2. Kapitel
Hayley betrat Harper House mit Lily auf der Hüfte. Sie setzte ihre Tochter ab und warf dann Handtasche und Wickeltasche auf die unterste Stufe der Treppe, damit sie die Sachen beim Hinaufgehen nachher gleich zur Hand hatte. Am liebsten hätte sie sofort geduscht - zwei oder drei Tage lang -, um gleich darauf ein eiskaltes Bier auf einen Zug hinunterzustürzen. Doch als Erstes wollte sie Roz begrüßen. In dem Moment kam Roz aus dem Wohnzimmer. Sie und Lily schrien entzückt auf, als sie sich sahen.
Lily änderte die Richtung und lief wankend auf Roz zu, während diese zu ihr rannte und sie in die Arme nahm. »Da ist ja meine kleine Maus.« Sie drückte Lily an sich und gab ihr einen Kuss auf den Nacken, dann hob sie den Kopf, lächelte Hayley an und hörte mit gespieltem Erstaunen dem unverständlichen Gebrabbel des kleinen Mädchens zu. »Ich kann gar nicht glauben, dass in einer Woche so viel passiert ist! Das ist aber schön, meine Süße, dass du mir den ganzen Tratsch erzählst.« Sie lächelte wieder Hayley an. »Und wie geht's der Mama?«
»Großartig.« Hayley ging zu ihnen und umarmte die beiden.
»Willkommen daheim. Wir haben dich ganz fürchterlich vermisst.«
»Gut. Es gefällt mir, wenn man mich vermisst. Was haben wir denn da?« Sie strich mit den Fingern durch Hayleys Haar. »Der Schnitt ist ganz neu. Ich hab ihn heute erst machen lassen. Beim Aufstehen hat mich wohl der Hafer gestochen. Roz, du siehst großartig aus.«
»Ach, hör auf.« Doch es stimmte. Roz war eine bildschöne Frau, und nach der einwöchigen Hochzeitsreise in die Karibik schien sie von innen heraus zu leuchten. Die Sonne hatte ihre blasse Haut leicht golden getönt, was ihre schmalen dunklen Augen noch besser zur Geltung brachte. Das kurze glatte Haar umrahmte ein Gesicht, dessen Züge jene klassische, zeitlose Schönheit besaßen, um die Hayley sie glühend beneidete. »Die neue Frisur gefällt mir«, meinte Roz. »Sie sieht so jung und lässig aus.«
»Ich brauchte unbedingt eine kleine Aufmunterung. Lily und ich haben eine anstrengende Nacht hinter uns. Sie ist gestern geimpft worden.«
»Mein armes Kleines.« Roz drückte Lily noch einmal an sich. »Das macht natürlich gar keinen Spaß. Dann wollen wir mal sehen, wie wir das wieder gutmachen können. Komm mit, Schätzchen.« Sie kuschelte sich an Lily, während sie mit ihr ins Wohnzimmer ging. »Sieh mal, was wir dir mitgebracht haben.« Das Erste, was Hayley auffiel, war eine riesige Puppe mit zerzausten roten Haaren und einem breiten Grinsen im Gesicht. »Oh, die ist aber niedlich! Und fast so groß wie Lily.«
»Deshalb haben wir sie gekauft. Mitch hat sie gesehen, und dann war sofort klar, dass wir sie Lily mitbringen müssen. Was meinst du dazu, Süße?«
Lily bohrte ein paarmal mit dem Finger in die Augen der Puppe, zog an ihren Haaren und ließ sich dann auf den Boden setzen, damit sie sich mit ihr anfreunden konnte. »In einem Jahr oder so wird sie der Puppe einen Namen geben, und dann wird sie bis zum College auf ihrem Bett sitzen. Vielen Dank, Roz.«
»Ich bin noch nicht fertig. Wir haben ein kleines Geschäft gefunden, in dem es ganz entzückende Kleidchen gab.« Sie holte ein Kleidchen nach dem anderen aus einer Einkaufstüte, während Hayley die Augen aufriss.
Gesmokte Baumwolle, gerüschte Spitzen, bestickter Jeansstoff. »Sieh dir diesen Spielanzug hier an. Ich konnte einfach nicht nein sagen.«
»Die Sachen sind fantastisch. Du bist fantastisch. Aber du verwöhnst sie viel zu sehr.«
»Das ist auch meine Absicht.«
»Ich weiß gar nicht, was ich ... Sie hat doch keine Groß... niemanden, der sie verwöhnen könnte.« Roz zog die Augenbrauen hoch, während sie den Spielanzug zusammenlegte. »Du kannst das böse Wort ruhig aussprechen, Hayley. Ich werde schon nicht vor Entsetzen in Ohnmacht fallen. Außerdem halte ich mich sowieso für Lilys Großmutter ehrenhalber.«
»Lily und ich sind richtige Glückspilze.«
»Warum fängst du dann an zu heulen?«
»Ich weiß auch nicht. Aber in letzter Zeit habe ich über so vieles nachdenken müssen.« Sie schniefte und wischte sich die Tränen aus den Augen. »Wie ich hierher gekommen bin, wie es mir ergangen wäre, wenn ich mit Lily so allein gewesen wäre, wie ich es erwartet hatte.«
»Über so etwas nachzudenken bringt dich nicht weiter.«
»Ich weiß. Ich bin nur so froh darüber, dass ich zu dir gekommen bin. Letzte Nacht habe ich gedacht, dass ich anfangen sollte, mir eine Wohnung zu suchen.«
»Wozu brauchst du eine Wohnung?«
»Zum Wohnen.«
»Gefällt es dir hier nicht?«
»Es ist das schönste Haus, das ich je gesehen habe.« Und sie, Hayley Phillips aus Little Rock, Arkansas, wohnte darin. Sie wohnte in einem Haus mit einem Salon, der mit wunderschönen Antiquitäten und bunten Kissen eingerichtet war und riesige Fenster hatte, hinter denen ein prachtvoller Garten lag. »Ich sollte mir eine Wohnung suchen, aber eigentlich will ich das ja gar nicht. Jedenfalls nicht sofort.« Sie sah auf Lily hinunter, die sich alle Mühe gab, die Puppe durch den Raum zu tragen.
