10. KAPITEL
Der Stallknecht äußerte Bedenken, Babette zu satteln. Respektvoll wandte er ein, dass der Graf Shirley nicht erlaubt hätte, allein auszureiten. Shirley besann sich erstmals ihrer aristokratischen Herkunft und erwiderte stolz, dass sie als Großtochter der Gräfin keine Zustimmung einzuholen brauchte. Der Stallbursche fügte sich mit einigen bretonischen Ausdrücken, und gleich darauf bestieg sie die ihr mittlerweile vertraute Stute und bog zu dem Pfad ab, den Christophe bei der ersten Unterrichtsstunde gewählt hatte.
Die Waldungen verströmten tiefen Frieden, und Shirley versuchte, ihre Gedanken abzuschütteln in der Hoffnung, eine Antwort auf die Frage zu finden, die sie bewegte. Eine Zeit lang ritt sie im Schrittempo. Sie hatte das Pferd fest in der Hand und war doch nur ein Teil von ihm. Trotz allem war sie weit davon entfernt, ihr Problem lösen zu können, und trieb Babette zu einem leichten Galopp an.
Der Wind blies ihr das Haar aus dem Gesicht und tauchte sie in ein Gefühl der Freiheit, die sie suchte. Der Brief ihres Vaters steckte in der Tasche ihrer Jeans, und sie beschloss zu dem Hügel zu reiten, der oberhalb des Dorfes lag, und die Zeilen erneut zu lesen. Sie hoffte, dann die richtige Entscheidung treffen zu können.
Da hörte sie hinter sich einen lauten Ruf. Sie wandte sich um und erblickte Christophe, der auf seinem schwarzen Hengst herangeritten kam. Bei ihrer Wendung stieß sie versehentlich scharf gegen die Flanke ihrer Stute. Das war für Babette ein Befehl, und sie flog in gestrecktem Galopp davon. Shirley wäre vor Überraschung beinahe gestürzt. Sie richtete sich mühsam wieder auf, als das Pferd mit ungewöhnlicher Geschwindigkeit den Pfad hinunterraste. Mit eiserner Willenskraft bemühte sie sich um eine aufrechte Haltung. Dabei fiel ihr nicht einmal ein, dem Ungestüm der Stute Einhalt zu gebieten. Ehe sich der Gedanke, das Pferd zu zügeln, auf ihre Hände übertragen hatte, befand Christophe sich an ihrer Seite. Er zog die Zügel an und schimpfte laut.
Babette fügte sich willig, und Shirley schloss erleichtert die Augen. Dann wurde ihr bewusst, dass Christophe ihre Taille umfasste und sie ohne viele Umstände aus dem Sattel hob.
Er sah sie düster an. »Was haben Sie eigentlich im Sinn, wenn Sie vor mir davongaloppieren?« Er schüttelte sie wie eine Stoffpuppe.
»Das habe ich ja überhaupt nicht getan«, protestierte sie und biss sich auf die Lippen. »Wahrscheinlich wurde das Pferd nervös, als ich mich nach Ihnen umdrehte. Es wäre nicht geschehen, wenn Sie mir nicht hinterhergejagt wären.« Sie wollte sich von ihm losreißen, doch sein Griff verhärtete sich schmerzvoll. »Sie tun mir weh«, fuhr sie ihn an. »Warum verletzen Sie mich immer?«
»Ein gebrochenes Genick wäre bestimmt viel ärger, Sie kleine Närrin.« Er führte sie den Pfad entlang, fort von den Pferden. »Das hätte Ihnen nämlich passieren können. Warum wollen Sie unbedingt ohne Begleitung ausreiten?«
»Ohne Begleitung?« Sie lachte und trat einen Schritt zurück. »Wie altmodisch. Dürfen Frauen in der Bretagne nicht allein ausreiten?«
»Keinesfalls Frauen ohne Verstand«, erwiderte er finster, »und auch solche nicht, die erst zwei Mal im Leben auf einem Pferd gesessen haben.«
»Es hat alles vorzüglich geklappt, ehe Sie kamen.« Ungehalten über seinen Vorwurf warf sie den Kopf zurück. »Machen Sie sich wieder auf den Weg, und lassen Sie mich in Frieden.« Sie beobachtete, wie seine Augen schmal wurden. Er näherte sich ihr einen Schritt. »Kehren Sie um«, rief sie und saß erneut auf. »Ich möchte allein sein, weil ich über einige Dinge nachdenken muss.«
»Ich werde Sie gleich auf andere Gedanken bringen.«
Ehe sie es sich versah, legte er die Hände um ihren Nacken und raubte ihr mit einem Kuss den Atem. Sie versuchte, ihn von sich zu stoßen. Erfolglos kämpfte sie gegen ihn an. Sie spürte, wie ihr schwindelig wurde. Er packte sie bei den Schultern und zog sie zu sich herum.
