„Lernen lebt von der Befürchtung oder der Hoffnung, es könnte noch einmal passieren.“
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Hunde haben ein sehr komplexes Lernverhalten. Sie lernen latent, motorisch, durch Nachahmung und Erfahrungen. Im Nachfolgenden beschäftige ich mich ausschließlich mit dem Bereich des er-fahrungsbedingten Lernens. Es ist die Lernform, die am häufigsten bei Verhaltensproblemen eingesetzt und am stärksten in der Hundewelt diskutiert wird. Dabei steht die Überprüfung der Tauglichkeit für die Arbeit an einer Leinenaggression im Vordergrund und erhebt nicht den Anspruch zu erklären, wie Hunde in anderen Situationen lernen.
Klassische Konditionierung
Wenn ein starker Luftstoß auf die Netzhaut Ihres geöffneten Auges trifft, wird sich Ihr Augenlid schließen, ohne dass Sie darüber nachdenken müssen. Der Lidschlussreflex dient wie die meisten Reflexe dem Schutz des Körpers. Damit die Reaktion schnell kommt und den Körper bestmöglich schützt, nimmt sie nicht den langen bürokratischen Weg über das Gehirn, sondern wird direkt vom Rückenmark aus gesteuert. Natürlich wird die Behörde Gehirn darüber informiert und im Nachfolgenden eine Akte anlegen. Im ersten Schritt zuständig ist jedoch das Rückenmark. Es ist ein stressiger Job, den Körper vor Gefahren zu schützen, und die Zusammenarbeit ist nicht immer leicht. Aber wenn man das ein paar Jahre macht, kommt Routine in die Sache. Man lernt aus seinen Fehlern und merkt sich einfach den letzten Reiz, der da war, bevor die Gefahr entstand. Zum Beispiel, wenn man einmal in eine Glasscherbe getreten ist und das Rückenmark durch das Hochreißen des Fußes versucht hat, das Schlimmste zu verhindern und das Gehirn danach zum Handy greift, um einen Krankenwagen zu rufen. Direkt vorher, da war was, es lag glitzernd auf der Erde und wird sofort in der Akte notiert. Eigentlich wird der Reflex erst ausgelöst, wenn der Fuß auf die Scherbe tritt. Doch in einem sinnvollen Lernprozess wird bereits das Erblicken der glitzernden Scherbe zum ankündigenden Reiz und bringt den Fuß durch das frühzeitige Auslösen des Reflexes aus der Gefahrenzone. Dieser Lernprozess hat schon so manchen Fuß gerettet und nennt sich Klassische Konditionierung.
Gegenkonditionierung
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Eigentlich eine gute Idee. Aber nicht immer machen solche Konditionierungen einen Sinn, manchmal werden Reaktionen mit Reizen verbunden, die keiner braucht. Sie könnten meinen Lidschlussreflex zum Beispiel mit einer Luftpumpe auslösen, in dem Sie einen Luftstoß auf mein Auge setzen. Mein Lid wird sich schließen, das ist keine Konditionierung und keine große Kunst. Wenn Sie aber kurz bevor Sie die Luftpumpe betätigen einmal pfeifen, beginnt ein Konditionierungsprozess. Bei ausreichender Wiederholung der Verpaarung Pfiff und Luftpumpe wird am Ende der Konditionierung der Pfiff allein genügen, damit sich mein Lid schließt. Kann ja witzig sein, aber für wen? Komplett un-witzig wird es, wenn unangenehme Gefühle wie Angst oder Ekel an bestimmte Reize gekoppelt werden. Wenn einem in der Dunkelheit etwas Furchtbares zugestoßen ist, kann man dabei die ausgelöste Angstreaktion mit der Dunkelheit verbinden. Dann empfindet man diese Angst und versucht zu flüchten, sobald die Dunkelheit kommt, obwohl dieses Mal nichts Schreckliches passiert wäre.
Bei der Gegenkonditionierung wird ein bereits gelernter Reiz mit einer neuen Reaktion verknüpft.
Für solche Fälle gibt es die Gegenkonditionierung. Man versucht mit der Gegenkonditionierung eine klassisch konditionierte Reaktion wieder zu löschen. Wie macht man das? Der alte, gelernte Reiz wird mit einem neuen, gegenteiligen Reiz gepaart und kann so eine neue Reaktion auslösen. Sie pfeifen also wieder und statt des Luftstoßes geben Sie mir Schokolade. Wenn zuverlässig kein Luftstoß, dafür aber Schokolade kommt, wird sich die Reaktion des Lidschlusses mindern und dann gänzlich verschwinden. Gegenkonditionierung funktioniert aber auch umgekehrt: Zum Beispiel läuft uns das Wasser im Mund zusammen, wenn wir hungrig an einem Imbiss vorbeigehen und die Gerüche wahrnehmen. Die Chance, dass wir anhalten und etwas bestellen, steht gut. Würde man uns aber direkt nach der Wahrnehmung des Geruchs ein Brechmittel geben, das sofort wirkt, dann könnte der Imbissgeruch nach und nach Übelkeit und Flucht hervorrufen. Man nennt dieses Verfahren der Gegenkonditionierung Aversionstherapie. Manche Schnellrestaurants bieten eine Aversionstherapie bereits auf ihrer Karte an, sie nennen sie in diesem Zusammenhang allerdings Gerichte.
Gegenkonditionierung in Bezug auf Aggression an der Leine
So weit die Theorie, aber wie weit ist dieses Wissen nutzbar für beziehungsweise gegen die Aggression an der Leine? Die Antwort ist abhängig von den Motiven des Hundes und von dem, was er vorher gelernt hat. Wenn sein aggressives Verhalten durch eine klassische Konditionierung gelernt wurde, ist eine Gegenkonditionierung sinnvoll. Ist das Verhalten jedoch nicht auf einen solchen Lernprozess zurückzuführen, sondern auf andere Faktoren, wird es schwierig.
Eines der bekanntesten Verfahren der Gegenkonditionierung ist die Systematische Desensibilisierung.
Systematische Desensibilisierung
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Unsere Hebamme hat mir gestern eine Geschichte erzählt, die den Grundsatz des Lernens durch Klassische Konditionierung wunderbar deutlich macht. Sie erzählte, dass sie vor einigen Jahren einen Babyschwimmkurs geleitet hat. Zu dieser Zeit war auch ihre eigene Tochter im Babyalter und sie nahm sie mit. Um vorzumachen, wie man sich verhalten kann, wenn das Baby Wasser geschluckt hat, hob sie ihre Tochter mit ausgestreckten Armen nach oben über ihren Kopf. Eigentlich sollte dies dem Kind helfen, das geschluckte Wasser loszuwerden. Durch die neue Position sollte das Wasser aus dem Rachen über den Mund ablaufen. Das Baby rutschte ihr aber aus den Händen und fiel kopfüber aus einem Meter Höhe ins Wasser, tauchte unter und wurde dann von ihr aus dem Wasser gerissen. Die Kleine bekam einen großen Schreck.
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ihre Tochter keine Probleme mit Wasser. Die schlechte Erfahrung führte allerdings dazu, dass das Kind Angst bekam, sobald es ein Becken mit Wasser erblickte. Es assoziierte also das Wasserbecken mit der beängstigenden Situation. Oder anders ausgedrückt: Das Becken wurde zum ankündigenden Reiz für das Untergehen im Wasser.
Diese Angst bezog sie nicht nur auf das Schwimmbecken, in dem der Unfall geschehen war, sondern generalisierte sie auf alle Becken, die Wasser beinhalteten. Selbst der Versuch, sie in ein Planschbecken oder in eine Badewanne zu setzen, musste abgebrochen werden, weil das Baby schrie und darüber seine Angst ausdrückte. In den folgenden Wochen wurde sie deshalb nur noch geduscht. Um ihrem Kind wieder einen angstfreien Umgang mit Wasserbecken zu er-möglichen, entschied sich die Mutter für eine Systematische Desensibilisierung.
Sie setzte ihre Tochter ohne Wasser, aber mit Spielzeug in die Badewanne und spielte dort mit ihr. Nachdem das Kind entspannt war, baute sie den fließenden Wasserhahn in das Spiel ein. Erst nach und nach schloss sie den Abfluss und die Wanne füllte sich langsam, während sie mit ihrer Tochter spielte. Diese Aktion wiederholte sie mehrfach und die Angst ihres Kindes verschwand.
Die Systematische Desensibilisierung ist eine Methode aus der Verhaltenstherapie, die durch schrittweise Annäherung zum Abbau von Ängsten führt. Der Grundsatz der Verhaltenstherapie ist: Alles, was gelernt wurde, kann auch wieder verlernt werden. Die Methode der Desensibilisierung war in dieser Fallbeschreibung so erfolgreich, weil das Kind eindeutig unter einer Angst litt und diese gelernt wurde.
Angsttherapie
Seit einigen Jahren wird auch in der Hundeszene mehr und mehr mit Desensibilisierung gearbeitet. Zunächst beschränkte sich der Einsatz auf die Behandlung von ängstlichem Verhalten. Das ist verhaltenstherapeutisch immer dann nachvollziehbar, wenn die Angstreaktion wirklich durch eine Klassische Konditionierung gelernt wurde. Die Angst vor Schüssen und lauten Böllern gehört in der Regel nicht dazu, denn die meisten Hunde haben wirklich Angst davor und es handelt sich nicht um eine gelernte Fehlverknüpfung. Schließlich machen Gegenkonditionierungen auch bei Folter oder Vergewaltigungen keinen Sinn, wenn am Ende noch immer die Gewalttat steht. Befürchtungen und Erwartungen, es könnte etwas Schlimmes passieren, sollen aufgelöst werden. Dementsprechend dürfen sie auch nicht mehr vorkommen.
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Aber gehen wir davon aus, dass die Angst klassisch gelernt ist, und man möchte gegenkonditionieren. Eine direkte Neuverknüpfung ist meist nicht möglich, weil die Angstreaktion zu stark ist. Also nähert man sich dem Objekt der Angst auf weite Entfernung bis dorthin, wo der Hund den Reiz zwar wahrnimmt, aber noch keine Angst zeigt, und füttert ihn dort. So nähert man sich schrittweise dem Angst auslösenden Reiz. Sobald der Hund während der Annäherung eine Angstreaktion zeigt, die stärker ist als die Freude über das Futter, geht man wieder einen Schritt zurück bis an den Punkt, an dem er wieder frisst. Denn solange er Futter aufnehmen kann, hat er keine Angst. Um mit der Desensibilisierung gegen eine starke Gefühlsreaktion wie Angst zu konditionieren, ist es wichtig, dass die Angstreaktion vermieden wird und dadurch die neue Reaktion mehr Raum bekommt. Dies ist zunächst nur auf Abstand möglich, sonst würde die Angstreaktion überwiegen. Der Angst auslösende Reiz wird also durch die Distanz reduziert, das Futter dadurch als neuer Reiz brauchbar. Nach und nach wird die Freude über das Futter die Angst ablösen und der Hund kann sich angstfrei nähern. Diese Arbeit ist langwierig und der Angst auslösende Reiz darf nur unter kontrollierten Therapiebedingungen auftreten. Wenn Hunde im „echten Leben“ immer wieder auf diesen Reiz treffen und sich dies nicht vermeiden lässt, macht die Systematische Desensibilisierung keinen Sinn. Dafür gibt es andere Verfahren in der Angsttherapie.
