Den ganzen Weg reden wir nicht. Ich gebe mir unendlich viel Mühe, sogar in der engen S-Bahn keinen Körperkontakt zu ihr aufzunehmen. Ich lehne mich so weit von ihr weg, als hätte sie eine erschreckend ansteckende Krankheit. Dabei lande ich fast in der unrasierten Achselhöhle eines Mannes, der hinter mir steht und sich an der Stange festhält. Alles ist besser, als Mayas Haut spüren zu müssen. Das klingt jetzt sehr negativ, ist aber unter keinen Umständen so gemeint. Unter anderen Umständen würde ich alles dafür geben, sie berühren zu dürfen, aber inzwischen ist so viel passiert. Keine weltbewegenden Dinge, keine weiteren Terroranschläge auf die westliche Welt, keine Prinzenhochzeit, kein verlorenes WM-Finale. Aber in mir drin hat sich einiges verändert, und ich habe die starke Annahme, bei ihr auch. Ich habe gelernt, dass Liebe nicht immer Gegenliebe erzeugt, ich habe gelernt, dass Patrick und Melanie eine einzigartige Geschichte sind und sich die Geschichte nicht zwingend wiederholen muss. Ich habe gelernt, dass Hunde lächeln und Delfine kranken Kindern helfen können, aber Liebe erzeugt nicht immer Gegenliebe. Das ist ein romantisches Ideal und ich bin ihm gefolgt, angespornt durch die Geschichte meiner Jugend. Durch mein Dasein als Zuschauer bei meinem besten Freund.

Maya hält sich die ganze Zeit an ihrer Umhängetasche fest, als wäre darin ein unsichtbarer Rettungsring. Sie sieht mich manchmal an, dann bekomme ich ein Lächeln. Von Lucy ist nichts mehr in ihrem Gesicht zu erkennen. Ihr Lächeln ist losgelöster, keine dunklen Wolken mehr in ihren Augen. Ich schreibe mir einen kleinen Teil davon als Erfolg auf mein Konto.

„Du siehst gut aus.“

Ich möchte mein Herz anschreien, mit diesen verfluchten Luftsprüngen aufzuhören. Vermutlich will sie nur höflich sein.

Wir stehen nebeneinander im Aufzug und fahren all die Stockwerke ruckelnd nach oben. Ich muss sie nicht ansehen, ich erkenne ihr Gesicht in der verspiegelten Fahrstuhltür, sie lächelt und dummerweise tue ich es auch. Nur kurz, aber ich zeige es.

„Danke. Du auch.“

Ich muss es sagen. Nicht nur, weil ich es meine und es so ist, sondern weil es sich so gehört. So wurde ich erzogen. Ich sage es nur deswegen und nicht, weil das Sommerkleid ihr unendlich schmeichelt.

„Hast du …“

Ich warte, beobachte ihr Gesicht, aber sie spricht nicht weiter, weicht meinem Blick aus. Typisch, daran habe ich mich gewöhnt. Ich würde gerne wissen, was sie sagen will, aber ich werde nicht mehr nachfragen. Ein bisschen stolz bin ich auf mich, weil ich mich trotz der emotionalen Karussellfahrt erstaunlich gut schlage.

„Jonas, hast du jemanden kennengelernt ... also gibt es jemanden in deinem Leben. Im Moment?“

Ihre Stimme überschlägt sich, es klingt gepresst, als wolle sie die Frage so schnell wie möglich aus ihrem Mund spucken. Ich sehe sie überrascht an, und diesmal schafft sie es, mir in die Augen zu sehen. Sie will tough wirken, wie immer, aber ich kenne sie auch nach dieser Pause noch besser, als sie annimmt.

„Also, eine Frau, meine ich.“

Wenn man ehrlich ist, geht sie das nichts an.

„Ja.“

Sie sieht sofort weg, ihre Hände greifen wieder nach ihrer Umhängetasche, sie nickt. Ich lächle. Niemals hätte ich gedacht, dass man die Gefühle anderer Menschen wirklich so klar und deutlich spüren kann. Ich könnte die Hand ausstrecken und würde ihre Enttäuschung spüren.

„Nein.“

Die Tür geht auf, wir sind da.

