5. KAPITEL

Shirley und die Gräfin nahmen das Mittagsmahl auf der Terrasse ein. Berauschender Blumenduft erfüllte die Luft. Shirley lehnte den angebotenen Wein ab und bat stattdessen um Kaffee. Gelassen hielt sie dem kritischen Blick der Gräfin stand.

Jetzt hält sie mich zweifellos für eine Spießerin. Sie unterdrückte ein Lächeln und genoss das starke schwarze Getränk zusammen mit dem köstlichen Garnelengericht.

»Ich bin überzeugt, dass Sie Ihren Ausritt genossen haben«, stellte die Gräfin fest, nachdem sie sich belanglos über Essen und Wetter unterhalten hatten.

»Tatsächlich, Madame. Und zwar zu meiner größten Überraschung. Ich wollte nur, dass ich schon eher reiten gelernt hätte. Ihre bretonische Landschaft ist überwältigend schön.«

»Christophe ist zu Recht stolz auf sein Land.« Die Gräfin prüfte den hellen Wein in ihrem Glas. »Er liebt es, wie ein Mann eine Frau liebt: mit aller Leidenschaft. Obgleich das Ewigkeitswert hat, braucht ein Mann eine Ehefrau. Die Erde ist nur eine frostige Geliebte.«

Shirley wunderte sich über die Offenherzigkeit ihrer Großmutter, die plötzlich alle Zurückhaltung aufgab. Sie zuckte die Schultern mit einer typisch französischen Gebärde. »Ich bin sicher, dass Christophe nur wenig Mühe hat, warmblütige Geliebte zu finden.« Er braucht vermutlich nur mit den Fingern zu schnippen, und sie fallen ihm dutzendweise in die Arme, fügte sie lautlos hinzu, fast erschrocken über ihre stechende Eifersucht.

»Allerdings.« Die Augen der Gräfin leuchteten amüsiert auf. »Wie könnte es auch anders sein?« Widerwillig schluckte Shirley diese Bemerkung hinunter, während die alte Dame ihr Weinglas hob. »Aber Männer wie Christophe benötigen nach einer gewissen Zeit eher Beständigkeit als Abwechslung. Sie ahnen ja gar nicht, wie sehr er seinem Großvater ähnelt.« Mit einem schnellen Blick erfasste Shirley, dass ein weicher Ausdruck das kantige Gesicht veränderte. »Sie sind wild, diese Kergallens, herrschsüchtig und anmaßend männlich. Die Frauen, denen sie ihre Liebe schenken, durchleben Himmel und Hölle mit ihnen.« Die blauen Augen lächelten erneut. »Ihre Frauen müssen stark sein, oder sie werden niedergetreten. Und sie müssen klug sein, um zu wissen, wann sie schwach sein können.«

Shirley hatte ihrer Großmutter aufmerksam zugehört. Sie schüttelte den Bann ab und schob den Teller zur Seite, weil ihr der Appetit auf Garnelen vergangen war. Sie nahm den Gesprächsfaden auf, um ein für alle Mal ihre Einstellung kundzutun: »Madame, ich habe nicht die Absicht, am Wettbewerb um den Grafen teilzunehmen. Soweit ich es beurteilen kann, passen wir nicht im Geringsten zueinander.« Sie erinnerte sich plötzlich an den verführerischen Druck seiner Lippen, an das fordernde Drängen seines Körpers, und sie erbebte. Sie schaute ihre Großmutter an und schüttelte entrüstet den Kopf. »Nein.« Sie dachte nicht weiter darüber nach, ob sie nun zu ihrem Herzen sprach oder zu der Frau ihr gegenüber, sondern stand auf und eilte ins Schloss zurück.

Der Vollmond war am sternenübersäten Himmel aufgegangen, und sein silbernes Licht flutete durch die hohen Fenster, als Shirley aufwachte. Sie fühlte sich elend, schmerzbetäubt und angewidert. Obwohl sie sich schon früh unter dem Vorwand starker Kopfschmerzen zurückgezogen hatte, um dem Mann zu entfliehen, der unentwegt ihre Gedanken beanspruchte, schlief sie nicht sofort ein. Und nun, nach nur wenigen Stunden der Ruhe, war sie hellwach. Sie wälzte sich in dem übergroßen Bett und stöhnte leise, weil ihr Körper revoltierte.

