jetzt war Voisey mit Lächeln an der Reihe. »Ihre Fähigkeit, das Gute im Menschen zu sehen, verblüfft mich immer aufs Neue, Pitt. Trotz allem, was Ihnen und davor Ihrem Vater widerfahren ist, trotz der vielen Mordfälle, die Sie im Laufe der Jahre aufgeklärt haben, und obwohl Sie sich jetzt politischen Fanatikern gegenübersehen, sind Sie nach wie vor von einer erstaunlichen Gutgläubigkeit. Offenbar weigern Sie sich einfach, die Menschennatur zur Kenntnis zu nehmen, wie sie ist.« Sein Gesicht verfinsterte sich. »Natürlich steckt Wetron dahinter, Sie Einfaltspinsel«, sagte er aufgebracht. »Er hat den vertrauensseligen Idealisten Magnus Landsborough dazu veranlasst, die erste Sprengladung hochgehen zu lassen, und der Gruppe versichert, dass niemand dabei verletzt würde. Idiotische junge Anarchisten, die keine Ahnung von dem haben, was sie tun, außer dass sie damit gegen die Korruption protestieren, lassen sich leicht zu so etwas hinreißen. Dass der Staatsschutz einige von ihnen gefasst hat, entsprach zweifellos Wetrons Plan. Danach konnte es richtig losgehen. Beim zweiten Mal sieht die Sache ähnlich aus, ist aber weit folgenreicher. Natürlich nimmt alle Welt an, dass es sich dabei um eine Steigerung des ersten Vorfalls handelt, und sucht die Schuld bei denselben Leuten. Was kommt als Nächstes? Alle haben Angst, und Denoon schürt sie eifrig. Falls Wetron wirklich nicht dahinter stehen sollte, wäre er der unfähigste Mensch auf Gottes Erdboden und zugleich der größte Glückspilz, den man sich denken kann. Was meinen Sie, Pitt? Was sagt Ihre polizeilich geschulte Intelligenz dazu, Ihr im Dienst des Staatsschutzes trainiertes Gehirn?«
»Ich denke, Sie haben Recht«, gab Pitt zur Antwort, »aber solange wir eine Verbindung zu Wetron nachweisen können, die ausreicht, ihm das Handwerk zu legen, ist eigentlich unerheblich, wie groß sein eigener Anteil ist und inwieweit er andere benutzt hat.«
»Gott sei Dank. Endlich gehen Sie pragmatisch an die Sache heran. Und wie sollen wir Ihrer Ansicht nach vorgehen?« Voisey zögerte kaum merklich. »Natürlich haben wir mit Tellman jemanden im Inneren von Wetrons Machtapparat.«
Pitt sah auf Voiseys Gesicht sowohl die Erwartung, er werde sagen, dass er das nicht tun könne, wie auch dessen Bereitschaft, ihn dafür zutiefst zu verachten. Der Mann hatte ihn in jeder Beziehung in der Hand, und das Bewusstsein seiner Macht leuchtete ihm aus den Augen.
Pitt bemühte sich, eine andere, ebenso gute Lösung zu finden, die ihm einen Ausweg gestattete. Doch es gab keine.
»Ich werde Tellman bitten festzustellen, ob sich der Weg des Geldes zu Wetron zurückverfolgen lässt«, sagte er zögernd.
»Geld!«, schnaubte Voisey verächtlich. »Dass er Gelder erpresst, wissen wir. Ohnehin wird es Ihnen nicht gelingen, die Spur weiter zu verfolgen als bis zu Simbister. Wir müssen wissen, woher das Dynamit kommt, müssen die Verbindungen kennen, die nicht nur beweisen, dass Wetron in die Sache verwickelt ist, sondern auch gewusst hat, wozu das Dynamit dienen sollte.«
»Zuerst das Geld«, sagte Pitt geduldig. »Wir verfolgen die Spur bis zu Wetron und kümmern uns dann um die Frage, wer das Dynamit gekauft hat. Sofern sich eine Verbindung zu Simbister herstellen lässt, genügt das völlig, solange wir die Beziehung zwischen Simbister und Wetron nachweisen können. Ich kann nachweisen, dass das Geld bei einem Mann gelandet ist, der als Simbisters rechte Hand fungiert.«
»Tatsächlich?« Voiseys Augenbrauen hoben sich. »Davon haben Sie mir noch nichts gesagt.«
»Das ist auch eine ganz neue Erkenntnis. Gerade als ich dabei war, darüber etwas herauszufinden, ist die Sprengladung in der Scarborough Street hochgegangen. Ich war nur wenige hundert Meter davon entfernt.«
Voisey erstarrte. »Sie waren an Ort und Stelle und haben es miterlebt?« Er sah Pitt aufmerksam an und erkannte die Abschürfungen in seinem Gesicht und die Stellen, an denen seine Haare versengt waren. »Ja, Sie waren da«, sagte er mit widerwilligem Respekt. »Ich war der Ansicht, man habe Sie erst später hinzugezogen.«
»Ich habe die halbe Nacht lang versucht, Verletzte und Obdachlose aus der Gefahrenzone zu bringen«, sagte Pitt, bemüht, sich nicht von der Erinnerung überwältigen zu lassen. » Vermutlich sucht man immer noch nach Toten. Glauben Sie mir, Ihre Wut auf Wetron ist nicht größer als meine.«
Voisey stieß die Luft ganz langsam aus. »Vermutlich nicht. Wenn es etwas gibt, was Ihrer äußerst strapazierfähigen Duldsamkeit ein Ende bereitet, dann ein solcher Vorfall. Gut. Weisen Sie die Verbindung zwischen Wetron und dem Dynamit nach, damit er an den Galgen kommt!« Er sprach das Wort ›Galgen‹ mit leidenschaftlicher Tücke aus. Pitt wusste, dass er dabei mehr an die Mitglieder des Inneren Kreises dachte als an die Opfer in der Scarborough Street.
»Das ist meine feste Absicht«, sagte er. » Allerdings erfordert das Umsicht. Was werden Sie unternehmen?«
Voisey lächelte; es sah aus wie plötzlicher Sonnenschein. »Ich werde mich auf die Suche nach weiteren Ehrenwerten Mitgliedern des Unterhauses machen, die der Ansicht sind, sie hätten nichts dagegen, dass man ihre Dienstboten in ihrer Abwesenheit aushorcht, und ihnen die damit verbundenen Gefahren aufzeigen.«
Er deutete mit gehobener Hand einen Gruß an und ging.
