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Wie Sie vielleicht festgestellt haben, ist die fachliche Beschreibung der Faktoren für das Verhalten des Hundes bereits ein großes Projekt. Wenn nun auch noch der Mensch dazukommt, wird es wirklich bunt. Denn wenn Menschen heutzutage von ihren Hunden sprechen, wird deutlich, wie eng sie mit ihnen zusammenleben und wie wenige Unterschiede es zu menschlichen Beziehungen gibt. Hunde haben sich zunächst von draußen in unsere Häuser und dann in unsere Herzen geschlichen. Die Beziehung zwischen Menschen und Hunden ist nicht mehr nur über die Domestikation zu erklären.

Von einigen seltenen Arbeitshunden oder reinen Prestigeobjekten mal abgesehen, leben sie mit uns in einem Familienverband. Und das, ob-wohl sie einer anderen Art angehören. Sachlich gesehen ist es leichter, Gründe gegen die Haltung eines Hundes zu finden als tatsächlich dafür. Sie haben keinen offensichtlichen Nutzen, sie riechen nicht immer gut, haben Parasiten, lassen sich von uns durchfüttern, müssen tierärztlich versorgt werden und benehmen sich häufig daneben. Ein deutscher Hund macht durchschnittlich in seinem Leben einen Umsatz von 10 000,00 Euro. Wir zahlen gern und nehmen sämtliche Umstände in Kauf. Und das nicht nur, weil wir so wahnsinnig nett sind, sondern weil wir Hunde für unsere emotionalen Bedürfnisse brauchen. Die Gründe für die Anschaffung eines Hundes können mannigfaltig sein und legen in hohem Maße den Grundstein für die gemeinsame Beziehung fest.

 

Anschaffungsgründe und Erwartungen des Menschen

 

Das Großartige an Hunden ist, dass sie im Prinzip eine Projektionsfläche für alles bieten. Sie können Menschen helfen, sich nicht einsam zu fühlen oder auch andere Menschen kennenzulernen. Sie geben menschlichen Paarbeziehungen mehr Verbindlichkeit, dienen als Kind- oder auch Enkelkindersatz. Sie können einen Teil der Freizeitbeschäftigung darstellen oder ein Stück Natur sein, das man sich ins Haus holt. Sie bleiben im Haus, selbst wenn sie erwachsen sind, und man kann sich um sie kümmern, sie streicheln oder sie umsorgen. Man kann über sie die eigene Persönlichkeit zum Ausdruck bringen, sie unterstreichen und seine Gefühle ausleben. Man kann Hunde er-ziehen, wie man selbst erzogen wurde, oder alles besser machen. Sie schützen Menschen, die ängstlich sind. Manchmal dienen sie auch als verlängertes Ich und verhalten sich so, wie sich Menschen nie trauen würden, sich zu verhalten. Aber auch aktuelle Motive, sich einen Hund anzuschaffen, formen dessen Rolle in der Gruppe. Zum Beispiel können Hunde als Seelentröster nach einer Trennung angeschafft werden oder im Zuge einer Lebensveränderung, in der sich ein Mensch mehr Zeit und Raum für seine eigenen Bedürfnisse wünscht. Dazu gehört der lang gehegte Wunsch, endlich einen Hund zu haben. Dieser kann dann den Auftrag bekommen, das neu entstandene Gefühl von Freiheit auszudrücken und es für den Menschen spürbar zu machen.

 

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Menschen knüpfen bestimmte Erwartungen an ihre Hunde und suchen sie danach aus.

 

Die jeweilige Funktion des Hundes bestimmt die Kommunikation zwischen Mensch und Hund. Sie geht einher mit Erwartungen an den Hund. Sie kann sogar den Erziehungsstil festlegen. So können manche Menschen versuchen, alles am Hund wiedergutzumachen, was ihnen bei anderen nicht gelungen ist, oder sie finden im Hund jemanden, demgegenüber sie ihre Macht demonstrieren können – jemanden, der auf sie hört. Es geht an dieser Stelle nicht um eine Bewertung, sondern darum aufzuzeigen, wie individuell eine Mensch-Hund-Beziehung ist.