Um gegen eine Angstreaktion zu konditionieren, braucht es zunächst Abstand zum Angst auslösenden Reiz.
Erst nach und nach verringert sich die Distanz und eine angstfreie Annäherung wird möglich.
Wenn Angst nicht das Motiv ist
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Angst ist nur ein Faktor für Aggression. Sie erinnern sich: Angst flieht, vermeidet und pöbelt selten lautstark an der Leine. Nun wird die schrittweise Annäherung in Verbindung mit Futter immer häufiger auch bei nicht angstbedingtem aggressiven Verhalten angewandt. An diesem Punkt wird es fachlich mehr als kritisch. Die meisten Motive von Aggression beinhalten den Wunsch des Hundes, sich dem anderen Hund anzunähern. Deshalb zieht er an der Leine dorthin. Diese Hunde haben kein Problem und keine Angst vor der Annäherung. Worin sollte also der Vorteil bestehen, diese Annäherung schrittweise zu gestalten? Glauben Sie ernsthaft, dass ein Kind sich anders bei McDonalds verhält, wenn Sie sich mit ihm über Wochen mit einzelnen Pommes Frites schrittweise annähern? Am Ende steht wie immer die Bestellung der „Junior-Tüte“, nur der Weg bis dahin war länger.
Eine Systematische Desensibilisierung ist ein Gegenkonditionierungsverfahren, das bei Angst eingesetzt wird. Dementsprechend muss die Diagnose für die Aggression an der Leine auch wirklich Angst lauten, damit die Methode nicht nur lange dauert, sondern auch etwas bewirkt.
Wer aufmerksam gelesen hat, könnte sich an dieser Stelle fragen, warum man keine Aversionstherapie bei einer Leinenaggression anwendet. Die Antwort ist einfach: Schließlich will man dem Hund nicht beibringen, dass jedes Auftauchen eines Hundes zu unangenehmen Gefühlen führt, egal, wie er sich selbst verhält. Das wäre eine Klassische Konditionierung. Man möchte ihm beibringen, dass er sich nicht aggressiv verhalten soll und er durch ein neues Verhalten im Vorteil ist. Dafür muss sein Verhalten zu neuen Konsequenzen führen und nicht die gesamte Hunde-begegnung. Diese Vorgehensweise nennt sich Operante Konditionierung.
Operante Konditionierung
Hunde lernen ähnlich wie wir Menschen. Wir alle streben nach der Steigerung unseres Wohlbefindens und vermeiden Schmerz und Unbehagen. Wenn eine Verhaltensweise unangenehme Folgen für uns hat, so werden wir sie in Zukunft seltener zeigen. Hat sie jedoch einen angenehmen Effekt, so werden wir sie häufiger zeigen. Wir merken uns Handlungsweisen, die für unsere jeweilige Zielsetzung erfolgreich waren, und nutzen keine Verhaltensweisen, die einen Misserfolg versprechen. Das ist das Gesetz der Wirkung und der Grundsatz der Operanten oder auch Instrumentellen Konditionierung.
Es verbessert die Überlebenschance, wenn man sich die Stelle merkt, an der man zuvor Futter gefunden hat oder einem feindlichen Angriff ausgeliefert war. Im ersten Fall sucht man den Ort wieder auf, weil das Verhalten verstärkt wurde. Im zweiten Fall meidet man ihn in Zukunft, weil das Verhalten bestraft wurde. Gelernt wird in beiden Fällen.
Hunde würden keine Bausparverträge abschließen
Hunde leben im Hier und Jetzt. Sie können so-wohl Belohnungen als auch Bestrafungen nur mit ihrem jeweiligen Verhalten in Verbindung bringen, wenn sie direkt auf das gezeigte Verhalten folgen. Selbst bei Kindern lässt sich dieses Phänomen in Ansätzen beobachten. Sätze wie „Warte nur, bis dein Vater nach Hause kommt“ oder „Wenn du jetzt lieb bist, gehen wir heute Abend ins Kino“, haben zwar eine Wirkung, aber die Intensität ist um ein Vielfaches geringer, als wenn die Konsequenz auf das Verhalten direkt folgen würde.
Bei Hunden ist das zeitliche Fenster noch viel kleiner. Versprechungen oder auch Androhungen für „später“ bewirken gar nichts. Die Wissenschaft behauptet, dass für einen Hund nicht mehr als drei Sekunden zwischen dem Verhalten und darauf folgendem Stimulus liegen dürfen, damit er eine Verknüpfung herstellen kann.
Hunde leben im Hier und Jetzt. Versprechungen oder Androhungen für die Zukunft interessieren sie nicht.
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Erwachsene Menschen können die Folgen ihres Handelns wesentlich besser überschauen. Sie können zum Beispiel über Jahre Verzicht üben und sich einschränken, um ihr Geld für etwas, das in der Zukunft stattfinden soll, zu sparen. Ein Hund hingegen würde das Geld direkt ausgeben, weil er nicht so weit in die Zukunft denken kann und keinen Vorteil im aktuellen Verzicht sieht. Beim Schreiben dieser Worte fällt mir auf, dass ich wahrscheinlich eher ein Hund bin.
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Man könnte sagen, dass Menschen die Experten für die Zukunft sind und Hunde für die Gegenwart. Beide lernen aus der Vergangenheit. Menschen planen, denken, brüten über etwas, malen sich die Zukunft aus und entwickeln Strategien dafür. Hunde schieben nichts auf, sondern handeln und schauen, welche Konsequenzen sich daraus für sie ergeben.
Wie kann ich Sie dazu bringen, eine Kopfschmerztablette einzunehmen?
Ich könnte Ihnen einen Deal vorschlagen: Immer, wenn Sie eine Tablette einnehmen, erhalten Sie 30,00 Euro von mir. Interessiert? Und nun fragen Sie bitte nicht nach den Nebenwirkungen; das würde ein Hund auch nicht tun und ich bemühe mich hier schließlich um ein plausibles Beispiel. Gehen wir also davon aus, dass Sie sich verstärkt fühlen und in Zukunft bei Geldsorgen eine Tablette nach der anderen einnehmen werden. Diese Art des Vorgehens nennt sich positive Verstärkung, denn etwas Angenehmes wird hinzugefügt.
Ich kann aber auch darauf warten, dass Sie Kopfschmerzen bekommen und darunter leiden. Reiche ich Ihnen dann eine Tablette und Sie erfahren, dass diese Ihre Schmerzen lindert, werden Sie dies für die Zukunft abspeichern und beim Anflug des nächsten Kopfschmerzes direkt zur Tablette greifen. Diese Art des Vorgehens nennt sich negative Verstärkung, denn etwas Unangenehmes – in diesem Fall der Kopfschmerz – wird entfernt.
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In beiden Fällen wird das Verhalten „Tablette einnehmen“ verstärkt und in Zukunft häufiger gezeigt. Bei der positiven Verstärkung ist es der Erhalt des Geldes, der lockt, und bei der negativen Verstärkung ist es die Möglichkeit, Ihr Leid zu beenden.
Wie kann ich Ihnen beibringen, nicht mehr zu schnell zu fahren?
Sie haben es eilig und drücken aufs Gas, um schneller dorthin zu kommen, wo Sie hin müssen. Ihr Verhalten gefährdet andere und Sie selbst. Leider fehlt Ihnen dafür das Bewusstsein. Aus diesem Grund gibt es eine Straßenverkehrsordnung und Sanktionen von außen. Wenn ich Ihnen das zu schnelle Fahren verleiden möchte, um andere und Sie selbst vor Ihnen zu schützen, habe ich ebenfalls zwei Möglichkeiten.
Ich winke Sie aus dem Verkehr, spucke auf ein Taschentuch und säubere damit akribisch Ihre Mundwinkel, danach dürfen Sie direkt weiterfahren. Etwas Unangenehmes wird von mir hinzugefügt und Sie können es mit Ihrem Vergehen in Verbindung bringen. Das nennt man eine positive Bestrafung.
Ich könnte Sie aber auch herauswinken und Ihnen für eine Stunde den Autoschlüssel abnehmen und Sie dadurch für diesen langen Zeitraum am Weiterfahren hindern. Dadurch entziehe ich Ihnen das Angenehme des Rasens, nämlich die Zeitersparnis. Die Bestrafung durch Entzug des Angenehmen heißt negative Bestrafung.
In beiden Fälle wird das zu schnelle Fahren bestraft und in Zukunft seltener gezeigt. Bei der positiven Bestrafung ist es die zu erwartende fremde Körperflüssigkeit in Ihrem Gesicht, die Sie in der Zukunft hemmen wird, nochmals zu schnell zu fahren. Bei der negativen Bestrafung hingegen ist es der Verlust der Zeitersparnis.
„Positiv“ und „negativ“ heißt weder „gut“ noch „böse“
Wie das Beispiel zeigt, gibt es also zwei Formen der Verstärkung und zwei der Bestrafung. Die Unterscheidung ist durch die Wörter „positiv“ und „negativ“ gekennzeichnet. Die Bezeichnung „positiv“ heißt in diesem Zusammenhang, dass einem Verhalten ein Reiz folgt; die Bezeichnung „negativ“ bedeutet hingegen, dass ein Reiz entfernt, weggenommen oder ganz vermieden wird, wenn sich ein bestimmtes Verhalten zeigt. Daraus ergeben sich sowohl die positive und negative Verstärkung als auch die positive und negative Bestrafung.
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Verhalten nimmt zu |
Verhalten nimmt ab |
Reiz wird hinzugefügt oder präsentiert |
Positive Verstärkung (etwas Angenehmes wird hinzugefügt) |
Positive Bestrafung (etwas Unangenehmes wird hinzugefügt) |
Reiz wird weggenommen oder weggelassen |
Negative Verstärkung (etwas Unangenehmes wird weggenommen) |
Negative Bestrafung (etwas Angenehmes wird weggenommen) |
Positive Verstärkung – Ein Verhalten soll häufiger auftreten
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Beginnen wir mit der schönen Seite des Lernens, der Förderung und Motivation. Wenn der Hund etwas macht, was uns gefällt, belohnen wir ihn, indem wir ihm etwas dafür geben. Das kann ein verbales Lob sein, ein Streicheln, Futter, sein Lieblingsspielzeug oder auch nur ein Lächeln und ein Blick. Etwas Angenehmes wird hinzugefügt. Was angenehm ist, bestimmt in diesem Falle der Hund, je nachdem, was er mag. Doch was nutzt mir dieses Wissen in Bezug auf das Problem an der Leine?