Tellman schien nicht im Geringsten überrascht, als er Pitt sah, der auf der Straße vor seinem Hause auf ihn wartete. Abgesehen von der Wache in der Bow Street war das die einzige Stelle, an der er sicher sein durfte, ihn zu finden. Nur würde man Pitt in der Bow Street zweifellos erkennen, und schon wenige Minuten später hätte Wetron Kenntnis von seiner Anwesenheit. Also blieb ihm jeweils nichts anderes übrig, als zu warten, und das zuweilen recht lange, denn Tellman kehrte abends zu unterschiedlichen Zeiten nach Hause zurück, je nachdem, wie er mit seiner Arbeit vorankam.
Offenkundig war Wetron überzeugt, dass Tellman und Pitt miteinander in Verbindung standen – das hatte er im Gespräch mit Tellman über Piers Denoon deutlich genug durchblicken lassen. Trotzdem war es besser, nicht aufzufallen, und so hielt sich Pitt in der zunehmenden Dämmerung im Schatten der Gasse, bis Tellman an der Haustür auftauchte.
Schweigend folgte er ihm ins Haus und nach oben zu dessen Zimmer. Dort zog Tellman die Vorhänge vor, bevor er die Gaslampe entzündete. Rasch machte er Feuer im Kamin, und schon bald wurde es im Zimmer angenehm warm. Die Vermieterin brachte beiden Brot und heiße Suppe, ohne ein Wort zu verlieren.
Mit zunehmendem Entsetzen hörte sich Tellman die Einzelheiten an, die Pitt über den Anschlag in der Scarborough Street berichtete. Selbstverständlich hatte er davon gehört, doch war es etwas völlig anderes, wenn ein Augenzeuge die Ereignisse schilderte. Sie bekamen ein Gesicht, man wurde sozusagen Zeuge der Gewalttätigkeit, sah gleichsam das Blut fließen, hörte den Lärm und die Schmerzensschreie, roch den Rauch und das verbrannte Fleisch, spürte die Hitze, die die Haut versengte.
»Voisey ist überzeugt, dass Wetron dahinter steckt«, sagte Pitt mit tonloser Stimme.
Es würgte Tellman im Hals. Er konnte sich ein solches Ausmaß an kaltblütiger Bosheit nicht vorstellen. Zwar hatte er schon früher gesehen, wie sehr der Ehrgeiz einen Menschen deformieren kann, doch wollte ihm nicht in den Kopf, dass ihn Machthunger zu einem solchen Gemetzel veranlassen konnte. Selbst wenn er sich Wetrons ausdrucksloses Gesicht und seine kalten Augen vorstellte, erschien ihm das unfassbar.
Pitt allerdings war bereit, es zu glauben. »Wir müssen zeigen, dass es eine Verbindung, und zwar möglicherweise finanzieller Art, zwischen Wetron und dem Dynamit gibt«, sagte er ruhig. »Ohne einen solchen Beweis haben wir keine Handhabe.«
»Ich versuche es bei Taschen-Jones«, sagte Tellman nach kurzem Nachdenken. »In der Tat könnte es möglich sein, eine solche Beziehung über den Weg des Geldes aufzuzeigen. Etwas anderes fällt mir auch nicht ein.«
Sie sprachen noch eine Weile miteinander, dann ging Pitt. Mit einem Funkenregen sank das Feuer in sich zusammen, und Tellman legte einige Kohlen nach. Draußen war es dunkel. Regentropfen prallten an die Fensterscheiben. Er überlegte, in welcher Weise er Jones auf das Thema ansprechen konnte. Wie sehr sich doch in der kurzen Zeit, seit Pitt der Wache in der Bow Street nicht mehr vorstand, die Dinge gewandelt hatten! Zwar waren inzwischen einige neue Gesichter aufgetaucht, doch die meisten der Männer arbeiteten schon seit Jahren dort. Wie viele von ihnen mochten bestechlich sein? Ob sie dafür schon immer anfällig gewesen waren, ohne dass er etwas davon gemerkt hatte? Sollte er ein so schlechter Menschenkenner sein? Hatte er sie einfach deshalb für anständig gehalten, weil sie Polizeibeamte waren, während sie sich in Wahrheit kaum von den schwachen, habgierigen, tückischen und käuflichen Menschen unterschieden, auf die sie Jagd machten?
Oder waren sie lediglich ebenso blind, wie er es ursprünglich gewesen war? Hielten sie ihren Vorgesetzten Wetron für integer, weil er eine hohe Position bei der Polizei bekleidete? Hinderten ihr Anstand und ihre Loyalität sie daran, die Dinge zu sehen, wie sie waren, sodass sie nie auf den Gedanken gekommen wären, er könne bis ins Mark verdorben sein? Falls Tellman etwas gegen ihn sagte, würden sie ihn als Verräter ansehen.
Darin zeigte sich Wetrons wahres Genie. Er arbeitete nicht mit verwickelten Intrigen, sondern setzte die Ängste von Schwachen, die Gier von Habsüchtigen und sogar die Aufrichtigkeit von Anständigen gegen andere ein. Wer die Wahrheit liebt, vermutet nicht, dass andere Menschen lügen. Wer nie stiehlt, verdächtigt seine Bekannten nicht, fremdes Eigentum an sich zu bringen. Wer nicht an Verrat denkt, vermutet nicht, dass man ihn hintergeht.
Tellman empfand einen ebenso tiefsitzenden und eiskalten Abscheu wie Pitt, und er verstand sehr gut, warum dieser Wetron so unerbittlich verfolgte. Ganz gleich, was es ihn kostete, auf keinen Fall durfte er zulassen, dass dieser Mann weiter sein Unwesen trieb. Gewiss, er hatte Angst vor dem, was ihm Wetron antun konnte. Doch ohne dessen Intelligenz und Willenskraft auch nur eine Sekunde zu unterschätzen, wurde er in seiner Entschlossenheit nicht wankend.