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Selbst die Frage nach den Bedürfnissen von Hunden kann von Menschen mit dem Hintergrund der Rollenzuschreibung beantwortet werden. So haben einige Hundehalter das Gefühl, dass Hunde lieber im Haus auf dem Sofa sitzen und gar nicht viel Auslauf brauchen. Andere setzen sich massiv unter Druck, weil sie glauben, ein Hund muss permanent beschäftigt und bewegt werden, damit er sich wohlfühlt. Ähnliche Unterscheidungen in den Ansichten finden sich in Fragen zu Themen wie Fütterung, Spielzeug, medizinische Versorgung und vor allen Dingen zu dem Thema Erziehung.

Wenn es nun aber zu Schwierigkeiten mit dem Hund kommt, lassen sich diese nicht einfach durch das Verhalten der Hunde erklären und schon gar nicht durch die alleinige Arbeit am Hund verändern.

 

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Hunde haben Persönlichkeit und einen eigenen Kopf. Sie lassen sich nicht in jede vom Menschen vorgesehene Rolle stecken.
 (Foto: Nadin Matthews)

 

Wenn Erwartungen sich nicht erfüllen

 

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Nehmen wir als plakatives Beispiel eine Szene aus der Welpengruppe. Menschen, die sich eigentlich nichts zu sagen haben, treffen sich durch ihren Hund jeden Samstag auf einer eingezäunten Wiese. Nun stehen sie da, groß und klein, mit ihren unterschiedlichen Hunden, die momentan noch eines vereint: Alle sind irgendwie niedlich und quirlig und die kleinen Mädchen, die an der Hand ihrer Mutter mit in die Welpengruppe gekommen sind, schreien ständig nur „Ist der süß!“ Tatsächlich findet natürlich jeder seinen eigenen Hund am besten, wie sollte es denn anders sein. Und dennoch gibt es große Unterschiede zwischen den Menschen, die jedes Wochenende in die Gruppe pilgern. Sie hatten unterschiedliche Motive, sich einen Hund anzuschaffen, und ihre Erwartungen liegen zum Teil meilenweit auseinander.

Eine Familie hat sich einen Labradorwelpen gekauft; die Kinder sollen mit einem Hund aufwachsen und spielen können. Die Eltern freuen sich auf die gemeinsamen Spaziergänge mit dem Hund in der Natur. Die Familie scheint nun komplett: Eltern, zwei Kinder und ein verspielter Labrador Retriever. Der Anschaffungsgrund impliziert bereits die Erwartungen der Eltern an den Hund. Er soll lieb sein. Das ist die Hauptaufgabe eines Familienhundes und aus Sicht der Familie nachvollziehbar. Genetisch gesehen ist auch ein Retriever ein Hund. Rassespezifisch arbeitet er auf der Jagd nach dem Schuss, apportiert erlegtes Wild und wird vor allem zur Entenjagd eingesetzt. Er soll einerseits leichtführig, andererseits aber körperlich unempfindlich und selbstständig sein. Sein Aggressionspotenzial ist im Vergleich zu manch anderer Rasse als eher niedrig einzustufen. Die Familie hat mit der Rasse zunächst keine schlechte Wahl getroffen.

Ein weiterer Besucher der Welpengruppe ist ein Jäger mit seinem Deutschen Jagdterrier. Der Kleine soll später zur Jagd auf Wildschweine, Füchse und Dachse eingesetzt werden. Die notwendigen Fähigkeiten dafür bringt er bereits mit. Er ist als Terrier in der Lage, sich ohne Vorlauf in einer jagdlichen Situation zu verlieren und ein Tier zu attackieren, das größer ist als er selbst. Sollte sich dieses Tier wehren und den Terrier angreifen, läuft dieser nicht weg, sondern schaltet vom Jagdmodus in Aggressionsverhalten um. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass ein Deutscher Jagdterrier im Vergleich zum Labrador ein großes Aggressionspotenzial mitbringt. Darauf ist der Jäger nicht nur vorbereitet, es beschreibt sogar seine Erwartung an seinen kleinen Begleiter.