»Aber du musst es mir sagen, wenn ich ausziehen soll. Wir sind so gute Freunde, dass das möglich ist.«
»In Ordnung. Ist die Sache damit erledigt?«
»Ja.«
»Willst du dir nicht ansehen, was wir dir mitgebracht haben?«
»Ich bekomme auch was?« Hayley hatte vor Aufregung glänzende Augen. »Ich liebe Geschenke, und ich schäme mich auch gar nicht, es zuzugeben.«
»Hoffentlich gefällt es dir.« Roz holte eine kleine Schachtel aus der Einkaufstüte und hielt sie ihr hin. Hayley vergeudete keine Zeit und nahm den Deckel der Schachtel ab. »Oh, oh! Die sind ja traumhaft!«
»Ich dachte, die roten Korallen würden dir am besten stehen.«
»Sie sind genau das Richtige!« Hayley nahm die Ohrringe aus der Schachtel, hielt sie sich an die Ohren und eilte zu einem der antiken Spiegel, um sich anzusehen. Jeweils drei rote Korallenkugeln hingen an einem schimmernden Dreieck aus Silber. »Sie sind fantastisch. Du meine Güte, ich habe etwas aus Aruba. Ich glaub's einfach nicht.« . Sie lief zu Roz und umarmte sie. »Sie sind wunderschön. Vielen, vielen Dank. Ich kann es kaum erwarten, sie zu tragen.«
»Wenn du möchtest, hast du heute Abend Gelegenheit dazu. Stella, Logan und die Jungs kommen vorbei. David will ein Willkommensessen für uns kochen.«
»Oh, aber du wirst doch sicher müde sein.«
»Müde? Bin ich etwa schon achtzig? Ich komme gerade aus dem Urlaub.«
»Aus den Flitterwochen«, korrigierte Hayley mit einem breiten Grinsen. »Ich könnte wetten, dass du nicht viel zum Schlafen gekommen bist.«
»Wenn du es genau wissen willst wir haben jeden Morgen ausgeschlafen.«
»In diesem Fall ist eine Party genau das Richtige. Lily und ich gehen jetzt nach oben und machen uns schön.«
»Ich helfe dir, die Sachen hinaufzutragen.«
»Danke. Roz?« Hayley war plötzlich wieder mit sich selbst im Reinen. »Ich bin so froh, dass du wieder da bist.«
Es machte solchen Spaß, die neuen Ohrringe anzulegen, Lily in eines der hübschen neuen Kleidchen zu stecken und sich und ihre Tochter ein wenig fein zu machen. Hayley schüttelte den Kopf, nur um zu spüren, wie ihr Haar fiel und die Ohrringe hin und her baumelten. Na also, dachte sie, keine Rede mehr von schlechter Laune und Lustlosigkeit. Da ihr nach Feiern zumute war, zog sie auch noch ihre neuen Schuhe an. Die schwarzen Riemchensandalen mit den hohen, dünnen Absätzen waren fürchterlich unpraktisch und überflüssig. Und genau deshalb perfekt. »Außerdem waren sie runtergesetzt«, sagte sie zu Lily. »Neue Schuhe wirken besser als Prozac und dieses ganze Zeug.« Es fühlte sich großartig an, ein Kleid - mit einem kurzen Rock- und hochhackige Schuhe zu tragen. Eine neue Frisur. Knallroten Lippenstift. Vor dem Spiegel drehte sie sich einmal um die eigene Achse und stemmte dann die Hände in die Hüften. Sie war dünn wie ein Besenstiel, aber daran ließ sich eben nichts ändern. Trotzdem sahen die meisten Sachen recht gut an ihr aus. Als Wäre sie so eine Art Kleiderbügel, dachte sie. Zusammen mit der neuen Frisur, den neuen Ohrringen und den neuen Schuhen war der Eindruck gar nicht einmal so schlecht. »Meine Damen und Herren, ich glaube, ich bin wieder da.«
Im Wohnzimmer hatte es sich Harper mit einem Bier in der Hand in einem der Sessel bequem gemacht. Er beobachtete, wie Mitch immer wieder seine Mutter berührte - ihr Haar, ihren Arm -, während die beiden Logan, Stella und den Jungs von ihren Flitterwochen erzählten. Er kannte das meiste davon, da er am Nachmittag für eine Stunde ins Haus gekommen war, und eigentlich hörte er ihnen gar nicht zu. Er saß nur da und sah die beiden an, während er dachte, wie gut es war, dass seine Mutter endlich jemanden gefunden hatte, der bis über beide Ohren in sie verliebt war. Harper freute sich für sie - und er war erleichtert. Seine Mutter kam zwar sehr gut allein zurecht und hatte dies auch mehr als einmal bewiesen, trotzdem war es für ihn ein Trost, dass sie jetzt einen klugen, kompetenten Mann an ihrer Seite hatte. Wenn Mitch nach dem, was im letzten Frühjahr passiert war, nicht bei Roz eingezogen wäre, hätte Harper es getan. Aber mit Hayley im Haus wäre das wohl etwas problematisch geworden. Er war der Meinung, dass es für alle Beteiligten einfacher war, wenn er weiterhin im Kutscherhaus wohnen blieb.