»Genug jetzt. Hören Sie endlich auf.« Er schüttelte sie wieder. Er sah gar nicht mehr aristokratisch aus, sondern nur noch wie ein gewöhnlicher Mann. »Ich begehre Sie. Ich verlange, was noch kein Mann vor mir besessen hat, und Sie können sich darauf verlassen, dass ich Sie besitzen werde.«
Er riss sie in die Arme. Sie wehrte sich in wilder Angst und schlug heftig gegen seine Brust wie ein gefangener Vogel gegen die Gitterstäbe eines Käfigs. Danach hob er sie mit eisernem Griff vom Pferd, als wäre sie ein hilfloses Kind.
Shirley lag auf dem Boden. Christophe hielt sie fest. Er küsste sie wie besessen, doch ihr Protest machte keinen Eindruck auf ihn. Mit leidenschaftlicher Behändigkeit öffnete er ihre Bluse, und seine Finger gruben sich in die nackte Haut. Es waren verzweifelt drängende Liebesbezeugungen, die all ihren Widerstand zunichte machten, und allen Willen, sich dagegen aufzubäumen.
Ihre Lippen gaben sich seinen Küssen hin, und sie zog ihn nur noch dichter an sich heran. Sie überließ sich ganz seiner Leidenschaft. Drängend und unaufhaltsam hinterließen seine Hände heiße Spuren auf ihrer nackten Haut. Sein Mund folgte ihnen und kehrte immer wieder zu ihren Lippen zurück. Sein Durst war unstillbar. Er trug sie in eine neue, faszinierende Welt, bis an die Grenze von Himmel und Hölle, wo es nur noch die Liebe gab.
Plötzlich löste sich Christophe von ihren Lippen. Er atmete schnell und presste einen Augenblick lang seine Wange gegen ihre Schläfe. Dann hob er den Kopf und sah sie an.
»Jetzt habe ich Ihnen schon wieder wehgetan, Kleines.« Er seufzte, gab sie frei und legte sich auf den Rücken. »Ich habe Sie zu Boden gezerrt und hätte Sie beinahe geschändet wie ein Barbar. Offenbar fällt es mir schwer, mich in Ihrer Gegenwart zu beherrschen.«
Shirley setzte sich schnell auf und knöpfte hastig ihre Bluse zu. »Es ist schon in Ordnung.« Sie bemühte sich vergebens um einen sorglosen Ton. »Mir ist nichts geschehen. So oft ist mir schon gesagt worden, ich sei sehr widerstandsfähig. Trotzdem sollten Sie Ihr Temperament ein wenig mehr zügeln«, stammelte sie, um ihren Schmerz zu verbergen. »Genevieve ist zerbrechlicher als ich.«
»Genevieve?« Er stützte sich auf den Ellenbogen und sah sie fest an. »Was hat Genevieve damit zu tun?«
»Überhaupt nichts«, antwortete sie. »Ich werde ihr nicht das Geringste hierüber berichten. Dazu habe ich sie zu gern.«
»Vielleicht sollten wir uns auf Französisch unterhalten, Shirley. Es ist schwierig, Sie zu verstehen.«
»Sie ist in Sie verliebt, Sie Dummkopf«, fuhr sie unbeirrt fort. »Sie hat es mir gesagt und wollte meinen Rat einholen.« Es entging ihr nicht, dass sie hysterisch auflachte. »Sie wollte wissen, wie sie es anstellen sollte, dass Sie in ihr eine Frau und nicht nur ein Kind sehen. Ich verschwieg ihr, welche Meinung Sie über mich haben, denn Sie hätte es nicht verstanden.«
»Sie sagte Ihnen, dass sie in mich verliebt wäre?« Seine Augen wurden schmaler.
