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Um zunächst einen Überblick zu bekommen, sind die Faktoren für Aggression einzeln aufgeführt. Im echten Leben gehen diese Faktoren gern Hand in Hand. Nur selten reicht es aus, dem Hund ein bestimmtes Motiv zu nehmen, damit er sich entspannen kann.
Genetik
„Was soll ich mitbringen?“
Wir Hundetrainer vermeiden oft die öffentliche Diskussion um genetische Faktoren von Aggressivität, damit die Politik gegen Hunde und gerade gegen spezielle Rassen kein zusätzliches Futter bekommt. Doch natürlich gibt es rassespezifische Unterschiede. Nur lässt sich die Gefährlichkeit eines Hundes nicht über die Rasse bestimmen, sondern ist immer individuell zu betrachten.
Rassespezifische Besonderheiten bieten einen Hinweis auf die Auftrittswahrscheinlichkeit von aggressivem Verhalten, nicht aber auf die tatsächliche Umsetzung. Ein Pointer wird eher Interesse am Jagen als an aggressiven Auseinandersetzungen zeigen.
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Wir Menschen haben über 400 Rassen gezüchtet, damit sich jeder sein Problem aussuchen kann. Habe ich wenig Freude an Aggression, dafür aber an der Schönheit eines athletischen Körpers, der sich schnell von mir wegbewegt, dann bin ich ein Podenco-Typ. Habe ich Lust auf Konflikte, aber ein kleines Auto, so bin ich mit einem Parson Russell Terrier bestens bedient. Habe ich ein großes Auto und Lust auf Konflikte, dann könnte ein Boerboel mein Leben bereichern. Wenn ich ein großes Nähebedürfnis habe und Nachbarn, die die starke Lautäußerung meines Hundes zu Beginn des Spaziergangs ebenfalls als Freude bezeichnen, dann wäre ein Schäferhund ideal. Mögen es die Nachbarn aber eher leise und ich mag einsame Spaziergänge, könnte es auch etwas Besonderes wie ein Shiba Inu sein. Gefällt mir die Frisur von Jennifer Grey aus Dirty Dancing nach all den Jahren immer noch, könnte ich mit nur wenig Erziehung einen tollen Begleiter im Pudel finden. Wenn mir das Wort „Entschuldigung“ leicht über die Lippen kommt, weil ich weiß, dass mein Hund trotz seines Verhaltens auf Sympathie stößt, wäre ein Retriever eine hervorragende Wahl.
Grundsätzlich ist fast jeder Hund in der Lage, an der Leine zu pöbeln.
Rassen, die allerdings dazu neigen, schnell in Rage zu geraten, kopflos aufzudrehen, hysterisch zu werden, unsicher zu sein oder alles Fremde zunächst abzulehnen, haben größere Chancen, ein Problem an der Leine zu entwickeln. In den Rassebeschreibungen sind diese Eigenschaften übrigens durch die Wörter mutig, misstrauisch, agil, reserviert und wachsam gekennzeichnet.
Rassespezifische Unterschiede können die Auftrittswahrscheinlichkeit von aggressivem Verhalten erhöhen und einen entscheidenden Hinweis liefern, wie groß die Bereitschaft und Möglichkeit des Hundes ist, dieses Verhalten wieder sein zu lassen. Einem Herdenschutzhund ist es aufgrund seiner Genetik sicherlich wichtiger, sein Territorium zu verteidigen, als einem Malteser. Die Frage nach der Höhe der Motivation des Hundes bestimmt neben anderen Faktoren maßgeblich das Training.
Fehlende Sozialisation
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„Wer bin ich im Wir?“
Sozialisation beschreibt den Prozess des Hineinwachsens des einzelnen Hundes in eine Gruppe oder in eine Gesellschaft und ist das Ergebnis von sozialem Lernen. Sie ist ein lebenslanger Prozess und ist dennoch in manchen Lebensphasen wichtiger als in anderen. Diese Lebensabschnitte nennen sich sensible Phasen. Das Welpenalter könnte man als primäre Sozialisation beschreiben, in der grundlegende Verhaltensmuster und -regeln der eigenen Kommunikation gelernt werden. In der jugendlichen, sekundären Sozialisation werden hingegen die Regeln und Normen in einer Gruppe gelernt, die eigene Persönlichkeit durch die Auseinandersetzung mit anderen entwickelt und dadurch der eigene Platz und die eigene Rolle gefunden. Hunde brauchen ausreichende Möglichkeiten, ihre Kommunikation immer wieder, zum Beispiel im Spiel, zu üben. Dazu gehört auch die aggressive Kommunikation. Wer sich als Welpe nie streiten darf, kann den Umgang mit Aggression auch nicht lernen. Das heißt aber nicht, dass der Mensch alles laufen lassen sollte und niemals eingreifen muss. Junge Hunde brauchen unterschiedlich viele Hilfestellungen, um sich in unsere Gesellschaft zu integrieren. Dafür ist die Erziehung da, der bewusste, plan- und absichtsvolle Teil der Sozialisation. Unsere Fähigkeiten sollten wir jedoch nicht überschätzen: Der größte Teil der Sozialisation ist genährt durch unabsichtliche Erfahrungen, die jemand sammelt und die auf seine Persönlichkeit wirken. Das heißt, neben den Erziehungsgedanken sind vor allen Dingen die Haltungsbedingungen entscheidend. Wer seine Kommunikation nicht ausreichend lernen konnte, wird sich später in ihr nicht sicher fühlen können. Unsicherheit ist ein häufiges Motiv für Aggression.
Junge Hunde brauchen ausreichend viele
Kontakte zu Artgenossen, um ihre Kommunikation zu lernen und andere
Hunde einschätzen zu können.
(Foto: Nadin Matthews)
Selbstbild
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„Me, myself and I.“
In der Hundeszene wird viel über die Privilegien von Hunden gesprochen. Je mehr ein Hund da-von hat, so heißt es, desto schwieriger kann es mit ihm werden. Als Privilegien werden verschiedene Vorschläge ins Feld geführt: zu viel Aufmerksamkeit und Zuwendung für den Hund, erhöhte oder strategisch wichtige Liegeplätze, der unbegrenzte Zugang zu Futter oder Spielzeug, dass der Hund als Erster durch die Tür geht und vieles mehr.