Positive Verstärkung in Bezug auf Aggression an der Leine
Es kann einerseits erklären, wie der Mensch das unerwünschte Verhalten bisher unbewusst verstärkt hat. Wenn der Hundehalter seinen Hund im Konflikt anschaut, mit ihm spricht (ob beruhigend oder bepöbelnd) und dem Hund nun dadurch seine Aufmerksamkeit schenkt, dann belohnt er seinen Hund für das aggressive Verhalten. Man könnte sagen, dass alles, was Sie erfolglos in dem Moment der Eskalation tun, das unerwünschte Verhalten des Hundes weiter verstärkt.
Positive Verstärkung in Bezug auf die Konfliktlösung
Andererseits kann der Einsatz von positiver Verstärkung auch einen Lösungsweg darstellen. So könnte man zum Beispiel dem Hund außerhalb des Konflikts beibringen, seinen Menschen anzuschauen, und diesen Blickkontakt mit Futter belohnen. Zunächst wird nun jeder Blick bestätigt, dann muss er sukzessive länger schauen. Erst wenn er das neue Verhalten über einen längeren Zeitraum zeigen kann, stellt man es unter Signalkontrolle und fügt der Handlung einen Namen zu, zum Beispiel: „Schau mal“. Im nächsten Schritt wird das neue Verhalten im Konflikt geübt. Der Hund wird auf einen anderen Hund zu geführt und erhält das Signal „Schau mal“. Wenn er dieses zeigt und auf den Menschen blickend an dem anderen Hund vorbeigeht, wird er am Ende der Situation dafür belohnt. Zu Beginn dieser Arbeit sollte der Hund immer belohnt werden. Wenn der Hund das neue Verhalten sicher zeigt, sollte er variabel bestätigt werden, also ab und zu. Man stellt bei der positiven Verstärkung die beiden Verhaltensweisen „aggressiv“ und „Schau mal“ miteinander in Konkurrenz.
Die Entscheidung, welches Verhalten gezeigt wird, liegt bei dieser Arbeit beim Hund. Der Mensch bietet dem Hund eine neue Handlungsweise an. Nimmt der Hund dieses Angebot an, so macht er es gern und aus freien Stücken, was sein Lernen enorm begünstigt.
Nimmt er es jedoch nicht an, hat der Mensch innerhalb dieser Methode keine Möglichkeiten, auf das Verhalten des Hundes Einfluss zu nehmen. Denn der Hund lernt nicht, dass er sich nicht aggressiv verhalten darf, sondern nur, stattdessen ein anderes Verhalten zu zeigen. Wenn sich die Aggression jedoch ausschließlich auf die Leine beschränkt und der Hund das antrainierte Alternativverhalten zuverlässig annimmt, ist ein Lernen durch positive Verstärkung im entspannten Rahmen möglich.
Einschränkungen und Gegenspieler der positiven Verstärkung
Wie bereits erwähnt, ist der Nachteil bei der Arbeit an einer Leinenaggression mit positiver Verstärkung, dass die Hunde keine Hemmung im Aggressionsverhalten entwickeln, sondern nur lernen, ein anderes Verhalten stattdessen zu zeigen, das dann belohnt wird. Wenn der Hund auch im Freilauf mit anderen Hunden Probleme macht, wäre die Arbeit an der Leine über Belohnung nicht sinnvoll. Spätestens im Freilauf, also im direkten Kontakt mit anderen, ist das Training in dieser Form nicht mehr aufrechtzuerhalten.
Bei der Ablenkung ist der Verstärker permanent anwesend. |
Anders als bei der Gegenkonditionierung erhält der Hund das Futter erst, nachdem er sich richtig verhalten hat. |
Ablenkung: Ein Weg aus dem Dilemma?
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Und da stehe ich nun, habe über Wochen ohne Ablenkung das „Schau mich an“ geübt und fühle mich vorbereitet. Der andere Hund kommt, mein Hund und ich nehmen ihn wahr. Ich sage „Schau mich an“, mein Hund guckt kurz an mir hoch und dann zum anderen Hund. Er hat sich gegen das Alternativverhalten entschieden und springt bellend in die Leine. Wie soll ich ein Verhalten belohnen, wenn der Hund es nicht zeigt? Die Lösung heißt Ablenkung. Das heißt, man verlangt dem Hund nicht ein vorher antrainiertes Alternativverhalten ab und bestätigt dies am Ende, sondern versucht, den Hund bereits vor dem Konflikt auf den Belohnungsgegenstand zu fixieren und ihn mit dem Versprechen darauf durch die Situation zu führen. Dadurch steigen die Chancen, dass der Hund ruhig bleibt. Durch die dauerhafte Anwesenheit der Belohnung hat der Hund die Möglichkeit, sich auf diese zu konzentrieren. Im Vergleich zu der Verstärkung eines Alternativverhaltens ist bei diesem Verfahren die Anwesenheit der Belohnung jedoch dauerhaft erforderlich. Der Hund lernt keine neue Verhaltensweise, sondern schaut nur auf den Ablenkungsgegenstand. Ist dieser nicht da, fällt er in alte Verhaltensweisen zurück. Deshalb ist es wichtig, die Belohnung nach und nach nur noch für das erwünschte Verhalten zu geben und die anfängliche Ablenkung wieder zu reduzieren. Doch auch bei der Arbeit mit Ablenkung kann sich der Hund gegen das Futter und für die Aggression entscheiden. Oft wird die Arbeit mit einer Ablenkung mit einer Gegenkonditionierung verwechselt. Bei Letzterer bekommt der Hund aber das Futter, sobald er den anderen wahrgenommen hat. Bei der Ablenkung bekommt er die Belohnung, wenn er sich richtig verhalten hat.
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Auch der Begriff Umlenkung sollte von dem der Ablenkung abgegrenzt werden. Bei einer Umlenkung darf der Hund sich weiterhin aggressiv verhalten; seine Handlung wird ausschließlich auf ein anderes Objekt umgelenkt. Zum Beispiel lässt man ihn in eine Beißwurst beißen und ermöglicht ihm so, seine Aggression herauszulassen. Ob dadurch viel gewonnen ist, ist sicherlich fraglich, aber die Umlenkung ist als weitere Methode an dieser Stelle zu nennen.
Falsches Timing
Falsches Timing und der dadurch begünstigte Aufbau von Handlungsketten ist sowohl bei den verstärkenden als auch bei den bestrafenden Mustern ein Problem. Bei der Bestrafung erklärt es unter anderem das Phänomen des Masochismus, dazu später aber mehr. Auch bei der positiven Verstärkung kann ein Fehler im Aufbau der Arbeit zum Gegenteil des Lernziels führen.
Bei einer Umlenkung verändert sich das Verhalten nicht, sondern wird nur auf ein anderes Objekt gelenkt.
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Wer zum Beispiel seinen Hund oft zurückruft, wenn dieser sich entfernt, und ihn dann mit Futter bestätigt, wird etwas feststellen. Subjektiv gesehen, trainiert der Mensch am Rückruf, der Hund lernt aber nebenbei etwas ganz anderes. Der fragt sich, wenn er an der Belohnung interessiert ist, wie er an sie herankommt. Das Lernergebnis wird sein, dass der Hund häufig wegläuft. Seltsam? Nein, gar nicht. Denn er hat gelernt, dass er sich entfernen muss, damit der Rückruf und die damit verbundene Futterbelohnung kommt. Man nennt das eine Handlungskette. Eigentlich wäre es sinnvoller, dem Hund Futter zu geben, wenn er bei einem bleibt, und ihm nichts für das Weglaufen zu geben. Wenn man bei einer Leinenaggression mit Futter arbeiten möchte, ist es wichtig, darauf zu achten, dass der Hund in der kompletten Situation der Begegnung ruhig ist und nur dies belohnt wird. Beginnt man im Konflikt jeden Blick des Hundes zum Menschen zunächst zu bestätigen (Shaping), obwohl er sich zwischendurch aggressiv verhält, kann die Folge das Lernen einer Handlungskette sein: bellen, gucken, Futter. Damit bleibt und festigt sich das Problem. Gerade bei der Ablenkung ist dieser Fehler fatal.
Futter für den Täter
Stellen Sie sich vor, wie sich zwei Mütter mit ihren vierjährigen Söhnen an der Hand begegnen. Die eine ruft bereits auf Entfernung: „Ist das ein Junge?“ Und die andere nickt auf die Frage hin deutlich verspannt. Nun holen beide eine Tüte Gummibärchen aus der Tasche und halten sie ihren Söhnen vors Gesicht und lenken die zwei aneinander vorbei. Danach nehmen sie jeweils ein paar Gummibärchen aus der Tasche und übergeben sie ihren Söhnen mit den Worten: „Danke, wie lieb, dass du nicht aggressiv warst.“ Sie finden das seltsam? Bei Hunden ist das heutzutage völlig normal. Das Verrückte ist, dass immer nur die Hunde Futter in Hundebegegnungen bekommen, die sich irgendwann einmal aggressiv verhalten haben. Wer immer entspannt an der Leine war, bekommt nichts. Hunde lernen leider nicht nur das, was Menschen gern hätten. Neben der Belohnung der richtigen Verhaltensweise wird auch die gesamte Lernsituation mitgelernt. Das heißt, durch die Belohnung wird die Begegnung mit anderen Hunden aufgewertet. Eigentlich sollte es das Ziel sein, dem Hund die Chance zu geben, Hundebegegnungen als normal und trivial zu erleben. Doch das kann schwierig werden, wenn jedes Treffen an der Leine zum Highlight wird. Warum sollte ein Hund mit dem Bellen aufhören, wo es doch so wichtig erscheint?
Jeder hat seine eigene Wahrheit
Bei einem Hund glauben wir Menschen gern, dass wir allein es sind, die sein Verhalten verstärken, und wir es nur richtig machen müssen. Das heißt, wir belohnen ihn, wenn er ruhig und abwartend sitzt, und geben ihm nichts, wenn er penetrant fordert. Viele Lernerfahrungen von Hunden haben aber wenig mit der Reaktion des Menschen im Sinne einer Verstärkung zu tun. Bei einer Aggression an der Leine können sowohl der eigene Mensch, der andere Hund, herumstehende Menschen, Futter, ein Ball, aber auch eine hormonelle Ausschüttung belohnen. Was dem Hund wichtig ist, verstärkt ihn. Aggression hat einen hohen Mitmacheffekt und sie kann durchaus selbstbelohnend sein. Wenn sich zum Beispiel die Aggression sozial verstärkt, wird es schwierig, über Futter mit diesem Verstärker in Erfolg versprechende Konkurrenz zu gehen. Die Belohnung muss für den Hund im persönlichen Ranking an erster Stelle stehen, ansonsten funktioniert eine positive Verstärkung immer nur auf Distanz, also weit weg vom Konflikt.