»Ihren Namen hat sie nicht erwähnt.« Jetzt verwünschte Shirley diese Unterhaltung. »Sie sagte, dass sie ihr Leben lang in einen Mann verliebt gewesen wäre, der sie nur als Kind betrachtete. Ich riet ihr nur, ihm den Kopf zurechtzurücken und ihm zu sagen, dass sie eine Frau sei. Und außerdem ... Worüber lachen Sie eigentlich?«
»Haben Sie wirklich geglaubt, dass sie mich meinte?« Er ließ sich auf den Rücken fallen und lachte lauter, als es sonst seine Art war. »Die kleine Genevieve soll in mich verliebt sein?«
»Und darüber machen Sie sich auch noch lustig. Wie können Sie nur so gefühllos sein, über einen Menschen zu lachen, der Sie liebt?« Sie wurde zornig, und er nahm sie schnell in die Arme.
»Genevieve hat Sie nicht meinetwegen um Rat gebeten, meine Liebe.« Mühelos trotzte er ihrer Angriffslust. »Sie meinte Andre. Aber Sie sind ihm noch nicht begegnet, nicht wahr?« Er lachte sie offen an. »Wir sind miteinander aufgewachsen, Andre, Yves und ich. Genevieve folgte uns wie ein Hündchen auf Schritt und Tritt. Als sie zur Frau heranwuchs, betrachtete sie Yves und mich auch weiterhin als ihre Brüder, während sie Andre wirklich liebte. Einen Monat lang hat er sich aus geschäftlichen Gründen in Paris aufgehalten. Erst gestern kam er von seiner Reise nach Hause zurück.«
Christophe zog Shirley wieder an seine Brust. »Genevieve rief heute Morgen an und berichtete mir von ihrer Verlobung mit ihm. Außerdem trug sie mir auf, Ihnen ihren Dank zu übermitteln. Jetzt weiß ich wenigstens, worum es sich handelt.« Er lächelte noch breiter, und ihre glänzenden Augen öffneten sich weit.
»Sie ist verlobt? Und nicht mit Ihnen?«
»Genauso ist es«, antwortete er hilfreich. »Sagen Sie mir, meine schöne Cousine, waren Sie nicht eifersüchtig, als Sie glaubten, dass Genevieve sich in mich verliebt hätte?«
»Nicht im Entferntesten«, log sie und zog ihren Mund von seinen Lippen zurück. »Ich wäre nicht eifersüchtiger auf Genevieve als Sie auf Yves.«
»Wirklich?« Mit einer schnellen Bewegung drehte er sich zur Seite. »Ich gestehe Ihnen, dass ich vor Eifersucht auf meinen Freund Yves fast verging, und dass ich Ihren amerikanischen Freund Tony am liebsten umgebracht hätte. Sie bedachten die beiden mit lächelnden Blicken, die mir gehörten. Von dem Augenblick an, als Sie aus dem Zug stiegen, war ich wie verhext, und ich wehrte mich dagegen, um mich nicht versklaven zu lassen. Aber vielleicht bedeutet diese Art von Sklaverei wirkliche Freiheit.« Er strich ihr über das seidige Haar. »Shirley, ich liebe dich.«
Sie versuchte, ihre Stimme zu kontrollieren: »Würden Sie das noch einmal sagen?«
Er lächelte, und sein Mund liebkoste ihre Lippen. »Auf Englisch? Ich liebe dich. Ich liebte dich vom ersten Moment an, als ich dich sah. Jetzt liebe ich dich noch unendlich mehr, und ich werde dich bis zum Ende meines Lebens lieben.« Seine Lippen berührten ungewohnt zärtlich ihren Mund und lösten sich erst wieder, als Tränen über ihr Gesicht rannen. »Warum weinst du? Was habe ich getan?«