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Nun kommt es zu einer kurzen Übung, die sicherstellen soll, dass sich der Hund im Notfall eine gefundene Beute wegnehmen lässt. Die Trainerin wirft nun eine Kaustange in die Runde, die Hunde dürfen darauf herumkauen und die Hundehalter sollen nach einigen Minuten versuchen, ihrem angeleinten Hund die Beute wegzunehmen. Die Familie mit dem Labrador kommt als erste dran. Sie erwarten kein Problem und so nähern sie sich ihrem Welpen an durchhängender Leine. Dieser erscheint sehr beglückt über seine Situation mit der Kaustange und versucht diese aufrechtzuerhalten, springt beim Versuch der Annäherung beiseite. Dies wiederholt die Familie mehrfach und der Kleine sichert jedes Mal die Beute. Mindestens einer lernt etwas. Nun nehmen sie die Leine kurz und gelangen an ihren Hund und die Kaustange, doch bei dem Versuch, sie wegzunehmen, macht der Welpe ein kleines Geräusch, das man gemeinhin Knurren nennt. Was jetzt passiert, ist sehr entscheidend. Es kann sein, dass die Familie zurückschreckt, weil sie damit nicht gerechnet hat. Der Labrador mit seinen zehn Wochen verhält sich wider ihren Erwartungen aggressiv und hat damit Erfolg. Sie könnten aufgrund dessen zukünftig die Situation mit der Kaustange vermeiden, um nicht wieder mit dem falschen Bild konfrontiert zu werden. Oder sie reagieren mit Frust und Wut, agieren unverhältnismäßig und bewerten damit den kleinen Versuch des Hundes emotional. Auch daraus lässt sich die Wichtigkeit eines Verhaltens für den Hund ablesen.

 

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Menschen haben oft größere Schwierigkeiten im Umgang mit Aggressionen als Hunde.

 

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Nun ist der Jäger mit seinem Terrier an der Reihe. Er weiß um die Fähigkeiten seines Hundes und wäre wahrscheinlich enttäuscht, wenn der Kleine in dieser Situation freundlich wäre. Andererseits weiß er auch, dass der Hund lernen muss, sich ihm gegenüber nicht aggressiv zu verhalten. Er geht also bereits von vornherein anders in den Konflikt. Er zieht seinen Welpen an der Leine heran, packt ihn so, dass er nicht gebissen werden kann, und holt sich unmissverständlich die Kaustange. Die Versuche des Terriers dagegen unterbindet er im Ansatz, lächelt dann aber und freut sich über die Hartnäckigkeit seines Hundes. Schließlich will er ihn so haben.

Zwei völlig unterschiedliche Reaktionen auf ähnliches Verhalten. Die Hunde werden dadurch auch Unterschiedliches lernen. Und so könnte letztendlich bei diesem Gedankengang herauskommen, dass der Labrador mit der genetisch „schlechteren“ Ausstattung im Aggressionsbereich eine Futteraggression entwickelt und der Deutsche Jagdterrier in diesem Bereich zukünftig keine Probleme zeigt. Das genetische Potenzial und die individuellen Motive des Hundes, sich aggressiv zu verhalten, sind nicht allein entscheidend. Die Anschaffungsgründe, die Erwartungen an den Hund und der Erziehungsstil des Menschen spielen ebenfalls eine wichtige Rolle.

 

Reaktionen und Gefühle des Menschen

 

Die Einstellungen des Menschen schlagen sich nieder in den Gefühlen, die er in Bezug auf das Problem hat, und in den Reaktionen, die er dem Hund gegenüber daraufhin zeigt. Nüchtern betrachtet, bellt doch nur ein Hund an der Leine. Wo ist das Problem? Es gibt keines! Wir könnten stolz auf unsere Hunde sein, schließlich ist es eine tapfere Leistung. Manche Menschen sehen es so und empfinden deshalb kein Problem. Andere leiden darunter – und die stellen wohl die Mehrheit dar.

Doch wie kommt es, dass Menschen Konflikte zwischen Hunden zu ihrem eigenen Problem machen? Nicht bei allen Tieren kommt es zu derartigen Übertragungen. Wenn ich nachts höre, wie eine fremde Katze versucht, unser Grundstück zu betreten, und lautstark von unseren Katzen attackiert wird, denke ich so etwas wie: „Tja, so ist das.“ Diese emotionale Gelassenheit würde mir jedoch fehlen, wenn sich einer unserer Hunde in dieser Weise auf einen anderen Hund stürzen würde. Und nicht, weil ich Prügeleien unter Hunden schlimm finde, sondern weil ich mich in der Verantwortung sehe. Es ist nicht meine Sache, wie sich meine Katzen verhalten, bei meinen Hunden schon. Vielleicht ist auch das an die Funktion der Hunde gekoppelt. Wir sehen Hunde als Produkte unserer Erziehung und als Spiegel unserer Lebenseinstellungen. Dementsprechend starke Gefühle können Menschen erleben, wenn ihre Hunde an der Leine aggressiv sind. Sie können sich ängstlich, hilflos und ohnmächtig fühlen, enttäuscht und wütend sein oder sich schämen. Manchmal hat das Haustier Hund einen größeren emotionalen Einfluss auf einen Menschen als ihn andere Menschen haben. Diese Emotionen haben wiederum Einfluss auf das Verhalten der Hunde, halten den Teufelskreis am Laufen oder lassen sogar neue Endlosschleifen entstehen. Hunde haben nicht unbedingt ein Problem mit Aggression, Menschen schon eher. Der eigene Umgang mit Aggression bestimmt in hohem Maße das Leid, das entsteht, wenn ein Hund sich entsprechend an der Leine aufführt.