Am nächsten Morgen suchte Tellman gleich als Erstes Jones im Gefängnis auf. Besitz und Weitergabe von Falschgeld galten, vorausgesetzt, sie ließen sich beweisen, als schwere Straftat. Letzteres aber war nicht immer einfach.
»Was woll’n Se?«, knurrte Jones übellaunig, als die Zellentür hinter Tellman geschlossen wurde. So aufgebracht er Tellman gegenüber war, wollte er es sich nicht mit einem Polizeibeamten verderben, solange er nicht genau wusste, wie sich die Dinge weiterentwickelten.
Tellman musterte ihn von Kopf bis Fuß. Ohne den weiten Mantel wirkte der Mann mit seiner schmalen Gestalt und dem Ansatz eines Bierbauchs deutlich weniger imposant, doch lag auf seinem harten, finsteren Gesicht der Ausdruck von Heimtücke. Er mochte Grovers Werkzeug sein, war aber alles andere als dumm oder willenlos.
Zwar bemühte sich Tellman, grundsätzlich Pitts Gelassenheit nachzuahmen, doch hielt er es angesichts seines großen Grimms für besser, sich verdrießlich zu geben, wie das seiner Natur entsprach. »Etwas, was Ihnen gut tun würde und mir auch«, gab er zur Antwort.
»Ach ja? Ich glaub nich, dass Se gekomm’n sind, um mir was Gutes zu tun«, sagte Jones in sarkastischem Ton. Trotz seiner Herkunft aus Wales lag in seiner Stimme nichts von der sprichwörtlichen Musikalität der Waliser.
»Sie sitzen ganz schön in der Tinte«, sagte Tellman. »Sich mit einem gefälschten Fünf-Pfund-Schein erwischen zu lassen ist ziemlich übel.«
»Das is kein Geldschein«, widersprach Jones. »Das is Spielgeld – ganz harmlos. Se ham sich geirrt. Ihr Polizist’n irrt Euch dauernd.«
»Es ist kein Spielgeld«, gab Tellman zurück. »Wer sich nicht gut auskennt, hält den Schein für echt. Nur das Papier stimmt nicht.«
Jones sah bekümmert drein. »Und woher sollte ich das wiss’n, falls das stimmt? Man hat mich reingelegt! Se müsst’n Mitleid mit mir ham. Man hat mich bestohl’n.«
Betont unschuldig fragte Tellman: »Was hat man Ihnen gestohlen, Mr Jones?«
Empört stieß dieser hervor: »Natürlich ’nen Fünfer. Se ham’s geseh’n! Ihr Kollege hat ’n mir weggenomm’n. Ich war sicher, dass er echt war. Ich bin ’n Opfer!«
»Sieht ganz so aus«, gab ihm Tellman Recht. »Ich frage mich nur, wessen Opfer. Wissen Sie, woher Sie den Schein haben? Vielleicht sollte ich mich da mal näher umsehen.«
»Tun Se das! Unbedingt!«, stimmte Jones zu. »Der Halunke von Wirt im Triple Plea! Da hab ich den Schein gekriegt, kurz bevor Se mich hochgenomm’n ham. Ich hatte keine Zeit, mir den genau anzuseh’n, sons’ hätt’ ich das gleich gemerkt.«
»Und dann hätten Sie uns den Schein gebracht«, ging Tellman darauf ein. »Damit wir uns den Wirt hätten vornehmen und feststellen können, woher er ihn hatte und ob er wusste, dass er gefälscht war.«
Jones verzog gequält das Gesicht. »Sag’n Se doch nich immer ›gefälscht‹, Mr Tellman. Das is nich schön. Ich hab schon gehört, dass man Leute desweg’n gehängt hat.«
»Keine Sorge«, beruhigte ihn Tellman. »So schnell geht das heutzutage nicht mehr. Wir hängen meistens nur noch Mörder. Oder ist in dem Zusammenhang jemand umgebracht worden? Dann droht natürlich der Galgen.«
»Natürlich nich!«, stieß Jones hitzig hervor. »Ich hatte den verdammt’n Schein noch nich mal ’ne Stunde.«
»Und bekommen haben Sie ihn vom Wirt im Triple Plea.«
»Ja.«
»Können Sie das beweisen?«
»Nu …« Mit einem Mal sah Jones eine weit offene Falle vor sich.
»Wofür hat er Sie bezahlt?«, fragte ihn Tellman unschuldig.
Jones’ Augen war deutlich anzusehen, dass sich seine Gedanken jagten.
Tellman wartete.
»Er war mir Geld schuldig«, brachte er schließlich im Ton der Verzweiflung heraus. »Das kann er Ihn’ bestätig’n«, fügte er hinzu, bemüht, trotzig und herausfordernd zu wirken.
»Wofür?«, fragte Tellman.
»Das is privat un geht Se nix an.« Allmählich fühlte sich Jones sicherer. Er war der üblen Falle elegant ausgewichen. »Ich hab ihm ’n Gefall’n getan.«
»Das muss ja ein großer Gefallen gewesen sein. Sie hatten siebenundzwanzig Pfund bei sich. Oder hatten Sie auch anderen Leuten einen Gefallen getan, und die alle haben Ihnen das Geld zufällig am selben Tag zurückgezahlt?«
Jones sah, wie sich die Falle wieder weit öffnete, nur dass er diesmal keine Möglichkeit hatte, ihr auszuweichen.
»Oder sagen wir so«, fuhr Tellman erbarmungslos fort, »wenn ich den Wirt im Triple Plea frage, einen wie großen Gefallen Sie ihm getan haben, wird er dann sagen ›einen für fünf Pfund‹ oder ›einen für siebenundzwanzig Pfund‹?«
»Eh … woher soll ich wissen, was der sagt? Da spricht er nich gern drüber!« Flüchtig blitzte Triumph in Jones’ Augen auf. »Wahrscheinlich fühlt er sich nich wohl, wenn er zugeb’n muss, dass er sich von ’nem Gast Geld gelieh’n hat.«
»Sie haben ihm Geld geliehen?«
»Ja.«
»Wieso können Sie siebenundzwanzig Pfund erübrigen?«, fragte Tellman mit breitem Lächeln. »Oder haben Sie ihm fünf Pfund geliehen, und der Rest war Wucherzins? Keine Sorge, er sagt es mir bestimmt, und da Sie so gut zu ihm waren, kann er sich sicher auch an die genauen Umstände erinnern. Vermutlich haben Sie ihm seinen Schein zurückgegeben?«
Jones traten Schweißtropfen auf die Oberlippe. »Schein?«
»Na hören Sie, Mr Jones«, sagte Tellman herablassend. »Sie sind doch viel zu klug, als dass Sie jemandem Geld leihen, ohne sich von ihm einen Schuldschein unterschreiben zu lassen. Wie könnten Sie das sonst je wieder eintreiben? Ich frage ihn einfach, und dann muss er erklären, woher die Banknote kommt.« Er straffte sich, als wolle er gehen.
