9. KAPITEL
Zum zweiten Mal schlenderte Shirley mit einem großen, gut aussehenden Mann durch den mondhellen Garten, und auch jetzt wünschte sie sehnlich, es wäre Christophe. Schweigend genossen sie und Tony die frische Nachtluft und hielten sich vertraut bei den Händen.
»Du bist in ihn verliebt, nicht wahr?«
Tonys Frage zerriss die Stille wie splitterndes Glas. Shirley blieb stehen und sah ihn mit weit offenen Augen an.
»Shirley.« Er seufzte und strich mit einem Finger über ihre Wange. »Ich kann deine Gedanken lesen wie ein Buch, obwohl du mit aller Macht versuchst, deine Gefühle für ihn zu verbergen.«
»Tony, ich ...«, stammelte sie schuldbewusst und kläglich. »Du irrst dich. Ich mag ihn nicht einmal, glaub mir.«
»Du liebe Zeit.« Er lachte leise und zog eine Grimasse. »Ich wünschte, du würdest mich ebenso mögen wie ihn.« Er hob ihr Kinn.
»Bitte, Tony.«
»Du warst immer ausgesprochen ehrlich, Liebling.
Du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen. Ich dachte,
dass
ich dich mit Geduld und Hartnäckigkeit für mich gewinnen könnte.«
Er legte einen Arm um ihre Schulter, als sie tiefer
in den Garten hineingingen. »Weißt du, Shirley, bei dir trügt der
Schein. Du wirkst wie eine erlesene Blume, so zart, dass jeder Mann
fürchtet, dich zu berühren, um dich nicht abzubrechen, doch in
Wirklichkeit bist du erstaunlich stark.« Er drückte leicht ihre
Hand. »Du strauchelst nie, Liebling. Ein Jahr lang habe ich
gewartet, um dich aufzufangen, aber du stolperst nie.«
»Meine Launen und mein Temperament hätten dich zur Verzweiflung getrieben, Tony.« Aufseufzend lehnte sie sich an seine Schulter. »Ich könnte niemals die Frau sein, die du wirklich brauchst. Es wäre sinnlos gewesen, wenn ich versucht hätte, mich zu ändern. Unsere Zuneigung wäre in Hass umgeschlagen.«
»Ich weiß. Die ganze Zeit über habe ich es gewusst, doch ich wollte es mir nicht eingestehen.« Er atmete tief. »Als du in die Bretagne reistest, wusste ich, dass alles vorbei war. Aus diesem Grund kam ich hierher. Ich musste dich unbedingt noch einmal sehen.« Seine Worte klangen so endgültig, dass sie ihn verblüfft ansah.
»Aber wir werden uns wieder sehen, Tony. Schließlich sind wir immer noch Freunde. Ich werde bald zurückkommen.«
Sie sahen sich lange schweigend an. »Wirklich, Shirley?« Er wandte sich um und führte sie zum Schloss zurück.
Die Sonne schien warm auf Shirleys bloße Schultern, als sie sich am nächsten Morgen von Tony verabschiedete. Er hatte der Gräfin und Christophe bereits Lebewohl gesagt, und Shirley war aus der kühlen Halle mit ihm hinausgegangen in den heißen gepflasterten Vorhof. Der kleine rote Renault stand bereit, das Gepäck war schon im Kofferraum verstaut. Tony prüfte es kurz, dann drehte er sich um und ergriff Shirleys Hände.