Geografisch gesehen war es natürlich keine große Entfernung, aber vom psychologischen Standpunkt her war es am besten so. »Ich habe ihm gesagt, dass er verrückt ist«, fuhr Roz fort und gestikulierte mit dem Weinglas in der einen Hand, während ihre andere Mitchs Oberschenkel tätschelte. »Windsurffen? Warum um alles in der Welt sollten wir uns auf ein wackeliges Stück Holz stellen, an dem ein Segel befestigt ist? Aber er wollte es unbedingt ausprobieren.«
»Ich habe es auch schon mal probiert.« Stellas rotes Haar fiel ihr über die Schultern, als sie sich setzte. »Als ich noch auf dem College war. Wenn man den Dreh erst mal raus hat, macht es viel Spaß.«
»Das habe ich auch gehört«, murmelte Mitch. Roz fing an zu lächeln. »Er ist immer wieder auf das Ding geklettert, aber jedes Mal hat es nach zwei Sekunden platsch gemacht, und er lag im Wasser. Er stellt sich auf das Brett, ich denke schon, jetzt hat er es kapiert, aber dann - platsch.«
»Das Brett war kaputt«, behauptete Mitch, während er Roz einen Finger zwischen die Rippen stieß. »Ja, natürlich.« Roz verdrehte die Augen. »Eines muss man Mitch aber lassen - er ist ganz schön hartnäckig. Ich weiß nicht, wie oft er sich aus dem Wasser auf dieses Brett gehievt hat.«
»Sechshundertzweiundfünfzigmal.«
»Und wie ist es bei dir gelaufen?« Logan, der neben Stella noch größer und breiter wirkte, wies mit dem Bierglas auf Roz. »Oh, ich will mich nicht selbst loben.« Roz musterte eingehend ihre Fingernägel. »Doch, sie will.« Mitch trank einen Schluck von seinem Mineralwasser und streckte seine langen Beine aus. »Sie will. Und wie.«
»Mir hat es Spaß gemacht.«
»Sie ist einfach ...« Mitch fuhr mit der Hand durch die Luft, um die Bewegung zu veranschaulichen. »Davongesegelt, als wäre sie auf einem dieser verdammten Dinger geboren worden.«
»Wir Harpers sind in der Regel sehr sportlich veranlagt und besitzen einen hervorragend ausgeprägten Gleichgewichtssinn.«
»Aber sie will sich ja nicht selbst loben«, unterstrich Mitch. Als er das Klicken von Absätzen auf dem Parkett hörte, hob er den Kopf.
Harper tat das Gleiche, und er spürte, wie ihn sein gerade noch gepriesener Gleichgewichtssinn im Stich ließ. Sie sah einfach umwerfend aus. Das knappe rote Kleid und die hohen Schuhe ließen ihre Beine endlos lang aussehen. Beine, die jeden Mann auf dumme Gedanken brachten. Ihre neue Frisur war verdammt sexy, und ihr Mund leuchtete verführerisch in einem kräftigen Rot. Sie trägt ein Baby auf dem Arm, ermahnte er sich. Er sollte, wenn sie Lily bei sich hatte, nicht darüber nachdenken, was er mit diesem Mund, diesem Körper anstellen wollte. Logan stieß einen langen, bewundernden Pfiff aus, der Hayley zum Strahlen brachte. »Hallo, meine Schöne. Du siehst ja zum Anbeißen aus. Du siehst aber auch gut aus, Hayley.« Sie lachte ihr heiseres Lachen, stöckelte zu Logan und setzte ihm Lily auf den Schoß. »Das hast du jetzt davon.«
»Möchtest du ein Glas Wein?«, fragte Roz. »Eigentlich hätte ich lieber ein Bier.«
»Ich hol dir eins.« Harper war schon aus dem Sessel und auf dem Weg in die Küche, bevor sie antworten konnte. Er hoffte, dass der Gang in die Küche und zurück seinen Blutdruck wieder auf ein normales Maß senken würde. Sie war so etwas wie seine Cousine, ermahnte er sich. Und eine Angestellte. Hausgast seiner Mutter. Mutter eines Kindes. Jedes einzelne dieser Argumente bedeutete: Hände weg, Zählte man sie zusammen, war Hayley absolut tabu für ihn.
Außerdem waren die Gefühle, die sie für ihn hegte, alles andere als romantisch.