Hauptsache, gut aussehen – Soziale Verstärker
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Es ist Anfang Januar 2011 und wir Norddeutschen müssen nicht mehr die Schneekatastrophe von 1976/77 heranziehen, um dem Rest der Republik zu erklären, dass auch wir wissen, was Winter ist. Wir haben Winter, und das schon im zweiten Jahr. Das heißt in Schleswig-Holstein nicht nur Schnee, Eis und zehn Grad minus, sondern auch Wind. Und der tut wirklich weh. Aber wir haben uns darauf eingestellt und im Klamottenbereich aufgerüstet. Zugegebenermaßen noch etwas ungeschickt und sicher nicht so schick wie die Menschen in Kitzbühel, aber praktisch. Auf dem Land kommt ein Trend eben etwas zeitverzögert an. So auch bei unseren Jugendlichen: Während sich die Jungs in Berlin-Mitte die Haare wieder lang wachsen lassen, ist bei uns die gegelte Kurzhaarfrisur à la Kai Pflaume immer noch en vogue. Und dies ist neben äußerlichen Aspekten auch ein lerntheoretisches Phänomen.
Auch das Beeindrucken eines anderen Hundes ist ein Erfolg, der zum Verstärker werden kann.
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Denn da stehen sie morgens um 7:15 Uhr wartend und imponierend an der Bushaltestelle. Sie sind männlich, zwischen 14 und 16 Jahre alt, der Wind pfeift, der Schnee steht schräg in der Luft, sie haben Gel in den Haaren und keine Mütze auf. Das Verrückte ist: Sie wissen um die Funktion einer Mütze. Bereits in früher Kindheit, also in ihrer sensiblen Phase, wurden ihnen Mützen aufgesetzt. Sie müssten bestens daran gewöhnt sein und die Vorzüge dieses Kleidungsstücks erfahren haben. Auch der Schmerz der Kälte ist ihnen bekannt. Sie durchleiden ihn täglich. Doch sie trotzen ihm ebenso wie dem Ärger mit den Eltern und bleiben dabei: Sie setzen keine Mütze auf.
Dieses Phänomen heißt soziale Selbstdarstellung oder anders ausgedrückt: Wahre Helden sind nicht nur mutig, sondern eben auch etwas dämlich. Sich dem eigenen und vor allem dem anderen Geschlecht gegenüber zu präsentieren ist wichtiger, als nicht zu frieren, und verstärkt sich durch soziale Mechanismen. Dieser Aspekt wird in der Hundeerziehung häufig unterschlagen. Zu imponieren und sich darüber der Außenwelt zu präsentieren, ist ein wichtiger Teil des Sexualverhaltens. Oder glauben Sie ernsthaft, dass High Heels angenehm zu tragen sind?
Warum jedoch den norddeutschen Gemeinden schon nach einer Woche Schnee das Streusalz ausgegangen ist, ist nicht so einfach erklärbar und schon gar nicht lerntheoretisch. Na ja, Pavlov und Skinner kamen ja auch nicht aus Schleswig-Holstein.
Sind Hunde eigentlich Fußballfans?
Hunde geraten in ihrem Leben mehrfach in kämpferische Auseinandersetzungen, ob wir es nun wollen oder nicht. In dem Moment, wo wir unseren Hunden den Umgang mit Artgenossen zugestehen, wird es auch Konflikte geben. Disharmonie gehört, wie bereits erwähnt, zum sozialen Miteinander. Ein Konflikt, der offen ausgetragen wird, beinhaltet eine Entscheidungslage und endet meist mit einem Sieg oder in einer Niederlage.
Wenn man sich sicher sein kann, gehalten zu werden, kann man sich weit aus dem Fenster lehnen.
Neben der Bewertung des Menschen verstärkt sich das Verhalten auch hormonell.
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Eine Ausnahme ist die Situation an der Leine. Hunde können sich dort aggressiv verhalten, ohne dabei in die direkte Auseinandersetzung zu müssen. Wir Menschen helfen gern dabei, halten beide Kontrahenten fest und führen sie sicher aneinander vorbei. So fällt es leicht, sich auf Entfernung gegenseitig zu fixieren, sich anzupöbeln, wenn man auf gleicher Höhe ist, und sich im Ergebnis gegenseitig in die Flucht zu schlagen. Eine wahre Win-Win-Situation! Beide Hunde haben das Gefühl des Siegens. Das Ziel der Distanzvergrößerung ist erreicht und dient als Verstärker für das Verhalten.
Aber was geschieht hormonell beim Gewinnen und Verlieren? Eine Untersuchung an männlichen Fußballfans ist dieser Frage auf den Grund gegangen. Vor dem Spiel wurde der Testosteronspiegel der Anhänger beider Mannschaften getestet und zum Vergleich ein zweites Mal nach dem Spiel. Das Ergebnis war, dass der Testosteronspiegel der Fans der Gewinnermannschaft angestiegen war. Bei den Fans der Verlierermannschaft hingegen war er gesunken. Testosteron macht selbstbewusst und erhöht die Risikobereitschaft. Die Chancen, im nächsten Kampf wieder zu gewinnen, steigen mit dem Testosteronspiegel.
Beide Hunde gehen als Gewinner aus dieser Situation. Die Menschen sehen sich hingegen eher als Verlierer.
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Herzlichen Glückwunsch, Sie haben also einen richtigen Gewinnertyp an der Leine. Aber warum sind Sie nicht glücklich darüber? Viele Hundehalter empfinden den Hundespaziergang als täglichen Kampf. Sie versuchen, aggressive Tendenzen des Hundes zu unterbinden. Wenn dies nicht gelingt, hat das für Mensch und Hund völlig unterschiedliche Auswirkungen. Der Hund fühlt sich als Sieger in der Auseinandersetzung mit dem anderen Hund, der Mensch fühlt sich als Verlierer in der Auseinandersetzung mit dem eigenen Hund. Je häufiger man unterliegt, desto schwieriger wird ein Siegen.
Bei den Hundehaltern steigt durch den Misserfolg einerseits die Erwartungshaltung, dass der Hund sich wieder aggressiv bei einer Hundebegegnung zeigen wird. Eine Art selbsterfüllende Prophezeiung, die die Wahrnehmung und Körpersprache auf das Problem lenkt und dadurch das aggressive Verhalten begünstigt. Andererseits hat dieses Verlieren auch eine hormonelle Auswirkung. Der Stress, angezeigt durch den Cortisolspiegel, steigt, der Testosteronspiegel sinkt. Ein abermaliges „Verlieren“ ist vorprogrammiert.
Der Wunsch des Menschen, daraufhin Hundebegegnungen zu vermeiden, ist durch die Koppelung an negative Gefühle verständlich. Leider wirkt man bei Fluchtversuchen aus Sicht eines Hundes nicht unbedingt sozial kompetent. Hunde haben eine feine Wahrnehmung für körpersprachliche und auch chemische Kommunikation beim Menschen. Sie werden von der Veränderung Notiz nehmen und darüber die Gesamtsituation höher bewerten. Zudem ist das aggressive Verhalten hormonell gesehen selbstbelohnend.
Macht Erfolg wirklich reich und sexy?
Wie einflussreich das Sexualhormon Testosteron ist, haben Joe Herbert und John Coates in ihrer Studie über Börsenmakler herausgefunden. Eine hohe Konzentration von Testosteron im Blut macht Börsenhändler erfolgreicher. Börsenhändler, die in der Früh einen sehr hohen Testosteronspiegel haben, werden wahrscheinlich einen erfolgreichen Arbeitstag erleben. Dies ist darauf zurückzuführen, dass ein hohes Testosteronlevel zuversichtlich macht und die Risikobereitschaft steigert. Das wirkt sich unter Umständen positiv auf die Tagesbilanz der Händler aus.
Allerdings hat das ewige Gewinnen auch seine Gefahren. So haben die beiden Wissenschaftler festgestellt, dass das Siegergefühl bei den erfolgreichen Börsenmaklern wiederum weiteres Testosteron freisetzt, was letztlich auch zu Selbstüberschätzung führen kann – mit riskanten Konsequenzen. „Wenn der Testosteronstand exzessiv wird, wie dies etwa bei Spekulationsblasen der Fall ist, kann die Lust auf Risiko obsessiv werden.“ Weshalb ich gerade jetzt an so manchen Terrierrüden denken muss, weiß ich nicht.
Danke, ich bin satt!
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Was als Belohnung empfunden wird, bestimmt der Hund. Doch nicht allein seine Vorlieben sind dafür relevant. Es hat auch etwas mit dem Lebensstandard zu tun. Je mehr jemand hat, desto weniger freut er sich über etwas. Es klingt fürchterlich, aber je größer der Mangel ist, desto höher ist auch die Motivation. Was würden Sie für 1.000 Euro tun? Wahrscheinlich mehr als ein Multimillionär. Mit den Hunden ist es ähnlich. Aufgrund dessen, dass unsere Hunde in vielen Bereichen so satt sind, müssen wir in die Superlative gehen. Wenn wir den ganzen Tag mit liebevoller Stimme auf sie einreden, sie stundenlang streicheln und massieren, sie mit den besten Dingen füttern und sie immer Zugriff auf Spielzeug haben, bleibt nur noch wenig übrig. Wenn Sie also vor Ihrem Hund auf die Knie fallen, dabei mit hoher Stimme quietschen und ihm Fleischwurst geben müssen, damit er eine kleine Gefühlsregung zeigt, die nur noch im Ansatz an Freude erinnert, und er mittlerweile genervt den Kopf wegzieht, wenn Sie ihn streicheln wollen, dann könnten Sie sich an dieser Stelle Gedanken machen. Vielleicht haben Sie aber auch einen Labrador, und der freut sich jeden Tag aufs Neue.
Friss oder stirb!
Die Macht der positiven Verstärkung erhöht sich mit der Zunahme des Mangels an etwas. Wenn der Hund also wirklich hungrig wäre, so wäre er bereiter, das erwünschte Verhalten zu zeigen. Richtig. Ähnlich funktioniert das soziale Aushungern. Doch manchen Hunden ist die Aggression an der Leine aus den schon genannten Gründen wichtig und sie lassen sich nicht so schnell davon abbringen. Wie weit geht man nun in der positiven Verstärkung, um keine Grenzen im bestrafenden Bereich zu setzen? Ist es fair, dem Hund sämtliche Aufmerksamkeit und Futterrationen über einen Großteil des Tages zu entziehen, damit man in Hundebegegnungen damit belohnen kann? Muss man seinen Hund aushungern, damit die Methode klappt? Es gibt Arbeiten in diesem Bereich, die in ihrer Extremität und in ihrem Missbrauch eine Form von psychischer Gewalt durch soziale Kälte darstellen: „Ich liebe dich nur, wenn du lieb bist!?“
Negative Verstärkung – Ein Verhalten soll häufiger auftreten
Nicht nur der Erhalt von etwas Angenehmem kann ein Verhalten verstärken, sondern auch die Möglichkeit, etwas Unangenehmes loszuwerden. Wenn ein Welpe von seinen Geschwistern entfernt eingeschlafen ist, frierend und einsam er-wacht, sucht er die Nähe zu seinen Wurfgeschwistern auf, legt sich zu ihnen und ihm wird warm. Wenn ihm das nächste Mal kalt wird oder er sich allein fühlt, wird er sich wieder an seine Geschwister kuscheln. Das Abstellen der Kälte und der sozialen Isolation dient dabei als Verstärker. Was nutzt mir dieses Wissen in Bezug auf das Problem an der Leine?