Jetzt bezahle ich den Preis für das kleine Abenteuer am Morgen. Sie wand sich vor Schmerzen und setzte sich mit einem tiefen Seufzer auf. Vielleicht hilft mir ein heißes Bad, hoffte sie im Stillen. Viel lahmer kann ich davon ja auch nicht werden. Sie erhob sich. Die Beine und Schultern protestierten heftig gegen diese Bewegung. Sie zog sich gar nicht erst den Morgenmantel über, der am Fuß des Bettes ausgebreitet lag, sondern tastete sich durch den matt erleuchteten Raum zum angrenzenden Badezimmer. Dabei stieß sie heftig mit einem zierlichen Louis-XVI-Stuhl zusammen.

Sie schimpfte ärgerlich über den zusätzlichen Schmerz, rieb sich das Bein, rückte den Stuhl wieder zurecht und lehnte sich daran. »Was gibt es?« rief sie unwillig, als es an der Tür pochte.

Sie raffte sich auf, und Christophe trat ein, nachlässig in einen königsblauen Morgenmantel gekleidet. Er betrachtete sie eingehend. »Haben Sie sich verletzt, Shirley?« Sie brauchte ihn nicht erst anzusehen. Sein Spott war unüberhörbar.

»Ich habe mir nur ein Bein gebrochen«, fauchte sie. »Machen Sie sich keine Mühe.«

»Darf ich mir wenigstens die Frage erlauben, warum Sie hier im Dunkeln herumtappen?« Er lehnte sich gegen den Türrahmen, kühl, völlig gelassen, und seine Überlegenheit machte Shirley nur noch zorniger.

»Ich werde Ihnen genau sagen, weshalb ich hier im Dunkeln herumstolpere, Sie selbstgefälliges Ungeheuer«, sagte sie erzürnt. »Ich wollte mich in der Badewanne ertränken, um mich dem Elend zu entziehen, in das Sie mich heute gestürzt haben.«

»Wieso ich?« fragte er unschuldig, während er den Blick über sie gleiten ließ. Ihre Gestalt wirkte schlank und golden im schimmernden Mondlicht. Ihr hauchzartes Nachtgewand ließ die langen, schön geformten Beine und die makellose Alabasterhaut frei. Sie war zu aufgebracht, um auf seinen abschätzenden Blick zu reagieren. Und sie bemerkte nicht, dass das Mondlicht durch ihr Gewand sickerte und ihre Körperformen hervorhob.

»Ja, Sie«, schleuderte sie ihm entgegen. »Sie haben mich heute Morgen auf Trab gebracht. Und jetzt rächt sich jeder einzelne Muskel an mir.« Stöhnend rieb sie mit der Handfläche über den schmalen Rücken. »Wahrscheinlich werde ich niemals wieder aufrecht gehen können.«

»Ach.«

»Wie viel doch eine einzige Silbe auszudrücken vermag.« Sie blickte ihn fest, mit aller ihr zur Verfügung stehenden Würde an. »Könnten Sie das noch einmal wiederholen?«

»Armer Liebling«, murmelte er mit übertriebener Sympathie. »Es tut mir ja so Leid.« Er reckte sich und ging auf sie zu. Da wurde sie sich ihrer sparsamen Bekleidung bewusst, und ihre Augen öffneten sich weit.

»Christophe, ich ...« Mehr brachte sie nicht heraus. Denn seine Hände berührten ihre nackten Schultern, und die Worte, die sie eigentlich noch sagen wollte, endeten in einem Seufzer, während seine Finger die verkrampften Muskeln massierten.

