3. KAPITEL
Shirley wachte aus tiefem Schlaf auf. Sie öffnete die Augen und sah sich verwundert in dem sonnigen Zimmer um, ehe sie begriff, wo sie sich befand. Sie setzte sich auf und lauschte. Die Stille wurde nur gelegentlich von einem Vogelzwitschern unterbrochen. Sie stand in völligem Gegensatz zu dem geschäftigen, pulsierenden Leben der Stadt, das Shirley nur zu gut kannte, und sie genoss sie.
Die kleine verzierte Uhr auf dem Kirschholzschreibtisch zeigte an, dass es noch nicht sechs geschlagen hatte. Deshalb lehnte Shirley sich wieder in die luxuriösen Kissen und Laken zurück und schwelgte in träumerischen Gedanken. Aufgewühlt von den Vermutungen und Anschuldigungen ihrer Großmutter, hatte die lange Reise sie dennoch so erschöpft, dass sie sofort fest eingeschlafen war, ausgerechnet in dem Bett, das einst ihrer Mutter gehört hatte. Jetzt schaute sie zur Decke hinauf und ließ die Geschehnisse des vergangenen Abends noch einmal an sich vorüberziehen.
Die Gräfin war verbittert. Die Tünche äußerer Gelassenheit konnte die Bitterkeit oder -- wie Shirley vermutete -- den Schmerz nicht verbergen. Diesen Schmerz hatte sie trotz ihres Zorns wahrgenommen. Obwohl die Gräfin ihre Tochter verbannt hatte, bewahrte sie ihr Porträt auf. Vielleicht offenbarte dieser Widerspruch, dass ihr Herz doch nicht so hart war wie ihr Stolz. Auch das Zimmer ihrer Tochter hatte sie in seinem ursprünglichen Zustand belassen.
Christophes Verhaltensweise hingegen entflammte erneut ihren Ärger. Es schien, als behandelte er sie wie ein voreingenommener Richter, der sein Urteil ohne Verhör fällte. Gut, beschloss sie, ich habe auch meinen Stolz, und ich werde mich nicht ducken und unterwerfen, wenn der Name meines Vaters in den Schmutz gezogen wird. Ich beherrsche dieses Spiel kalter Höflichkeit ebenso gut. Ich werde nicht nach Hause kriechen wie ein verletztes Hündchen, sondern einfach hier bleiben.
Sie verfolgte das strahlende Sonnenlicht und atmete tief auf. »Das ist ein neuer Tag, Mutter«, sagte sie laut. Sie schlüpfte aus dem Bett und ging zum Fenster hinüber. Der Garten unter ihr breitete sich aus wie ein kostbares Geschenk. »Ich werde einen Spaziergang in deinem Garten machen, Mutter, und danach werde ich dein Haus skizzieren.« Sie zog sich ihren Morgenmantel über und seufzte. »Vielleicht werden die Gräfin und ich dann besser miteinander auskommen.«
Sie wusch sich schnell und zog ein pastellfarbenes Sommerkleid an, das die Arme und Schultern freiließ. Alles war ruhig im Schloss, als sie in die Halle hinunterging und in die Wärme des Sommermorgens hinaustrat.
Seltsam, überlegte sie und schlug einen großen Bogen. Kein anderes Gebäude weit und breit, weder Autos noch Menschen. Die Luft war frisch und duftete mild. Sie sog sie tief atmend ein und ging in den Garten.
Bei näherer Betrachtung bot er noch mehr Überraschungen als von ihrem Schlafzimmerfenster aus. Üppige Blüten leuchteten in unglaublicher Farbenpracht, die Düfte mischten und verschmolzen sich exotisch, durchdringend und süß zugleich. Viele Pfade führten an den wohlgepflegten Blumenrabatten vorbei, glänzende Bodenfliesen spiegelten die Morgensonne wider und hielten sie auf ihrer gleißenden Oberfläche fest. Sie wählte einen Pfad nach ihrem Geschmack und verfolgte ihn langsam und zufrieden. Sie genoss die Einsamkeit. Ihre künstlerische Mentalität schwelgte in den überwältigenden Farben und Formen.