Doch empfindet jeder Hund diese Dinge als Privilegien? Macht das den Status in einer Gruppe aus? Wird alles gut, wenn man einem Hund diese Möglichkeiten nimmt? Die Schwierigkeit bei solchen Aussagen ist die Individualität von Hunden und Menschen. Auf einige Hunde könnten die Aussagen durchaus zutreffen. Andere wiederum interessieren sich wenig für die Aufmerksamkeit ihres Menschen und haben gern ihre Ruhe vor ihnen. Manche mögen lieber auf den kalten Fliesen in einer dunklen Ecke liegen, weil ihnen das Sofa zu warm ist. Manche legen keinen gesteigerten Wert auf Futter oder Spielzeug oder darauf, wer zuerst durch die Tür geht. Und manche genießen all diese Dinge sehr und machen dennoch keine Probleme.
Ihr Selbstbild beziehen Hunde durch ihre Persönlichkeit und durch soziale Rückmeldungen. Wer wichtig ist, verhält sich auch so.
Trotzdem lässt sich nicht verleugnen, dass Hunde durch die Art und Weise des Zusammenlebens Informationen über ihr Selbstbild beziehen. Wer bin ich in der Gruppe? Wie sehe ich mich in Bezug auf die anderen? Diese Fragen werden in der Kommunikation immer wieder geklärt. Paul Watzlawick nennt das den Beziehungsaspekt, der in jedem Informationsaustausch enthalten ist. Die Beziehungsinformationen stecken meist in dem „Wie“ einer Nachricht und nicht in dem „Was“. Das Selbstbild, die Gefühle und Einstellungen zu anderen werden in erster Linie durch die Körpersprache ausgedrückt.
Dementsprechend bestimmt sich der Status oder auch die Rolle in einer Gruppe aus meiner Sicht viel subtiler und wird ebenso ausgedrückt. Beziehung ist nicht sachlich, sondern fühlbar, nährt sich aus der Summe emotionaler Zustände, die man in der gemeinsamen Kommunikation erlebt, und drückt sich in der Gestimmtheit der Gruppe aus. Doch wer bestimmt eigentlich die Stimmung? Wessen Laune ist Grundlage für das gemeinsame Verhalten? Bei wem in der Gruppe wird sich rückversichert, ob die eigene Stimmung okay ist? Wer darf wessen Stimmung verändern? Vielleicht ist es auch weniger die Frage, wie wichtig sich der Hund nimmt, sondern vielmehr, wie wichtig ich mich als Mensch nehme. Habe ich als Mensch gelernt, mich den Stimmungen anderer anzupassen? Das wird der Hund wahrnehmen und er wird wahrscheinlich die Regie übernehmen, sich daran gewöhnen, seine eigene Stimmung als die entscheidende zu sehen.
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Man könnte sagen, der Mensch orientiert sich gut an seinem Hund. Die Stimmung in einer Gruppe vorgeben zu können ist ein großes Privileg, lenkt die Gruppe, bedeutet viel Verantwortung und kennzeichnet das Gruppenmitglied, das wichtige Entscheidungen trifft. Hunden muss es dabei gar nicht um den bewussten Gebrauch von Macht gehen, sondern es ist für sie selbstverständlich, dass sie sich ihrer Stimmung entsprechend verhalten können, und sie erwarten, dass der Mensch mitmacht. Nach dem Motto: Wir sind jetzt lustig und ausgelassen; wir sind jetzt müde und ruhig; wir sind jetzt aufgeregt und hektisch; wir sind jetzt aggressiv; wir sind jetzt unsicher; wir sind jetzt kuschelig und anhänglich. Das heißt nicht, dass Hunde den Status des Menschen infrage stellen und sich ihm gegenüber aggressiv durchsetzen. Es heißt nur, dass die Einflussnahme des Menschen in wichtigen Situationen, wie zum Beispiel in der Begegnung mit an-deren Hunden, sinkt, weil der Hund sich nicht veranlasst sieht, seinen Menschen zu fragen oder sich an ihm zu orientieren. Sie nehmen sich mit ihrem Gefühl als Grundlage. Verstehen Sie mich nicht falsch, es ist sinnvoll, sich in seinen Hund einzufühlen und seine Bedürfnisse zu berücksichtigen, aber die Frage, wer grundsätzlich die Laune im System vorgibt, kann bei Schwierigkeiten wichtig werden.
Frustration
„Es ist nicht meine Party, wenn ich nicht tanzen darf.“
Wenn jemand frustriert ist, erhöht sich sein physiologisch nachweisbarer Erregungszustand. Laut John S. Dollard, einem Psychoanalytiker, entstehen Frustrationen dadurch, dass jemand in seiner zielgerichteten Aktivität gestört wird und diese nicht umsetzen kann. Eine Möglichkeit, um Dampf abzulassen und darüber in den emotionalen „Normalbereich“ zurückzukehren, ist es, sich aggressiv zu verhalten. Man macht seiner Wut Luft und erfährt dadurch eine spürbare Erleichterung. Dieses befreiende Gefühl wird dann gelernt und Aggression kann so zur Strategie beim Abbau des unangenehmen Erregungszustands werden. Was passiert, wenn eine zielgerichtete Aktivität gestört wird, erleben Sie vielleicht an sich selbst, wenn Sie nach einem langen Tag von der Arbeit nach Hause fahren wollen und im Stau stehen. Wildes Hupen, Pöbeln und aufs Lenkrad schlagen sind Beispiele für Verhaltensweisen, die Menschen helfen, in der Zeit des Wartens in einem Stau zurechtzukommen.
Wer Einschränkungen nicht kennt, kommt mit ihnen nicht zurecht und ist schnell frustriert.
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Manche werden jetzt nicken und sich in der Situation wiedererkennen, andere kennen das nicht, haben eine ganz andere Geduld und warten gelassen in ihrem Auto, ohne dabei frustriert zu sein. Wie schnell jemand Frustration empfindet, ist nämlich unterschiedlich. Das hat einerseits mit dem eigenen Temperament und Charakter zu tun und andererseits mit individuellen Lernerfahrungen. So ist es bei Hunden auch.