»Sie haben ganz neue Muskeln entdeckt, nicht wahr? Und das ist nicht gerade angenehm. Beim nächsten Mal wird es leichter für Sie sein.« Er führte sie zum Bett und drückte ihre Schultern hinab, so dass sie sich widerspruchslos hinsetzte und den festen Druck seiner Hände auf ihrem Nacken und auf ihren Schultern genoss. Er ließ sich hinter ihr nieder, und seine schmalen Finger fuhren ihren Rücken entlang und massierten den Schmerz wie durch einen Zauber hinweg.

Shirley seufzte erneut und drängte sich unwillkürlich dichter an ihn. »Sie haben wunderbare Hände«, flüsterte sie. Sie spürte wohltuende Mattigkeit, als die Schmerzen sich auflösten und warmes Wohlbehagen sie durchflutete. »Herrlich starke Finger. Gleich werde ich zu schnurren anfangen wie eine Katze.«

Sie bemerkte nicht, dass die sanfte Entspannung einer leichten Erregung wich, dass die unpersönliche Massage sich zu einer nachdrücklichen Liebkosung verwandelte, aber ihr schwindelte plötzlich in der Hitze.

»Es geht mir schon viel besser«, stotterte sie und wollte sich ihm entwinden, doch seine Hände umschlangen schnell ihre Taille und hielten sie fest umschlungen, während seine Lippen ihren weichen, empfindsamen Hals suchten und einen sanften Kuss darauf hauchten. Sie erbebte. Dann versuchte sie, sich wie ein verängstigtes Reh zu befreien, doch ehe es ihr gelang, drehte er ihren Kopf zu sich herum, seine Lippen legten sich auf ihren Mund und versiegelten jeden Protest.

Aller Widerstand erstickte im Keim, ihre Erregung loderte wie eine Flamme, und sie schlang die Arme um seinen Hals, als er sie niederdrückte. Sein Mund schien ihre Lippen verschlingen zu wollen, hart und siegesbewusst. Seine Hände verfolgten die Linien ihres Körpers, als hätte er sie schon unzählige Male besessen. Ungeduldig streifte er die dünnen Träger von ihren Schultern. Er suchte und fand ihre seidenweiche Brust. Seine Berührung entfachte einen Sturm des Verlangens in Shirley. Seine Begierde wuchs. Unaufhaltsam streiften seine Hände die raschelnde Seide ab, und seine Lippen verließen ihren Mund, um ihren Hals mit unstillbarem Hunger zu überwältigen.

»Christophe«, stöhnte sie in dem Bewusstsein, dass sie unfähig war, gegen ihn und ihre eigene Schwäche anzukämpfen. »Christophe, bitte, ich kann mich hier nicht gegen Sie wehren. Ich würde niemals gewinnen.«

»Wehren Sie sich nicht gegen mich, meine Schöne«, flüsterte er. »Dann werden wir beide gewinnen.«

Sein Mund legte sich wieder auf ihre Lippen. Weich und entspannt erweckte er ihre Begierde und das Gefühl der Schwerelosigkeit. Langsam erkundete er ihr Gesicht, berührte die Kurven ihrer Wangen, liebkoste ihren empfindsam geöffneten Mund, ehe er ihren Körper weiter eroberte. Eine Hand umfasste besitzergreifend ihre Brust, die Finger zeichneten ihre Linie nach, bis ein dumpf pochender Schmerz sie durchfuhr. Sie stöhnte auf, und ihre Hände suchten nach den angespannten Muskeln seines Rückens, als wollte sie seine Macht über sie bestätigen.

Seine wie unbeteiligten Erkundungen wurden wieder heftiger, als hätte ihre Ergebenheit das Feuer seiner Leidenschaft noch stärker entflammt. Seine Hände strichen über ihre sanfte Haut, sein Mund ergriff Besitz von ihren Lippen, versetzte ihre Sinne in Aufruhr und forderte nicht nur Unterwerfung, sondern ebenbürtige Leidenschaft.

Shirley seufzte auf, als Christophes Lippen ihren Hals hinunterwanderten, um die warme Vertiefung zwischen ihren Brüsten zu küssen.

Ein letzter Funke von Klarheit sagte ihr, dass sie am Rand eines Abgrundes stand.