Sie schüttelte den Kopf. »Es liegt nur daran, dass ich dich so sehr liebe, und ich dachte ...« Sie zögerte und atmete schwer. »Christophe, glaubst du an die Unschuld meines Vaters, oder denkst du, dass ich die Tochter eines Gauners bin?«
Er sah sie eine Weile lang schweigend an. »Ich werde dir erzählen, was mir bekannt ist, Shirley, und ich werde dir auch sagen, was ich glaube.«
»Ich weiß, dass ich dich liebe, und zwar keineswegs den Engel, der aus dem Zug in Lannion stieg, sondern die Frau, die ich nun kennen gelernt habe. Es ist mir völlig gleichgültig, ob dein Vater ein Dieb, Betrüger oder Mörder war. Ich hörte immer zu, wenn du über deinen Vater sprachst, und ich beobachtete auch, wie du aussiehst, wenn du ihn erwähnst. Ich kann nicht glauben, dass ein Mann, dem diese Liebe und Zuneigung zuteil wurde, eine derart schändliche Tat begangen haben könnte. Davon bin ich überzeugt, doch es spielt für mich keine Rolle. Nichts, was er tat oder unterließ, könnte etwas an meiner Liebe zu dir ändern.«
»Ach, Christophe«, sie legte ihr Gesicht an seine Wange, »zeit meines Lebens habe ich auf einen Menschen wie dich gewartet. Aber jetzt muss ich dir etwas zeigen.« Sanft befreite sie sich von ihm, zog den Brief aus der Tasche und gab ihn ihm. »Mein Vater trug mir auf, meinem Herzen zu folgen, und nun gehört es dir.«
Shirley saß Christophe gegenüber und beobachtete ihn, während er den Brief las. Jetzt spürte sie wieder den inneren Frieden, der sie seit dem Tod ihrer Eltern verlassen hatte. Ihre Liebe gehörte Christophe, und sie war zutiefst davon überzeugt, dass er ihr helfen würde, die richtige Entscheidung zu treffen. Der Wald war still. Nur manchmal flüsterte der Wind in den Blättern, und die Vögel antworteten darauf. An diesem Ort war die Zeit soeben stehen geblieben. Nur ein Mann und eine Frau lebten dort.
Als Christophe den Brief gelesen hatte, hob er die Augen. »Dein Vater hat deine Mutter sehr geliebt.« Er faltete das Papier zusammen und steckte es in den Umschlag zurück. »Ich wünschte, ich hätte ihn besser gekannt. Ich war ein Kind, als er auf das Schloss kam, und er blieb nicht lange dort.«
Sie schaute ihn unverwandt an. »Was sollen wir jetzt tun?«
Er rückte näher und berührte ihr Gesicht. »Wir müssen unserer Großmutter den Brief zeigen.«
»Aber meine Eltern sind tot, und die Gräfin lebt. Ich habe sie sehr gern und möchte sie nicht verletzen.«
Er beugte sich nieder und küsste ihre seidigen Wimpern. »Shirley, ich liebe dich aus vielen Gründen, und nun ist noch einer hinzugekommen.« Er schob ihren Kopf zurück, so dass ihre Blicke sich wieder trafen. »Hör mir bitte gut zu, mein Liebling, und vertrau mir. Großmutter muss diesen Brief unbedingt lesen, allein schon um ihres Seelenfriedens willen. Sie glaubt, dass ihre Tochter sie verriet und bestahl. Fünfundzwanzig Jahre lang hat sie mit diesem Gedanken gelebt. Diese Zeilen werden sie davon erlösen.