 

Die Wut und die Schuld

 

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Die Besitzerin von Ben aus unserem ersten Fallbeispiel ist ängstlich, hilflos und frustriert und damit eine potenzielle Kandidatin für einen „Amoklauf“. Die nächtlichen Runden mit der Sorge vor einer Begegnung mit anderen Rüden fordern ihren Tribut. Keine Angst, wenn sie durchdreht, kommt niemand wirklich zu Schaden außer ihr/sie selbst und der/die Beziehung zu ihrem Hund. Ihre bisherigen Konfliktstrategien haben keinen Erfolg versprochen. Sie versucht eigentlich immer das Gleiche, doch ihr Ziel wird nicht erreicht. Eigentlich ist sie geduldig, aber auch eben nur ein Mensch, und ihre Gefühle zu dem Problem sind intensiv. Wenn sie nun seit Wochen versucht, Ben davon abzuhalten, sich lautstark an der Leine zu gebärden, kann der Tag kommen, an dem Frust und Stress die Überhand gewinnen. Sie wird ausrasten. Solche Tage unterscheiden sich meist von den anderen in Bezug auf die persönliche Verfassung der Hundehalter. Es sind Tage, an denen alles schief läuft, der Rücken schmerzt oder es an anderer Stelle bereits Ärger gab. Es sind Tage, an denen die Nerven blank liegen. Und dann punkten sie, all die erfolglosen Trainingswochen. Hundertmal „Nein“ gesagt, hundertmal wurde es vom Hund nicht verstanden und heute ist es wieder so. Die Reaktion des Menschen kommt für den Hund dann unvermittelt, quasi aus dem Nichts. Diesmal ist es ihr egal, ob die Leute gucken, diesmal ist es ihre angestaute Wut, die sie antreibt (frustrationsbedingte Aggression, Sie erinnern sich?). Die bekannte Situation kommt, die typischen Strategien dagegen auch, der Erfolg bleibt aus, und dann, dann schreit sie ihn so zusammen, wie es noch keiner von beiden erlebt hat. Sie wird sich ihm zuwenden, ihn unwirsch an der Leine zurückpfeffern, ihn vielleicht im Fell greifen und schreien. Ben wird den Schreck seines Lebens bekommen und direkt mit Demutsverhalten antworten. Er macht sich klein, duckt sich, als wäre er in seinem Leben permanent geschlagen worden. Dieser Anblick ist es, der sie stoppt, in dem vollen Wissen, was gerade passiert ist. Sie hat die Kontrolle verloren, ist ausgerastet, hat überreagiert und war unfair. Sie hat gelernt, dass man das nicht tut, und geht mit diesem Gefühl nach Hause. Es ist die Schuld, die jetzt die Stimmung macht, es tut ihr leid. Und zu Hause wird sie sich mit Ben in der Küche auf den Boden setzen, in sein Fell weinen, sich entschuldigen und versprechen, es nie wieder zu tun. Dieses Versprechen hält für eine gewisse Zeit, bis das Rabattmarkenheftchen wieder vollgeklebt ist. Es ist der Beginn einer Endlosschleife und ein guter Moment, um einen Termin in der Hundeschule zu verabreden.

 

Auf wen trifft man in der Erziehungsberatung?

 

Wir Hundetrainer sind tatsächlich Menschen. Wie alle anderen Menschen haben auch wir unsere Erfahrungen mit Beziehung und Erziehung gemacht und persönliche Einstellungen zu diesen fundamentalen Themen des Lebens entwickelt. Schließlich wurden wir alle erzogen. Wir haben verschiedene Formen von Beziehungen kennengelernt, sind ein Teil dieser Gesellschaft, des sozialen, politischen und auch wirtschaftlichen Systems.