Ein weiterer Schritt vorwärts würde sie in eine unendliche Leere stürzen.

»Christophe, bitte.« Sie zitterte, obwohl sie von seiner Hitze ganz benommen war. »Sie machen mir Angst, und ich selbst mache mir Angst. Ich bin ... ich bin noch nie mit einem Mann zusammen gewesen.«

Er hielt inne, und tiefes Schweigen umfing sie, als er den Kopf hob und auf sie niederblickte. Strahlendes Mondlicht ruhte auf ihrem hellen Haar, das zerzaust auf dem schneeweißen Kissen lag, und ihre Augen waren verschleiert von plötzlich erwachter Leidenschaft und Furcht.

Mit einem kurzen rauen Laut gab er sie frei. »Ihre Verzögerungstaktik ist unglaublich, Shirley.«

»Es tut mir Leid.« Sie setzte sich auf.

»Weswegen entschuldigen Sie sich?« Unter der Oberfläche eisiger Ruhe war Ärger spürbar. »Wegen Ihrer Unschuld, oder aber weil Sie mir beinahe erlaubt hätten, sie Ihnen zu nehmen?«

»Das ist eine niederträchtige Bemerkung«, fuhr sie ihn an und rang nach Atem. »Dies alles geschah so schnell, dass ich gar nicht zur Besinnung kam. Wäre ich darauf vorbereitet gewesen, hätten Sie sich mir niemals in dieser Weise genähert.«

»Wirklich nicht?«

Er richtete sie auf, bis sie auf dem Bett vor ihm kniete und wieder an seiner Brust lag.

»Jetzt sind Sie vorbereitet. Glauben Sie etwa, dass ich Sie nicht augenblicklich besitzen könnte, und Sie es freiwillig geschehen ließen?«

Er blickte auf sie nieder, seine Stimme klang anmaßend und erzürnt. Sie konnte nicht antworten, denn sie wusste, dass sie seiner Selbstherrlichkeit und ihrem heftigen Verlangen ausgeliefert war. Die riesigen Augen in ihrem blassen Gesicht glänzten vor Furcht und Arglosigkeit. Ärgerlich schob er sie von sich fort.

»Verflixt noch mal! Sie sehen mich mit den Augen eines Kindes an, und ihr Körper verhüllt makellos Ihre Unschuld. Eine gefährliche Maskerade.«

Er ging zur Tür und blickte noch einmal zurück, um die leicht bekleidete Gestalt zu betrachten, die sich in dem riesigen Bett sehr klein ausnahm. »Schlafen Sie gut, meine Schöne«, spottete er. »Sollten Sie wieder einmal die Möbel anrempeln wollen, wäre es angebracht, die Tür zu verschließen. Beim nächsten Mal werde ich Sie nicht so ohne weiteres verlassen.«

Beim Frühstück erwiderte Christophe freundlich Shirleys kühlen Gruß. Er blickte sie kurz an und zeigte keine Spur von Verstimmung über die vergangene Nacht. Widersinnigerweise war sie über seinen Gleichmut etwas verärgert. Er plauderte mit der Gräfin und wandte sich nur dann an Shirley, wenn es unumgänglich war, und das in einem überaus höflichen Ton.

»Du hast doch nicht vergessen, dass Genevieve und Yves heute Abend mit uns speisen werden?« wandte sich die Gräfin an Christophe.

»Aber nein, Großmutter.« Er stellte die Tasse auf den Unterteller zurück. »Es ist mir ein Vergnügen, sie einmal wiederzusehen.«

»Ich glaube, dass Sie ihre Gesellschaft als sehr angenehm empfinden werden, Shirley.« Die Gräfin richtete die klaren blauen Augen auf ihre Enkelin. »Genevieve ist etwa ebenso alt wie Sie, vielleicht ein Jahr jünger. Sie ist eine liebenswerte, wohlerzogene junge Frau. Und ihre Bruder Yves ist sehr charmant und attraktiv.« Sie lächelte leicht. »In seiner Gesellschaft werden Sie sich bestimmt nicht langweilen. Findest du nicht auch, Christophe?«

»Ich bin davon überzeugt, dass Shirley sich mit Yves gut unterhalten wird.«

Shirley sah Christophe kurz an. Sein Tonfall war irgendwie lebhafter als gewöhnlich. Doch er trank ruhig seinen Kaffee, und so glaubte sie, sich geirrt zu haben.