Wenn Hunde nie ohne Leine laufen dürfen, nicht beschäftigt werden und nur für zehn Minuten vor die Tür geführt werden, ist es für niemanden verwunderlich, dass sie frustriert sind und sich deshalb aggressiv verhalten. Die Lösung des Problems liegt auf der Hand: Der Hund braucht mehr Auslastung. Was ist aber mit den Hunden, die eigentlich gut ausgelastet sind, von klein an viel frei laufen durften, selten warten mussten, deren Bedürfnisse immer direkt befriedigt wurden? Was fehlt ihnen? Die Antwort ist Frustrationstoleranz. Ihnen wurde nicht ermöglicht, kleine Verzögerungen in der Bedürfnisbefriedigung auszuhalten, und dementsprechend empfinden sie frühzeitig Frust, wenn sie mit geringen Einschränkungen konfrontiert werden. Dazu kann auch das Gehen an der Leine zählen. Hunde, die aus Frustrationsgründen an der Leine kläffen, haben in der Regel kein Problem mit anderen Hunden, sondern nur damit, dass sie aufgrund der Einschränkung an der Leine nicht zu den anderen können.
Vielleicht ist es nur ein persönliches Empfinden, aber ich habe den Eindruck, dass vor lauter Frühförderung von Kindern und auch Welpen zunehmend vergessen wird, sie angemessen in Geduld, Abwarten und dem Aushalten von Einschränkungen zu trainieren. Diese Fähigkeiten würden sie vor dem Entstehen von Frust schützen. Denn der wird sonst unweigerlich kommen: Kinder sollen spätestens mit sechs Jahren in der Schule ruhig sitzen können und Hunde überall mit dabei sein, sich ruhig verhalten, auch wenn das Leben sie lockt oder sogar provoziert. Dafür brauchen sie eine gesunde Frustrationstoleranz. Experimente haben übrigens ergeben, dass auch andere Strategien helfen, den durch Frustration entstehenden Erregungszustand abzubauen, zum Beispiel Gespräche oder auch Lachen. Nur so als kleiner Tipp für den nächsten Stau.
Pubertät
„Viele Hormone, wenig Hirn.“
In ihrer Individualentwicklung durchlaufen Hunde sensible Phasen, in denen ihr Gehirn wächst, sich das neuronale Netz verdichtet und das Lernen ausgeprägter und nachhaltiger ist. Das Welpenalter gehört zu diesen Phasen und ist der Grundstein für die Entwicklung des erwachsenen Hundes. Darüber wurde in der Hundewelt viel geschrieben und diskutiert. Der Besuch einer Welpengruppe ist für deutsche Hundehalter mittlerweile obligatorisch. Im Vergleich zu der Welpenzeit wird die Pubertät der Hunde von ihren Haltern selten als schön bezeichnet. Die Hunde werden eigenwilliger und unzugänglicher, vergrößern ihren Radius, richten ihr Interesse vermehrt nach außen und vergessen dabei bereits Gelerntes und teilweise ihre gute Kinderstube.
Wenn man Menschen fragt, wann Probleme wie die Aggression an der Leine mit ihrem Hund begannen, so lautet die Antwort oft, dass der Hund zwischen acht und sechzehn Monate alt war. Zufall? Nein, denn die Pubertät ist ebenfalls eine sensible Phase. Hirnforscher sprechen sogar von einer zweiten Geburt. Auch wenn es jugendlichen Hunden und Menschen nicht anzusehen ist, ihr Hirn entwickelt sich in dieser Zeit im hohen Maße. Es befindet sich in einer Neustrukturierung. Man könnte auch sagen: Wegen Umbau geschlossen!
Junghunde wissen zwar nicht, was sie tun, aber das machen sie mit großer Leidenschaft.
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Der vordere Stirnlappen geht als einer der letzten Hirnbereiche erst am Ende der Pubertät nach der stürmischen Wachstumsphase in einen gefestigten und ausgebildeten Zustand über. Dieser Teil des Gehirns ist für die Abwägung von Impulsen zuständig. Beim Menschen nennt man das Vernunft. Pubertierende Hunde können daher Impulsen nur schwer widerstehen. Sie reagieren impulsiver auf emotionale Eindrücke, als es erwachsene Hunde tun. Gerade junge Rüden haben dann noch zusätzlich mit ihren Hormonen zu kämpfen. Ihr Testosteron sagt ihnen, dass sie ein echter Kerl sind, und so laufen sie auch durch die Gegend. Zudem fällt es ihnen schwer, andere in ihren Gefühlsausdrücken einzuschätzen. Aufgrund ihrer Übertreibungen im Imponierverhalten und der Unfähigkeit, andere Hunde richtig einzuschätzen, geraten sie häufig in Konflikte.
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Für Hundehalter ist der Sturm und Drang manchmal eine sehr schwierige Zeit. Sie müssen als Ersatzhirn für ihre Hunde fungieren, den Roten Faden darstellen und trotz der intensiven Gefühlsschwankungen der jungen Hunde ruhig und souverän auf das Einhalten von Regeln pochen und ihnen dabei helfen, auf Eindrücke angemessen zu reagieren. Das bedeutet viel Verantwortung. Springt man jedem Verhalten des Hundes erzieherisch nur hinterher und orientiert sich an dem vorübergehend verwirrten, häufig selbst verunsicherten und vernunftbefreiten Hund, dann hat dieser wenige Möglichkeiten, sich nicht unerwünscht zu verhalten. Pubertät ist zwar nur eine Phase, aber die Erfahrungen aus dieser Zeit bleiben lange im Gedächtnis. Erinnern Sie sich noch an damals? An das Vorrecht, jung zu sein?
Status
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„Allein an einsamer Spitze“
Eine statusgebundene Aggression ist in der Regel ein innerfamiliäres Problem und kommt glücklicherweise selten vor. Der Begriff beschreibt die Tatsache, dass der Hund seinem Menschen gegenüber dominierend auftritt, diesen einschränkt und sich selbst nicht einschränken lässt.
Wenn Hunde Menschen über den Kopf wachsen, ist
die Aggression an der Leine das geringste Problem.