Negative Verstärkung in Bezug auf das Problem
Die negative Verstärkung erklärt zum Beispiel, wie manche unsichere und vor allem ängstliche Hunde aggressives Verhalten lernen. Die direkte Nähe von anderen Hunden löst bei ihnen Unbehagen aus. Indem sie kurz nach vorn preschen und sich dann wieder zurückziehen, bringen sie andere Hunde auf Distanz und ihr Unbehagen verschwindet. Auch frustrierte Hunde lernen ähnlich; sie befinden sich aufgrund ihrer Frustration in einem unangenehmen Erregungszustand. Durch das aggressive Verhalten können sie ihrem Ärger Luft machen und finden dadurch in einen physiologischen Normalzustand zurück.
Negative Verstärkung in Bezug auf die Konfliktlösung
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Im Hundetraining wird eine Leinenaggression heutzutage nur selten durch eine negative Verstärkung verändert. Es hieße nämlich, dass man den Hund zunächst anhaltend in eine unangenehme Situation bringen müsste, um etwas Un-angenehmes wegnehmen zu können. Früher wurde diese Art häufig eingesetzt. Ein typisches Beispiel dafür ist das „Aufhängen“ des Hundes. Wenn sich der Hund aggressiv an der Leine verhielt, wurde er an kurzer Leine hochgezogen, bis er nur noch auf zwei Beinen stand, und dort gehalten. Erst wenn er sich erwünscht verhielt, wurde ihm der Stand auf allen vier Beinen und die uneingeschränkte Luftzufuhr wieder ermöglicht. Damit diese Methode funktionieren kann, müsste man den aus meiner Sicht ethisch vertretbaren Bereich des Hundetrainings verlassen und sie kann damit keinen Trainingstipp darstellen.
Man könnte dieses Prinzip aber auf eine mildere Situation übertragen: Man bindet den Hund an einen Pfahl und steht selbst einige Meter vom Hund entfernt. Diese Entfernung muss der Hund als unangenehm empfinden. Nun lässt man einen anderen Hund kommen und stellt diesen dem eigenen Hund gegenüber. Wenn sich der eigene Hund ruhig verhält, vermindert man die unangenehme Distanz und nähert sich ihm. Beginnt er wieder zu bellen, entfernt man sich. (Das wäre allerdings schon eine negative Bestrafung.) Verhält er sich wieder freundlich, nimmt man das Unangenehme wieder weg.
Aggression dient der Distanzvergrößerung und kann als Strategie gelernt werden.
Einschränkungen und Gegenspieler der negativen Verstärkung
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Nicht alles, was funktioniert, ist auch erlaubt. Nicht alles, was erlaubt ist, funktioniert auch. Diese zwei Sätze gelten natürlich für alle vier Varianten der Operanten Konditionierung. In der negativen Verstärkung werden sie jedoch sehr deutlich. Damit es wirklich funktioniert und nicht ewig dauert, müsste der Hund in eine sehr unangenehme Situation gebracht werden. Das geht für uns als Menschen aus emotionalen Gründen nicht. Wenn man hingegen die zweite Beschreibung ansieht, fragt man sich, wie lange das wohl dauern wird und woher man immer rechtzeitig einen Baum oder Pfahl bekommt. Und in diesem Beispiel war bereits eine negative Bestrafung eingebaut. Die negative Verstärkung ist in ihrer milden Form ein toller Mitspieler und wir werden sie an späterer Stelle wiedersehen. Aber allein mit ihr lässt sich nur schwer eine sinnvolle Lernsituation gestalten. Die grundsätzliche Schwierigkeit, Verstärkung im Bereich des Unterlassens einzusetzen, ist bei der negativen Verstärkung ebenso gegeben wie bei der positiven. Schließlich sind sie beim Lernen dafür da, dass ein Verhalten häufiger auftritt.
Positive Bestrafung – Ein Verhalten soll seltener auftreten
Nun kommen wir in den Bereich, der dafür da ist, dass ein Verhalten seltener gezeigt wird. Eine positive Bestrafung dient dem Erlernen einer Hemmung im Verhalten. Häufig handelt es sich um die Endhandlungen, die gehemmt werden. Ein gutes Beispiel dafür ist das Erlernen der Beißhemmung. Zwei Welpen spielen miteinander und beißen sich dabei spielerisch. Wenn einer der beiden zu stark zubeißt, wird sich der andere durch ein ebenso starkes Zurückbeißen wehren. Derjenige, der zuerst zu stark zubiss, wird lernen, dass das für ihn unangenehme Konsequenzen hatte, und er wird in Zukunft „sanfter“ spielen. Durch diese Lernerfahrung wird er aber keine Angst vorm Spielen oder vor anderen Hunden entwickeln. Das entspannte Kampfspiel kann sogar nach der kurzen Auseinandersetzung weitergehen oder später fortgesetzt werden. Die Bestrafung bezog sich ausschließlich auf das zu starke Beißen und hemmt dadurch dieses Verhalten. Wenn ein Welpe hingegen mehrfach auf einem Spaziergang nach dem Auftauchen von anderen Hunden direkt von diesen attackiert wird und sein Verhalten für diese Attacke nicht relevant war, dann kann dies zu einer gelernten Aversion führen. Das Auftauchen von anderen Hunden wird dabei zum Auslöser für die Angst davor, wieder gebissen zu werden. Den Unterschied macht dabei nicht die Form der Bestrafung, sondern das Timing.
Positive Bestrafung in Bezug auf Aggression an der Leine
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Mit dem Wissen über Bestrafung lässt sich nicht erklären, wie ein Hund das aggressive Verhalten an der Leine lernen konnte, denn bestraftes Verhalten wird in der Zukunft seltener auftreten. Es kann aber gut erklären, wie Menschen die Begegnung an der Leine mit anderen Hunden vermeiden lernen. Bei einer positiven Bestrafung wird etwas Unangenehmes hinzugefügt, und genau das passiert Menschen mit einem leinenaggressiven Hund. Der unangenehme Reiz kann dabei der Schmerz in der Schulter sein, der entsteht, wenn der Hund nun wütend in die Leine springt. Es kann aber auch der Schreck, die Panik oder die Beschimpfung anderer Hundehalter sein. Wenn man so etwas als unangenehm empfindet, kann es dazu führen, dass man den Versuch, an anderen Hunden vorbeizugehen, nach und nach immer seltener zeigt.
Positive Bestrafung in Bezug auf die Konfliktlösung
Der Einsatz von positiver Bestrafung bei einer Leinenaggression soll das Aggressionsverhalten des Hundes hemmen. Das heißt nicht, dass die gesamte Hundebegegnung unangenehme Folgen für den Hund hat, sondern nur das aggressive Verhalten. In der Arbeit mit einer positiven Bestrafung ist es also wichtig, darauf zu achten, dass ausschließlich das aggressive Verhalten bestraft wird und es für den Hund alternative Handlungsmöglichkeiten gibt, die in der Wiederholung das alte Verhalten ablösen können.
Eigentlich klingt es ganz einfach: Wenn der Hund zum aggressiven Verhalten an der Leine ansetzt, wird dieses bestraft und in Zukunft vom Hund seltener gezeigt. So einfach ist es aber nicht: Denn Bestrafungen kommen nicht zur Rettung von irgendwo herbeigeeilt, sondern müssen von jemandem ausgeführt werden. Und das ist das Problem: Alles wäre so schön, wenn man nur geschickt und zum richtigen Zeitpunkt „Nein“ sagen müsste. Hunde haben leider kein eingebautes Nein-Gen; das gesprochene Wort ist für viele zunächst nur heiße Luft. Das bedeutet, dass der Mensch bei dieser Methode etwas tun muss, was der Hund als unangenehm empfindet. Was für einen Hund unangenehm ist, bestimmt er selbst. Über Handlungsstrategien in diesem Bereich lässt sich sicher streiten. Maßnahmen, die dem Hund Angst und Schmerzen bereiten, sind aus ethischen Gründen abzulehnen. Aber auch, wenn eine Bestrafung nicht an Angst und Schmerz gekoppelt ist, wird sie den Hund beeindrucken und kann ihn zunächst auch verunsichern. Wichtig ist es dann, dem Hund wieder Sicherheit zu vermitteln und ihm zu helfen, sich dem Menschen anzuschließen und ein anderes Verhalten zu zeigen. Anders als bei der positiven Verstärkung entscheidet nicht der Hund, ob er an der Maßnahme teilnimmt. Er lässt sein aggressives Verhalten nicht freiwillig, sondern weil er es muss. Diese Tatsache beinhaltet sowohl Vor- als auch Nachteile. Der Missbrauch von Macht ist die größte Gefahr und es gibt Arbeiten in diesem Bereich, die in ihrer Extremität zu einer Form von körperlicher und psychischer Gewalt gegen Hunde führen.
Bestrafung trägt jetzt neue Klamotten
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Wörter wie Bestrafung oder Strafe werden heutzutage nicht gern benutzt. An ihnen klebt das Etikett der Gewalt und der Unfairness. Man spricht lieber von Konsequenzen, Grenzen setzen oder auch von der Unterbrechung unerwünschten Verhaltens. Lernpsychologisch macht das keinen Unterschied, emotional schon. Die neuen Begriffe sollen Einfühlungsvermögen, Angemessenheit und Wohlwollen ausdrücken. Deshalb sind sie wichtig. Positive Bestrafung darf nicht in einer Unterdrückung oder Gewalt gegen Hunde enden oder gar als Freifahrtschein dafür gesehen werden. Grenzsetzung kann eine vertrauensvolle Beziehung stärken, weil sie Hunden einen Rahmen bietet, innerhalb dessen sie frei und sicher agieren können. Streiten muss aber gelernt sein. Soziale Reibung und die Auseinandersetzung mit Konflikten können dann sogar Spaß machen, wenn sie zu einer Klärung und zu mehr Nähe zum Hund führen. Bestrafung kann eine Beziehung aber auch schädigen, wenn sie als Racheakt ohne vorherige Beziehungsklärung, emotionsgeladen, im falschen Timing, ohne Alternativen passiert und dabei nicht auf Verhältnismäßigkeit geachtet wird. Wer Freude am Bestrafen empfindet, sollte sich lieber keinen Hund anschaffen.