»Die Dejots sind alte Freunde der Familie.« Die Gräfin lenkte Shirleys Aufmerksamkeit wieder auf sich. »Ich bin
sicher, dass Sie sich freuen werden, Bekannten Ihres eigenen Alters zu begegnen, nicht wahr? Genevieve kommt häufig zu Besuch ins Schloss. Als Kind trabte sie hinter Christophe her wie ein folgsames Hündchen. Allerdings ist sie inzwischen kein Kind mehr.« Sie blickte den Mann am Kopfende des Eichentisches bedeutungsvoll an. Shirley zwang sich, unbeteiligt auszusehen.

»Genevieve hat sich von einem linkischen Kind mit Rattenschwänzen zu einer eleganten, wunderhübschen Frau gemausert.« Seine Stimme klang unüberhörbar herzlich.

Wie gut für sie, dachte Shirley und rang nach einem interessierten Lächeln.

»Sie wird bestimmt eine vorzügliche Ehefrau«, weissagte die Gräfin.

»Sie besitzt eine sanfte Schönheit und natürliche Anmut. Wir müssen sie überreden, für Sie Klavier zu spielen, Shirley. Sie ist nämlich eine hochtalentierte Pianistin.«

Wieder ein tugendhaftes Vorbild, überlegte Shirley und war bitter eifersüchtig auf die Beziehung zwischen Genevieve und Christophe. Dann zwang sie sich zu einigen zuvorkommenden Worten: »Ich freue mich sehr darüber, Ihre Freunde kennen zu lernen, Madame.« Schweigend schwor sie sich, die vollkommene Genevieve mit Nichtachtung zu strafen.

Der goldene Morgen verstrich friedlich. Stille ruhte auf dem Garten, wo Shirley zeichnete. Sie hatte einige Worte mit dem Gärtner gewechselt, ehe sie sich beide ihrer Arbeit widmeten. Sie beobachtete ihn interessiert und skizzierte ihn, wie er sich über die Büsche beugte, die verwelkten Blüten stutzte und mit seinen farbenfrohen, duftenden Freunden schwatzte, sie gelegentlich ausschimpfte und auch lobte.

Sein Gesicht war zeitlos, verwittert und charaktervoll. Erstaunlich blaue Augen hoben sich von der rötlichen Gesichtsfarbe ab. Der breitrandige Hut auf seinem stahlgrauen Haarschopf war schwarz, Samtbänder fielen auf den Rücken. Er trug eine ärmellose Weste und abgetragene Kniehosen. Sie staunte über seine Beweglichkeit in den klobigen Holzschuhen.

Sie war so tief darin versunken, seine kleine Welt mit dem Bleistift festzuhalten, dass sie die Schritte auf den Steinfliesen hinter sich überhörte. Christophe beobachtete eine Weile, wie sie sich über ihre Arbeit beugte.

Die graziöse Schwingung ihres Nackens erinnerte ihn an einen stolzen weißen Schwan, der über einen kühlen, klaren See glitt. Erst als sie den Bleistift hinter das Ohr schob und sich abwesend über das Haar fuhr, räusperte er sich.

»Die Zeichnung von Gaston ist Ihnen fabelhaft gelungen, Shirley.« Amüsiert zog er die Brauen hoch, weil sie aufsprang und die Hand an die Brust presste.

»Ich wusste nicht, dass Sie hier sind.« Sie verwünschte ihre atemlose Stimme und den jagenden Puls.