»Guten Tag, Mademoiselle.« Eine tiefe Stimme unterbrach die Lautlosigkeit, und Shirley drehte sich um, aufgeschreckt in ihren einsamen Betrachtungen. Christophe kam langsam näher, groß und hager, und seine Bewegungen erinnerten sie an einen arroganten russischen Tänzer, der ihr einmal auf einer Party in Washington begegnet war. Graziös, selbstbewusst und sehr männlich.
»Guten Tag, Graf.« Sie ließ sich nicht zu einem Lächeln herab, begrüßte ihn jedoch mit zurückhaltender Freundlichkeit. Salopp trug er ein lederfarbenes Hemd und geschmeidige braune Jeans.
Er begab sich an ihre Seite und sah sie mit dem gewohnten durchdringenden Blick an. »Sie scheinen eine Frühaufsteherin zu sein. Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen.«
»Sehr gut, danke«, erwiderte sie, aufgebracht darüber, dass sie nicht allein gegen Abneigung anzukämpfen hatte, sondern auch gegen eine seltsame Zuneigung. »Ihre Gärten sind wunderschön und verlockend.«
»Ich habe eine Schwäche für alles, was schön und verlockend ist.« Er heftete seine Augen direkt auf sie, bis sie atemlos den Blick von ihm abwandte.
»Oh, hallo.« Sie hatten sich französisch unterhalten, doch beim Anblick des Hundes, der Christophe auf den Fersen folgte, sprach sie wieder englisch. »Wie heißt er?« Sie bückte sich und kraulte sein dickes, weiches Fell.
»Korrigan.« Er sah auf ihren Kopf hinunter, dessen hellblonde Locken in der strahlenden Sonne wie ein Heiligenschein glänzten.
»Korrigan«, wiederholte sie begeistert und vergaß ihren Ärger über seinen Herrn. »Was ist das für eine Rasse?«
»Ein bretonischer Spaniel.«
Korrigan erwiderte Shirleys Zuneigung, indem er ihre Wangen zärtlich ableckte. Ehe Christophe dem Hund Einhalt gebieten konnte, lachte sie und verbarg ihr Gesicht an dem weichen Hals des Tieres.
»Das hätte ich wissen müssen. Ich hatte früher einmal einen Hund. Er ist mir einfach zugelaufen.« Sie blickte auf und lächelte, als Korrigan ihr mit feuchter Zunge seine Liebe bekundete. »Hauptsächlich förderte ich sein Selbstvertrauen. Ich taufte ihn Leonardo, doch mein Vater nannte ihn den Schrecklichen, und dieser Name blieb haften. Weder Waschen noch Bürsten änderten etwas an seinem schäbigen Aussehen.«
Als sie sich erheben wollte, streckte Christophe die Hand aus, um ihr aufzuhelfen. Sein Griff war fest und beunruhigend. Sie wollte sich möglichst schnell von ihm befreien, und so machte sie sich scheinbar gleichgültig von ihm los und setzte ihren Spaziergang fort. Herr und Hund begleiteten sie.
»Ihre Angriffslust hat sich abgekühlt, wie ich sehe. Ich war überrascht, dass sich ein derartig gefährliches Temperament in einer so verletzlichen Muschel verbirgt.«
»Es tut mir Leid, aber Sie irren sich.« Sie drehte sich um und blickte ihn kurz, aber direkt an. »Nicht in Bezug auf mein Temperament, sondern auf meine Empfindlichkeit. Tatsächlich stehe ich mit beiden Beinen fest in der Welt und bin so leicht nicht aus dem Gleichgewicht zu bringen.«
»Wahrscheinlich mussten Sie noch keine Niederlage erleiden«, erwiderte er. Sie widmete ihre Aufmerksamkeit einem herrlich blühenden Rosenbusch. »Haben Sie sich inzwischen entschieden, längere Zeit hier zu bleiben?«
»Ja. Obwohl ich überzeugt bin, dass Ihnen das nicht recht ist.«
Beredt hob er die Schultern. »Aber natürlich, Mademoiselle. Sie dürfen gern so lange hier bleiben, wie es Ihnen beliebt.«
»Ihre Begeisterung überwältigt mich.«
»Wie bitte?«
»Ach, nichts.« Sie atmete tief und sah ihn herausfordernd an. »Sagen Sie mir, Monsieur, mögen Sie mich nicht, weil Sie glauben, mein Vater wäre ein Gauner gewesen, oder gilt Ihre Abneigung mir persönlich?«
Sein kühler, abschätzender Gesichtsausdruck veränderte sich nicht, als er sie anblickte. »Ich bedaure, dass Sie diesen Eindruck von mir gewonnen haben. Mademoiselle, mein Verhalten scheint nicht korrekt zu sein. Künftig werde ich mich höflicher benehmen.«
»Sie sind zuweilen so ekelhaft höflich, dass man es schon als Unhöflichkeit auslegen könnte.« Sie verlor die Selbstkontrolle und stampfte unbeherrscht mit dem Fuß auf.