»Lass es dir gut gehen, Shirley.« Sein Druck wurde fester, löste sich dann aber gleich wieder. »Vergiss mich nicht.«
»Natürlich werde ich an dich denken, Tony. Ich werde dir schreiben und dich wissen lassen, wann ich wiederkomme.«
Er lächelte sie an, und seine Augen wanderten über ihr Gesicht, als wollte er sich jede Einzelheit einprägen. »Ich werde mich so an dich erinnern, wie du jetzt vor mir stehst: das gelbe Kleid, das sonnendurchflutete Haar und im Hintergrund das Schloss, die unvergängliche Schönheit von Shirley Smith mit den golden schimmernden Augen.«
Er senkte seinen Mund auf ihre Lippen. Plötzlich überwältigte sie die Vorahnung, dass sie ihn nie mehr wieder sehen würde. Sie schlang die Arme um seinen Hals und klammerte sich an ihn und die Vergangenheit. Seine Lippen berührten ihr Haar, ehe er sich losmachte.
»Auf Wiedersehen, Liebling.« Er streichelte ihr die Wangen.
»Auf Wiedersehen, Tony. Pass gut auf dich auf.« Entschlossen wehrte sie sich gegen die aufsteigenden Tränen.
Sie beobachtete, wie er in das Auto einstieg und in die lange, gewundene Auffahrt abbog. Der Wagen schmolz in der Entfernung zu einem kleinen roten Punkt zusammen, der langsam ihren Blicken entschwand. Sie rührte sich nicht von der Stelle und ließ nun den zurückgehaltenen Tränen freien Lauf.
Ein Arm legte sich um ihre Taille. Ihre Großmutter stand neben ihr, das energische Gesicht voller Sympathie und Verständnis.
»Sind Sie traurig, weil er wieder abreist, meine Kleine?« Ihre Nähe tat Shirley gut, und sie lehnte den Kopf gegen die schmale Schulter.
»Ja, Großmutter, sehr traurig.«
»Aber Sie sind nicht verliebt in ihn.« Es war eher eine Feststellung als eine Frage, und Shirley seufzte auf.
»Uns verbindet eine ganz besondere Freundschaft.« Sie wischte sich eine Träne ab und schluchzte wie ein Kind. »Ich werde ihn sehr vermissen. Jetzt möchte ich hinauf in mein Zimmer gehen und mich ausweinen.«
»Ja, das ist vernünftig.« Die Gräfin klopfte ihr leicht auf die Schulter. »Nur wenige Dinge befreien den Kopf und das Herz so gründlich wie ein Tränenstrom.«
Shirley wandte sich um und umarmte sie. »Beeilen Sie sich, mein Kind.« Die Gräfin drückte sie an sich, ehe sie sie freigab. »Weinen Sie sich aus.«
Shirley lief die Steinstufen hinauf und flüchtete durch die schwere Eichentür in das kühle Schloss. Als sie die Haupttreppe erreichte, stieß sie mit einem harten Gegenstand zusammen. Hände umfassten ihre Schultern.
»Sie müssen aufpassen, wohin Sie gehen, meine Liebe«, spöttelte Christophe. »Sonst werden Sie noch gegen eine Wand prallen und sich Ihre wunderhübsche Nase eindrücken.« Sie versuchte, sich loszureißen, doch eine Hand hielt sie mühelos fest, während die andere ihr Kinn hochhob. Als er ihre tränenfeuchten Augen sah, schwand seine Ironie. Er war erstaunt, betroffen und schließlich ungewohnt hilflos. »Shirley?« Er sprach ihren Namen so sanft aus wie noch nie zuvor, und die zärtlich-dunklen Augen brachten sie vollends aus der Fassung.
»Ich bitte Sie«, sie unterdrückte ein verzweifeltes Schluchzen, »lassen Sie mich gehen.« Sie schüttelte ihn ab, bemühte sich um ihr Gleichgewicht und wäre doch am liebsten in die Arme dieses plötzlich so sanftmütigen Mannes gesunken.
»Kann ich irgendetwas für Sie tun?« Er hinderte sie daran, davonzulaufen, indem er ihr eine Hand auf den Arm legte.
Ja, Sie Dummkopf, rebellierte sie innerlich. Lieben Sie mich! »Nein«, rief sie laut und lief die Treppe hinauf. »Nein und nochmals nein.«
Sie jagte davon wie ein verfolgtes Rehkitz, öffnete die Schlafzimmertür, schlug sie heftig wieder zu und warf sich aufs Bett.