„Was?“

„Nein, ich habe keine Freundin. Ich wollte nur sehen, ob du enttäuscht bist.“

Sie sieht mich aus großen Augen an und lächelt verwirrt, während wir aus dem Fahrstuhl gehen. Zum ersten Mal habe ich die Gewissheit, sie weiß, wie es sich anfühlt, mit einem Herzen voller Hoffnungen eine lange Reise auf sich zu nehmen und dann bitter enttäuscht zu werden. Vielleicht weiß sie nicht, wie ich mich in Barcelona gefühlt habe, aber ein kleiner Teil ihrer Hoffnung hat sich gerade suizidal verabschieden wollen.

Auf der Dachterrasse stehen zwei Grills, Fleischgeruch liegt in der Luft, in einem großen Eimer voller Eiswürfel liegen verschiedene Biersorten. In einem etwas kleineren direkt daneben unzählige Colaflaschen. Musik vermischt sich mit den Hintergrundgeräuschen der Stadt, um einen Pavillon hängen Lichterketten, die zu später Stunde dem Ganzen etwas Charme verpassen sollen. Viele vertraute Gesichter, gemischte Erinnerungen an unterschiedliche Momente meines Lebens.

Sofort wird mir ein Bier in die Hand gedrückt, eine Plastikblumenkette um den Hals gelegt. Eine Umarmung folgt, die Ansage, dass der Ehrengast endlich da wäre, kurzer Applaus. Ich werde von einer Umarmung in die nächste gezogen, drehe mich einige Male zu Maya um, aber sie wird von einer Schulfreundin aus der Unterstufe an einen der Tische gebracht, ebenfalls mit Bier versorgt und dann in eine Unterhaltung verwickelt. Sie sieht zu mir und lächelt.

Es läuft alles wie im Film ab. Mit den verschiedenen Gesprächspartnern aus verschiedenen Epochen meines Lebens kommen kurze Momente und Szenen auf, die mal lustig, mal peinlich, mal rührend sind. Man vergisst schnell, wie viel man mit Menschen während der Schulzeit teilt – um sich Jahre später, nachdem man die Erinnerung lange Zeit nicht mehr aufpoliert hat, doch noch an alles erinnern zu können. Sicherlich schmücken wir manche Stellen aus, einfach weil man sie etwas größer wiederbeleben will.

Patrick reicht mir ein weiteres Bier, ich sehe Melanie an Mayas Tisch sitzen. Die beiden unterhalten sich, und Patrick stößt mit mir an.

„Hat sie gesagt, was sie hier will?“

Ich zucke wahrheitsgemäß ratlos die Schultern.

„Es macht keinen Sinn.“

Ich stimme Patrick zu und wende mich wieder von ihr ab. Je länger ich sie ansehe, umso größer wird der Wunsch, sie direkt nach dem Grund ihres Besuchs zu fragen. Und wenn ich ehrlich bin, egal wie die Antwort ausfallen würde, sie wäre immer denkbar schlecht. Sie wollte wissen, ob ich eine Freundin habe. Aber hat sie einen Freund? Will ich es wissen? Schlimmer noch, könnte ich es verkraften?

Patrick und ich sitzen auf zwei Strandstühlen am Rand der Terrasse und blicken über das Häusermeer unserer Heimat.

„Du wirst mir fehlen.“

Patrick sieht mich nicht an. Sein Blick ist starr auf Stuttgart gerichtet, und ich weiß nicht, was er dort sieht. Vielleicht kleine Erinnerungen, die ich wie einen Schatz sicher in mir hüten werde, wenn ich nach London gehe.

„Dann kommt mich oft besuchen.“

Ich will locker klingen, aber seitdem ich dieses Dach betreten habe, schnürt sich mein Hals gefährlich zu, und der Kloß wird größer und größer. Aber ich bekämpfe ihn mit einem weiteren Schluck Bier.

„Das werden wir. Aber es ist nicht dasselbe.“

Jetzt sieht er doch zu mir und ich meine, Tränen in seinen Augen zu erkennen.

„Ich kenne dich, solange ich denken kann. Es gibt keine nützliche Erinnerung an die Zeit vor unserer Freundschaft.“

Ich weiß so sehr was er meint. „Patrick und ich“ – das gehört seit der Schule zusammen wie „Bud Spencer und Terence Hill“. Wie „Batman und Robin“. Er fehlt mir schon jetzt.