»Ist Unhöflichkeit vielleicht mehr nach Ihrem Geschmack?« Seine Augenbrauen hoben sich, während er ihren Zornesausbruch völlig ungerührt beobachtete.
»Ach, nein.« Verärgert wandte sie sich ab, um eine Rose zu pflücken. »Sie machen mich rasend. Verflixt!« Eine Dorne hatte sie in den Daumen gestochen. »Jetzt sehen Sie selbst, was Sie mit mir anrichten.« Sie führte den Daumen zum Mund und funkelte Christophe an.
»Verzeihen Sie, bitte.« Er sah sie spöttisch an. »Das war sehr unhöflich von mir.«
»Sie sind arrogant, herablassend und langweilig.« Shirley schob die Locken zurück.
»Und Sie sind kratzbürstig, verwöhnt und widerspenstig«, erwiderte er, während er sie fest anblickte und die Arme über der Brust kreuzte. Sie sahen sich einen Augenblick lang unverwandt an, seine höfliche Maske fiel ab, und sie entdeckte einen unbarmherzig aufregenden Mann unter der kühlen, geschliffenen Oberfläche.
»Es scheint so, als hätten wir nach dieser kurzen Bekanntschaft eine hohe Meinung voneinander gewonnen.« Sie schob wieder einige Locken aus dem Gesicht. »Wenn wir uns noch länger kennen, werden wir uns unsterblich ineinander verlieben.«
»Eine interessante Folgerung, Mademoiselle.« Er verneigte sich leicht und kehrte zum Schloss zurück.
Shirley fühlte sich plötzlich verlassen. »Christophe«, rief sie ihm impulsiv hinterher, weil sie den Zwiespalt zwischen ihnen klären wollte.
Er wandte sich um, hob fragend die Brauen, und sie ging auf ihn zu. »Könnten wir nicht Freunde sein?«
Er hielt ihren Blick fest, so lange, tief und intensiv, dass sie meinte, er hätte ihre Seele erkannt. »Nein, Shirley, ich fürchte, wir werden niemals nur Freunde sein.«
Sie beobachtete, wie er groß und geschmeidig davonging, der Spaniel dicht hinter ihm.
Eine Stunde später versammelten sich Shirley, ihre Großmutter und Christophe beim Frühstück. Die Gräfin fragte sie, wie sie die Nacht verbracht hätte. Die Unterhaltung verlief korrekt, jedoch völlig belanglos, und Shirley glaubte, dass die alte Dame die Spannung des letzten Abends wieder ausgleichen wollte. Vielleicht ist es unangebracht, sich über Frühstücksbrötchen zu ereifern, dachte Shirley. Wie zivilisiert wir uns doch benehmen. Sie unterdrückte ein ironisches Lächeln und stellte sich auf die Verhaltensweise ihrer Tischnachbarn ein.
»Sie haben sicher den Wunsch, das Schloss zu besichtigen, nicht wahr?« Die Gräfin setzte das Sahnekännchen ab, und ihre gepflegt manikürte Hand rührte den Kaffee um.