»Sie waren tief in Ihre Arbeit versunken.« Nachlässig setzte er sich neben sie auf die weiße Marmorbank. »Ich wollte Sie nicht stören.«

Selbst in tausend Kilometern Entfernung würden Sie mich noch stören, ergänzte sie in Gedanken. Höflich erwiderte sie: »Danke. Sie sind sehr rücksichtsvoll.« Abwehrend widmete sie ihre Aufmerksamkeit dem Spaniel zu ihren Füßen. »Oh Korrigan, wie geht’s?« Sie kraulte seine Ohren, und er bedeckte ihre Hand mit liebevollen Küssen.

»Korrigan ist ganz hingerissen von Ihnen.« Christophe betrachtete ihre schlanken Finger. »Normalerweise verhält er sich zurückhaltender, aber es scheint, dass Sie sein Herz erobert haben.« Korrigan ließ sich zutraulich auf ihren Füßen nieder und leckte ihr die Hand.

»Ein sehr feuchter Verehrer.« Sie zog die Hand zurück.

»Ein geringfügiger Preis für so viel Liebe.« Er nahm ein Taschentuch, umfasste ihre Hand und trocknete sie ab. Ein starker Strom durchzuckte ihre Fingerspitzen, den Arm und ließ prickelnd Hitze in ihr aufsteigen.

»Das ist nicht notwendig. Ich habe hier einen alten Lappen.« Sie wies auf ihren Kasten mit Kreide und Bleistiften und versuchte, die Finger aus seiner Hand zu lösen.

Seine Augen wurden schmal, sein Griff fester, und sie fühlte sich überrumpelt von diesem kurzen, schweigenden Kampf. Mit einem entrüsteten Seufzer ließ sie zu, dass er ihre Hand festhielt.

»Setzen Sie sich immer und überall durch?« Ihre Augen verdunkelten sich in unterdrücktem Zorn.

»Aber natürlich«, erwiderte er mit unerschütterlichem Selbstvertrauen. Er ließ ihre Hand los und betrachtete Shirley abschätzend. »Ich habe den Eindruck, dass Sie gewöhnlich ebenfalls tun, was Sie wollen, Shirley Smith. Wäre es nicht interessant, zu beobachten, wer während Ihres Besuchs den Sieg davonträgt?«

»Vielleicht sollten wir die Ergebnisse auf einer Tafel festhalten«, schlug sie etwas frostig vor. »Dann gibt es wenigstens keinen Zweifel darüber, wer der Gewinner ist.«

Er lächelte sie nachdenklich und lässig an. »Darüber besteht überhaupt kein Zweifel.«

Ehe sie antworten konnte, tauchte die Gräfin auf. Shirley versuchte heiter auszusehen, um die alte Dame von jedem Verdacht abzulenken.

»Ein herrlicher Morgen, meine Lieben.« Die Gräfin begrüßte sie mit einem mütterlichen Lächeln, das ihre Enkelin erstaunte. »Sie genießen also den schönen Garten. Um diese Tageszeit ist er am friedlichsten.«

»Er ist bezaubernd, Madame«, stimmte Shirley zu. »Es kommt mir so vor, als gäbe es keine andere Welt mehr außer den Farben und Düften dieses einsamen Fleckchens Erde.«

»So ist es mir auch oft ergangen. Ich kann die Stunden nicht mehr zählen, die ich jahrelang an dieser Stelle verbracht habe.« Sie ließ sich auf der Bank nieder, gegenüber dem braun gebrannten Mann und der hellhäutigen Frau.

Sie seufzte: »Was haben Sie gezeichnet?« Shirley reichte ihr den Block. Die Gräfin heftete die Augen auf die Zeichnung und sah sie dann genau an. »Sie haben das Talent Ihres Vaters geerbt.« Bei dieser mutmaßlich missgünstigen Bemerkung verschärfte sich Shirleys Blick, und sie öffnete schon den Mund, um zu antworten. »Ihr Vater war ein sehr begabter Künstler«, setzte die Gräfin fort. »Er muss sehr viel Herzensgüte besessen haben, um Gabrielles Liebe und Ihre Anhänglichkeit zu erringen.«

»Ja, Madame.« Shirley begriff, dass dies ein schwer wiegendes Zugeständnis war. »Er war ein sehr guter Mann, liebender Vater und Gatte zugleich.«

Sie widerstand dem Drang, erneut von dem Raphael zu sprechen, denn sie wollte den feingewobenen Faden des Verständnisses nicht zerreißen. Die Gräfin nickte. Dann wandte sie sich an Christophe wegen der Abendgesellschaft.