»Das war nich …«, setzte Jones an.
Tellman blieb stehen und wandte sich wieder um. »Ja?« Er freute sich, dass es ihm gelungen war, das Wort bedrohlich klingen zu lassen. Er dachte an die Verwüstung in der Scarborough Street. Die Wut, die er dabei empfand, ließ sich wohl an seinem Gesicht ablesen.
Jones schluckte. »Es war … eig’ntlich nich … für mich selber«, sagte er kläglich. »Ich bring un hol Geld für ein’n, der … ab un zu … was ausleiht.«
Tellman kommentierte die Lüge einstweilen nicht. »Ich verstehe. Und wer ist dieser Jemand?«
»Das weiß ich nich …« Jones hielt inne. Er sah Tellman aufmerksam an und erkannte die Wut und die Härte in ihm. »Mr Grover aus der Cannon Street«, sagte er rasch mit belegter Stimme. »Gott is mein Zeuge.«
»Ich hätte es an Ihrer Stelle nicht so eilig, Zeugen aufzurufen«, sagte Tellman, spürte aber zugleich eine Art Siegesgewissheit. »Angenommen, ich glaube Ihnen – wie bekomme ich dann einen irdischen Richter dazu, dass auch er das tut? Schließlich ist er nicht Gott und kennt die Zusammenhänge nicht.«
»Wieso Richter?« Jones schluckte erneut. »Ich hab nix Böses gemacht!« Zum ersten Mal gelang es ihm nicht, seine Angst zu verbergen. »Se mein’n so ein’n, der mit ’ner Perücke auf’m Kopp da ob’n sitzt?«
»Und Leute nach Coldbath Fields schickt – oder Schlimmeres. Ja, genau das meine ich. Eine ganze Menge Geld geht sonderbare Wege, Mr Jones.«
»Was mein’n Se mit ›sonderbare Wege‹ …«
»Erledigen Sie für Mr Grover noch andere Aufträge? Wenn Sie mir das sagen, wird das Ihre Situation nicht verschlimmern. Er ist Polizeibeamter und arbeitet seinerseits für Mr Simbister, der ein hohes Tier ist. Niemand könnte es Ihnen übel nehmen, wenn Sie vermuteten, dass das alles seine Richtigkeit hat.«
»Nee, keiner«, stimmte ihm Jones aus vollem Herzen zu.
»Geht es bei irgendeiner dieser anderen Aufgaben darum, dass Menschen Geld bekommen? Für die Lieferung von Waren oder für andere Leistungen?«
Jones sah zweifelnd drein. Sollte er tatsächlich mit heiler Haut davonkommen, oder spielte Tellman Katz und Maus mit ihm? Er schwankte zwischen Hoffnung und Entsetzen.
Tellman bemühte sich um einen freundlicheren Ausdruck. »Entweder stehen Sie auf meiner Seite, oder Sie wenden sich gegen mich, Mr Jones. Es ist durchaus möglich, dass Ihnen jemand das Leben schwer macht. Ich war gerade in der Nähe der Scarborough Street.« Damit wich er zwar deutlich von der Wahrheit ab, doch war das jetzt unerheblich. »Man hat noch nicht alle Leichen herausgeholt. Sie hätten riechen sollen, wie es da nach Verbranntem stank. Das würde Ihnen den Appetit auf den Sonntagsbraten für den Rest Ihres Lebens nehmen.«
Jones fluchte leise. Sein Gesicht war kalkweiß. »Se würd’n doch nich …?«
»Doch, ich würde.« Damit war es Tellman ernst. Die heiße Wut, die in ihm loderte, schmerzte zutiefst. »Mit dem Geld hat man Dynamit gekauft. Wem haben Sie es gebracht?«
»Se könn’n nich sag’n, dass ich …«, stotterte Jones. »Ich hab nich …«
»Gewusst, wofür es bestimmt war?«, beendete Tellman den Satz für ihn. »Möglich. Wenn Sie gegen solche Sprengstoffanschläge sind, sagen Sie mir jetzt, wohin Sie das Geld gebracht haben, wem Sie es gegeben haben und was Sie sonst noch wissen. Dann habe ich den Beweis, dass Sie mit der Sache nichts zu tun haben, sondern nur jemandem Botendienste geleistet haben, den Sie für einen anständigen Menschen hielten. Stimmt’s?«
»Stimmt! Ich …« Er schluckte verzweifelt. »Ich …«
Tellman wartete.
Jones sah nacheinander auf das hohe, vergitterte Fenster, die Stahltür und Tellman.
Dieser tat wieder so, als wolle er gehen.
»Ich hab ’n ganz’n Hauf’n Geld nach Shadwell gebracht«, sagte Jones mit vor Angst zitternder Stimme. »In die New Gravel Lane.«
»Genauer?«
»Das zweite Haus von der Ecke aus! Das schwör ich …«
»… Gott ist mein Zeuge«, beendete Tellman seinen Satz. »Wem haben Sie es gegeben? Da es sich um große Beträge gehandelt hat, müssen Sie klare Anweisungen gehabt haben. Bestimmt haben Sie es nicht irgendeinem Beliebigen gegeben.«
»Skewer! So’n Stämmiger mit ’nem appen Ohr. Der Mann heißt Skewer.«
»Danke. Sie brauchen jetzt nicht mehr zu schwören. Sollten Sie mich belogen haben, prägen Sie sich den Namen des Scharfrichters schon einmal gut ein. Sie müssen dann freundlich zu ihm sein, damit er Ihnen das Sterben nicht unnötig schwer macht, wenn es so weit ist.«
Jones atmete schwer.