»Ja, Madame, mit Vergnügen.« Shirley lächelte erwartungsvoll. »Später würde ich gern die Außenansicht zeichnen, aber zunächst möchte ich einmal die Räume kennen lernen.«
»Aber natürlich. Christophe«, wandte sie sich an den braun gebrannten Mann, der nachlässig seinen Kaffee trank, »wir sollten Shirley heute Morgen durch das Schloss führen.«
»Nichts lieber als das, Großmutter.« Er stellte seine Tasse auf den Porzellanuntersatz zurück. »Nur bin ich leider heute Morgen nicht abkömmlich. Wir erwarten den importierten Bullen, und ich muss seinen Transport beaufsichtigen.«
»Ach, immer dieses Zuchtvieh«, seufzte die Gräfin und hob die Schultern. »Du mühst dich viel zu sehr damit ab.«
Es war die erste spontane Bemerkung überhaupt, und Shirley griff sie automatisch auf. »Züchten Sie demnach Vieh?«
»Ja«, bestätigte Christophe und nickte ihr zu. »Viehzucht ist die Hauptaufgabe des Landguts.«
»Tatsächlich?« entgegnete sie mit gespielter Überraschung. »Es ist schwer vorstellbar, dass die Kergallens sich mit derart irdischen Dingen abplagen. Ich habe geglaubt, dass sie sich nur in ihre Sessel zurücklehnen und ihre Dienstboten zählen.«
Er verzog etwas die Lippen und nickte leicht. »Das geschieht einmal im Monat. Dienstboten neigen zu verheerender Fruchtbarkeit.«
Sie lachte ihn an. Als Antwort lächelte er ihr kurz zu. Diese schnelle Reaktion löste ein warnendes Signal bei ihr aus, und sie beugte sich über ihren Kaffee.
Schließlich war es die Gräfin, die Shirley bei der Besichtigung des lang gestreckten Schlosses begleitete. Dabei ließ sie es sich nicht nehmen, geschichtliche Einzelheiten über die beeindruckenden Räume zu erzählen.
Das Schloss war im späten siebzehnten Jahrhundert erbaut worden. Trotz seiner dreihundertjährigen Vergangenheit galt es nach bretonischem Maßstab nicht als alt. Das Schloss und die dazugehörigen Ländereien waren von Generation zu Generation auf den ältesten Sohn übergegangen. Obwohl einige Modernisierungen vorgenommen wurden, blieb es im Grunde genommen unverändert, seit der erste Graf de Kergallen seine Braut über die Zugbrücke geleitet hatte. Für Shirley hatte das Schloss seinen zeitlosen Zauber bewahrt, und die unmittelbare Zuneigung und Begeisterung, die sie beim ersten Anblick empfunden hatte, wuchsen nur noch bei der näheren Betrachtung.
In der Porträtgalerie begegnete ihr zwischen den jahrhundertealten Gemälden Christophes dunkel faszinierendes Abbild. Trotz des Wandels von Generation zu Generation war der Stolz erhalten geblieben, die aristokratische Haltung und der schwer fassbare geheimnisvolle Ausdruck. Da war ein Vorfahr aus dem achtzehnten Jahrhundert, dessen Ähnlichkeit mit Christophe so verblüffend war, dass sie etwas näher trat, um ihn eingehender zu betrachten.
»Interessieren Sie sich für Claude, Shirley?« Die Gräfin folgte ihrem Blick. »Christophe ähnelt ihm sehr, nicht wahr?«
»Ja, es ist bemerkenswert.« Die Augen waren ihrer Ansicht nach viel zu selbstsicher und lebendig, und falls sie sich nicht täuschte, hatte sein Mund viele Frauen gekannt.
»Man sagt, er sei ein wenig unzivilisiert gewesen«, meinte sie leicht bewundernd. »Zum Zeitvertreib soll er geschmuggelt haben. Er war ein Seemann. Außerdem soll er sich, als er einmal in England war, in eine dort ansässige Dame verliebt haben. Zu ungeduldig, um ihr formell und altmodisch den Hof zu machen, entführte er sie und brachte sie hierher ins Schloss. Er heiratete sie natürlich, und dort können Sie sie sehen.« Sie wies auf das Porträt eines etwa zwanzigjährigen englischen Mädchens mit honigfarbenem Teint. »Sie sieht nicht gerade unglücklich aus.«
Mit diesem Kommentar schritt sie zum Flur und überließ Shirley dem lächelnden Anblick der gestohlenen Braut.