Wenn ein Mann unter solchen Umständen mit einer Frau zu flirten begann, war das der beste Weg, eine schöne Freundschaft zu zerstören. Er holte ein Pils aus dem Kühlschrank. Als er das Bier in ein Glas goss, hörte er ein lautes Kreischen und das Klappern von Absätzen auf Holz. Er drehte sich um und sah Lily, die in die Küche gerannt kam, Hayley dicht auf den Fersen. »Will sie etwa auch ein Bier?« Lachend hob Hayley ihre Tochter auf, doch Lily wurde knallrot im Gesicht und wollte von ihr weg. »Sie will kein Bier. Sie will dich. Wie immer.«
»Komm her, Kleines.« Er nahm ihr das Kind ab und warf es in die Luft. Sofort hellte sich das trotzig verzerrte Gesichtchen auf, und Lily fing an zu lachen. Hayley tat so, als wäre sie beleidigt, und goss den Rest ihres Biers ein. »So viel zur Qualität der Mutter-Kind-Beziehung.«
»Du hast das Bier, ich das Kind.« Lily umarmte Harper und legte ihren Kopf an seine Wange. Hayley nickte und hob ihr Glas. »Den Eindruck habe ich auch.«
Es war schön, wieder einmal alle um sich zu haben, mit der ganzen Familie, wie Hayley ihre Freunde nannte, am Tisch zu sitzen und Davids in Honig glasierten Schinken zu genießen. Hayley hätte gern eine große Familie gehabt, doch sie war ganz allein mit ihrem Vater aufgewachsen. Nicht, dass sie das Gefühl hatte, etwas verpasst zu haben. Sie und ihr Vater waren ein Team, eine Einheit gewesen, und er war der freundlichste, lustigste und warmherzigste Mann gewesen, den sie jemals kennen gelernt hatte. Aber Mahlzeiten wie diese hatten ihr immer gefehlt - ein voll besetzter Tisch, lautes Stimmengewirr, selbst die Streitereien und Eifersüchtelein, die ihrer Meinung nach in großen Familien an der Tagesordnung waren. Lily würde damit aufwachsen, denn Roz hatte sie und ihre Tochter in Harper House aufgenommen. Und daher würde Lily viele, viele Mahlzeiten wie diese erleben, mit Onkeln, Tanten und Cousins. Großeltern, dachte Hayley, während sie einen verstohlenen Blick auf Roz und Mitch warf. Und wenn Roz' Söhne oder Mitchs Sohn Josh zu Besuch kamen, würde die Familie komplett sein. Eines Tages würden Roz- Söhne und Josh heiraten. Und vermutlich eine ganze Horde Kinder bekommen. Ihr Blick wanderte zu Harper, und sie zwang sich, den kleinen Stich zu ignorieren, der sie bei dem Gedanken daran quälte, dass er heiraten und Kinder bekommen würde, mit einer Frau, deren Gesicht sie sich nicht vorstellen konnte. Natürlich würde sie ausnehmend hübsch sein. Vermutlich blond, kurvenreich und aus einer reichen Familie. Das Miststück. Wer auch immer sie sein würde, egal, wie sie aussehen oder welchen Charakter sie haben würde, Hayley beschloss, ihre Freundin zu werden. Selbst wenn es sie umbrachte. »Stimmt was nicht mit den Kartoffeln?«, murmelte David neben ihr. »Hm ... Nein, nein, sie sind fantastisch.«
»Ich habe mich nur gefragt, warum du ein Gesicht machst, als müsstest du bittere Medizin runterschlucken.«
»Oh, ich habe nur an etwas gedacht, dass ich erledigen muss und am liebsten liegen lassen würde. Es gibt so viele unangenehme Dinge im Leben. Aber diese Kartoffeln hier gehören eindeutig nicht dazu. Vielleicht kannst du mir ja mal bei Gelegenheit einige deiner Gerichte beibringen. Ich kann recht gut kochen. Daddy und ich haben uns die Arbeit in der Küche geteilt, und die Grundlagen haben wir beide ganz gut beherrscht - manchmal habe ich sogar etwas Komplizierteres zustande gebracht. Aber Lily wächst mit deiner Art zu kochen auf, und daher sollte ich in der Lage sein, ihr selbst was zu machen, wenn es mal sein muss.«
»Oh, ein Kochlehrling. Jemand, den ich zu meinem Abbild formen kann. Mit Vergnügen!« Als Lily anfing, ihr Essen auf den Boden zu werfen, sprang Hayley auf. »Ich glaube, du bist fertig, meine Süße.«
»Gavin, Luke, könntet ihr mit Lily nach draußen gehen und eine Weile mit ihr spielen?«, fragte Stella ihre Söhne. »Nein, nein.« Hayley schüttelte den Kopf. »Sie brauchen doch nicht auf Lily aufzupassen.«
»Klar, machen wir«, meldete sich Gavin. »Sie läuft so gern hinter dem Ball und dem Frisbee her.«
»Also, wenn ihr unbedingt wollt ...« Gavin war fast zehn und recht groß für sein Alter. Sein Bruder Luke war gerade acht geworden. »Ich habe nichts dagegen, und Lily würde es großen Spaß machen. Aber wenn ihr keine Lust mehr habt, bringt ihr sie wieder rein.«
»Und als Belohnung bekommt ihr nachher einen Eisbecher.« Davids Ankündigung wurde mit begeistertem Gebrüll aufgenommen. Nach einer Weile brachten die Jungs Lily wieder herein und stürzten sich auf ihre Eisbecher. Danach stand Hayley auf, um ihre Tochter nach oben zu tragen und ins Bett zu bringen. Stella schickte Gavin und Luke in das Wohnzimmer, in dem sie früher gewohnt hatten, damit die beiden fernsehen konnten. »Roz und Mitch möchten mit dir über Amelia reden«, meinte Stella.