(Foto: Nadin Matthews)
Die normale Rollenverteilung gerät aus den Fugen. Zwar ist der Mensch immer noch Versorger, aber der Hund bestimmt in hohem Maße die Regeln des Zusammenlebens. Wird dies über einen längeren Zeitraum vom Menschen akzeptiert, manifestiert sich das Selbstbild beider. Zur Aggression kommt es immer dann, wenn der Mensch sich situativ gegen die Einschränkungen wehrt oder versucht, den Hund körperlich einzuschränken. Wenn Ihr Hund sich drohend im Haus vor Sie stellt, Sie manche Räume nicht je-derzeit betreten dürfen oder wenn Sie Ihren Hund nicht am Halsband greifen, ihn pflegen oder von irgendetwas abhalten dürfen, weil er Sie sonst beißt, dann ist die Aggression an der Leine derzeit ein untergeordnetes Thema. Sie haben ein ganz anderes Problem. Lassen Sie sich beraten!
Die soziale Motivation schwingt bei einer
Aggression an der Leine fast immer mit.
(Foto: Nadin Matthews)
Sozialpartner
„Freundschaft!“
Hunde sind soziale Lebewesen und wachsen in unseren Breitengraden meist in Abhängigkeit vom Menschen auf. Sie binden sich zuweilen sehr eng an ihre Menschen. Das ist etwas Besonderes zwischen zwei verschiedenen Arten. Wir können mit unserem erwachsenen, geschlechtsreifen Hund auf eine Hundewiese gehen und ihn dort ableinen. Er trifft dort auf seine eigene Art, könnte einen anderen Hund kennenlernen, sich verlieben, ausziehen und eine eigene Familie gründen. Davon hört man allerdings selten, Läufigkeiten mal ausgenommen. Denn wenn der Besitzer in Richtung Auto geht und somit deutlich macht, dass es Zeit für die Heimreise ist, verabschiedet sich der Hund von den anderen und läuft hinterher.
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Doch wie so oft gibt es auch eine zweite Seite der Medaille. Das soziale Bedürfnis des Hundes nach Nähe zum Menschen, von ihm gesehen und bewertet zu werden, kann in eine Monopolforderung umschlagen. Das heißt, der Hund beginnt, seinen Menschen gegen andere Hunde oder auch Menschen zu verteidigen. Wenn der Mensch das Motiv für die Aggression ist, dann ist dies in der Regel auch im Freilauf zu beobachten. Die Hunde versuchen andere auf Distanz zu ihrem Menschen zu halten, versperren ihnen den Weg, drängeln sich dazwischen und fahren kurze Attacken gegen sie. Doch nirgendwo funktioniert eine sozial motivierte Aggression besser als an der Leine, denn niemand muss wirklich in den Kampf ziehen. Die Leine schützt den Hund. Würden sich manche Hunde so aus dem Fenster lehnen, wenn sie ihre Drohung umsetzen müssten? Wohl kaum. Aber in der Sicherheit, vom Besitzer gehalten zu werden, neigen manche Tiere zur Selbstüberschätzung. Ihr Mensch am anderen Ende der Leine gibt ihnen einerseits die dafür nötige Sicherheit und andererseits auch das Motiv, um sich aggressiv zu verhalten. Hunde, die sozial motiviert aggressiv sind, sind ohne ihren Menschen friedlich bis hin zu verloren. Machen Sie den folgenden Test mit Ihrem Hund:
Binden Sie Ihren Hund an einen Baum oder
Pfahl an und stellen Sie sich neben ihn. Bitten Sie einen anderen
Hundehalter, auf Sie zuzukommen und vor Ihrem Hund stehen zu
bleiben. Setzt Ihr Hund an, sich in die Leine zu werfen und zu
bellen, gehen Sie hinter Ihrem Hund weg und beobachten Sie seine
Reaktion. Bellt er weiterhin den anderen Hund an oder schaut er
Ihnen hinterher? |
|
A Er schaut mir hinterher und erst wenn ich mich ihm wieder nähere, bellt er den anderen Hund erneut an.
|
B Es ist ihm trotz mehrfacher Wiederholung egal, ob ich neben ihm stehe oder weggehe. Er bleibt beim Verbellen des anderen Hundes. |
Wenn er sich wie unter A beschrieben verhält, dann ist Ihre Anwesenheit ein entscheidendes Aggressionsmotiv für Ihren Hund. Verhält er sich wie unter B beschrieben, hat er andere Gründe, sich so zu verhalten, oder er hat dies bereits gelernt. |
Sexualität
„Die meisten Morde geschehen nicht aus Liebe, sondern aus Eifersucht.“
Geht es denn wirklich immer nur um das Eine? Nein, aber oft. Aggressives Verhalten wird vermehrt gegen das eigene Geschlecht gezeigt. Aufgrund des biologischen Bedürfnisses zur Fortpflanzung mutieren Vertreter des eigenen Geschlechts zu Konkurrenten im Kampf um die Eroberung des einen oder der anderen. Imponierverhalten soll die eigene Stärke zum Ausdruck bringen und sowohl das Objekt der Begierde als auch die Konkurrenz beeindrucken.
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Wenn es um die Fortpflanzung geht, wachsen
viele Hunde über sich hinaus,
(Foto: Nadin Matthews)
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Rüden imponieren tendenziell mehr als Hündinnen und geraten häufiger in sexualmotivierte Streitereien. Muss ich an dieser Stelle erwähnen, dass das gleiche Phänomen am Samstagabend in einer willkürlich gewählten Bar ebenfalls zu beobachten ist? Erobern, absichern, verteidigen. Ein immer wiederkehrendes Spiel und die Grundlage vieler Kriminalromane, in denen Mord aus Eifersucht ein beliebtes Motiv ist.
Welche Macht die Hormone haben, ist während der Zeit der Läufigkeit einer Hündin an dem Verhalten der Rüden aus der Nachbarschaft ablesbar. Menschen unterstützen durch die Kastration vieler Hunde die hormonelle „Verwirrung“. Rüden geraten in Streit um einen kastrierten Rüden und Hündinnen können kastrierte Rüden durchaus als Konkurrenz wahrnehmen. Das heißt nicht, dass eine Kastration nicht auch mal Sinn machen kann, sondern nur, dass unser Eingreifen in die Sexualität eines Hundes auch Nachteile beinhaltet.