Der Ballsaal präsentierte sich riesig groß, die weit entfernte Außenwand war mit bleigefassten Fenstern versehen, die den Raum noch mehr ausdehnten. Eine andere Wand war komplett verspiegelt und reflektierte die glänzenden Prismen von dreiarmigen Leuchtern, die ihr Licht versprühen würden wie Sterne von einer hochgewölbten Decke. Steiflehnige Regence-Stühle mit eleganten Polsterüberzügen standen in Reih und Glied für die Gäste da, die es bevorzugten, den tanzenden Paaren bei ihrem Vergnügen auf dem hochpolierten Parkett zuzusehen.
Die Gräfin führte Shirley hinunter zu einem anderen engen Gang mit steilen Stufen, die sich spiralenförmig von den obersten Streben abhoben. Obwohl der Raum, den sie betraten, leer war, jubelte Shirley entzückt auf, als wäre er mit Schätzen überladen. Er war groß, lichtdurchflutet und völlig kreisförmig angelegt. Die hohen Fenster gestatteten den Sonnenstrahlen freien Zutritt zu jedem einzelnen Winkel. Sie stellte sich vor, dass sie hier mühelos und glücklich stundenlang in der Einsamkeit malen würde.
»Ihr Vater hat diesen Raum als Atelier benutzt.« Die Stimme der Gräfin war wieder förmlich. Shirley kehrte in die Gegenwart zurück und wandte sich ihrer Großmutter zu.
»Madame, wenn Sie wünschen, dass ich eine Zeit lang in diesem Haus verbringe, müssen wir uns einigen. Sollte das nicht möglich sein, bleibt mir nichts anderes übrig, als Sie zu verlassen.« Ihre Stimme klang fest, beherrscht, höflich und ernst, doch die Augen verrieten den Mut, zu kämpfen. »Ich habe meinen Vater und meine Mutter gleichermaßen geliebt und dulde den Ton nicht, in dem Sie über ihn sprechen.«
»Ist es in Ihrem Land üblich, mit älteren Menschen in dieser Weise zu reden?« Erregt hob sie die königliche Hand.
»Das betrifft nur mich, Madame«, erwiderte sie und stand aufrecht, mit hocherhobenem Kopf im strahlenden Sonnenlicht. »Ich teile auch keineswegs die Meinung, dass Alter immer mit Weisheit einhergeht. Zudem heuchle ich Ihnen gegenüber keine Lippenbekenntnisse, während Sie den Mann beschuldigen, den ich mehr als alle anderen geliebt und respektiert habe.«
»Vielleicht wäre es ratsam, nicht mehr über Ihren Vater zu sprechen, solange Sie bei uns weilen.« Dieser Vorschlag war ein unmissverständlicher Befehl, und Shirley sträubte sich heftig dagegen.
»Ich beabsichtige aber, über ihn zu sprechen, Madame. Ich möchte unbedingt herausfinden, was mit der Madonna von Raphael geschehen ist, und den Makel bereinigen, der auf Grund Ihrer Beschuldigung auf dem Namen meines Vaters lastet.«
»Und wie stellen Sie sich das vor?«
»Ich weiß es nicht«, schleuderte sie ihr entgegen, »doch ich werde es tun.« Sie durchquerte das Zimmer und spreizte unbewusst die Hände. »Vielleicht ist das Bild im Schloss versteckt, oder aber irgendjemand anders hat es entwendet.« Sie drehte sich in plötzlichem Zorn zu der alten Dame um. »Vielleicht haben Sie es verkauft und belasteten meinen Vater mit dem Verdacht.«
»Das ist eine Beleidigung«, erwiderte die Gräfin, und ihre blauen Augen sprühten wütend.
»Sie bezeichnen meinen Vater als Gauner und wagen zu behaupten, dass ausgerechnet ich Sie beleidige?« Zutiefst erbost standen sie sich gegenüber. »Ich kannte Jonathan Smith, Gräfin, Sie hingegen kenne ich nicht.«
Schweigend betrachtete die Gräfin die zornige junge Frau. Sie wurde nachdenklich. »Das ist wahr«, nickte sie. »Sie kennen mich nicht, und ich kenne Sie nicht. Da wir einander fremd sind, darf ich Ihnen nicht die Schuld aufbürden. Darüber hinaus kann ich Ihnen nicht zum Vorwurf machen, was geschehen ist, ehe Sie geboren wurden.« Sie trat zu einem der Fenster und schaute wortlos hinaus. »Ich habe meine Meinung über Ihren Vater nicht geändert«, sagte sie schließlich.