Einschränkungen und Gegenspieler der positiven Bestrafung
Auch bei der positiven Bestrafung ist die Frage nach den Motiven wichtig. Bei ängstlichen und traumatisierten Hunden zum Beispiel kann eine Strafe mehr als kontraproduktiv sein. Versuchen Sie mal einen Ertrinkenden, der um sein Leben kämpft und um sich schlägt, für dieses Verhalten zu bestrafen, damit Sie ihn besser retten können. Es funktioniert nicht. Sie können ihn nur halten und ihn irgendwie an Land bringen.
Manchmal darf ich das nicht – Immer bestrafen?
Die effektivste und nachhaltigste Methode, ein Verhalten zu reduzieren, ist die Bestrafung jeder unerwünschten Reaktion. Nur selten reicht es aus, partiell (also ab und zu) zu unterbrechen. Bei Hunden, die nur reaktiv mitkläffen, können auch seltene Unterbrechungen das Verhalten mindern. Doch aggressives Verhalten ist in der Regel zweckorientiert, hat einen Nutzen und beinhaltet oft selbstbelohnende Muster. Aus menschlicher Sicht bestrafen wir ab und zu; aus hundlicher Sicht verstärkt sich sein Verhalten ab und zu. Damit lohnt es sich für den Hund, immer wieder den Versuch zu starten, solange die Hoffnung besteht, dass es vielleicht diesmal funktionieren könnte.
Das bedeutet, dass der Mensch für einen gewissen Zeitraum als kontrollierende Instanz sehr wachsam sein muss. Eigene emotionale Schwankungen können dabei die Arbeit beeinträchtigen. Auf gut Deutsch ist das ziemlich stressig und ein Nachteil bei der Arbeit mit positiver Bestrafung.
Verhaltensmotivation und Intensität
Die Effektivität von Bestrafung ist neben anderen Faktoren abhängig von der jeweiligen Motivation des Hundes. Hat der Hund eine sehr starke Motivation, das Verhalten zu zeigen, so wird er einiges an Bestrafung in Kauf nehmen und sich nur mit hoher Intensität unterbrechen lassen.
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Aggression an der Leine ist ein schleichender Prozess und beginnt oft mit harmloser Kläfferei.
Bis das Problem vom Menschen vollends realisiert wird, ist die Intensität des Verhaltens meist schon sehr hoch.
Diese zwei Rüden meinen es ernst. Dass Hundehalter versuchen, solche Begegnungen zu vermeiden, ist verständlich. Zur Klärung des Konflikts trägt die Flucht jedoch nur selten bei.
Die Intensität des Verhaltens sollte als wichtiger Faktor in die Methodenauswahl einfließen. Um ihre Menschen in dieser Situation noch wahrzunehmen und sich von ihnen beeinflussen zu lassen, brauchen die Hunde gute Gründe.
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Ein gutes Beispiel dafür ist das Jagdverhalten. Ist ein Hund jagdlich hoch motiviert, zum Beispiel aufgrund seiner genetischen Disposition, dann wird es sehr schwer, ihn darin zu kontrollieren. Um angemessen auf aggressives Verhalten an der Leine zu reagieren, ist es wichtig zu klären, welche Motive der Hund hat und wie hoch seine Motivation ist.
Bestrafen und Widerwillen
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Manche Hundehalter erzählen beglückt davon, dass ihr Hund keine Pferde mehr jagt, weil er eine zufällige Erfahrung mit einem Weidezaun gemacht hat. Andere Besitzer wünschen sich, dass ihr Hund im Freilauf mal an den „Richtigen“ gerät und dieser ihn in seine Schranken weist. Einerseits beschreiben solche Aussagen die unverhohlene Hoffnung, dass der Hund sein unerwünschtes Verhalten mit einer unangenehmen Erfahrung verknüpft. Andererseits verrät es auch, dass der Mensch sich eine Fremdeinwirkung wünscht und nicht selbst daran beteiligt sein möchte. Das klingt erst einmal schräg, aber dieses Phänomen ist nicht ungewöhnlich und man findet es in vielen gesellschaftlichen Bereichen wieder. Menschen setzen Bestrafung oft nur widerwillig ein. Der Soziologe Niklas Luhmann hat geschrieben: „Kommunikation ist ein permanentes Risiko.“ Menschen haben Angst, von ihrem sozialen Gegenüber abgelehnt zu werden, wenn sie klare Grenzen setzen. Die Sorge ist groß, dass der Hund einen aufgrund einer Unterbrechung nicht mehr mag oder sogar seinen kleinen Koffer packt und auszieht. Wenn diese Sorge unausgesprochen bleibt und Menschen von außen dazu genötigt werden, ihren Hund zu bestrafen, dann kann das zu dem schon beschriebenen Kreislauf von Wut und Schuld führen. Der Unwille zu bestrafen zeichnet Menschen zu-nächst aus. Und wenn ich mir so manche Arbeiten im unterbrechenden Bereich anschaue, dann ist die dahinterstehende Sorge auch berechtigt. Wenn Hunde nur lernen, dass sie Ärger kriegen, wenn sie sich aus unserer Sicht falsch verhalten, und sie keine Chance bekommen, den Ärger zu vermeiden und ein anderes Verhalten zu zeigen, dann ziehen sie zwar nicht aus, aber sie finden auch niemals in eine Sicherheit.
Verfügbarkeit alternativer Verhaltensweisen
„Was nützt es mir zu wissen, was falsch ist, wenn ich nicht weiß, was richtig ist.“
Damit eine Bestrafung sowohl nachhaltig wirksam ist und auch Fairness dem Hund gegenüber beinhaltet, ist es wichtig für den Hund, über alternative Verhaltensweisen zu verfügen. Das klingt einfach. Viele Hundetrainer schlagen als Alternativverhalten Kommandos wie „Sitz“ und „Platz“ vor. Gute Idee, aber häufig trifft es nicht den Kern. Manche Hunde sind durchaus in der Lage, sich aus einer sitzenden oder liegenden Position heraus weiterhin aggressiv zu verhalten. Der Hund wird dadurch lediglich körperlich zur Ruhe gebracht, seine Stimmung bleibt jedoch erhalten. Es ist natürlich leichter, Befehle auszusprechen, als die Stimmung des Hundes zu verändern, denn hierzu bräuchte der Mensch eine große soziale Einflussnahme. Diese ist in der Regel nicht gleich gegeben und sie hat auch nichts mit Lernpsychologie zu tun, deshalb mehr dazu in den nächsten Kapiteln. Zurück zum Lernverhalten: Nach Möglichkeit sollte das Alternativverhalten unvereinbar sein mit dem unerwünschten Verhalten.
Das Unterbrechen von aggressivem Verhalten ermöglicht es Hunden, eine neue Verhaltensidee zu entwickeln, die vom Menschen gefördert werden sollte.
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Auf der gleichnamigen DVD zu diesem Buch wird die Arbeit mit drei verschiedenen Hunden gezeigt. Eines unserer Fallbeispiele war Jeanny, eine kleine Malteserhündin. Jeanny hat sich Hunden gegenüber sehr unsicher verhalten und bis zum Beginn des Trainings alle Hunde aggressiv von sich ferngehalten, indem sie bellte und auch schnappte. Erst nachdem ihr aggressives Verhalten unterbrochen wurde, hat sie den zarten Versuch einer sozialen Kontaktaufnahme unternommen. Sie hat tatsächlich das erste Mal in ihrem Leben einen anderen Hund beschnuppert. Dieses neue Verhalten war eine wichtige Lernerfahrung für Jeanny und gleichzeitig eine echte Alternative. Die freundliche Begrüßung eines anderen Hundes ist unvereinbar mit Aggression. In diesem Fall war es wichtig, ihr die Begrüßung des anderen Hundes an der Leine zu erlauben und sie in ihrem neuen Verhalten zu bestärken. Bei einem anderen Fall wäre diese Alternative vielleicht ungünstig gewesen. Wenn es Hunde zum Beispiel schlecht aushalten können, nicht zum anderen Hund zu dürfen, weil sie an der Leine sind, und sie daraufhin aggressiv in Hundebegegnungen werden, dann wäre es die falsche Alternative. Hier wäre es sinnvoller, den Hunden Ruhe zu vermitteln und diese zu belohnen, bevor man wieder in den Konflikt geht. Bei wieder anderen Hunden gibt es alternativ nur Varianten, die mit dem Menschen zu tun haben. Zum Beispiel können sie, statt sich aggressiv zu verhalten, ihrem Menschen gegenüber freundlich-demütiges Verhalten zeigen. So etwas müsste bei dem Thema Orientierung am Menschen an der Leine berücksichtigt und gefördert werden.
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Aber auch das Suchen von Futter oder das Apportieren von Gegenständen können Alternativen sein, auch wenn leider hierbei die sozialen Aspekte nicht im Vordergrund stehen. Die Verstärkung von Alternativverhalten darf an dieser Stelle jedoch nicht mit der Ablenkung eines Hundes verwechselt werden. Bei der Ablenkung wird unerwünschtes Verhalten nicht unterbunden und danach eine Alternative bestärkt, sondern es ist der Versuch, dass der Hund das Verhalten aufgrund der Ablenkung gar nicht erst zeigt. Dies ist auch eine Möglichkeit, allerdings mit einer anderen Zielsetzung. Alternativverhalten ist in diesem Fall das Angebot nach einer Bestrafung, denn wenn Hunde keine neuen Lösungswege haben, müssen sie immer wieder auf ihr altes Verhalten zurückgreifen.
Lerntheoretiker sind Schweine
Wenn man in wissenschaftlichen Büchern über Lernverhalten liest und zum Thema Bestrafung kommt, trifft man immer wieder auf einen Satz: Hit hard and early. Wenn ich dieses Motto lese, sehe ich es direkt auf einem schwarzen Schild geschrieben über einem SM-Club prangen. Doch sind Lerntheoretiker wirklich Sadisten? Das weiß ich nicht, aber der Satz ist ein Ergebnis wissenschaftlicher Untersuchungen. Je früher die Bestrafung kommt und je stärker sie ist, desto größer ist die Chance, dass das Verhalten nicht mehr gezeigt wird. Hunde und Menschen können sich an langsam gesteigerte Bestrafung gewöhnen. Am Ende reicht selbst eine hohe Intensität nicht mehr aus, weil sie ausreichend Zeit hatten, die Bestrafung ertragen zu lernen und sich durch die Steigerung des eigenen Verhaltens darüber hinwegzusetzen. So kann man sich sukzessive an Kälte, Wärme, Schmerzen, Schreck oder auch Unbehagen gewöhnen.