Doch nicht nur Hunde können sexualmotiviert verteidigt werden, sondern auch Menschen. Ein Hund weiß, dass seine Besitzerin eine Frau ist und sein Besitzer ein Mann. Hormonelle Veränderungen des Menschen können das Aggressionsverhalten entsprechend beeinflussen. Tja, da haben die Frauen über Jahre dafür gekämpft, den eifersüchtigen Typen loszuwerden, und nun fängt der Hund an. Das Gute ist, Hunde lassen sich leichter einschränken, sodass die Beziehung nicht gleich beendet werden muss. Bitte, behalten Sie Ihren Rüden. Wir können Ihnen helfen!
Territorium
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„Wo Menschen Zäune ziehen, stehen Hunde dahinter und bellen.“
Hunde sind territoriale Tiere. Ein Territorium ist ein Gebiet, das gegen Eindringlinge verteidigt wird, um sowohl Nahrung als auch die Jungenaufzucht zu sichern. Hunde kennzeichnen ihre Territorien meist geruchlich, zum Beispiel durch das Markieren. Menschen hingegen markieren optisch, zum Beispiel über Grenzen, Mauern oder Gartenzäune. Doch endet ein Territorium wirklich mit dem Gartenzaun? Nicht für Hunde. Zum Territorium können ebenso die Hofeinfahrt, die Straße, die typischen Spaziergehwege oder das eigene Auto gehören. Zudem dauert es nicht lang, einen Ort zum eigenen Territorium zu machen. Meine Hunde brauchen exakt zwei Stunden, um eine Ferienwohnung ihr Eigen zu nennen. Ich brauche dafür nur zehn Minuten. Ähnliche territoriale Ansprüche erhebe ich auch am Strand im Umkreis von fünf Metern rund um mein Handtuch, an einem Tisch im Café, auf einer Parkbank oder an dem Ort, an dem ich stehe. Menschen sind so, Hunde auch. Die Frage ist, mit welcher Intensität die Aggression ausgedrückt wird. Schließlich steche ich niemanden ab, nur weil er sich zu mir an den Tisch setzt, aber man wird mir mein Unbehagen körpersprachlich ansehen. Die Aggression ist vorhanden, aber gehemmt, und das kann man lernen. Wie sehr territoriale Aggression aus dem Ruder laufen kann, zeigen sämtliche Nachbarschaftsstreitigkeiten, die vor Gericht landen. Und wir wundern uns, dass unser Hund den Nachbarshund bepöbelt. Seltsam.
Auf typischen Spazierwegen erheben Hunde oft territoriale Ansprüche.
Gehen Sie mit Ihrem Hund in einer für ihn fremden Umgebung. Verhält er sich weniger aggressiv an der Leine? Dann spielt das Territoriale eine wichtige Rolle.
Futter
„Einzelkinder teilen nicht!?“
Einerseits ist Futter eine gute Möglichkeit, seinen Hund für erwünschtes Verhalten zu belohnen, andererseits kann es sein, dass der Hund genau dieses Futter gegen andere Hunde verteidigt. Und wenn es so ist, darf man dann nie wieder Futter mit auf den Spaziergang nehmen? Doch, man muss dem Hund nur beibringen, dass er es nicht verteidigen darf.
Auch wenn man satt ist, kann Futter einen Streit um Besitzansprüche auslösen.
Um aber zunächst herauszufinden, ob Futter überhaupt ein Faktor für die Aggression des Hundes ist, macht es Sinn, für eine Woche ohne Futter zu gehen. Wird der Hund dadurch entspannter mit anderen Hunden? Dann kann das Futter ein Motiv sein.
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Für uns ist es Ballspielen, für manche Hunde ist es eine ernsthafte Jagd.
Beute
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„Selbst getötete Gummikugel“
Hunde und Menschen sind genetisch gesehen Jäger. Irgendwann einmal war die Beute etwas, was man fressen konnte. Weder Hunde noch Menschen gehen heutzutage auf die Jagd im klassischen Sinne, um ihre Nahrung zu beschaffen. Die Veranlagung fürs Jagen ist dadurch aber nicht verschwunden, sie wird nur an anderer Stelle ausgelebt. Sport ist ein beliebter Ersatz für das Ausleben unserer jagdlichen Motivation, aber auch Einkaufen. Erst macht man Beute, und danach verteidigt man sie. Haben Sie schon einmal versucht, einer weiblichen Person die Tüte mit den frisch erbeuteten Schuhen zu klauen? Machen Sie es nicht, es könnte blutig für Sie enden. Diese Form von Aggression nennt man beutemotiviert. Schuhe kann man natürlich nicht essen, aber einen Ball auch nicht. Trotzdem kann dieser erbeutet und verteidigt werden. Belege dafür finden Sie jeden Samstag in der Sportschau und täglich auf diversen Hundewiesen.
Menschen haben nämlich ein Talent, das Beutespektrum eines Hundes durch ihre eigenen Vorlieben zu erweitern. Wie macht man das? Man nimmt sich einen Gegenstand, bewegt ihn schnell hin und her, wirft ihn und lässt den Hund hinterherjagen. Er hetzt den Gegenstand, packt ihn, schüttelt ihn und hat seinen kleinen Jagderfolg. Für Menschen ist es ein Spiel und Spielzeug, für manche Hunde ist es Jagd und Beute. Und Beute kann verteidigt werden. Ist schon schräg, dass manche Hunde wegen einer Gummikugel von einem anderen Hund gebissen werden, und zwar nur, weil ein Mensch diesen Ball vorher zur Beute gemacht hat. Es ist aber auch seltsam, dass die Sicherheitsvorkehrungen bei einem Fußballspiel denen eines wichtigen Staatsbesuchs gleichen. Ähnlich wie bei der futtermotivierten Aggression kann es nun ausreichen, dass das hochwertige Spielzeug auf einem Spaziergang in der Jackentasche dabei ist.
Nehmen Sie für eine Woche keine Spielzeuge
auf den Spaziergang mit und reagieren Sie nicht auf den Hund, wenn
er Ihnen einen Stock vor die Füße wirft.
Wird der Hund dadurch entspannter mit an-deren Hunden? Dann ist
Beute für ihn ein Motiv, um sich aggressiv zu verhalten.