Dann drehte sie sich wieder um und erhob die Hand, um Shirley an einer Antwort zu hindern. »Aber ich war ungerecht, was seine Tochter betrifft. Auf meine Bitte hin kamen Sie als Fremde in mein Haus, und ich habe Ihnen einen unwürdigen Empfang bereitet. Dafür möchte ich mich bei Ihnen entschuldigen.« Ihre Lippen umspielte ein kleines Lächeln. »Wenn es Ihnen recht ist, werden wir so lange nicht mehr von der Vergangenheit sprechen, bis wir uns besser kennen.«
»Einverstanden, Madame.« Shirley empfand, dass sowohl die Bitte als auch die Entschuldigung als so genannter Ölzweig des Friedens gelten sollte.
»Sie haben ein weiches Herz, verbunden mit einem stark ausgeprägten Verstand.« Die Stimme der Gräfin klang anerkennend. »Das ist eine gute Verbindung. Aber außerdem haben Sie ein überschäumendes Temperament, nicht wahr?«
»Das stimmt.«
»Christophe neigt ebenfalls zu plötzlichen Temperamentsausbrüchen und tiefen Verstimmungen.« Überraschend wechselte die Gräfin das Thema. »Er ist stark und eigensinnig. Was er braucht, ist eine Frau, die ebenso stark ist wie er, darüber hinaus jedoch ein weiches Herz hat.«
Shirley nahm die doppelsinnige Feststellung verwirrt zur Kenntnis. »Eine solche Frau wünsche ich ihm«, begann sie. Doch dann verengten sich ihre Augen, und ein leiser Zweifel beschlich sie. »Madame, was haben Christophes Bedürfnisse mit mir zu tun?«
»Er hat ein Alter erreicht, in dem ein Mann eine Frau braucht. Und Sie haben bereits das Alter überschritten, in dem die meisten bretonischen Frauen wohlverheiratet sind und eine Familie heranziehen.«
»Ich bin doch nur Halbbretonin«, verteidigte sie sich. »Sie glauben doch nicht etwa, dass Christophe und ich ...? Ach nein, das wäre allzu komisch.« Sie lachte auf, und der volle warme Ton hallte in dem leeren Raum wider. »Madame, es tut mir Leid, Sie enttäuschen zu müssen, aber der Graf macht sich nichts aus mir. Von Beginn an mochte er mich nicht, und ich muss Ihnen gestehen, dass er mir auch nicht besonders liegt.«
»Was hat das damit zu tun?« Die Gräfin wischte mit einer knappen Handbewegung die Worte fort.
Shirley hörte auf zu lachen und schüttelte ungläubig den Kopf, zumal ihr ein Verdacht kam. »Haben Sie schon mit ihm darüber gesprochen?«
»So ist es«, sagte die Gräfin leichthin.
Shirley schloss die Augen, überwältigt von Demütigung und Zorn. »Kein Wunder, dass er mich auf Anhieb nicht leiden konnte. Ihr Ansinnen und seine Meinung über meinen Vater sind ein zu krasser Gegensatz.« Sie wandte sich von ihrer Großmutter ab, drehte sich dann aber doch wieder um. In ihren Augen blitzte Empörung. »Sie überschreiten Ihre Grenzen, Gräfin. Die Zeiten, als Ehen noch abgesprochen wurden, sind längst vorbei.«
»Sie Kindskopf. Christophe ist viel zu selbstständig, um sich etwas diktieren zu lassen, und das Gleiche trifft auf Sie zu. Aber« -- ein verhaltenes Lächeln huschte über das kantige Gesicht -- »Sie sind sehr schön, und Christophe ist ein attraktiver, ansehnlicher Mann. Vielleicht wird die Natur -- oder wie nennt man das? -- ihren Lauf nehmen.«
Shirley blickte in das ruhige, unergründliche Gesicht.
»Kommen Sie.« Die Gräfin eilte zur Tür. »Es gibt noch viel zu sehen.«