»Ich weiß allerdings nicht, ob sie schon was zu dir gesagt haben.«
»Nein, aber das ist schon in Ordnung. Ich bin gleich wieder unten.«
»Brauchst du Hilfe?«
»Dieses Mal nicht, danke. Ihr fallen schon die Augen zu.« Hayley freute sich, als aus dem Wohnzimmer das gedämpfte Wummern und Krachen irgendeiner Sciencefiction-Serie und die aufgeregten Kommentare der Jungs zu ihr nach oben drangen. Nach Stellas Heirat hatte sie diese Geräusche vermisst. Sie legte Lily ins Bett und überprüfte Babyfon und Nachtlicht. Als sie nach unten ging, ließ sie die Tür weit offen. Sie fand die Erwachsenen in der Bibliothek, wo ihre Gespräche über die Geisterfrau fast immer stattfanden.
Die Sonne war noch nicht untergegangen, und der Raum war mit einem Licht erfüllt, das einen leichten rosa Schimmer hatte. Im Garten draußen standen die Sommerblüher in voller Blüte; die prächtigen Stängel des lavendelfarbenen Fingerhuts ragten zwischen den weißen Farbflecken des Fleißigen Lieschens empor, das durch die elegant herabhängenden Zweige pinkfarbener Fuchsien belebt wurde. Hayley konnte die hellgrünen Blätter des Betonienkrauts sehen, die Begonien mit ihrem zerbrechlichen Charme, die nach unten hängenden Blütenblätter des roten Sonnenhuts mit seinen stachligen braunen Köpfen. Ihr fiel ein, dass sie ihren Abendspaziergang mit Lily vergessen hatte, und sie nahm sich vor, ihre Tochter am nächsten Tag mit in den Garten zu nehmen. Aus reiner Gewohnheit ging sie zu dem Tisch, auf dem neben einer Vase blutroter Lilien der Empfänger des Babyfons stand. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass er eingeschaltet war, wandte sie sich den anderen zu. »Da wir gerade alle hier sind«, begann Mitch, »dachte ich, das wäre eine gute Gelegenheit, um euch in Bezug auf meine Nachforschungen auf den neuesten Stand zu bringen.«
»Du willst mir doch nicht das Herz brechen und mir erzählen, dass du in euren Flitterwochen gearbeitet hast«, warf David ein. »Will ich nicht, aber wir haben es geschafft, ein wenig Zeit zu finden, um über verschiedene Theorien zu sprechen. Ich habe einige E-Mails von einem Kontakt in Boston bekommen. Es handelt sich dabei um die Nachfahrin der Haushälterin, die in Harper House gearbeitet hat, als Reginald und Beatrice hier gewohnt haben.«
»Hat sie was rausgefunden?« Harper hatte die Sessel verschmäht und sich bäuchlings auf den Boden gelegt. Jetzt richtete er sich auf und nahm eine sitzende Haltung ein.
»Ich habe ihr erzählt, was wir wissen, und auch, was wir in Beatrice' Tagebüchern über deinen Urgroßvater gefunden haben, Harper. Dass er nicht ihr Sohn war, sondern der Sohn von Reginalds Mätresse - von der wir annehmen, dass sie Amelia war. Bis jetzt hat sie allerdings keine Briefe oder Tagebücher von Mary Havers, der Haushälterin, entdeckt. Aber sie hat Fotos gefunden, die sie für uns kopieren lässt.« Hayley sah zur Galerie der Bibliothek, zu dem Tisch, auf dem Mitchs Bücher und Laptop lagen. »Was bringt uns das?«
»Je mehr Bildmaterial wir haben, desto besser«, erwiderte er. »Sie wird auch mit ihrer Großmutter reden. Es geht ihr zwar nicht sehr gut, aber hin und wieder hat sie ein paar lichte Momente. Die Großmutter behauptet, sie könne sich noch daran erinnern, wie ihre Mutter und eine Cousine, die zu der Zeit ebenfalls hier gearbeitet hat, über ihre Zeit in Harper House gesprochen haben. Meistens ging es dabei um große Gesellschaften und ihre Arbeit. Aber sie erinnert sich auch daran, wie ihre Cousine einmal den jungen Herrn - so wurde Reginald junior genannt - erwähnt und gemeint hat, der Storch habe ein Vermögen verdient, als er den Kleinen ablieferte. Und dass ihre Mutter daraufhin ihre Cousine zum Schweigen ermahnt und gesagt habe, das Kind könne ja schließlich nichts für das Blutgeld und den Fluch. Als sie gefragt hat, was das zu bedeuten habe, wollte ihre Mutter nichts mehr sagen und meinte lediglich, sie habe der Familie Harper gegenüber nur ihre Pflicht getan und müsse jetzt damit leben. Aber der glücklichste Tag in ihrem Leben sei der Tag gewesen, als sie Harper House für immer verlassen habe.«
»Sie wusste, dass mein Großvater seiner Mutter weggenommen worden war.« Roz beugte sich vor und legte Harper eine Hand auf die Schulter. »Und wenn die Erinnerung dieser Frau nicht trügt, hat Amelia ihn nicht freiwillig hergegeben.«
»Blutgeld und ein Fluch«, wiederholte Stella. »Wer wurde bezahlt, und wer wurde verflucht?«
»Es muss einen Arzt oder eine Hebamme gegeben haben, möglicherweise auch beides, die Amelia bei der Geburt geholfen haben.« Mitch breitete die Hände aus. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass man ihnen Geld gegeben hat. Vielleicht sind auch einige der Dienstboten hier bestochen worden.«
»Ich weiß, dass das schrecklich klingt«, warf Hayley ein.