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Wir können zu wenig oder zu viel Liebe bekommen haben und daraufhin unser individuelles Bedürfnis nach Nähe und Distanz zu anderen entwickelt haben. Wir können viel oder keine Erfahrungen mit Gewalt auf psychischer oder physischer Ebene gesammelt haben und zum Beispiel Ängste vor Aggression oder einen ausgeprägten Machtanspruch daraus ableiten. Vielleicht haben wir das Vertrauen in Menschen verloren oder trauen keinem Hund. Vielleicht haben wir Probleme, wenn Menschen ihren Hunden gegenüber schwach sind oder sich häufig durchsetzen. Vielleicht sind wir aber auch freiheitsliebend oder brauchen viel Kontrolle im Leben. Vielleicht sind wir geltungsbedürftig oder wollen es allen recht machen. Vielleicht haben wir gelernt, immer stark zu sein oder dass alles sehr schnell gehen muss. Auf jeden Fall haben wir unterschiedliche Stärken und Schwächen im Umgang mit Menschen und Hunden, im Aufbau von Beziehungen und in der Erziehung. Jeder Ansatz im Hundetraining sagt etwas über den Hundetrainer selbst aus, über seine persönliche Geschichte und seine Fähigkeit, sich selbst zu reflektieren. Helfen wollen wir alle. Manche von uns den Hunden, manche den Menschen, manche beiden und manche vielleicht nur sich selbst.

 

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Bei näherer Betrachtung wird deutlich, dass Diskussionen in der Hundeerziehung auf emotionaler und weniger auf fachlicher Ebene geführt werden.

 

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Und so treffen sie aufeinander, Hundehalter und Hundetrainer. Sie erzählen uns ihre Geschichte. Die Interpretation des Verhaltens von ihnen und ihrem Hund, die Diagnose des Problems und der jeweilige Trainingsvorschlag werden aber nicht von einer neutralen Instanz getroffen, sondern von uns. Unsere Theorien und Methoden, Vorerfahrungen und Einstellungen, Stärken und Schwächen, unser Fachwissen und geistiger Standort sind die Grundlage dafür. Jeder hat seine eigene Wahrheit, und dementsprechend kommt es zu unterschiedlichen Aussagen und Ansätzen, je nachdem, wo man hingeht.

Manche dieser Erziehungsansätze sind wissenschaftlich schnell zu widerlegen, andere sind nur nicht erforscht, doch die meisten sind meinungs- und einstellungsabhängig. Dementsprechend kann man nicht über richtig und falsch urteilen, sondern sollte vielmehr über die individuelle Angemessenheit im Einzelfall diskutieren. Schließlich begeben wir uns in einen sehr intimen Bereich, wenn wir Menschen zu einem Problem mit ihrem Hund beraten. Die Zielgruppe Hundehalter ist bis auf die Tatsache, dass alle einen Hund haben, nicht weiter einzugrenzen. Wir treffen auf mannigfaltige Gefühle, auf Erziehungseinstellungen und -stile, auf unterschiedliche Lebensentwürfe, Wohnsituationen, Familienkonstellationen und immer neue Persönlichkeiten, die miteinander in Beziehung stehen.

Wenn man sich die Hundetrainervorschläge für die Lösung des Konflikts anschaut, dann gibt es gar nicht so viele Ansätze wie es scheint. Es gibt nur viele Namen dafür und unterschiedliche Begründungen. Doch nicht die verschiedenen Ansätze in der Erziehungsberatung sind das Problem, sondern die Diagnosen! Oder anders ausgedrückt: Alle Hundetrainer haben recht, aber nicht jederzeit.

Wenn Hundetrainer sich ausschließlich auf eine bestimmte Methode festlegen, werden sie dazu neigen, ihre Diagnose der Methode entsprechend zu treffen. So stößt man in manchen Hundeschulen zum Thema Aggression an der Leine vermehrt auf jeweils eine der folgenden Diagnosen:

 

1. Der Hund hat Angst.

2. Der Hund ist der Chef.

3. Der Hund ist unterbeschäftigt.

4. Der Hund hat Stress.

 

Vielleicht stimmt das, vielleicht stand die Diagnose aber vorher schon fest. Sie haben im letzten Kapitel einiges über die Faktoren für Aggression gelesen und sich mit Anschaffungsgründen und ihren Erwartungen an den Hund auseinandergesetzt. Hoffentlich haben Sie sich und Ihren Hund an der einen oder anderen Stelle wiedererkannt und konnten dadurch etwas mehr über Ihren Standort erfahren.