Stress
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„Burn-out?“
Wer kennt das nicht? Man hat einen stressigen Tag erlebt und ist gereizt. Manchmal braucht es dann nur noch den berühmten Tropfen zum Überlaufen. Ein falsches Wort oder eine falsche Geste und man flippt aus. Durchaus erklärbar. Durch die gehäufte Ausschüttung des Stresshormons Corticosteron steigt die Angriffsbereitschaft, ein Aus-der-Haut-Fahren ist die Folge. Aggression kann stressbedingt sein. Und Menschen leiden heutzutage oft unter Stress. Burn-out ist zur Volkskrankheit mutiert. Für immer mehr Menschen ist das Leben geprägt von raschem Wandel, Druck und Veränderung ohne den notwendigen Halt oder die Erdung durch Familie, Religion und Beruf. Die daraus resultierende Unruhe übersteigt das natürliche Anpassungspotenzial vieler.
Wie ist das bei Hunden? Auch sie können überfordert sein und deshalb „aus dem Fell fahren“, wenn sie ständig Leistung bringen, permanent Er-wartungen erfüllen müssen, unter Druck gesetzt werden und gleichzeitig zu wenig Ruhezeiten und Freiräume bekommen. An der Leine fehlt ihnen zudem die Chance, sich zu entziehen. In diesem Fall ist es wichtig herauszufinden, was den Hund immer wieder stresst. Lassen sich die Stressoren vermeiden oder lässt sich der Stress durch mehr Ruhe und Freiraum kompensieren, ist es einfach. Lassen sie sich nicht vermeiden, dann wird es schwieriger. Der Hund muss langfristig lernen, besser mit dem Stress umzugehen. Dauerstress ist sowohl die körperliche Grundlage als auch die Folge vieler psychischer Schwierigkeiten und steht in engem Zusammenhang mit Ängsten und auch Traumata. Damit sind ernsthafte Stressprobleme eindeutig therapeutische Aufträge.
Stress ist ein unangenehmer körperlicher
Zustand und kann ein Nährboden für Aggression sein.
(Foto: Nadin Matthews)
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Doch eine weitere Frage sollte vor dieser Diagnose stehen: Ist es wirklich der Hund, der gestresst ist, oder leidet der Mensch vielleicht unter Stress und trägt die eigene Überforderung in die Beziehung? Viele Menschen sind der Erschöpfung erlegen und leiden unter stressbedingten Störungen. Sie neigen dazu, ihre emotionalen Zustände auf den Hund zu projizieren und empfinden vielleicht ihren Hund als gestresst, weil sie es selbst sind. Vielleicht übernimmt der Hund auch die Stimmung des Menschen. Wenn nun die Empfehlung wäre, dafür zu sorgen, dass der Hund weniger Stress hat, könnte es fatale Folgen haben. Bei gestressten Menschen ist es äußerst wichtig, dass der Hund und der tägliche Spaziergang nicht zur weiteren Baustelle werden, an der sie arbeiten müssen. Zudem wäre es auch die falsche Baustelle.
Unsicherheit
„Wenn man nicht weiß, wie man sich verhalten soll.“
Soziale Unsicherheit kann aggressives Verhalten fördern. Wer sich nicht sicher ist, wird sich sehr schnell bedroht fühlen und zu Fehlinterpretationen und auch Fehlentscheidungen neigen. Das Ergebnis an der Leine ist etwas, was so aussieht, sich anhört und anfühlt wie jede andere Leinenaggression. (Der Schmerz in der Schulter ist übrigens auch derselbe.)
Den Unterschied sieht man eher im Freilauf. Derselbe Hund, der an der Leine eben noch so entschlossen wirkte und dem anderen Hund ein gradliniges „Ich mach dich fertig, du Sau“ entgegenbellte, wirkt ohne Leine plötzlich gar nicht mehr so überzeugend und verlagert sein Gespräch eher in Richtung „Das vorhin, das war ich nicht, das war mein Bruder“ oder „Ach Gott, ich habe dich vorhin gar nicht erkannt. Wie geht es dir?“.
Wer sich unsicher in der Kommunikation mit anderen fühlt, kann zu Überreaktionen neigen.
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Unsichere Hunde sind meist nur Helden an der Leine. Im Freilauf hingegen suchen sie sich eher Opfer, die sich bereits vorher als ein solches verhalten haben. Dadurch werten sie sich selbst in ihrer Persönlichkeit auf. Doch sie sind keine Schweine, wenn überhaupt nur arme Schweine. Denn sie brauchen das aggressive Verhalten, um die Situation unter Kontrolle zu bringen und sich dadurch Sicherheit zu verschaffen.
So muss die entscheidende Frage lauten: Was verunsichert den Hund? Ist es er selbst, weil er sich vielleicht gerade in der Pubertät befindet oder krank ist? Oder ist es sein Mensch, weil er sich unklar verhält oder ihm keine Orientierung gibt, ihm dafür aber die Entscheidung überlässt? Oder sind es die anderen Hunde, mit denen er schlechte Erfahrungen gemacht hat?
Unsicherheit sollte allerdings nicht mit Angst verwechselt werden. Im Vergleich zu einem ängstlichen Hund hat der sich unsicher verhaltende Hund mehr Spielraum innerhalb seiner Strategien. Ängstliche Hunde werden in die Entscheidung gedrängt, unsichere Hunde treffen eine Entscheidung. Ängstliche Hunde kämpfen empfunden um ihr Leben, unsichere Hunde nur um Kontrolle und Struktur.
Bietet man dem unsicheren Hund mehr Sicherheit, nimmt er das Angebot in der Regel gern an. Die soziale Unterstützung führt für ihn zu einer Auflösung der unangenehmen Situation. So einfach ist es mit ängstlichen Hunden leider nicht, aber die bellen auch nicht lautstark an der Leine, wenn ihnen ein anderer Hund entgegenkommt.
Angst
„Der ewige Rückzug“
Fragen Sie mal einen Spinnen- oder Schlangenphobiker, wie er sich verhält, wenn er das Objekt seiner Angst erblickt. Er wird es garantiert nicht auf eine Distanz von 50 Metern fixieren und imponierend direkt darauf zu gehen, um es dann aus allernächster Nähe lautstark zu bepöbeln. Ein Hund, der Angst vor anderen Hunden hat, macht so etwas auch nicht.
Ängstliche Hunde suchen ihr Heil zunächst in der Flucht.