»Aber das würde man doch nicht Blutgeld nennen, oder? Eher Schweigegeld.«
»Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen«, stimmte Mitch ihr zu. »Wenn es Blutgeld war, wo war das Blut?«
»Amelias Tod.« Logan beugte sich vor. »Ihr Geist geht in diesem Haus um, also ist sie auch hier gestorben. Bis jetzt hast du keine Dokumente darüber finden können, also müssen wir davon ausgehen, dass ihr Tod vertuscht wurde. Und das geht am besten mit Geld.«
»Der Meinung bin ich auch.« Stella nickte. »Aber wie ist sie hierher gekommen? In Beatrice' Tagebüchern wird sie mit keinem Wort erwähnt. Nirgendwo ist der Name von Reginalds Mätresse zu finden, und es gibt auch keinen Beleg dafür, dass Amelia je in Harper House gewesen ist. Beatrice hat über das Kind geschrieben, und wie sie sich gefühlt hat, als Reginald es hierher gebracht und von ihr verlangt hat, dass sie es als ihr eigenes ausgibt. Hätte sie nicht mit der gleichen Empörung reagiert und es auch in ihren Tagebüchern erwähnt, wenn er Amelia ins Haus geholt hätte?«
»Das hätte er auf keinen Fall getan«, wandte Hayley leise ein. »Nach dem, was wir über ihn wissen, hätte er eine Frau ihres Standes, eine Frau, die er ausnutzte, die er als Mittel zum Zweck ansah, niemals in das Haus gebracht, auf das er so stolz war. Er hätte sie nicht in der Nähe seines Sohnes haben wollen - des Sohnes, den er als sein eheliches Kind ausgab. Es hätte ihn nur ständig daran erinnert.«
»Guter Einwand.« Harper streckte die Beine aus und schlug sie übereinander. »Aber wenn wir annehmen, dass sie hier gestorben ist, müssen wir doch auch davon ausgehen, dass sie hier war.«
»Vielleicht hat sie hier gearbeitet«, schlug Stella vor. Der Ehering an ihrer Hand schimmerte sanft in dem schwächer werdenden Licht, als sie heftig gestikulierte. »Wenn Beatrice sie nicht gekannt hat, wenn sie nicht gewusst hat, wie sie aussieht, könnte es Amelia doch gelungen sein, eine Stellung im Haus anzunehmen, um in der Nähe ihres Sohnes zu sein. Sie singt den Kindern im Haus Schlaflieder vor; sie ist sozusagen besessen von den Kindern hier. Wäre ihr das mit ihrem eigenen Kind nicht genauso gegangen?«
»Das wäre eine Möglichkeit«, meinte Mitch. »In den Haushaltsbüchern haben wir ihren Namen zwar nicht gefunden, aber es wäre eine Möglichkeit.«
»Oder sie ist hierher gekommen, um ihn zu holen.«
Roz sah zuerst Stella, dann Hayley an. »Eine verzweifelte Mutter, die nicht ganz bei Sinnen ist. Sie ist mit Sicherheit nicht nach ihrem Tod verrückt geworden, das wäre dann doch etwas zu weit hergeholt. Könnte es denn nicht so gewesen sein, dass sie hergekommen ist und dann etwas schief gelaufen ist? Vielleicht ist sie ermordet worden. Blutgeld, um das Verbrechen zu vertuschen.«
»Dann ist das Haus also verflucht.« Harper sah die anderen fragend an. »Und sie geht darin um, bis sie gerächt wird? Aber wie?«
»Vielleicht geht es nur darum, dass wir herausfinden, wer sie war«, mutmaßte Hayley. »Und ihr Gerechtigkeit widerfahren lassen. Du bist mit ihr verwandt«, sagte sie zu Harper. »Vielleicht braucht es das Blut eines Harper, damit sie Frieden findet.«
»Das klingt logisch.« David schüttelte sich. »Und gruselig.«
»Wir sind logisch denkende Erwachsene, die sich zusammengesetzt haben, um über einen Geist zu sprechen«, erinnerte ihn Stella. »Gruseliger wird's nicht mehr.«
»Letzte Nacht habe ich sie gesehen.« Alle starrten Hayley an. »Warum hast du uns das nicht gesagt?«, wollte Harper wissen. »Ich habe es heute Morgen David erzählt«, verteidigte sich Hayley. »Und jetzt erzähle ich es euch. Vor den Kindern wollte ich nichts sagen.«
»Das sollten wir aufnehmen.« Mitch stand auf, um den Kassettenrecorder vom Tisch auf der
Galerie zu holen. »So spektakulär war es nun auch wieder nicht.«
»Nachdem Amelia im letzten Frühjahr gleich zweimal handgreiflich geworden ist, hatten wir doch vereinbart, dass alles aufgenommen wird.« Er kam zurück und stellte den Kassettenrecorder auf den Tisch. »Fang an.«