Die Tränen wirkten Wunder. Shirley wischte sie schließlich ab und fühlte sich wieder imstande, der Welt und der Zukunft ins Auge zu blicken. Sie betrachtete den achtlos hingeworfenen Briefumschlag aus Japanpapier auf ihrem Schreibtisch. Es war höchste Zeit, dass sie sich darum kümmerte, was der alte Barkley ihr mitzuteilen hatte. Shirley erhob sich widerstrebend und holte den Brief.
Dann legte sie sich erneut aufs Bett, öffnete das Siegel und ließ den Inhalt auf die Decke gleiten. Er bestand aus einem eindrucksvollen Firmenbogen, der sie sofort wieder an Tony erinnerte, und einem weiteren versiegelten Umschlag. Gleichgültig nahm sie die sauber mit der Maschine geschriebene Seite zur Hand und fragte sich, was für ein Formular sie denn nun schon wieder für den Familienanwalt auszufüllen hätte.
Nachdem sie den Brief gelesen und den völlig unerwarteten Inhalt zur Kenntnis genommen hatte, setzte sie sich kerzengerade auf.
Sehr geehrte Miss Smith,
hiermit übersende ich Ihnen ein Kuvert, das eine Nachricht Ihres Vaters enthält. Diesen mir anvertrauten Brief sollte ich Ihnen nur aushändigen, falls Sie mit der Familie Ihrer Mutter in der Bretagne Kontakt aufnähmen. Von Tony Rollins erfuhr ich, dass Sie sich zurzeit auf Schloss Kergallen bei Ihrer Großmutter mütterlicherseits aufhalten. Aus diesem Grund übergab ich Tony dieses Schreiben, damit Sie es so schnell wie möglich erhalten.
Hätten Sie mich über Ihre Pläne unterrichtet, hätte ich Sie bereits vorher die Wünsche Ihres Vaters wissen lassen. Sie sind mir natürlich nicht bekannt, doch ich bin davon überzeugt, dass die Botschaft Ihres Vaters Sie trösten wird.
M. Barkley.
Shirley legte den Brief des Rechtsanwalts beiseite und griff nach dem bei ihm hinterlegten Bericht ihres Vaters. Sie starrte den Umschlag an, wendete ihn, und ihre Augen verschleierten sich, als sie die vertraute kühne Handschrift sah. Sie brach das Siegel auf.
Meine einzige Shirley,
wenn du diese Zeilen liest, werden deine Mutter und ich nicht mehr bei dir sein, und ich hoffe, dass du nicht allzu sehr trauerst, denn unsere Liebe für dich ist aufrichtig und stark wie das Leben.
Du bist jetzt, da ich diese Zeilen aufsetze, zehn Jahre alt und bereits das genaue Abbild deiner Mutter, so dass mich heute schon der Gedanke an all die jungen Burschen bekümmert, die ich eines Tages von dir abwehren muss.
Ich habe dich heute Morgen beobachtet, als du still im Garten saßt, ein ungewöhnlicher Anblick. Denn im Allgemeinen flitzt du mit atemberaubender Geschwindigkeit auf Rollschuhen über die Bürgersteige oder schlitterst die Treppengeländer hinunter, ohne dich um Hautabschürfungen zu kümmern. Du benutztest meinen Skizzenblock und einen Bleistift und zeichnetest mit besessener Hingabe die blühenden Azaleen.
In dem Augenblick erkannte ich mit Stolz und Verzweiflung, dass du erwachsen wirst und nicht immer mein kleines Mädchen bleiben würdest, das sicher in der Obhut seiner Eltern aufgehoben ist. Mir wurde klar, dass ich dir über Ereignisse berichten muss, mit denen du dich später vielleicht einmal auseinander zu setzen hast.