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Angst ist die Hauptemotion von Stress und drückt sich unter anderem durch den Wunsch der Vermeidung aus. Körperliche Angstsymptome wie Herzrasen und Zittern sind nichts, was man gern erlebt. Kein ängstlicher Hund zieht an der Leine in Richtung eines entgegenkommenden Hundes, sondern wird bei dessen Anblick versuchen zu fliehen. Erst wenn er nicht mehr fliehen kann und von dem anderen Hund bedrängt wird, wird er sich aggressiv zur Wehr setzen. Mit niedriger Körperhaltung, zurückgelegten Ohren und eingezogenem Schwanz wird er für kurze Bisse vorschnellen und sich wieder zurückziehen. Hunde, die wirklich Angst vor anderen haben, brauchen therapeutische Hilfe, aber sicherlich kein Training gegen Aggression an der Leine.
Trauma
„Unwissenheit muss nicht blind machen“
Caspar lebte acht Jahre in einem kleinen Zwinger und wurde nur sehr selten an kurzer Leine durchs Dorf geführt. Zu anderen Hunden hatte er nur als Welpe Kontakt. Die permanente Bewegungseinschränkung ohne die Möglichkeit, dem zu entfliehen, hatte seine Folgen. Im Zwinger zeigte er aufgrund der Vernachlässigung und des Bewegungsmangels eine Stereotypie. Er sprang über lange Zeiträume am Tag aus dem Stand circa zwei Meter am Zaun hoch. Badam, badam, badam, kurze Pause, und dann ging es wieder los. Auf den seltenen und kurzen Spaziergängen drehte er durch, wenn er einen anderen Hund traf. Er war so frustriert und gestresst, dass er seine Aggression in hoher Intensität zeigte, vorschoss, geiferte, sich umdrehte, in die Leine biss und wieder vorschoss. Auch dieses Verhalten verlief stereotyp und hatte einen erkennbaren Rhythmus.
Psychische Erkrankungen nehmen auch bei Hunden
zu und es wird Zeit für neue Wege in der Verhaltenstherapie.
(Foto: Nadin Matthews)
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Als Caspar acht Jahre alt war, verstarb sein Besitzer und der Collie kam ins Tierheim. Dort angekommen, verhielt er sich weiterhin wie gewohnt. Er zeigte sowohl im Zwinger als auch an der Leine seine typischen Muster. Das Tierheim entschied sich zu versuchen, Caspar in eine Hundegruppe zu integrieren. Er wurde nun an einen Maulkorb gewöhnt und sämtliche Vorsichtsmaßnahmen wurden für den Tag der Integration getroffen. Er wurde in das Gehege zu den anderen gelassen und die Befürchtungen erwiesen sich als unberechtigt. Caspar nahm Kontakt zu den anderen Hunden auf, interagierte angemessen mit ihnen, konnte sogar mit anderen Rüden gehemmt aggressiv kommunizieren und fand schnell seinen Platz innerhalb der Gruppe. Er verhielt sich völlig normal. Nur wenn die Hundegruppe auf vorbeilaufende Hunde am Zaun aggressiv reagierte, nahm Caspar nicht teil, sondern griff auf alte Muster zurück und sprang stereotyp am Zaun hoch. Das Tierheim hatte sich erhofft, dass Caspar aufgrund seiner neuen Lebenssituation mit ausreichendem Kontakt zu anderen Hunden und genügend Beschäftigung sein Verhalten an der Leine ändern würde. Aber die Leinenaggression auf den täglichen Spaziergängen blieb. Er unterschied dabei nicht zwischen Rüden, Hündinnen, Kastraten oder Welpen.
Innerhalb des Geheges war Caspar wie gesagt sozial verträglich, selbst wenn sich Menschen im Gehege aufhielten und sich mit allen Hunden beschäftigten. Aber bei den Versuchen, Caspar an die Leine zu nehmen und aus dem Gehege zum Spaziergang zu führen, geschah etwas Seltsames mit ihm: In dem Moment, als der Karabiner sein Ziel am Halsband fand, veränderte Caspar kurzum sein Verhalten und wollte direkt auf den nächstbesten Hund losgehen, auch wenn er sich mit diesem Hund vorher noch in freundlicher Interaktion befunden hatte.
Wenn man sich Caspars Geschichte ansieht, wird einem sofort klar, dass es sich bei seinem Verhalten nicht um eine normale Aggression handelt. Wäre er ein Mensch, würde einem der Begriff Trauma in den Sinn kommen.
Ein psychisches Trauma ist ein lebensbedrohliches Ereignis, das extreme psychische Belastungen erzeugt und zu einer Reizüberflutung führt. Traumata entstehen durch körperliche oder emotionale Misshandlungen, aber auch durch Isolation und Vernachlässigung. Anders als bei einer schlechten Erfahrung oder einer normalen Trauer kann ein Trauma von dem Betroffenen nicht verarbeitet werden. Das Gehirn speichert traumatische Ereignisse an einem Ort ab, der nicht so einfach für eine Umbewertung zugänglich ist. Dadurch ist das Trauma aber nicht weg, sondern arbeitet aus dem „Untergrund“ und ist die Ursache für viele psychische Erkrankungen. Mögliche Folgen sind Schlafstörungen und Depressionen, aber auch innere Unruhe, übermäßige Gereiztheit, Wut und antisoziales Verhalten. Traumatisierte haben dabei keine Impulskontrolle. Hilflosigkeit und Wut sind sehr eng miteinander verknüpft. Bruchstückhafte Erinnerungen wie ein bestimmter Geruch, ein bestimmtes Bild, ein Anblick oder ein Ton können zum Auslöser für ein erneutes Erleben des Traumas werden.
Traumatisierte Menschen gibt es in Deutschland viele und die Therapieangebote sind mannigfaltig. Über traumatisierte Hunde und deren Verhalten gibt es derzeit nur wenig Fachwissen, doch lässt sich vieles aus der Menschenwelt übertragen. Wenn ein Hund anfallsartige aggressive Ausraster zeigt, die objektiv betrachtet nicht der Situation entsprechen, und seine Vorgeschichte ein Trauma nicht ausschließt, dann sollte in diese Richtung gedacht werden. Wie bei Ängsten auch, ist in diesem Fall therapeutische Hilfe notwendig, auch wenn die Angebote in diesem Bereich dünn gesät sind.