Shirley nahm Zeichenpapier und Kreide zur Hand und skizzierte aufmerksam ihre Großmutter. Die Stimmen summten um sie herum, besänftigende, friedliche Laute, die zu der Atmosphäre des Gartens passten.

Sie dachte überhaupt nicht daran, der Unterhaltung zu folgen, sondern konzentrierte sich intensiv auf ihre Arbeit.

Als sie das fein geschnittene Gesicht und den überraschend verletzlichen Mund kopierte, entdeckte sie eine beachtliche Ähnlichkeit mit ihrer Mutter und so auch mit sich selbst. Der Gesichtsausdruck der Gräfin war gelöst, von altersloser Schönheit und von Stolz geprägt.

Aber jetzt entdeckte Shirley einen Abglanz der Weichheit und Zerbrechlichkeit ihrer Mutter, das Gesicht einer Frau, die aufrichtig lieben konnte und umso verletzlicher war. Zum ersten Mal, seit Shirley den förmlichen Brief von ihrer unbekannten Großmutter erhalten hatte, fühlte sie Liebe für die Frau in sich aufkeimen, die ihre Mutter geboren hatte, und die damit auch verantwortlich für ihre eigene Existenz war.

Shirley war sich ihres lebhaften Mienenspiels nicht bewusst, und sie vergaß auch den Mann an ihrer Seite, der die Verwandlung ihres Gesichts beobachtete, während er die Unterhaltung mit der Gräfin fortführte.

Als sie die Arbeit beendet hatte, legte sie die Kreide in
den Kasten und wischte sich gedankenverloren die Hände
ab. Sie fuhr auf, als sie den Kopf wandte und Christophes durchdringendem Blick begegnete. Er betrachtete das Porträt auf ihrem Schoß und sah ihr dann wieder in die verwirrten Augen.

»Sie haben eine seltene Begabung, chérie«, sagte er leise. Verlegen zog sie die Stirn kraus, weil sein Ton nicht verriet, ob er ihre Arbeit meinte oder ein ganz anderes Thema.

»Was haben Sie gezeichnet?« wollte die Gräfin wissen. Shirley befreite sich von seinem unwiderstehlichen Blick und reichte ihrer Großmutter das Porträt.

Die Gräfin sah es eine Weile lang an. Ihr erstaunter Gesichtsausdruck veränderte sich dann in einer Weise, die Shirley nicht deuten konnte. Als sie die Augen wieder hob und sie auf sie richtete, lächelte sie.

»Ich fühle mich geehrt und geschmeichelt. Wenn Sie einverstanden sind, würde ich dieses Bild gern kaufen«, ihr Lächeln vertiefte sich, »teilweise aus Selbstgefälligkeit, aber auch, weil ich ein Beispiel Ihrer Arbeit besitzen möchte.«

Shirley beobachtete sie einen Augenblick lang und befand sich im Zwiespalt zwischen Stolz und Zuneigung. »Es tut mir Leid, Madame.« Sie schüttelte den Kopf und nahm die Zeichnung wieder an sich. »Ich kann sie nicht verkaufen.«

Sie blickte auf das Papier in der Hand, ehe sie es der alten Dame wieder zurückgab. »Ich schenke es Ihnen, Großmutter.« Sie nahm das bewegte Mienenspiel der Gräfin in sich auf, bevor sie weitersprach: »Nehmen Sie es an?«

»Ja.« Das Wort klang wie ein Seufzer. »Ich werde Ihr Geschenk in Ehren halten.« Erneut blickte sie auf die Kreidezeichnung. »Es soll mich daran erinnern, dass Liebe wichtiger ist als Stolz.« Sie erhob sich und berührte mit den Lippen Shirleys Wangen, ehe sie wieder über den Steinfliesenweg zum Schloss zurückkehrte.