Hayley hatte Hemmungen, auf Band zu sprechen, doch dann erzählte sie jedes noch so kleine Detail. »Ich höre sie manchmal singen, aber wenn ich dann ins Zimmer gehe und nachsehen will, ist sie meistens schon wieder weg. Aber ich weiß, dass sie da gewesen ist. Manchmal höre ich sie auch im Zimmer der Jungs - in Gavins und Lukes altem Zimmer. Manchmal weint sie. Und einmal dachte ich ...«
»Was?«, half Mitch nach. »Ich dachte, ich hätte sie draußen im Garten gesehen. In der Nacht, in der ihr in die Flitterwochen gefahren seid, nach der Hochzeitsfeier. Ich bin aufgewacht, weil ich wohl etwas mehr Wein getrunken hatte, als ich sollte, und leichte Kopfschmerzen hatte. Daher habe ich ein Aspirin genommen und nach Lily gesehen. Und da war mir, als würde ich draußen jemanden sehen. Das Mondlicht war so hell, dass ich ihr blondes Haar und das weiße Kleid erkennen konnte. Ich hatte den Eindruck, als würde sie auf das Kutscherhaus zugehen. Aber als ich die Tür aufgemacht habe, um auf den Balkon zu gehen und nachzusehen, war sie weg.«
»Hatten wir denn nicht vereinbart, dass wir alles über die Geisterfrau sammeln, nachdem sie Mutter fast in der Badewanne ertränkt hätte?« Harper klang verärgert. »Du hättest nicht eine ganze Woche warten sollen, um uns davon zu erzählen.«
»Harper«, meinte Roz trocken, »es ist eben passiert. Du brauchst nicht noch darauf herumzureiten.«
»Wir hatten eine Vereinbarung.«
»Ich war mir doch nicht sicher.« Hayley warf Harper einen wütenden Blick zu. »Ich bin es immer noch nicht. Nur weil ich dachte, ich hätte eine Frau gesehen, die auf deine Wohnung zuläuft, heißt das noch lange nicht, dass es ein Geist gewesen ist. Es ist sogar viel wahrscheinlicher, dass sie aus Fleisch und Blut gewesen ist. Was hätte ich denn tun sollen, Harper? Dich im Kutscherhaus anrufen und fragen, ob du Damenbesuch hast?«
»Großer Gott, Hayley.«
»Da hast du es.« Sie nickte befriedigt. »Es ist schließlich nicht auszuschließen, dass bei dir im Kutscherhaus eine Frau übernachtet.«
»Okay, okay. Nur zu deiner Information, in der fraglichen Nacht hat keine Frau bei mir übernachtet - jedenfalls keine aus Fleisch und Blut. Das nächste Mal rufst du mich an.«
»Kinder, jetzt beruhigt euch wieder«, sagte Mitch leise tadelnd, während er mit dem Stift auf sein Notizbuch klopfte.
»Hayley, hast du noch etwas gesehen?«
»Es hat doch nur ein paar Sekunden gedauert. Ich stand am Fenster und hoffte, dass das Aspirin endlich wirkt, als ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung bemerkt habe. Und dann habe ich eine Frau mit blondem oder sehr hellem Haar gesehen, die etwas Weißes anhatte. Mein erster Gedanke war, dass Harper jemanden aufgerissen hat.«
»O Mann«, murmelte Harper. »Dann dachte ich, es könnte auch Amelia gewesen sein, aber als ich auf den Balkon gegangen bin, um sie besser zu sehen, war sie verschwunden. Ich erwähne das auch nur, weil ich sie - falls sie es tatsächlich war, wovon ich aber ausgehe - zweimal in einer Woche gesehen habe. Für mich ist das sehr oft.«
»Du warst unter der Woche die einzige Frau im Haus hier«, hob Logan hervor. »Frauen hat sie sich bis jetzt immer häufiger gezeigt.«
»Das klingt logisch.« Und es sorgte dafür, dass es Hayley wieder besser ging. »Außerdem war es in der Nacht nach unserer Hochzeit«, warf Roz ein. »Sie war mit Sicherheit eingeschnappt.«
»Das ist jetzt das zweite Mal, dass jemand gesehen hat, wie sie in Richtung
Kutscherhaus gegangen ist. Es muss was zu bedeuten haben«, sagte Mitch zu Harper. »Zu mir hat Amelia jedenfalls noch nichts gesagt.«
»Wir suchen weiter. Da wir annehmen, dass sie irgendwo in der Nähe gelebt hat, können wir wohl davon ausgehen, dass Reginald sie in einem seiner Häuser untergebracht hatte. In diese Richtung recherchiere ich- noch«, fuhr Mitch fort. »Wenn wir ihren Namen wüssten, ihren vollständigen Namen, könntest du dann nicht auch mehr Informationen über sie herausfinden, so wie bei den Harpers?«, meinte Hayley. »Es wäre zumindest ein Anfang.«