Ich werde dem alten Barkley Anweisung erteilen, diesen Brief so lange aufzubewahren, bis deine Großmutter oder ein anderes Mitglied deiner mütterlichen Familie mit dir in Verbindung tritt. Geschieht dies nicht, ist es auch nicht notwendig, das Geheimnis zu offenbaren, das Deine Mutter und ich seit über einem Jahrzehnt hüten.
Damals malte ich in den Straßen von Paris, gefangen von der herrlichen Frühlingssonne. Ich war von dieser Stadt bezaubert, und ich brauchte keine andere Geliebte als meine Kunst. Ich war sehr jung und, um aufrichtig zu sein, ziemlich überspannt. Ich begegnete einem Mann namens Jacques le Goff, den mein ungezügeltes Talent beeindruckte. So jedenfalls drückte er es aus. Er beauftragte mich, ein Porträt seiner Verlobten zu malen, das er ihr zur Hochzeit schenken wollte. Er veranlasste, dass ich in die Bretagne fuhr und auf Schloss Kergallen wohnte. Mein Leben begann in dem Augenblick, als ich die riesige Eingangshalle betrat und zum ersten Mal deine Mutter sah.
Ich liebte sie vom ersten Augenblick an, einen sanften Engel mit Haaren wie aus Sonnenstrahlen, doch ich ließ mir nichts anmerken. An erster Stelle stand meine Kunst, und darauf beharrte ich. Ich war da, um deine Mutter zu malen. Sie gehörte meinem Auftraggeber und dem Schloss. Sie war eine Aristokratin von uraltem Adel. All diese Dinge führte ich mir immer wieder vor Augen. Jonathan Smith, der herumreisende Künstler, hatte kein Recht, sie im Traum zu besitzen, geschweige denn in Wirklichkeit.
Als ich die ersten Skizzen von ihr anfertigte, glaubte ich manchmal, vor Liebe zu ihr vergehen zu müssen. Ich wollte sie unter irgendeinem Vorwand verlassen, aber ich fand nicht den Mut dazu. Jetzt bin ich froh darüber, dass ich blieb.
Eines Abends, als ich im Garten spazieren ging, begegnete ich ihr. Ich wollte mich abwenden, um sie nicht zu stören, doch sie hörte meine Schritte, und als sie sich umdrehte, las ich von ihren Augen ab, was ich nie zu träumen gewagt hatte. Sie liebte mich. Am liebsten hätte ich aus lauter Freude darüber aufgeschrien. Aber es gab zu viele Hindernisse: Sie war verlobt und an einen anderen Mann gebunden. Wir hatten kein Recht auf unsere Liebe. Braucht man wirklich ein Recht zur Liebe, Shirley? Viele Menschen würden uns anklagen. Ich wünsche nur, dass du nicht zu ihnen gehörst.
Nach vielen Gesprächen und Tränen setzten wir uns über Recht und Ehre hinweg und heirateten. Gabrielle bat mich, die Trauung geheim zu halten, bis sie einen Weg gefunden hätte, Jacques und ihrer Mutter die Wahrheit einzugestehen. Ich wollte sie aller Welt verkünden, doch ich gab nach. Sie hatte so viel für mich aufgegeben, dass ich ihr keinen Wunsch abschlagen konnte.
Während dieser Zeit des Abwartens trat ein noch gewichtigeres Problem auf. Die Gräfin, deine Großmutter, besaß eine Madonna von Raphael. Das Gemälde war das Prachtstück im Salon. Die Gräfin informierte mich, dass das Bild sich bereits seit Generationen im Familienbesitz befand. Sie hing mit ganzer Seele daran, fast wie an Gabrielle. Offenbar symbolisierte es für sie die Beständigkeit ihrer Familie, wie ein Leitstern nach all den Schrecknissen des Kriegs und den persönlichen Verlusten.