Krankheit
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„Grenzen des Hundetrainings“
Akute und auch chronische Erkrankungen können Hunde in ihrem Verhalten sehr verändern. Schmerzen, Juckreiz und innere Unruhe, beispielsweise durch Allergien, Veränderungen im Hormonsystem oder Erkrankungen der Organe können neben anderen Verhaltensänderungen auch Aggression hervorbringen.
Wenn ein erwachsener Hund auf einmal ohne erkennbaren Grund aggressiv wird, ist dies häufig ein Hinweis auf ein akutes Leiden. Entdecken Sie solche spontanen Verhaltensänderungen an Ihrem Hund, sollte Ihr erster Weg zu einem Tierarzt führen und nicht in eine Hundeschule. Ei-ne Diagnose ist ohne Ihre Mithilfe nicht immer leicht für den Tierarzt. Sie kennen Ihren Hund am besten. Ist Ihnen aufgefallen, dass er auf manche Berührungen empfindlicher reagiert, dass er vermehrt lahmt, dass er sich in manchen Jahreszeiten mehr kratzt als gewohnt, er mehr trinkt als sonst, sich plötzlich weniger zutraut als früher oder sich sein Verhalten aktuell verändert hat? Es gibt für verschiedene Themen unterschiedliche Experten im medizinischen Bereich. Neben dem Aufsuchen von Haus- und Fachtierärzten kann auch der Besuch bei Tierheilpraktikern, Homöopathen, Osteopathen oder Tierphysiotherapeuten sinnvoll sein.
Unsere Hundezucht begünstigt sowohl physische als auch psychische Erkrankungen.
Bei chronischen Erkrankungen sollte gemeinsam mit den jeweiligen Fachleuten geschaut werden, inwiefern ein Training mit dem Hund möglich ist. Manchmal ist dies eine Kosten-Nutzen-Rechnung, denn die Belastung, die der Hund durch sein aggressives Verhalten oder durch das Ziehen an der Leine hat, kann größer sein als die Belastung, die der Hund während der Trainingsphase hätte.
Umwelteinflüsse
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„Auch das Außen macht das Innen“
Hunde bekommen nicht nur von ihren eigenen Besitzern Rückmeldungen, sondern auch von der Umwelt. Ein schwarzer großer Hund zum Beispiel wird anders von außen bewertet als ein kleiner heller Hund. Auf dem Land geht man anders mit Hunden um als in der Stadt. Die Bevölkerungsdichte bestimmt über den Freiraum, den man Hunden geben kann. Hunde sind gesetzlich erfasst und die Hundehaltung unterliegt bestimmten Regeln. Alle diese Dinge nehmen Einfluss auf die Mensch-Hund-Beziehung und damit auf das Verhalten der Hunde.
Es herrschen nach wie vor schwere Zeiten für
manche Rassen.
(Foto: Nadin Matthews)
Welche Auswirkung bereits eine kleine Veränderung der Umweltbedingungen hat, zeigt ein Beispiel aus dem Jahr 2000. Dort gab es einen ganz fürchterlichen Vorfall, bei dem ein Kind in Hamburg von einem Staffordshire Terrier getötet wurde. Daraufhin gab es eine neue gesetzliche Verordnung und alle Staffs mussten mit Leine und Maulkorb geführt werden. Natürlich gab es keine Zeit, die Hunde vernünftig an einen Maulkorb zu gewöhnen, und dementsprechend schlecht kamen die Hunde damit zurecht. Hunde, die es gewohnt waren, frei zu laufen und mit Artgenossen zu spielen, wurden nun an der Leine an den anderen vorbeigeführt. Menschen haben aus Angst um ihre Kinder die sogenannten Kampfhunde und ihre Halter auf der Straße bepöbelt. Auch die Presse hatte ihr Feindbild gefunden und tat ihr Übriges. Eigentlich gab es nur eine kleine gesetzliche Veränderung, dennoch hatte sie große Auswirkung auf die betroffenen Mensch-Hund-Systeme und maßgeblich auf das Verhalten der Hunde.
Gelerntes
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„Wenn Verhalten kein Motiv mehr braucht.“
Wenn ein Hund sein ursprüngliches Motiv nicht mehr braucht, um sich aggressiv zu verhalten, dann spricht man von einer gelernten Aggression.
Nehmen wir zum Beispiel eine territorial- und sexualmotivierte Aggression. Die Hündinnen Layla und Kira sind sich einig: Sie mögen sich nicht. Ihre jeweiligen Gärten liegen nur knapp 200 Meter voneinander entfernt. Kiras Besitzer haben keine andere Chance, sie müssen für den täglichen Spaziergang am Grundstück von Layla vorbei. Wenn Layla im Garten ist und Kira auf der anderen Seite des Zauns an der Leine vorbeigeht, zeigen beide, was sie draufhaben. Regina Halmich wäre beeindruckt. Wenn der Zaun nicht wäre, so befürchten die Menschen, würden sie sich zerfleischen. Am Anfang des Ganzen verließ Kira noch normal gelaunt ihr Grundstück und wurde erst beim Anblick von Layla aggressiv. Das ist lange her. Mittlerweile pumpt sie sich bereits an der eigenen Haustür auf, zieht auf dem Weg zu Laylas Garten an der Leine und atmet dabei auffällig laut. Wenn der Ort der Eskalation näher kommt, bekommt ihre Atmung einen leicht hysterischen Unterton und der ein oder andere Beller entfährt ihrer Kehle. Der Showdown beginnt mit dem Erreichen des fremden Gartenzauns. Kira hat eine Erwartungshaltung entwickelt – ein wichtiger Aspekt, wenn Aggression gelernt wird. Sie lernt in diesem Fall ortsgebunden, verknüpft also ihre Stimmung mit dem Ort. Der Anblick des Gartenzauns wird zum Auslöser. Und damit ist die Geschichte nicht zu Ende, denn selbst, wenn Layla mal nicht im Garten ist, pöbelt Kira am Gartenzaun praktisch ins Nichts. Sie braucht Layla nicht mehr als Anreiz; ihr reicht der Gartenzaun. Das ist das Ergebnis eines Lernvorgangs. Interessant wäre es, wenn Layla mitsamt ihrer Familie umzöge und eine neue Familie mit ihrem Hund einzöge. Die Chancen, dass Kira ihn hassen würde, stehen gut.
Eine gelernte Aggression wird durch neue Reize ausgelöst, die im ursprünglichen Konflikt erworben wurden.