Diese Grundregel angewandt hieße, dass wenn Sie nicht wollen, dass Ihr Hund jagt, dann sollten Sie ihn beim ersten Interesse an Wild bereits im Welpenalter in hoher Intensität bestrafen. Klingt eigentlich logisch. Aber niemand würde dies tun – zum Glück. Was uns aufhält, ist nicht die Wissenschaft, sondern unsere Liebe zu den Hunden und die Fairness ihnen gegenüber. Wir versuchen, eine Bestrafung angemessen zu formulieren. Doch was ist eigentlich angemessen? Als Grundlage für diese Entscheidung könnte man die Qualität des Vergehens nehmen. Schließlich ist es für uns ein Unterschied, ob ein Hund einen Mülleimer ausräumt oder ein Kind bedroht. Lerntheoretisch wäre die Unterscheidung Blödsinn, emotional nicht. Schwierig wird es immer dann, wenn unerwünschtes Verhalten einer Entwicklung unterliegt, denn diese sind schwer einzuschätzen. Aggressives Verhalten an der Leine entsteht meist schleichend und steigert sich nach und nach. Wenn manche Menschen gewusst hätten, was später dabei herauskommt, hätten sie das Verhalten wahrscheinlich bereits im Ansatz unterbrochen. Neben der Lerntheorie ist die Intensität abhängig von den sozialen Strukturen zwischen Mensch und Hund. Wer für den Hund wichtig ist, muss weniger tun, um gehört zu werden.
Jetzt geht’s los – Bestrafung als Auslöser für Aggression
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Zwei erwachsene Rüden umkreisen sich mit imponierender Körperhaltung, stocksteif und alle Blicke auf sich ziehend. Die Luft ist zum Zerreißen gespannt, und dann verliert einer die Nerven. Nein, nicht einer der Hunde, sondern einer der Besitzer. Ein Surren ist in der Luft zu hören, und dann trifft die fliegende Leine einen der Hunde an dessen Hüfte. Was dann geschieht, verläuft konträr zu der Zielsetzung des Werfers. Die Hunde prügeln sich. Auslöser dafür war der als Unterbrechung gedachte Leinenwurf. Wie kann das sein? Zunächst wäre hier das Timing aufzuführen: Die Unterbrechung kam eindeutig zu spät. Der von der Leine getroffene Hund wird mit einer minimalen unkontrollierten Bewegung reagiert haben, die Angespanntheit der Situation lässt aber keine unkontrollierten Bewegungen zu, und so hat der andere Hund dies zum Auslöser genommen, um den bereits bestehenden Konflikt eskalieren zu lassen. Zudem gab es für den unterbrochenen Hund keine Alternativmöglichkeiten. Wo sollte er nach der Bestrafung hin? Die Distanz zum anderen Hund war zu gering, als dass ein Rückzug nach dem Treffer möglich gewesen wäre. Hinzu kommt die Aufmerksamkeit, die alle umstehenden Personen auf die Hunde richten. Eine Einmischung kann in diesem Fall von den Hunden als weitere Anteilnahme gewertet werden. Manche sagen, dass der Hund vielleicht dachte, dass es nicht die Leine, sondern der andere Hund gewesen sei. Auch das wäre theoretisch denkbar, ich persönlich schätze Hunde da etwas schlauer ein. Bei der Aggression an der Leine ist Ähnliches zu beobachten. Der Versuch des Menschen, das Verhalten des Hundes im Ansatz zu unterbinden, kann zum Auslöser für die Aggression werden. Dies hängt häufig mit der emotionalen Bewertung zusammen, aber auch mit dem Timing und der Intensität.
Wenn Hunde im Nahbereich aggressiv
kommunizieren, mutieren Bestrafungsversuche oft zu Auslösern von
Eskalationen.
(Foto: Nadin Matthews)
Masochismus oder die schöne Seite von Bestrafung
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Wie kann man einem Hund beibringen, eine Einwirkung wie einen Leinenruck gut zu finden? Man könnte zum Beispiel leicht an der Leine rucken und den Hund direkt danach mit für ihn attraktivem Futter belohnen. Nach und nach erhöht man dem gleichen Prinzip folgend die Stärke des Rucks. Er kann dadurch lernen, dass der Ruck das Futter ankündigt und diesen als angenehm empfinden. Das Rucken wird also zum Versprechen, dass gleich eine Belohnung folgt. Sie fragen sich wahrscheinlich, wer so etwas Idiotisches tut? Ich würde sagen, fast jeder Hundehalter, der ein Aggressionsproblem an der Leine hält. Natürlich nicht mit Absicht, der Lerneffekt ist vielen nur nicht bewusst. Bestrafung, die eine große emotionale Beteiligung des Menschen und damit ein hohes Maß an Aufmerksamkeit enthält, kann von Hunden als Hinweisreiz gelernt werden. Wenn Menschen dann noch glauben, direkt nach der Bestrafung loben oder füttern zu müssen, dann wird sich bald ein ganz anderer Lernerfolg einstellen: Hunde können lernen, Momente der Bestrafung aufzusuchen, um an die Verstärker Aufmerksamkeit und Futter zu kommen. Eine ähnliche Erklärung sehen Lerntheoretiker in manchen Fällen von Masochismus. Selbstschädigendes Verhalten bringt dem Individuum oft die Verstärker Mitgefühl und Aufmerksamkeit ein. Somit wird der unangenehme Aspekt der Selbstverletzung als ankündigender Reiz für die Verstärker gelernt.
Die direkte Verknüpfung zwischen Strafe und Belohnung sollte vermieden werden. Es ist sinnvoller, nach einer Unterbrechung nicht zu loben, sondern die Situation stehen zu lassen und kurze Zeit danach noch einmal aufzusuchen. Wenn sich der Hund im nächsten Versuch alternativ verhält, ohne dass hierfür eine erneute Einwirkung notwendig war, passt es, ihn dafür zu belohnen.
Wer frustriert ist, hat wenig Chancen
Manche Menschen brauchen ein hohes Maß an Frustration, um sich zu überwinden, ihren Hund zu unterbrechen. Wie bereits erwähnt, kann es dabei zu Timingproblemen und Überreaktionen kommen. Hinzu kommt aber noch eine ganz andere Schwierigkeit, so behaupten Lernforscher: Eine Bestrafung verliert an Bedeutung, wenn
die strafende Instanz als unsicher und frustriert wahrgenommen wird. Dies kann ich aufgrund meiner Verhaltensbeobachtungen von Eltern mit ihren Kindern in diversen Baumärkten dieser Welt bestätigen. Das Zurechtweisen der Kinder wirkt wie eine Verzweiflungstat und stellt neben dem bestrafenden Charakter auch eine starke Gefühlsreaktion der Eltern dar. Die wiederum wertet die Konfliktsituation auf oder wird als feindseliges Verhalten wahrgenommen und dementsprechend beantwortet. Damit kann eine frustgetriebene Grenzsetzung zur Eskalation eines Konflikts beitragen, der vorher noch gar nicht vorhanden war. Innerhalb solcher Auseinandersetzungen steigt das Maß an neuer Frustration auf beiden Seiten und das gegenseitige Verstehen reduziert sich auf ein Minimum. Frustration verursacht wiederum Aggressionen – sowohl beim Menschen als auch beim Hund.
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Wenn Menschen frustriert sind, sollten sie ihrem Ärger an anderer Stelle Luft machen, aber nicht am Hund. Das führt eher zum sozialen Abstand als zu einem Lernerfolg.
Negative Bestrafung durch den Entzug eines angenehmen Reizes
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Mit der negativen Bestrafung ist die Supernanny bekannt geworden: Sie etablierte den Begriff „Stille Treppe“. In der Lernpsychologie nennt man den Entzug von Nähe und Aufmerksamkeit als Folge für unerwünschtes Verhalten die Time-out-Methode. Für soziale Lebewesen ist eine ungewollte Isolation von der Gruppe oder auch der Verlust der Aufmerksamkeit eine Strafe. Wenn ein Hund zum Beispiel fiept und bellt, weil er gestreichelt werden möchte, und der Mensch ihm dieses aufmerksamkeitsfordernde Verhalten abgewöhnen möchte, dann könnte er ihn kommentarlos am Halsband nehmen und aus dem Zimmer sperren. Nach einigen Wiederholungen wird das Verhalten seltener. Ihm wird die angenehme Nähe entzogen, wenn er zu fiepen oder bellen beginnt.
Negative Bestrafung in Bezug auf Aggression an der Leine
Da wir immer noch im Bereich der Bestrafung sind, lässt sich auch durch die negative Bestrafung nicht das Erlernen von Aggression beim Hund erklären. Aber auch Menschen lernen und eine negative Bestrafung kann den Wunsch, an einem anderen Hund vorbeizugehen, stark mindern. Wenn das Wetter nicht gerade fies und gemein ist, kann ein Spaziergang mit dem Hund Menschen guttun. So streift man mit seinem Hund durch die Gegend, unterhält sich mit ihm, spielt vielleicht, genießt gemeinsam die Bewegung an frischer Luft oder geht seinen Tagträumen nach. Die Stimmung ist gut, bis ein anderer Hund kommt. In dem Moment, wo ein anderer Vierbeiner auf der Bildfläche auftaucht, wandelt sich die Stimmung rasant. Im Nu beherrschen negative Gefühle die Stimmung des Menschen. Das Angenehme, nämlich die gute Stimmung des Alleinseins, wird genommen. Lerntheoretisch gesehen müsste dabei herauskommen, dass der Mensch die Handlung „an einem anderen Hund vorbeigehen“ seltener zeigt.
Negative Bestrafung in Bezug auf die Konfliktlösung
Das Angenehme wegnehmen? Um mit dieser Technik zu arbeiten, ist es zunächst wichtig herauszufinden, was für den Hund das Angenehme an der Situation ist. In der Beschreibung mit dem aufmerksamkeitsfordernden Hund ist es leicht: Er will die Nähe und Aufmerksamkeit des Menschen. Entzieht man ihm eines der beiden Dinge oder sogar beides, wenn er bellt, kann er dies mit seinem Verhalten verknüpfen. Hier liegt der Ursprung der beliebtesten Hundetrainingstechnik: des Ignorierens, des bewussten Entzugs von Aufmerksamkeit. Wenn es dem Hund bei einer Aggression an der Leine tatsächlich und ausschließlich um die Aufmerksamkeit des Menschen geht, ist diese Technik an Einfachheit nicht zu überbieten: Man geht mit seinem Hund an der Leine spazieren und gibt ihm alle Aufmerksamkeit der Welt. Das heißt, man schaut ihn an, spricht mit ihm, streichelt ihn und gibt ihm vielleicht auch noch Futter. Taucht ein anderer Hund auf, bleibt man zunächst im „Betreuungsmodus“. Erst wenn sich der eigene Hund auf eine aggressive Handlung vorbereitet, also seinen Blick schärft und auf den anderen Hund richtet, die Beine durchdrückt et cetera, nimmt man all die Aufmerksamkeit weg und wendet sich demonstrativ vom Hund ab. Nimmt der Hund wieder Kontakt zu seinem Menschen auf, bekommt er die Aufmerksamkeit zurück. Der Hund kann daraufhin lernen, dass sein aggressives Verhalten zum Entzug der sozialen Bewertung führt, und es in Zukunft seltener zeigen.