Tellman hatte kein Mitleid mit ihm; er dachte an die Scarborough Street.
Er verließ das Gefängnis und verbrachte die nächsten vier oder fünf Stunden damit, alle Angaben Jones’ nachzuprüfen. Er konnte sich keinen Fehler leisten. Er suchte die Shadwell Docks auf und fand dort die New Gravel Lane. Die Gasse machte selbst im Schein der Sommersonne einen trostlosen Eindruck. Schneidend fuhr der Wind vom Fluss herüber, auf dem es von Lastkähnen, Leichtern, Fähren und Schleppern wimmelte. Frachtschiffe warteten vor Anker darauf, anlegen und ihre Ladung löschen zu können. An einer Stelle wie dieser mit dem ständigen Kommen und Gehen von Warenströmen fiel es sicherlich nicht schwer, unauffällig größere Mengen Dynamit zu lagern.
Noch wusste er nicht genug, um Pitt Bericht zu erstatten. Sie konnten sich nur eine einzige Durchsuchung erlauben, denn beim nächsten Mal wäre jede Spur des Dynamits beseitigt. Ihm blieb keine Wahl, als das Risiko einzugehen, das es bedeutete, sich bei den Kollegen von der Wasserschutzpolizei zu erkundigen. Er würde sie nicht offen fragen, sondern ein unverbindliches Gespräch anknüpfen.
Um die Mitte des Nachmittags wusste er, dass einer der alten Lastkähne, der in der Mitte des Anlegers von New Crane lag, Simbister gehörte und noch spät am selben Abend an einen anderen Liegeplatz verholt werden sollte. Das zu erfahren war weniger schwierig gewesen, als er befürchtet hatte. Steckte womöglich ein doppeltes Spiel dahinter? Oder vielleicht sogar ein dreifaches?
Er hatte keine Möglichkeit, das festzustellen, außerdem musste er möglichst schnell Pitt aufsuchen und ihm sagen, was er wusste. Er konnte es sich nicht leisten, bis zum Abend zu warten, ganz gleich, wer ihn jetzt sehen mochte.
»Die Josephine am Anleger von New Crane in Shadwell Docks«, sagte Tellman, als er Pitt schließlich inmitten der Ruinen der Scarborough Street gefunden hatte. Da ihm klar war, dass Pitt nicht zu Hause sein würde, er aber weder wusste, ob Narraway überhaupt ein Büro hatte, noch wo es sich befinden konnte, hatte er auf gut Glück die Long Spoon Lane aufgesucht. Nachdem er ihn dort nicht gefunden hatte, war er in die Scarborough Street gegangen, denn von einem anderen Fall, mit dem sich Pitt beschäftigte, war ihm nichts bekannt.
Pitt war müde und von Kopf bis Fuß schmutzig, weil er die Trümmer durchsucht hatte. Vieles war schon beiseite geschafft worden. Zwischen schwarzen Mauerresten, die zum Himmel emporragten, sah man einzelne Balkenenden, die das Feuer verschont hatte. Zersplitterte Schieferstücke und Glasscherben lagen auf den Pflastersteinen verstreut. Immer noch hing Brandgeruch schwer in der Luft.
»Wem gehört die Josephine?«, fragte Pitt und fuhr sich mit der Hand durch das Haar, womit er sich noch mehr Asche ins Gesicht strich.
»Simbister«, gab Tellman zurück. »Die Wasserschutzpolizei sagt, der Kahn soll heute Nacht weggeschafft werden. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Was suchen Sie hier überhaupt noch?«
»Leichen von Leuten, die nicht hier gewohnt haben«, gab Pitt zurück. »Bisher haben wir die Überreste zweier Menschen gefunden, von denen niemand sagen kann, wer sie sind. Wer weiß, ob man nicht eine Verbindung zwischen ihnen und den Explosionen herstellen kann.« In seiner Stimme lag wenig Hoffnung.
»Anarchisten?«
»Vermutlich. Andererseits können es auch Leute gewesen sein, die jemanden besucht haben, der uns nichts über sie sagen kann, weil er nicht mehr lebt.« Er richtete sich auf. »Sollte ich den Lastkahn am angegebenen Platz finden und er noch Dynamit oder Spuren davon an Bord haben, lässt sich dann die Verbindung zu Simbister einwandfrei beweisen?«
»Ja.« Tellman berichtete ihm knapp, was er von Taschen-Jones erfahren hatte. »Sie dürfen da auf keinen Fall allein hin.«
Pitt dankte ihm mit einem Lächeln, das wegen des Schmutzes auf seinem Gesicht etwas schief ausfiel.
Kaum dass sie aus den Trümmern wieder auf die Straße traten, sahen sie Charles Voiseys elegante Gestalt. Er kam in Begleitung eines Polizeibeamten auf sie zu. Als er Pitt erkannte, beschleunigte er den Schritt, ohne Tellman weiter zu beachten.
»Wir dürfen nicht länger warten! Für morgen ist eine weitere Lesung des Gesetzentwurfs vorgesehen«, sagte er unvermittelt. In seiner Stimme schwang Verzweiflung. Sein Gesicht sah im Schein der Abendsonne müde aus. Unter seinen Augen lagen dunkle Schatten. Er wehrte sich gegen die unausweichlich scheinende Niederlage. »Großer Gott, ist das entsetzlich!« Er sah nicht zu den Ruinen hin, die ihn umgaben, den Kaminen, die aus dachlosen Hausstümpfen vor dem blassen Himmel aufragten, den Trümmern, die über das Pflaster verstreut lagen, den Resten von Möbeln und Hausrat, den Kleidungsstücken, von denen nur noch Fetzen übrig waren. Sein Ausdruck zeigte deutlich, dass er die Toten bereits gesehen hatte und sich den Anblick nicht noch tiefer einprägen wollte.
»Wir haben festgestellt, dass es eine Beziehung zwischen dem Dynamit und Simbister gibt«, sagte Pitt und merkte, wie Tellman zusammenzuckte. Vermutlich war er überrascht, dass Pitt Voisey so sehr traute. »Ich bin auf dem Weg nach Shadwell, um mir einen Lastkahn anzusehen, auf dem es sich befinden soll.«
»Wann?«, fragte Voisey.