„Vielleicht habe ich das nicht so oft gesagt, aber du bist ein ganz wunderbarer bester Freund, Jonas.“

Da sind sie wieder, die Erinnerungen von uns beiden in so ziemlich jedem Alter ab sechs Jahren: Fußballverein, Kinderdisko, Nachhilfe in Mathe, Schulhofrauferei, erste Zigarette, Führerschein fürs Moped, schlimme Frisuren, Modesünden, erste Liebe, erster Herzschmerz, letzter Herzschmerz – und jetzt sitzen wir hier ein letztes Mal beisammen. Natürlich werden wir uns wiedersehen. Natürlich wird er mit mir durch Londons Plattenläden stöbern. Dessen sind wir uns beide bewusst, und doch wird alles von jetzt an anders. Ich kann ihn zwar anrufen, wann immer ich seine Stimme hören will, aber wir können uns nicht einfach so auf ein Feierabendbier treffen.

„Du auch.“

Mehr kann ich nicht sagen, weil ich nicht zugeben möchte, wie sehr er mir fehlen wird. Er ist nur ein paar Wochen älter und doch der Bruder, den ich nicht hatte. Er war und ist immer für mich da.

Doch bevor ich mehr sagen kann, steht er auf, klopft mir auf die Schulter und murmelt etwas von frischem Bier. Dabei weiß ich, seines ist noch mehr als halb voll. Auch, wenn es für uns kein Problem ist, vor dem anderen zu weinen … aber nicht auf einem Dach mit meinen ältesten Freunden. Also lasse ich ihn gehen. So, wie er mich gehen lässt.

Ich wische mir schnell über die Augen, als sich jemand auf den Stuhl nehmen mich setzt, wo eben noch mein bester Freund saß. Es ist Maya.

„Störe ich?“

„Gar nicht.“

Sie nickt, sieht über Stuttgart, atmet tief ein, um dann wieder zu mir zu sehen.

„Heute bist du sehr gefragt.“

„Abschiedsparty und so.“

Maya nickt.

„Ich habe nämlich etwas für dich, und das würde ich dir gern geben.“

Aha, daher weht der Wind. Sie will mir etwas geben. Ich habe keine Ahnung, was. Verdient hätte ich eine Couch, aber das sage ich nicht. Ich sehe sie einfach nur an, was sie nervös macht. Das hat es früher nicht.

„Als Abschiedsgeschenk, auch wenn es nicht so geplant war.“

Sie greift in ihre Umhängetasche und fischt einen imposanten Stapel Papiere aus dem Inneren. Dabei fällt eine kleine Plastiktüte auf den Boden, die ich aufhebe und sofort lächeln muss.

„Jelly Beans?“

Sie lächelt mich an und zuckt die Schultern.

„Ein Laster hat jeder, oder?“

Sie stopft die Tüte zurück in ihre Tasche und hält den Stapel stolz vor sich. Ich verstehe nicht, und von daher weiß ich nicht so recht, welche Reaktion angebracht ist oder erwartet wird.

„Ta-dah!“

In ihrer Stimme klingt Stolz.

„Druckerpapier?“

„Ursprünglich ja. Eigentlich schenke ich dir einen Baum. Aber es geht um das hier ...“

Sie dreht es um, und ich sehe, die Seiten sind bedruckt.

„Das ist für dich. Weil ich immer ...“

„Jonas, komm her, es ist Zeit für eine Rede!“

Ich drehe mich zu der Stimme in meinem Rücken um. Es ist Volker, Klassensprecher in der achten Klasse. Ich will ihm sagen, dass ich jetzt gerade in diesem Augenblick keine Zeit habe, aber die Musik wird bereits abgestellt und er schnappt sich das Mikrophon. Die Leute erwarten mich, und ich stelle erneut fest, ich habe kein besonders gutes Timing.

„Geh nur. Ich warte.“

Maya lächelt und will tapfer klingen, dabei hat es sie eine gehörige Portion Überwindung gekostet, um endlich mit der Sprache herauszurücken. Ich nicke und erhebe mich. Meine Freunde klatschen und ich spiele mit. In meinem Kopf frage ich mich noch immer, was wohl die bedruckten Papierseiten in Mayas Armen zu bedeuten haben, aber jetzt muss ich einen Weg zurück in diese Realität finden.