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Spaziergänge könnten so schön sein, wenn es keine anderen Hunde gäbe.
Spaziergänge könnten aber auch schön sein, wenn sich der eigene Hund anders verhielte.
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Der Entzug von Aufmerksamkeit ist eine
beliebte Lösungsstrategie.
Nur funktioniert es auch?
Einschränkungen und Gegenspieler der negativen Bestrafung
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Ignorieren hilft nur, wenn es dem Hund um die soziale Aufmerksamkeit des Menschen geht. Selbst bei sozialmotiviert aggressiven Hunden ist der Entzug der Aufmerksamkeit nicht unbedingt die Lösung. Denn es bleibt ihm etwas: die Nähe zu seinem Menschen und damit ein wichtiger Faktor, sich aggressiv zu verhalten. Nun könnte man die Technik steigern und dem Hund die Nähe nehmen, ihn als Konsequenz an einen Baum oder Pfahl anleinen und sich selbst auf Distanz bringen. Bei einer sozialen Motivation als Grundlage wird diese Technik hervorragend funktionieren. Wenn es für den Hund aber auch andere Faktoren gibt, wie zum Beispiel das Verteidigen des Territoriums, sexuelle Konkurrenz und so weiter, findet die Arbeit durch den Entzug sozialer Nähe an dieser Stelle ihr jähes Ende.
Zudem brauchen Sie in jeder Hundebegegnung eine Anbindemöglichkeit. Eine Variante, in der man nicht auf einen Baum oder Ähnliches angewiesen ist, ist das Wegschicken des Hundes an der Leine. Zu dieser Technik kommen wir gleich noch.
„Ich bin dann mal weg“ – Flucht als Strafe?
Bei Hunden, die sich in Aggression an der Leine noch üben und nicht schon seit Monaten dieses Verhalten zeigen, lässt sich mit der negativen Bestrafung auch noch auf anderem Wege arbeiten. Man kann zum Beispiel beim Ansatz von Aggression die Leine fallen lassen und weggehen. Viele junge Hunde sind verunsichert, wenn die Nähe des Menschen nicht mehr gegeben ist, und sind allein keine Helden. Bei allen Tätigkeiten, die darauf beruhen, dass der Mensch die Situation verlässt, ist jedoch darauf zu achten, was man dadurch auf sozialer Ebene rüberbringt. Lasse ich einen unsicheren Hund vielleicht im Stich? Vermittle ich dem Hund, dass ich aus Konflikten immer flüchte, anstatt sie mit ihm auszuhalten?
Hemmung in der Öffentlichkeit
Die Leine einfach fallen zu lassen und wegzugehen oder einen Hund an einen Baum zu leinen und weiterzugehen hört sich zunächst leicht an. Aber haben Sie mal versucht, ein wütendes Kind an der Kasse liegen zu lassen und zu gehen? An dieser Kommunikation sind nicht nur zwei beteiligt. Herumstehende werden es sich nicht nehmen lassen, Ihre Erziehungsversuche zu bewerten. Entweder ist man eine Rabenmutter, weil man geht, oder man ist inkonsequent, weil man den Lolli kauft. Irgendwas ist immer ...
Sinnvolle Kombination und Machbarkeit
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Um die Lerntheorie vollends zu nutzen und den Hunden darüber ein schnelles Lernen zu ermöglichen, lassen sich die vier Varianten der Operanten Konditionierung in einer Lernsituation kombinieren. Ein Beispiel dafür ist das Wegschicken. Ich habe diese Technik unter Berücksichtigung von Lernverhalten, aber auch sozialer Aspekte und vor allem Machbarkeit entwickelt. Das Wegschicken ist kein Allheilmittel und wie jede andere Technik auch abhängig von der Mensch-Hund-Beziehung und den Aggressionsmotiven. Es stellt aber ein gutes Bild zur Beschreibung der Kombinationsmöglichkeit von Verstärkung und Bestrafung dar.
Der Hund wird körpersprachlich auf Distanz geschickt. |
Der Abstand wird für einige Sekunden gehalten. |
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Das Vorgehen könnte wie folgt aussehen:
Sobald der Hund den anderen Hund fixiert und ansetzt, ihn zu attackieren, stellt sich der Mensch vor den eigenen Hund und erschreckt ihn gleichzeitig mit einem lauten Geräusch, indem er sich mit der Hand oder der Leine auf den Oberschenkel schlägt. Dieser Schreck ist eine positive Bestrafung.
Danach schickt der Mensch seinen Hund körpersprachlich und über einen drohenden Blick von sich weg, indem er auf den Hund zugeht und darauf wartet, dass der Hund weicht und ihm gegenüber Demutsverhalten zeigt. Der Hund muss also auf Abstand gehen und verliert damit die direkte Nähe zum Menschen, was eine negative Bestrafung darstellt.
Der Hund wird zur Nähe eingeladen. |
Er bekommt soziale Aufmerksamkeit. |
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Akzeptiert er diese Einschränkung und kommuniziert mit seinem Menschen anstatt mit dem anderen Hund, so wird er noch eine kurze Zeit stehen gelassen, um das Erlebte zu verarbeiten und um einen zu schnellen Wechsel zwischen Bestrafung und Verstärkung zu vermeiden. Erst dann wird er durch eine einladende Geste des Menschen wieder herangeholt. Diese Einladung ist eine negative Verstärkung, da der ungeliebte Abstand zum Menschen aufgehoben wird.
Wieder in der Nähe des Menschen angekommen, hat der Hund erneut die Chance, sich anders zu verhalten. Ist er freundlich, wird dies durch soziale Aufmerksamkeit, Körperkontakt, ruhiges Streicheln oder auch Futter belohnt. Dieser Part ist die positive Verstärkung.
Die Vorteile sind, dass der Hund gehen muss und nicht der Mensch flüchtet. Auch führt der Mensch im Konflikt Regie und zeigt damit ein sicheres Konfliktverhalten. Zudem ist eine Annäherung an den anderen Hund direkt wieder möglich und kann so lange wiederholt werden, bis der Hund sein Verhalten verändert und mit dem Menschen zusammenarbeitet.
Der Nachteil ist, dass die Technik allein auf Körpersprache und Körperspannung beruht und Menschen heutzutage Schwierigkeiten haben, sich über ihren Körper auszudrücken und ihn zu steuern. Aber Tanzen kann man auch lernen und nebenbei entwickelt man ein tolles Körpergefühl.
Wenn die Annäherung klappt, könnte der Mensch im nächsten Schritt dem eigenen Hund als Modell dienen, von dem er sozial lernen kann. Man geht als Mensch mit seinem Hund an der Leine direkt auf einen anderen Hund zu und versucht, freundlichen Kontakt aufzunehmen. Verhält sich der eigene Hund dabei aggressiv, schickt man ihn wie beschrieben weg und lässt ihn auf geringer Distanz stehen. Dann wendet man sich dem anderen Hund zu und streichelt diesen. Setzt der eigene Hund aufgrund dessen nochmals zur Attacke an, distanziert man ihn abermals. Akzeptiert er die Entscheidung des Menschen, einen anderen Hund zu streicheln, und bleibt auf seiner ihm zugeschriebenen Position, bekommt er die Einladung heranzukommen (zum Menschen und damit auch zum anderen Hund). Verhält er sich dort angekommen wieder aggressiv, wird er ein weiteres Mal weggeschickt. Bleibt er freundlich, darf er bleiben, bekommt eine positive Rückmeldung des Menschen und darf nach Möglichkeit Kontakt zum anderen Hund aufnehmen. Natürlich sollte sich der Hund in diesem Trainingsstadium bereits am Menschen orientieren können, damit eine solche Stimmungsübertragung funktioniert.
Das Ende der Lerntheorie ist der Anfang der Beziehung
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Na, dann ist doch alles klar. Eigentlich ist es am effektivsten, das unerwünschte Verhalten an der Leine zu bestrafen und das erwünschte Verhalten zu belohnen. Zu häufig trifft man in diesem Bereich des Hundetrainings aber auf eine Art Glaubens- und damit auch Entweder-oder-Frage. Entweder setze ich mich gegen den Hund durch oder ich bin nett und belohne ihn. Die emotionale Einteilung von Menschen in gut und böse, je nach Nutzung der Lerntheorie, polarisiert noch zusätzlich und die Fronten verhärten sich. Verstärkung und Bestrafung sind weder Charaktereigenschaften noch schließen sie sich gegenseitig aus. Also, warum nicht beides nutzen, wenn es Sinn macht? Vielleicht, weil diese lerntheoretische Kombination fachlich und auch emotional am schwierigsten ist?
Sie sollten sich nämlich vorher folgende Frage stellen: Bin ich zurzeit in der Lage, meinem Hund alternatives Verhalten beizubringen, ihn dann ohne Wut, dafür mit Wohlwollen und Überzeugung für einen gewissen Zeitraum zuverlässig in der passenden Intensität und mit dem richtigen Timing zu unterbrechen und ihm dann wiederum zu helfen, sich bei mir sicher zu fühlen, eine Alternative zu finden und diese als angenehm zu empfinden, ohne ihn dadurch wieder zu ermuntern, sich aggressiv zu verhalten?
Ich denke, nur wenige von Ihnen werden auf diese Frage mit Ja antworten. Denn wenn Sie es zurzeit könnten, würden Sie wahrscheinlich dieses Buch nicht lesen. Damit fehlt allerdings auch die Grundvoraussetzung, um direkt am Konflikt zu arbeiten. Wieso ist das so, wenn die Lerntheorie doch so einfach ist?
Die Mensch-Hund-Beziehung lässt sich glücklicherweise nicht auf die Lerntheorie reduzieren
Menschen schaffen sich Hunde nicht einfach so an, sondern Hunde haben eine Funktion für den Menschen. Wir knüpfen Erwartungen an sie und begegnen ihnen mit unseren Erziehungsmustern und Strategien. Um ernsthaft an einem Problem zu arbeiten, ist es wichtig, sich als Teil des Problems, aber eben auch der Lösung wahrzunehmen. Dafür ist es sinnvoll, sich Ihr bisheriges Beziehungs- und Konfliktverhalten zunächst genauer anzusehen und transparent zu machen. Erst wenn Sie Ihren Standort bestimmt und reflektiert haben, wissen Sie, wie eine Veränderung aussehen müsste, damit Sie Ihre Zielsetzung er-reichen können. Das klingt nicht nur nach Arbeit an sich selbst, sondern das ist es auch. Aber meine Güte, Ihr Hund soll sich schließlich auch verändern. Unsere Ehrfurcht vor strafenden Maßnahmen ist gut für unsere Hunde und uns selbst. Einfach mal mit der Faust auf den Tisch zu hauen verschafft zwar Luft, wird aber nichts verändern. Vieles müsste vorher hinterfragt und geübt werden, um am Ende gelassen sagen zu können: „Lass das sein, mach mal etwas anderes.“ Doch wer spricht da mit wem?