Prüfen Sie auch für sich selbst, welche Verhaltensdiagnose am besten zu Ihrem Hund und Ihnen passt. Denn Sie sind und bleiben Experte für sich und Ihren Hund. Sie sind nicht schuld an dem Verhalten Ihres Hundes, aber Sie tragen die Verantwortung für seine Erziehung und damit auch für seine Erlebnisse. Lassen Sie Ihren Kopf hinterfragen und hören Sie auf Ihren Bauch.

 

Werte und Normen: Was ist erwünscht und was nicht?

 

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Stellen Sie sich vor, die Hundewelt stünde kopf. Sie würden freudig darauf warten, dass Ihr Hund einen anderen Hund anbellt, und ihn sofort mit Futter belohnen, wenn er es tut. Nach und nach wird Ihr Hund immer besser im Zeigen seiner Aggression und Sie wären stolz darauf, würden vor anderen Hundehaltern damit angeben. Andererseits wäre es Ihnen wahnsinnig peinlich, wenn er „Sitz“ macht. Sie versuchen, jeden Versuch des Hundes, sich hinzusetzen, zu unterbinden. Mittlerweile werden Sie von anderen Hundehaltern auf der Straße schon schief angesehen, weil er sich wieder hingesetzt hat, und Sie überlegen nun, deshalb eine Hundeschule aufzusuchen. Diese Beschreibung klingt wahrscheinlich äußerst seltsam in Ihren Ohren, denn in der Regel haben Menschen eine umgekehrte Wunschvorstellung.

 

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Er macht zwar „Sitz“, aber seine aggressive Stimmung bleibt. Was ist gewonnen?

 

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Doch wer legt eigentlich fest, was Hunde sollen und was nicht? Wir tun es und tragen damit die alleinige Verantwortung. Wir entscheiden für uns, für die Gesellschaft und für unseren Hund. Alle drei Seiten haben Bedürfnisse, die einander oft widersprechen. Wir müssen einen Konsens finden, der für alle vertretbar ist. Die Lebenswelten von Menschen und Hunden sind sehr unterschiedlich. Erziehung soll jemandem helfen, sich in die jeweilige Gesellschaft zu integrieren. Das heißt auch, dass wir althergebrachte Erziehungsinhalte in diesem Zusammenhang hinterfragen könnten. Haben Sie sich bewusst dafür entschieden, Ihrem Hund „Sitz“ beizubringen? Oder haben Sie es getan, weil alle es tun? Hätten Sie nicht lieber mehr Zeit für das Training des Rückrufs verwenden sollen? Was ist heutzutage Ihr Problem? Macht er nicht „Sitz“ oder kommt er nicht, wenn Sie ihn rufen?

Die Unterscheidung zwischen Dressur und Er-ziehung wäre ein komplett eigenes Thema und sprengt den Rahmen an dieser Stelle. Doch bleiben wir beim „Sitz“. Wer hat eigentlich festgelegt, dass es lobenswert ist, wenn Hunde diese anatomisch gesehen sehr einfache Handlung zeigen? Irgendjemand hat das vor Ewigkeiten entwickelt. Wer der Erste war, kann ich nicht sagen, aber die Dokumentationen gehen zurück bis in die Zeit des Ersten Weltkriegs und dienten der Uniformierung in der Diensthundeausbildung. Sitz, Platz, Fuß! Es hätte theoretisch auch Rolle, Gib Pfötchen und Bein werden können.

Es ist herrlich, sich vorzustellen, wie Menschen auf einem eingezäunten Platz ihrem Deutschen Schäferhund das Kommando „Gib Pfötchen“ entgegenschreien und das Ganze auch noch Unterordnung nennen. Glauben Sie mir, es hätte so kommen können! Schade, schade...

Es ist natürlich nichts dagegen einzuwenden, dass man seinem Hund „Sitz“ beibringt. Man darf nur nicht glauben, dass er erzogen ist, wenn er es macht. Bitte überprüfen Sie, ob die Ziele in der Erziehung Ihres Hundes wirklich Ihre eigenen sind, und ob die Trainingsinhalte Ihnen, Ihrem Hund oder der Gesellschaft nützlich sind. Sie müssen nicht jeden Quatsch mitmachen. Diese Erkenntnis kann sehr entlasten.