„Ich kenne den guten Jonas schon unendlich lange. Wir sind Kumpels seit der Schulzeit.“

So fangen alle Reden wohl an. Ich nicke an den richtigen Stellen, spiele mit, weil sich alle Mühe gegeben haben und ich unseren letzten Abend nicht ruinieren will. Volker erzählt von Momenten in der Schule; wie ich mir auf einer Freizeit mit einer Sicherheitsnadel selbst ein Ohrloch gestochen und binnen Sekunden das Bewusstsein verloren habe; und wie ich danach von meinen Freunden verlangte, es a) niemandem zu sagen und mich b) nur noch mit dem Namen Sid Vicious anzusprechen. Er entschuldigt sich dafür, Versprechen a) zu brechen, aber die Lacher der Gäste geben ihm Recht, und ich lache mit. Hauptsächlich, weil es wirklich lustig ist, aber auch ein bisschen, weil ich Maya zeigen will, dass sie hier nur eine Nebenfigur ist.

„Viel wichtiger, lieber Sid, ist aber die Tatsache, dass du uns hier fehlen wirst. Als Mensch und Freund, aber es beruhigt mich, zu wissen: wer dich einmal in seinem Leben hat, der verliert dich nie. Egal wie weit weg man ist.“

Er hält seine Bierflasche in die Luft und alle trinken auf mich. Ich bedanke mich artig und brauche mehrere Schlucke, um den Kloß in meinem Hals runterzuschieben. Das wird hier heute nicht ohne Tränen enden, das wissen alle.

Volker umarmt mich, und dann auch noch seine Freundin. Und deren Freundin, die ich in der Oberstufe kurzzeitig süß fand, und dann noch ein anderer Freund. Ich umarme viele Menschen, nur nicht die Person, die ich doch so gerne in meine Arme nehmen möchte.

Maya sitzt noch immer da, hat aber einen neuen Gesprächspartner. Eine meiner Ex-Freundinnen, und ich halte das für keine gute Mischung. Aber bevor ich zu einer Unterbrechung ihrer Unterhaltung eingreifen kann, greift eine Hand nach meinem Arm und zieht mich in eine andere Richtung.

Ich bekomme ein frisches Bier, schon werde ich in einen neuen Strudel aus Erinnerungen gezogen. Ich wehre mich nicht mehr, was ohne Zweifel auch am Bier liegt. Ich lache, weil ich es zulasse. Ich trinke, weil ich es möchte, endlich genieße ich diesen Abend. Manchmal spüre ich ihren Blick in meinem Rücken und das tut gut. Sie ist hier, das habe ich mir vor ein paar Stunden noch nicht einmal erträumt – und jetzt ist sie mit mir zusammen auf diesem Dach. Aber ich kann nicht nur noch an sie denken, ich muss auch an mich denken. Sie ist mir viel zu nahe gekommen in den wenigen Momenten, die wir zusammen verbracht haben.

„Kann ich ihn kurz entführen?“

Ihre Hand schiebt sich in meine wie das letzte, entscheidende Puzzlestück.

„Sicher, gib ihn nur am Stück wieder.“

Patrick sagt es im Spaß und alle lachen. Aber ich verstehe, was Patrick damit sagen will und nehme seine Worte als Warnung mit, während ich Maya folge.

„Ich weiß, ich habe heute kein besonders gutes Timing, aber ich muss noch was loswerden. Und heute passe ich irgendwie nicht hierher.“

Maya, die große Maya, die sich überall wohlfühlt, die alle mit ihrem Charme verzaubert, steht hier vor mir und wirkt fast verschüchtert und unsicher. Der Wind hier oben auf dem Dach bringt ihre ohnehin schon wilde Mähne noch mehr durcheinander, und sie hat Schwierigkeiten, die Locken zu bändigen.

„Das sind nur meine Freunde. Die beißen nicht.“

„Ich weiß. Aber ich bin hier, weil ich dir etwas geben will.“

Sie deutet nickend zu den beiden Strandstühlen, die inzwischen von anderen eingenommen sind. Dort liegt der Stapel Papier, darauf eine Flasche Bier als Briefbeschwerer.