Den Worten deines Vaters wird sie entnehmen, wie sehr Gabrielle sie geliebt hat. Ebenso wichtig ist, dass sie die Zuneigung deines Vaters für ihre Tochter erkennt. Er war ein ehrenhafter Mann, doch er musste sich mit der Tatsache abfinden, dass die Mutter seiner Frau ihn für einen Dieb hielt. Jetzt ist es an der Zeit, dass alle diese unguten Gedanken ausgelöscht werden.«
»Einverstanden«, stimmte sie zu. »Wenn du dieser Ansicht bist, dann sollten wir es tun.«
Er lächelte, umfasste ihre Hände und führte sie an die Lippen, ehe er ihr aufhalf. »Sag mir, liebe Cousine«, spöttelte er leise, »wirst du immer tun, was ich dir sage?«
»Nein.« Sie schüttelte energisch den Kopf. »Ganz bestimmt nicht.«
»Ah, das habe ich mir doch gleich gedacht.« Er begleitete sie zu den Pferden. »Dann wird das Leben wenigstens nicht langweilig.« Er griff nach dem Halfter der Stute, und Shirley saß auf, ohne dass er ihr dabei behilflich war. Er runzelte die Stirn, als er ihr die Zügel überließ. »Du bist bedenklich unabhängig, eigensinnig und impulsiv, doch ich liebe dich.«
Als er den Hengst bestieg, erwiderte sie: »Und du bist anmaßend, herrschsüchtig und ausgesprochen selbstherrlich. Aber ich liebe dich ebenfalls.«
Shirley und Christophe kehrten zu den Stallungen zurück. Nachdem sie die Pferde einem Burschen überlassen hatten, fassten sie sich bei den Händen und gingen zum Schloss. Als sie sich der Gartenpforte näherten, blieb Christophe stehen und wandte sich Shirley zu.
»Du musst dieses Schriftstück Großmutter selbst aushändigen.« Er zog den Umschlag aus der Tasche und übergab ihn ihr.
»Ja, ich weiß. Aber du wirst doch bei mir bleiben?«
»Ja, mein Liebling.« Er nahm sie in die Arme. »Ich werde dich nicht im Stich lassen.« Er berührte ihre Lippen, und sie schlang die Arme um seinen Hals, bis der Kuss inniger wurde und sie nur noch Augen füreinander hatten.
»Da seid ihr ja wieder, meine Kinder.« Die Worte der Gräfin brachen den Bann.
Sie drehten sich beide um und bemerkten, dass die alte Dame sie vom Garten aus beobachtete. »Demnach habt ihr euch in das Unvermeidliche gefügt.«
»Du bist sehr scharfsinnig, Großmutter.« Christophe hob die Augenbrauen. »Aber ich glaube, das wäre auch ohne deine unschätzbare Unterstützung geschehen.«
Die schmalen Schultern bewegten sich ausdrucksvoll. »Aber ihr hättet zu viel Zeit verschwendet, und Zeit ist ein kostbares Gut.«
»Lass uns hineingehen, Großmutter. Shirley möchte dir etwas zeigen.«
Sie betraten den Salon, und die Gräfin ließ sich in dem thronähnlichen Sessel nieder. »Was haben Sie auf dem Herzen, meine Kleine?«
Shirley ging auf die Gräfin zu. »Großmutter, Tony überbrachte mir einige Briefe von meinem Anwalt. Ich habe mich jetzt erst darum gekümmert und stellte fest, dass sie bedeutend wichtiger sind, als ich zunächst annahm.« Sie wies auf den Brief. »Ehe Sie ihn lesen, möchte ich Ihnen noch sagen, dass ich Ihnen sehr zugetan bin.«
Die Gräfin wollte etwas darauf erwidern, doch Shirley fuhr schnell fort: »Ich liebe Christophe, und ehe er das las, was ich Ihnen jetzt zeige, gestand er mir ebenfalls seine Liebe. Ich kann Ihnen nicht beschreiben, wie beglückend es für mich war, dies zu wissen, noch bevor er diese Zeilen las. Wir beschlossen, Sie mit dem Inhalt vertraut zu machen, weil wir Sie verehren.« Sie übergab ihrer Großmutter den Brief und setzte sich auf das Sofa. Christophe ging zu ihr und umschloss ihre Hand. Dann warteten sie.
Shirleys Blick fiel auf das Porträt ihrer Mutter, deren Augen Freude und Glück einer liebenden Frau widerspiegelten. Ich habe sie ebenfalls gefunden, Mutter, dachte sie: die überwältigende Beseligung der Liebe, und hier halte ich sie in der Hand.