»Vielleicht verrät sie uns, wie sie heißt, wenn wir sie geschickt danach fragen. Vielleicht ...« Hayley brach ab, als Gesang aus dem Babyfon drang. »Sie ist bei Lily. Heute Abend ist sie recht früh dran. Ich gehe nur kurz nach oben und sehe nach.«
»Ich komme mit.«
Harper stand auf. Sie widersprach ihm nicht. Selbst nach über einem Jahr jagte ihr die traurige Stimme Amelias noch Schauer über den Rücken. Wie immer hatte sie das Licht in ihrem Flügel eingeschaltet, damit sie ihr Zimmer nicht im Dunkeln betreten musste. Jetzt, da die Sonne schon fast untergegangen War, fand sie die Helligkeit beruhigend, genau wie die Geräusche von Luke und Gavin, die unten im Wohnzimmer spielten. »Wenn du dich hier zu einsam fühlst, könntest du ja in den anderen Flügel ziehen, näher zu Mutter und Mitch«, schlug Harper vor. »Das ist genau das, was einem frisch verheirateten Paar gerade noch gefehlt hat. Ein Baby und ich als Anstandsdamen. Ich habe mich inzwischen daran gewöhnt. Oh, sie hört ja gar nicht auf.« Sie senkte ihre Stimme zu einem Flüstern. »Sie hört fast immer auf, bevor ich die Tür erreicht habe.« Instinktiv griff sie nach Harpers Hand, während sie die Tür aufstieß, die sie immer halb offen ließ. Es war kalt, aber das hatte sie erwartet. Selbst wenn Amelia gegangen war, hing die Kälte noch eine Weile in der Luft. Doch Lily ließ sich nie davon stören. Als Hayley das vertraute Quietschen des Schaukelstuhls hörte, stieß sie verblüfft die Luft aus, die ein kleines Wölkchen bildete. Das kann ja heiter werden, dachte sie. Etwas ganz Neues. Amelia saß im Schaukelstuhl und trug ihr graues Kleid. Ihre Hände lagen ruhig in ihrem Schoß, während sie sang. Ihre Stimme war recht hübsch, ungeschult, aber klar und melodisch. Beruhigend, so, wie eine Stimme, die Schlaflieder sang, sein sollte. Doch als sie den Kopf drehte und zur Tür sah, gefror Hayley das Blut in den Adern. Das Lächeln auf ihrem Gesicht war eine verzerrte Grimasse, und ihre rot geränderten Augen traten aus den Höhlen hervor. Als sie es ausgesprochen - gedacht - hatte, löste sich die Gestalt auf. Das Fleisch fiel von den Knochen, bis nur noch ein in Lumpen gehülltes Skelett im Schaukelstuhl saß. Dann war auch das verschwunden. »Sag mir bitte, dass du das eben auch gesehen hast.« Hayleys Stimme zitterte. »Dass du es auch gehört hast.«
»Ja, hab ich.« Er drückte beruhigend ihre Hand und zog sie mit sich zu Lilys Bettchen. »Hier ist es wärmer. Spürst du das? Um das Bett herum ist es ganz warm.«
»Sie hat Lily noch nie Angst gemacht. Trotzdem möchte ich jetzt nicht wieder nach unten gehen und sie allein lassen. Mir ist wohler, wenn ich heute Abend bei ihr bleibe. Kannst du den anderen sagen, was passiert ist?«
»Wenn du willst, schlafe ich heute Nacht hier, in einem der Gästezimmer.«
»Schon in Ordnung.« Sie steckte Lilys Decke fest. »Ich komm damit klar.« Er zog sie mit sich hinaus in den Korridor. »Das hat sie noch nie getan, stimmt's?«
»Ja, das war das erste Mal. Ich werde Albträume haben.«
»Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist? « Er strich ihr sanft über die Wange, und ihr schoss durch den Kopf, dass diese Geste auch ein erstes Mal war. Sie standen dicht beieinander; ihre Hand lag in der seinen, seine Finger berührten immer noch ihre Wange. Sie brauchte nur zu sagen, dass er hier bleiben sollte. Und was dann? Wenn sie etwas mit ihm anfing, ruinierte sie alles. »Ja. Schließlich ist sie ja nicht böse auf mich. Sie hat keinen Grund dazu. Lily und mir geht es gut. Du gehst jetzt besser nach unten und erzählst es den anderen.«
»Wenn du Angst bekommst, rufst du mich. Ich komme sofort.«
»Das ist gut zu wissen. Vielen Dank.« Sie entzog ihm ihre Hand, trat zurück und schlüpfte in -ihr Zimmer. Nein, Amelia hatte keinen Grund, böse auf sie zu sein, dachte Hayley. Sie hatte keinen Freund, keinen Mann, keinen Liebhaber. Der einzige Mann, den sie haben wollte, war tabu. »Also mach kein Theater«, murmelte sie. »Es sieht ganz danach aus, als würde ich noch eine Weile Single bleiben.«<