»Jetzt gleich.«
»Sie können nicht allein dorthin gehen.«
»Das ist auch nicht meine Absicht. Tellman begleitet mich.«
Voisey sah Tellman zum ersten Mal an und musterte ihn mit unverhülltem Interesse. Nahezu im selben Augenblick bahnte sich jemand vom anderen Ende der Straße her seinen Weg durch die verstreuten Trümmer und kam, nachdem er wenige Worte mit dem Streifenbeamten gewechselt hatte, geradenwegs auf Tellman zu, der den Ankömmling offenkundig erkannte.
»Mr Tellman, Sir«, sagte dieser atemlos. »Se werd’n dring’nd auf der Wache erwartet. Es geht um ’nen Diebstahl. Mr Wetron hat mich geschickt, ich soll Se hol’n. Er sagt, die Sache is zu wichtig, un man könnt se nich Johnston überlass’n. Sieht so aus, wie wenn die den arm’n Kerl von Butler ziemlich übel zusamm’n-geschlag’n un der Hausfrau schrecklich Angst gemacht ham.«
»Stubbs, sagen Sie …«, begann Tellman, begriff dann aber, dass er in der Klemme steckte. Wetron hatte nach ihm geschickt, und Stubbs hatte ihn zusammen mit Pitt gesehen. Doch Pitt durfte auf keinen Fall allein nach Shadwell Docks gehen.
»Mr Tellman«, sagte Stubbs eindringlich. »Ich hab fast ’ne Stunde gebraucht, um Se zu find’n.«
Wie war er auf den Gedanken gekommen, wo man ihn finden könnte? War Wetron bereits so argwöhnisch? Höchstwahrscheinlich wusste er schon alles. Stubbs sah ihn geradezu flehentlich an. Tellman musste an die Familie des Mannes denken, die von ihm abhing. Er durfte nicht mit leeren Händen zurückkehren. So etwas würde sich Wetron zunutze machen.
»Sie sollten besser gleich gehen«, sagte Pitt entschieden. »Ich glaube nicht, dass ich hier noch etwas finde, was mit Ihrem Fälscher zu tun hat. Falls aber doch, werde ich Ihnen das mitteilen.«
Mit bleichem Gesicht machte sich Tellman mit Stubbs auf, eine steife Gestalt, die mit kaum verhülltem Ärger in den länger werdenden Schatten verschwand.
»Shadwell Docks«, sagte Voisey angewidert. Er sah auf seine eleganten Schuhe hinab. »Trotzdem, Tellman hat Recht: Es wäre äußerst unklug, allein dort hinzugehen. Das dürfte eine der Situationen sein, in denen ein Zusammenwirken unbedingt im beiderseitigen Interesse liegt. Es ist ja wohl nicht weit bis dorthin, oder?«
Pitt blieb keine Wahl. Ganz gleich, was Voisey von ihm halten mochte, es konnte für den Mann nicht von Vorteil sein, wenn er sich schützend vor Simbister und das Dynamit stellte. Und über den Gesetzentwurf sollte am folgenden Tag abgestimmt werden.
»Kommen Sie«, sagte er. Er flehte zum Himmel, dass die Entscheidung nicht falsch war.
Er kannte den Weg zur New Gravel Lane und zu den Shadwell Docks. In der Luftlinie waren es etwas über drei Kilometer, aber weil sich die schmalen Straßen hin und her wanden, würde es zu Fuß fast eine Stunde dauern, bis sie dort eintrafen. Er wusste nicht, ob Voisey solche körperlichen Anstrengungen gewohnt war.
»Wenn wir die Commercial Road entlanggehen, stoßen wir vielleicht auf eine Droschke«, sagte er zweifelnd.
Voisey senkte den Blick auf das von Schlamm bedeckte Pflaster und sah dann zum sich verdunkelnden Himmel empor. »Gut!« Er begann auszuschreiten, ohne abzuwarten, ob Pitt noch etwas sagen würde.
Nach einer Weile stießen sie in der Tat auf eine Droschke und gelangten auf diese Weise in weniger als zwanzig Minuten an ihr Ziel. Sie stiegen etwa hundert Meter von der New Gravel Lane entfernt aus. Voisey entlohnte den Kutscher.
»Und jetzt?«, fragte er mit einem Blick auf die riesigen Lagerhäuser und die Kaianlagen. Schwarz zeichneten sich die Verladekräne vor dem Himmel ab. Dort, wohin der schweflig gelbe Schein vereinzelter Straßenlaternen nicht drang, war es vollständig dunkel. In der Brise, die vom Fluss herüberwehte, lag Salzgeruch, und die Feuchtigkeit in der Luft legte sich auf ihre Haut. Sie hörten, wie festgemachte Lastkähne und Boote mit ihren Fendern gegen die Ufermauer schlugen, das Wasser leise gegen Dückdalben und Anleger prallte und mit einem saugenden Geräusch über die Steine in die Themse zurückrollte.
»Dann wollen wir doch einmal sehen, ob wir die Josephine finden«, sagte Pitt betont munter. »Hier entlang.«
»Aber wie denn, in dieser Finsternis?« Voisey folgte ihm zögernd. Es war schwer, mehr als bloße Umrisse wahrzunehmen. Im Schatten der Gebäude ließ sich nichts unterscheiden. Alles schien in leichter Bewegung zu sein, doch war das eine vom Lichtschein, der auf dem Wasser tanzte, hervorgerufene Sinnestäuschung, die durch das allgegenwärtige Knarren und Wassertropfen noch verstärkt wurde.
»Mit Streichhölzern«, sagte Pitt, während sie sich den Stufen des alten Anlegers näherten.
»Um Gottes willen, wir suchen nach Dynamit!«, zischte Voisey.
»Da müssen wir eben besonders vorsichtig sein«, versetzte Pitt.
Leise fluchend folgte ihm Voisey.
»Wir haben Glück«, sagte Pitt nach einer guten Minute. »Das Wasser läuft auf.«
»Was für einen Unterschied macht das denn?« Voisey war dicht hinter ihm.