Shirley stand auf.

»Sie haben eine natürliche Gabe, die Liebe anderer Menschen zu gewinnen«, bemerkte Christophe.

Sie fuhr ihn erregt an: »Sie ist ebenfalls meine Großmutter.«

Ihm entging nicht, dass ihre Augen von Tränen verschleiert waren, und mit einer lässigen Bewegung erhob er sich. »Meine Feststellung war ein Kompliment.«

»Tatsächlich? Es klang eher nach einem Werturteil.« Sie verwünschte den Nebel vor ihren Augen. Sie wollte gleichzeitig allein sein und sich gegen seine breite Schulter lehnen.

»Immer befinden Sie sich mir gegenüber in Abwehrstellung, stimmt’s, Shirley?« Seine Augen verengten sich wie üblich, wenn er ärgerlich war. Aber sie war so mit dem Aufruhr ihrer Gefühle beschäftigt, dass sie nicht darauf achtete.

»Grund genug dafür haben Sie mir ja auch gegeben. Von dem Moment an, als ich den Zug verließ, haben Sie kein Hehl aus Ihren Gefühlen gemacht. Sie haben meinen Vater und mich verurteilt. Sie sind kalt und selbstherrlich und haben keinen Funken Mitleid oder Verständnis. Ich wollte, Sie gingen jetzt fort und ließen mich allein. Prügeln Sie doch einige Landarbeiter oder dergleichen. Das passt zu Ihnen.«

Er näherte sich ihr so schnell, dass sie keine Möglichkeit hatte, ihm auszuweichen. Seine Arme schienen sie zu zerbrechen, als sie sich um sie schlangen. »Haben Sie Angst?« Seine Lippen pressten sich auf ihren Mund, ehe sie antworten konnte, und alle Vernunft war wie ausgelöscht.

Sie stöhnte auf vor Schmerz und Verlangen, als sein Griff sich festigte und ihr den Atem raubte.

Wie ist es nur möglich, dass man gleichzeitig hasst und liebt, fragte ihr Herz, und die Antwort verlor sich in einer ungestümen, triumphierenden Flutwelle der Leidenschaft. Er fuhr ihr mit den Fingern erbarmungslos durch das Haar, zog den Kopf nach hinten, und sein heißer, hungriger Mund begehrte die verletzliche Haut ihres glatten, schlanken Halses. Durch die dünne Bluse hindurch spürte sie die Hitze seines Körpers. Er beseitigte diesen geringfügigen Widerstand, schob die Hand unter den Stoff und nahm wie selbstverständlich Besitz von ihrer nackten Brust.

Seine Lippen umschlossen wieder ihren Mund, mit einer Weichheit, der sie sich nicht entziehen konnte. Sie kümmerte sich nicht mehr um die Zerrissenheit ihrer Liebe, sondern lieferte sich wie eine Weide im Sturm ihrer Sehnsucht aus.

Er hob das Gesicht, seine Augen glühten dunkel, fast schwarz, vor Zorn und Leidenschaft. Er wollte sie besitzen. Bei dieser Erkenntnis weitete sich ihr Blick erschrocken. Nie zuvor war sie so heftig begehrt worden, und nie zuvor hatte jemand die Kraft besessen, sie so mühelos zu erobern. Selbst wenn er sie nicht liebte, würde sie sich ihm unterwerfen, und auch ohne ihre Unterwerfung würde er sie für sich beanspruchen.

Er las die Furcht in ihren Augen. Seine Stimme klang tief und gefährlich: »Ja, meine kleine Cousine, Sie haben allen Grund, sich zu fürchten, denn Sie wissen sehr genau, was geschehen wird. Im Augenblick sind Sie sicher vor mir, doch geben Sie Acht, wie und wo Sie mich künftig herausfordern.«

Er ließ sie los und ging den Weg zurück, den die Großmutter gewählt hatte. Korrigan sprang auf, blickte Shirley wie entschuldigend an und folgte dann seinem Herrn.