Ich studierte dieses Gemälde sorgfältig und kam zu der Überzeugung, dass es sich um eine Fälschung handelte. Ich sagte aber nichts, denn zunächst dachte ich, dass die Gräfin selbst diese Kopie in Auftrag gegeben hatte, um sich daran zu erfreuen. Die Deutschen hatten ihr den Ehegemahl und das Heim geraubt und somit möglicherweise auch den echten Raphael.
Als sie sich entschied, das
Bild dem Louvre zu übereignen, um seine Schönheit einem breiteren
Publikum zugänglich zu machen, starb ich beinahe vor Furcht. Ich
hatte diese Frau
lieb gewonnen, schätzte ihren Stolz und ihre Entschlossenheit, ihre
Grazie und Würde. Sie glaubte tatsächlich, dass das Gemälde ein
Original war, und ich wollte sie nicht verletzen. Ich wusste, wie
peinlich es für Gabrielle gewesen wäre, wenn der Skandal aufgedeckt
würde, dass das Bild gefälscht war. Die Gräfin hätte dies nie
überwunden. Das durfte nicht geschehen. Ich erbot mich, das Gemälde
zu reinigen, um es noch eingehender studieren zu können, und kam
mir dabei wie ein Verräter vor.
Ich trug das Bild in mein Turmatelier, und nach intensiver Betrachtung gab es keinen Zweifel mehr daran, dass es sich um eine sehr gut ausgeführte Kopie handelte. Selbst in diesem Augenblick hätte ich nicht gewusst, wie ich mich verhalten sollte, wenn ich nicht einen Brief gefunden hätte, der hinter dem Rahmen versteckt war.
Der Brief war ein verzweifeltes Geständnis des ersten Ehegatten der Gräfin über den von ihm begangenen Verrat. Er bekannte, dass er nahezu alle seine Besitztümer und die der Gräfin verloren hatte. Er war hochverschuldet, glaubte aber daran, dass die Deutschen die Alliierten besiegen würden und verkaufte ihnen deshalb den Raphael. Er ließ eine Kopie anfertigen und entwendete das Original ohne Wissen der Gräfin. Er hoffte, dass das Geld ihm über die Wirren des Kriegs hinweghelfen würde, und dass die Deutschen auf Grund dieses Tauschgeschäfts sein Grundstück verschonen würden.
Zu spät. Er verzweifelte an seiner Tat, versteckte sein Geständnis im Rahmen der Kopie und begab sich noch einmal zu den Männern, mit denen er den Handel abgeschlossen hatte, in der Hoffnung, ihn wieder rückgängig machen zu können.
Als ich diesen Brief gelesen hatte, kam Gabrielle ins Atelier. Es wäre besser gewesen, die Tür zu verriegeln. Ich konnte meine Bestürzung nicht verbergen, hielt den Brief noch immer in der Hand, und so war ich gezwungen, den Ballast mit der einzigen Person zu teilen, die ich schonen wollte.
In der Abgeschlossenheit des Turmzimmers fand ich in diesen Minuten heraus, dass die Frau, die ich liebte, über mehr Kraft verfügte als die meisten Männer. Um jeden Preis wollte sie ihrer Mutter die Wahrheit verbergen. Unbedingt wollte sie der Gräfin eine Demütigung ersparen und die Tatsache verheimlichen, dass das von ihr so geschätzte Gemälde lediglich eine Fälschung war.
Wir sannen über einen Plan nach, das Bild zu verstecken und den Anschein zu erwecken, als ob es gestohlen worden wäre. Vielleicht begingen wir einen Fehler. Bis heute weiß ich nicht, ob wir wirklich das Richtige taten. Aber für deine Mutter gab es keinen anderen Ausweg. Und deshalb begingen wir die Tat.
Gabrielle verwirklichte sehr bald ihren Plan, die Mutter über unsere Heirat zu informieren. Zu unserer unbeschreiblichen Freude stellte sie fest, dass sie ein Kind gebären würde. Du warst die Frucht unserer Liebe, die größte Kostbarkeit unseres Lebens.