„Was ist das denn genau?“

Ich halte die Frage für einfach, deswegen wundert es mich, wieso sie mich nur ansieht und tief Luft holt. Das tut sie nun zum wiederholten Male. Es wundert mich, weil es ihr doch nie schwer gefallen ist, zu sagen, was sie denkt. Oder zu verschweigen, was sie fühlt.

„Es ist ein Geschenk. Für dich.“

„Ja, das sagtest du. Aber was ist es?“

Sie greift langsam nach meiner Blumenkette, die vermutlich aus der Zeit der Fußball-WM in Deutschland stammt, und spielt mit den Plastikblüten zwischen ihren Fingern.

„Ich dachte, ich schreibe einfach, was ich so zu sagen hatte.“

Sie sieht mich nicht an, aber ich lasse ihre Augen, ihr Gesicht keine Sekunde aus den Augen.

„Fabian hat mich gefragt, wieso ich weine und wieso du nicht wieder kommst. Und ich sagte, es geht nicht mit uns beiden. Du hast ein eigenes Leben und könntest es nicht aufgeben.“

„Aber ich ...“

Sie legt mir schnell den Finger an die Lippen und hindert mich am Sprechen, also folge ich ihrer Anweisung und bleibe stumm. Erst jetzt sieht sie mich an.

„Ich weiß, ich habe gelogen. Ich dachte, es würde gehen. Aber ohne dich war es unendlich leer. Also habe ich angefangen, alles aufzuschreiben. Einfach alles. Jetzt kann ich nicht länger warten. Du sollst es endlich wissen.“

Ich sehe zurück zum Stapel, der nur wenige Meter von mir entfernt ist. In einem dicken Stapel sind also alle Antworten auf die Fragen, die mich die letzten Monate verfolgt haben. Mein Herz schlägt schneller, und ich hoffe, es liegt nicht am Alkohol. Sie hätte früher kommen sollen, früher kommen müssen. Aber ich spüre jetzt, es gibt kein gutes oder schlechtes Timing. Jeder ist irgendwann bereit, zu sagen, was er sagen muss, weil es ihn sonst im Inneren verbrennt. Unausgesprochene Worte sind wie Magengeschwüre, sie tun weh und schlagen auf die Gesundheit. Nicht nur bei dem, der sie sagen sollte, auch bei dem, der vielleicht ein Leben lang darauf wartet, sie zu hören.

Ich sehe zu meinem Stapel Papier, dann wieder zu Maya.

„Vielleicht sollte ich dann mal lesen, was du so zu sagen hast.“

Sie nickt und lächelt, mein Herz schlägt noch schneller. Und dann passiert es!

Es heißt, bestimmte Szenen passieren in Zeitlupe, weil sie mehr Dramatik verdienen als andere. Ich denke, sie passieren doppelt so schnell wie andere Dinge, weil man sie nicht aufhalten kann, nur deswegen nehmen wir sie verlangsamt wahr.

Volker greift nach der Flasche Bier, die meine Antworten zusammenhält. Ich will losschreien, aber ich bleibe stumm, weil Maya schneller ist. Doch auch ihr Schrei ändert nichts an dem, was jetzt passiert.

Kaum ist das Bier in Volkers Hand, flattern die Blätter wild in die Luft, über unsere Köpfe, weg vom Dach, tanzend in den Himmel. Wir rennen zeitgleich los, Volker lässt das Bier fallen und versucht, so viele Blätter wie möglich zu erwischen. Patrick und Melanie tun es ihm gleich. Ich erwische ein paar Seiten und sehe doch unzählige für immer verschwinden. Ich werfe einen Blick auf das Papier in meiner Hand.

„Du hast mein Leben für immer verändert, du warst immer für mich da. Dafür bin ich dir unendlich dankbar.“

Ich versuche, mehr Zettel aus dem Himmel zu pflücken, wie inzwischen fast alle meine Freunde. Es muss unendlich lustig aussehen, aber es fühlt sich an wie eine emotionale Katastrophe.

„Jetzt sind es schon vierundzwanzig Tage, und ich vermisse dich noch immer genauso sehr wie am ersten Tag, als ich auf deiner Couch hier eingeschlafen bin. Sie riecht nach dir und ich habe das Gefühl, dir ganz nah zu sein.“

Wie ein Verrückter reiße ich alle Blätter an mich, die ich finden kann: Maya hat Tränen in den Augen, sieht ihr Werk im Stuttgarter Abendhimmel verschwinden.