»Dann sind die Stufen trocken«, gab Pitt zur Antwort. Er suchte in seiner Tasche, holte eine Schachtel Streichhölzer heraus und riss eins davon an, wobei er die Hand um die Flamme hielt. Der schwache Lichtschein genügte gerade, dass er den Namen am Heck des nächstliegenden Lastkahns lesen konnte. »Blue Betsy«, sagte er leise. »Da sind noch drei andere. Kommen Sie.«
»Ich nehme an, Sie wissen, ob die Josephine hier liegt?«, fragte Voisey.
»Nein, aber in fünf Minuten kann ich es Ihnen sagen.« Pitt ging weiter nach unten. Der Wasserspiegel lag nur noch einen guten halben Meter unter seinen Füßen und sah metallisch aus. Man hätte ihn für eine feste Masse halten können, über die man zu den etwa zehn Meter entfernt festgemachten Booten gehen konnte, deren Positionslichter sachte auf und ab tanzten.
Auch der zweite Lastkahn war nicht der gesuchte. Sie mussten an Bord gehen, sich äußerst vorsichtig über das Deck tasten und sich mit einem weiteren kurz aufflammenden Streichholz bücken, um einen Blick auf den dritten zu werfen.
»Die Josephine!«, sagte Pitt mit tiefer Befriedigung.
Voisey schwieg.
Pitt ging voraus, wobei er für den Fall, dass das Deck glatt war, äußerst achtsam Schritt vor Schritt setzte. Wenn er fiel, konnte er sich verletzen oder gar ins Wasser stürzen. Schlimmer aber war die Möglichkeit, dass dann jemand auf einem der größeren Lastkähne, die sicherlich Wachen an Bord hatten, Alarm schlug.
Die Josephine lag ziemlich tief im Wasser, doch ließ sich der Abstand dorthin mit einem Sprung überwinden. Pitt schob sich auf Händen und Füßen über das Deck, einerseits, damit man ihn nicht sah, andererseits, um sein Gleichgewicht besser halten zu können, denn der Lastkahn hatte angefangen zu schaukeln.
Voisey tat es ihm nach.
Schweigend tasteten sie nach einer Ladeluke und suchten dann nach einer Möglichkeit, sie zu öffnen. Die Decksplanken rochen vermodert, und einige von ihnen fühlten sich viel zu weich an. Der Lastkahn musste ziemlich alt sein. Mit Sicherheit konnte man damit nicht einmal mehr auf der Themse herumfahren; er diente lediglich als schwimmender Lagerbehälter.
Die Ladeluke war nicht verschlossen und ließ sich mit dem daran befindlichen Griff leicht öffnen. Das beunruhigte Pitt ein wenig. Hatte man das Dynamit womöglich schon fortgeschafft? Oder war es auf irgendeine andere Weise gesichert?
»Worauf warten Sie?«, flüsterte Voisey.
Pitt wünschte, Tellman wäre bei ihm. Zwar sagte ihm sein Verstand, dass Voisey es sich nicht leisten konnte, ihm jetzt in den Rücken zu fallen, doch sein Instinkt lehnte sich gegen das Argument auf.
Sollte er sich in den Laderaum wagen oder lieber nicht? Mit einem Mal kamen ihm die schimmernden Lichter über der Themse, die Weite, der Geruch nach Salz und Fischen, den die Flut mit sich brachte, und sogar der Gestank des Schlamms wie das Versprechen von Freiheit vor. Mit der abgestandenen Luft des Laderaums schien ein leichter Geruch nach Chemikalien aufzusteigen.
Im Schutz des Lukensülls riss Pitt ein weiteres Zündholz an und hielt es mit größter Vorsicht nach unten. Auf keinen Fall durfte er es fallen lassen, und wenn es ihm die Fingerkuppen verbrannte. Er spürte, dass Voisey nur wenige Zentimeter hinter ihm war.
Der Laderaum war so gut wie leer. Es dauerte eine Weile, bis Pitt im entferntesten Winkel einige aufgestapelte Pakete sah. Es war denkbar, dass sie Dynamit enthielten, doch konnte es ebenso gut alles Mögliche andere sein, zum Beispiel einige Stapel alter Zeitungen.
»Ich gehe nach unten«, sagte er leise. »Sie auch«, fügte er hinzu.
»Soll ich nicht hier bleiben und aufpassen?«, fragte Voisey mit leichter Belustigung in der Stimme.
»Nein!«, fuhr ihn Pitt an. »Jemand muss das Streichholz halten.«
Voisey stieß ein leises nervöses Lachen aus. »Ich dachte nur, dass Sie mir vielleicht nicht trauen.«
»Das tue ich auch nicht.«
»Wir können uns nicht gleichzeitig durch die Luke hinunterlassen«, sagte Voisey. »Einer von uns muss den Anfang machen. Eine Münze zu werfen hat keinen Sinn – wir würden nicht sehen, auf welcher Seite sie landet. Da ich Ihnen traue, gehe ich als Erster.« Er schob sich an Pitt vorbei. Nach kurzem Überlegen ergriff er die Ränder der Luke, ließ sich hinab und stand gleich darauf auf dem Boden des Laderaums.
Pitt folgte ihm, dann gingen sie gemeinsam dorthin, wo die Päckchen lagen. Voisey riss ein Zündholz an und hielt es, während Pitt eins der Päckchen untersuchte. Er brauchte nur wenige Sekunden, um festzustellen, dass es sich um Dynamit handelte.
»Simbister«, sagte Voisey mit tiefer Befriedigung und einem Anflug von Überraschung. Die Flamme erlosch. Im Lagerraum war es vollständig finster. Man konnte nichts sehen, nicht einmal das blasse Viereck des Himmels durch die offene Luke.
Dann begriff Pitt, dass sie nicht mehr offen stand. Aber er hatte sie nicht zufallen hören!
Dass Voisey neben ihm stand, merkte er ausschließlich an dessen Atemzügen. Er konnte nichts sehen.