Sie schaute auf Christophes bronzefarbene Finger nieder. Der Rubinring an ihrer Hand, der einst ihrer Mutter gehört hatte, bildete dazu einen schimmernden Kontrast. Sie betrachtete ihn eingehend und verglich ihn dann mit dem Ring an der Hand ihrer Mutter.
Plötzlich verstand sie den Unterschied.
Die Gräfin erhob sich und unterbrach Shirleys Gedankengänge.
»Fünfundzwanzig Jahre lang habe ich diesem Mann Unrecht getan und auch meiner Tochter, die ich liebte«, sagte sie sanft, als sie sich umwandte und aus dem Fenster blickte. »Mein Stolz hat mich geblendet und mein Herz verhärtet.«
»Aber Sie konnten doch von alldem nichts wissen, Großmutter«, erwiderte Shirley. »Meine Mutter und mein Vater wollten Sie nur beschützen.«
»Ja, ich sollte nicht erfahren, dass mein Mann ein Dieb gewesen ist. Sie versuchten, einen öffentlichen Skandal abzuwenden. Auf Grund dessen verzichtete Ihre Mutter auf ihr Erbe.« Erschöpft setzte sie sich wieder. »Aus den Worten Ihres Vaters schließe ich, dass er seine Frau mit aller Hingabe liebte. Sagen Sie mir, Shirley, war meine Tochter glücklich?«
»Das können Sie doch von den Augen meiner Mutter ablesen, wie mein Vater sie auf dem Porträt festgehalten hat. Sie sah immer so aus wie auf diesem Bild.«
»Wie kann ich nur wieder gutmachen, was ich tat?«
»Aber Großmutter!« Shirley erhob sich, kniete vor ihr nieder und umfasste ihre zarten Hände. »Ich habe Ihnen den Brief doch nicht gegeben, um Ihren Kummer zu verstärken, sondern um Ihnen diesen Kummer zu nehmen. Sie haben den Brief gelesen. Demnach wissen Sie auch, dass meine Eltern Ihnen nichts nachtrugen. Absichtlich ließen sie Sie in dem Glauben, dass sie Sie verraten haben. Vielleicht irrten sie sich, aber es ist geschehen und kann nicht mehr rückgängig gemacht werden.« Sie umklammerte die schmalen Hände fester. »Ich möchte Ihnen nur sagen, dass ich Ihnen keinerlei Vorwürfe mache, und ich bitte Sie um meinetwillen, die Angelegenheit auf sich beruhen zu lassen.«
»Ach, Shirley, mein liebes Kind.« Die Gräfin blickte sie zärtlich an. »Es ist gut«, fügte sie unvermittelt hinzu. »Wir werden uns nur noch an die glücklichen Zeiten erinnern. Sie werden mir mehr von Gabrielles Leben mit Ihrem Vater in Georgetown erzählen und sie mir wieder näher bringen. Einverstanden?«
»Ja, Großmutter.«
»Vielleicht werden Sie mir eines Tages das Haus zeigen, in dem Sie aufwuchsen.«
»Sie meinen in Amerika?« Shirley war entsetzt. »Fürchten Sie sich nicht davor, in ein derart unzivilisiertes Land zu reisen?«
»Ziehen Sie keine übereilten Schlüsse.« Mit königlicher Anmut erhob sich die Gräfin. »Ich habe fast den Eindruck, als würde ich nun Ihren Vater über Sie kennen lernen, meine Kleine.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich darf überhaupt nicht daran denken, was mich dieser Raphael gekostet hat. Inzwischen bin ich froh, dass er nicht mehr existiert.«
»Es gibt aber noch die Kopie davon, Großmutter. Ich weiß, wo sie sich befindet.«
»Woher willst du das wissen?« schaltete sich Christophe ein. Es waren seine ersten Worte, seitdem sie den Raum betreten hatten.