„Ich träume so oft von dir, Jonas. Aber jedes Mal, wenn ich dich berühren will, löst du dich in Luft auf. Ich wünschte so sehr, ich hätte den Mut, dich endlich anzurufen.“

Ich lese hastig durch die Blätter in meiner Hand, mein Herz rast wie das eines Sprinters, ich vergesse das Atmen, das Blut rauscht in meinen Ohren und meine Hände zittern.

„In meinem Traum war ich heute wieder im Picasso-Museum und habe dich dort getroffen. Ich träume mich oft zu dir und wünsche mir, nicht aufzuwachen, weil ich dich dann wieder verliere.“

Schnell, irgendwo hier muss es stehen. Irgendwo hier steht es bestimmt geschrieben. Ich weiß es. Einer dieser Zettel enthält meine Antwort.

„Jonas, ich habe Angst, es ist zu spät, und du hast mich vergessen. Bitte sage mir, dass du mich nicht vergessen hast, dass du noch immer an mich denkst.“

Ich sehe zu Maya, die mit hängenden Schultern auf die Straße unter uns blickt, wo viele Blätter den Gehsteig pflastern.

„Fünf Tage mit dir waren und sind nicht genug, ich bin so schrecklich dumm gewesen. So, so dumm! Aber würdest du mir verzeihen?“

Ich folge ihrem Blick, vielleicht ist es eines der Blätter da unten.

„Ich schlafe jede Nacht in dem T-Shirt, das ich aus deinem Schrank geklaut habe. So bilde ich mir ein, in deiner Umarmung zu liegen.“

Da unten liegt meine Antwort. Ich muss sie holen, aber Maya hält meine Hand fest.

„Es ist nicht wichtig, Jonas“

„Es ist wichtig! Mir ist es unendlich wichtig! Du hast all das für mich geschrieben!“

Ich wedle mit den Blättern in meinen Händen wild vor ihrem Gesicht herum, meine Stimme überschlägt sich.

„Ich muss es wissen. Und ich werde diese eine Seite auch finden!“

Maya sieht mich an, greift nach meinem Gesicht und hält es fest in ihren Händen. Unsere Lippen berühren sich fast, nur mit viel Willenskraft unterdrücke ich meinen Instinkt sie zu küssen, zu sehen ob es sich noch immer so anfühlt.

„Das musst du nicht!“

Sie beliebt zu scherzen. Ich habe alles in meinem Leben verändert, um nicht mehr an sie denken zu müssen. Ich habe alle Gefühle verdrängt, mich gewehrt und Erinnerungen gelöscht. Und alles war eine billige Lüge, weil es wie das Olympische Feuer ununterbrochen in meinem Inneren gebrannt hat. Ich wollte es all die Zeit wissen – und jetzt weht der Wind meine Erlösung einfach durch die Luft. Ich will nicht schreien, tue es aber vermutlich trotzdem.

„Doch, ich will es lesen.“

Es kommt aus dem Nichts, es ist wie eine Attacke bei Dunkelheit. Nein, wie etwas Schönes. Eher wie ein Feuerwerk, mit dem man nicht gerechnet hat und das plötzlich den ganzen Himmel in den buntesten Farben erleuchtet.

Maya küsst mich. Es wird ganz still auf dem Dach. Ich höre nur noch das Rauschen des Windes, höre mein Herz, und irgendwo in meinem Inneren höre ich endlich auch wieder ihr Herz, das noch immer im gleichen Rhythmus mit meinem schlägt. Und es schlägt laut.

„Du musst es nicht lesen.“

Sie flüstert es gegen meine Lippen, nur ich kann sie hören, ich halte die Augen geschlossen, zu groß ist das Risiko, sie könnte sich einfach so wieder in Luft auflösen. So wie in all meinen Träumen, die mich in regelmäßigen Abständen heimsuchen und mir schrecklich wehtun Aber diesmal traue ich mich doch. Ich öffne die Augen und da steht sie, breitet die Arme aus, holt tief Luft und dann reißt der Wind ihr auch schon die Worte von den Lippen und trägt sie, zusammen mit all den Blättern, über die Dächer Stuttgarts:

„JONAS FUCHS, ICH LIEBE DICH!“

5 Tage Liebe
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