»Ist sie zugefallen?«, flüsterte Voisey, obwohl ihm die Antwort klar war. Es kostete ihn größte Mühe, mit ruhiger Stimme zu sprechen und seine Angst nicht zu zeigen. »Gibt es einen anderen Weg nach draußen?«
Pitts Gedanken jagten sich. Er bemühte sich, nicht in Panik zu verfallen. Da Voisey bei ihm war, konnte es dessen Werk nicht sein, und so kam nur Grover infrage, wenn nicht gar Simbister selbst. »Nein«, sagte er und holte tief Luft. »Es sei denn, wir schaffen uns einen.«
Sie spürten einen Ruck, auf den ein zweiter folgte. Dann hörten sie ein Wassergeräusch, das anders war als der Wellenschlag. Es schien eher aus einem zweiten Laderaum als von den Rümpfen der beiden Boote neben der Josephine zu kommen. Pitt begriff sofort, was das bedeutete. Der Lastkahn wurde geflutet. Die Leute waren bereit, das Dynamit zu opfern, um ihre beiden gefährlichsten Feinde aus dem Weg zu räumen. Er hätte das voraussehen müssen. Er hörte, wie Voisey die Luft scharf durch die Zähne sog. Auch er hatte verstanden. Der Boden unter ihren Füßen begann sich zu neigen.
»Wir haben nur das Dynamit«, sagte Pitt laut. »Zum Glück sind Zünder dabei. Wir müssen die Luke wegsprengen, und zwar so schnell es geht.«
Voisey keuchte. »Wie viele Streichhölzer haben Sie noch?«
»Ein halbes Dutzend«, sagte Pitt. »Bedauerlicherweise habe ich das nicht vorausgesehen.«
»Ich habe ungefähr drei.«
»Gut. Zünden Sie sie nacheinander an, und halten Sie sie, damit ich etwas sehen kann.«
Voisey gehorchte, und im flackernden Schein machte sich Pitt an die Arbeit, öffnete eins der Dynamitpakete, nahm einen Zünder und formte die leicht klebrige Masse zu einem Streifen, der an der Kante der Luke haften würde. Nachdem Voisey seine Streichhölzer verbraucht hatte, nahm er die Pitts.
Pitt brachte Sprengstoff rund um den Lukenrand an, legte die Lunte an den Zünder und entfernte sich dann, wobei er Voisey mit sich zog. Der Lastkahn hatte inzwischen schwere Schlagseite, und man konnte deutlich hören, wie das Wasser gurgelnd den anderen Laderaum füllte.
Nichts geschah.
»Wie lange dauert das?«, fragte Voisey leise. »Wir gehen unter.«
»Ich weiß. Das Dynamit hätte schon hochgehen müssen.«
Voisey bewegte sich. Pitt fasste nach seinem Arm und hielt ihn zurück. »Nicht! Es kann immer noch detonieren.«
»Wenn das nicht in den nächsten drei bis vier Minuten passiert, nützt uns das nicht viel«, gab Voisey zu bedenken.
»Es sind noch mehr Zünder da«, sagte Pitt. »Wir müssen irgendwo anders eine Öffnung schaffen.« Seine Gedanken jagten sich. Der Lastkahn sank mit dem Heck voraus. Die einzige Möglichkeit bestand darin, den Bug aufzusprengen, weil der noch aus dem Wasser ragen würde. An jeder anderen Stelle würde es schlagartig einströmen, sie mit sich reißen und ihnen den Ausweg versperren.
»Am Bug«, sagte er und erhob sich. »Zünden Sie ein Streichholz an. Ich muss sehen, was ich tue.«
»Wir haben nur noch drei«, sagte Voisey. »Es könnte nicht schaden, wenn es diesmal funktioniert.« In seiner Stimme lag keine Kritik, lediglich messerscharfe Ironie und Angst.
Pitt gab keine Antwort. Die Situation war ihm auch ohne Voiseys Worte klar, und es war besser, an die Aufgabe zu denken, die er vor sich hatte, als an Charlotte, sein Heim, seine Kinder oder das kalte, schmutzige Wasser der Themse, das nur durch eine Schicht Holz von ihm getrennt unmittelbar nebenan gurgelte. Er arbeitete so rasch er konnte, im vollen Bewusstsein dessen, dass Übereilung wie auch der kleinste Fehler ihnen diesen letzten Ausweg versperren würde.
Er drückte das Dynamit gegen die Bugplanken und machte sich daran, den Zünder anzubringen.
Voisey riss das letzte Streichholz an und entzündete damit eine Zigarette, deren Rauch er einsog. Im Laderaum war es wieder dunkel.
Pitt sah nur das glimmende Ende der Zigarette. Er brachte kein Wort heraus.
»Sie hält länger als ein Streichholz«, sagte Voisey ruhig. »Bringen Sie den Zünder an, und dann los.«
Mit zitternden Händen gehorchte Pitt.
Voisey tat einen Zug nach dem anderen an der Zigarette. Pitt kontrollierte den Sitz des Zünders ein letztes Mal. »Fertig.«
Voisey hielt das glimmende Ende der Zigarette an die Lunte. Dann traten sie so weit wie möglich zurück. Inzwischen hatte der Lastkahn so schwere Schlagseite, dass sie sich kaum auf den Beinen halten konnten. Die Lunte knisterte. Es schien endlos lange zu dauern. Pitt hörte schwere Atemzüge. Er nahm an, dass sie von Voisey kamen, merkte dann aber, dass es seine eigenen waren. Draußen in der Dunkelheit schlug das Wasser der Themse gegen den Rumpf.
Ein gewaltiges Krachen ertönte, und eine Druckwelle schleuderte sie nach hinten. Dann wurden sie vom eiskalten Wasser erfasst, und der Lastkahn begann rascher zu sinken.
Pitt stieß sich voran, dem riesigen Loch im Bug entgegen. Er musste es erreichen, bevor der Lastkahn vollständig unterging und er vom Gewicht des Wassers mit in die Tiefe gerissen wurde. Er bekam die gezackte Kante zu fassen und hielt sich daran fest. Sie ragte kaum einen halben Meter über das Wasser hinaus. Jeden Augenblick konnte es zu spät sein.
Er ließ nicht los, spürte die Luft auf seinem Gesicht, sah die Lichter über dem Fluss und am Himmel. Er drehte sich um, ergriff Voiseys Hand und zog mit aller Kraft.
Voiseys Kopf tauchte in dem Augenblick aus dem Wasser auf, als die Josephine endgültig verschwand. Jetzt mussten sie noch die Anlegertreppe erreichen, durchgefroren, aber frei.