Als sie ihrer Mutter von unserer Eheschließung und ihrer Schwangerschaft berichtete, tobte die Gräfin vor Zorn. Sie hatte Recht, Shirley, und ihr Hass auf mich hatte seine guten Gründe.
Ich hatte mir ohne ihr Wissen ihre Tochter angeeignet, und das war ein Schandfleck auf ihrer Familienehre. Wutentbrannt verstieß sie Gabrielle, forderte, dass wir das Schloss verließen und nie wieder betreten würden. Ich bin der Ansicht, dass sie ihre Entscheidung bald darauf wieder rückgängig gemacht hätte, denn sie liebte Gabrielle über alles. Doch noch am selben Tag stellte sie fest, dass der Raphael verschwunden war.
Sie beschuldigte mich, nicht nur ihre Tochter, sondern auch den Familienschatz gestohlen zu haben. Konnte ich das ableugnen? Die beiden Vergehen glichen einander, und in den Augen deiner Mutter las ich die Bitte zu schweigen. Deshalb brachte ich deine Mutter um das Schloss, ihr Land, ihre Familie, ihr Erbe und nahm sie mit nach Amerika.
Wir sprachen nie mehr von ihrer Mutter, denn das wäre zu schmerzlich gewesen. Stattdessen bauten wir unser Leben mit Dir neu auf, um unser Zusammengehörigkeitsgefühl zu stärken.
Wenn Du diese Zeilen liest, wird es vielleicht möglich sein, die ganze Wahrheit zu enthüllen. Wenn nicht, dann verbirg sie ebenso wie die Fälschung, die wir vor den Augen der Welt versteckten, behütet von einem kostbaren Schatz.
Folge der Eingebung deines Herzens.
Dein dich liebender Vater.
Shirley war in Tränen aufgelöst. Als sie den Brief gelesen hatte, wischte sie sich über die Augen und atmete tief ein. Sie erhob sich, ging ans Fenster und blickte zum Garten hinunter, wo sich ihre Eltern gegenseitige Liebe gestanden hatten.
Was soll ich nur tun? Sie hielt den Brief noch immer in der Hand. Noch vor einem Monat hätte ich diese Zeilen sofort der Gräfin gezeigt, aber jetzt weiß ich nicht, wie ich mich verhalten soll, überlegte sie.
Um den Namen ihres Vaters vor Schande zu bewahren, müsste sie ein Geheimnis preisgeben, das fünfundzwanzig Jahre zurücklag. Würde die Wahrheit alle Schwierigkeiten beseitigen, oder würde sie die Opfer ihrer Eltern zunichte machen? Ihr Vater hatte ihr empfohlen, ihrem Herzen zu lauschen, doch sie hörte nichts, denn sie war von Liebe und Seelenqual überwältigt und konnte einfach keinen Entschluss fassen. Impulsiv dachte sie daran, sich Christophe anzuvertrauen, aber sie schob den Gedanken schnell beiseite. Einem Vertrauensbeweis dieser Art fühlte sie sich nicht gewachsen, und die Trennung, mit der sie bald zu rechnen hatte, wäre noch viel quälender.
Ich werde mir das einfach noch einmal durch den Kopf gehen lassen, sagte sie sich und atmete tief auf. Ich muss den Nebel beseitigen, klar und sorgfältig nachdenken. Wenn ich eine Antwort finde, dann soll es die richtige sein.
Shirley lief durch das Zimmer, überlegte kurz und kleidete sich in Sekundenschnelle um. Sie erinnerte sich des Gefühls der Freiheit, das sie überwältigte, als sie durch die weite Landschaft ritt. Sie zog sich Jeans und ein T-Shirt an, um alles auszuwischen, was ihr Herz und ihren Verstand beschwerte.