Sie wandte sich ihm zu und lächelte. »Es stand im Brief, doch zunächst bemerkte ich es nicht. Erst eben, als du meine Hand hieltst, ging mir die Wahrheit auf. Schau dir diesen Ring einmal an.« Sie streckte die Hand aus, an der der Rubin schimmerte. »Er gehörte meiner Mutter, und sie trägt ihn auf dem Porträt.«
»Ich habe den Ring auf dem Bild bemerkt«, sagte die Gräfin zögernd, »aber Gabrielle besaß solch einen Ring nicht. Ich dachte, ihr Vater hätte ihn hinzugefügt, wegen der passenden Ohrringe.«
»Doch, Großmutter. Es war ihr Verlobungsring. Sie trug ihn immer zusammen mit dem Ehering an ihrer linken Hand.«
»Aber was hat dies mit der Fälschung des Raphael zu tun?« fragte Christophe ungehalten.
»Auf dem Bild trägt sie den Ring an der rechten Hand. Mein Vater hätte niemals einen solchen Fehler begangen, es sei denn, aus Absicht.«
»Das ist schon möglich«, erwiderte die Gräfin leise.
»Ich weiß, dass das Bild da ist. Das geht aus dem Brief hervor. Er sagte, dass er es hinter einem weit kostbareren Gegenstand verborgen hätte. Und nichts war kostbarer für ihn als meine Mutter.«
»Ja.« Die Gräfin betrachtete das Porträt ihrer Tochter sehr genau. »Es gäbe kein besseres Versteck.«
»Vielleicht finden wir es heraus, wenn ich eine Ecke abschabe«, schlug Shirley vor.
»Nein.« Die Gräfin schüttelte den Kopf. »Das ist jetzt nicht mehr nötig. Selbst wenn sich der echte Raphael darunter befände, dürften Sie nicht einen Zoll von Ihres Vaters Werk vernichten.« Sie berührte Shirleys Wange. »Dieses Porträt, Christophe und du, mein Kind, sind mittlerweile meine größten Schätze. Lassen wir das Bild dort, wo es hingehört.« Lächelnd wandte sie sich zu ihren Enkeln um. »Ich werde euch jetzt verlassen. Liebende müssen unter sich sein.«
Wie eine Königin schritt sie davon. Shirley schaute ihr bewundernd nach. »Sie ist großartig, meinst du nicht auch?«
»Ja«, stimmte Christophe leichtherzig zu und nahm Shirley in die Arme. »Und sie ist sehr klug. Übrigens habe ich dich seit einer Stunde nicht mehr geküsst.«
Als er dieses Versäumnis zu gegenseitiger Genugtuung nachgeholt hatte, sah er sie mit dem üblichen Selbstbewusstsein an. »Wenn wir verheiratet sind, mein Liebling, werde ich dich porträtieren lassen. Dann gibt es noch eine andere Kostbarkeit auf diesem Schloss.«
»Verheiratet?« Shirley sah ihn vorwurfsvoll an. »Ich habe noch nicht in eine Heirat eingewilligt.« Sie machte sich widerstrebend von ihm los. »Das kannst du doch nicht einfach so befehlen. Eine Frau möchte vorher immerhin gefragt werden.«
Er zog sie an sich und küsste sie zärtlich.
»Was sagtest du, meine liebe Cousine?«
Sie sah ihn ernst an und legte die Hände um seinen Hals. »Ich werde nie eine gehorsame Ehefrau sein.«
»Hoffentlich nicht«, entgegnete er aufrichtig.
»Wir werden uns häufig streiten, und ich werde dich ständig zur Raserei bringen.«
»Darauf freue ich mich schon jetzt.«
»Dann ist ja alles in Ordnung.« Sie hielt ein Lächeln zurück. »Ich werde dich heiraten. Aber nur unter einer Bedingung.«
»Und die wäre?« Er zog die Augenbrauen hoch.
»Dass du heute Abend mit mir in den Garten gehst.« Sie hielt ihn noch fester und sah ihn spitzbübisch an. »Ich bin es so leid, mit anderen Männern bei Mondschein spazieren zu gehen, mit dem sehnsüchtigen Wunsch, dass du es wärst.«
– ENDE –