KAPITEL FÜNFUNDZWANZIG

 

 

»Willkommen auf der Erde«, sagte die Verkehrsleitstelle.

»Es ist schön, wieder hier zu sein«, log Nessus. Er hoffte, das Gesicht seines Avatars wirkte aufrichtig genug. Jeder hier im Sonnensystem war der Ansicht, dieses Schiff würde von einem Menschen gesteuert.

Der Mojave-Raumhafen schien sich in die Unendlichkeit zu erstrecken. In der Ferne ragten zerklüftete Gebirgsketten auf. Ganz offensichtlich hatte der Raumhafen es seit Nessus’ letztem Besuch an Wartung vermissen lassen – kleine Pflanzen drängten sich durch die Risse im Asphaltbelag der Landefelder; einige davon waren schon groß genug, um vom Bordcomputer als Yuccapalmen und Josuabäume erkannt zu werden.

Die Aegis sah nicht anders aus als viele der anderen Schiffe, die hier standen. Trotz der tiefen Rezession, zu der es nach dem plötzlichen Verschwinden der General Products Corporation gekommen war – oder vielleicht gerade deswegen –, waren die unzerstörbaren Zellen hier sehr begehrt. Eine gebrauchte GP-Zelle kostete mittlerweile mehr, als sie im Neuzustand gekostet hatte.

Nessus saß auf seiner Steuerbank und zitterte vor Aufregung. Er befand sich wieder in einer manischen Phase, und es wäre töricht gewesen, nicht sofort zu handeln. »Computer, fortfahren wie geplant.« Dann ging Nessus in den Gemeinschaftsraum und wartete – schließlich war ein unerlässlicher Teil des Plans, dass ein menschliches Opfer unwissentlich mitarbeitete.

Einige Zeit lang befasste sich Nessus mit den Massenmedien der Menschen: Andeutungen über Korruption im Fruchtbarkeits-Komitee. Heftige Proteste. Opportunistische Politiker, die sich für die Einführung einer Geburtsrecht-Lotterie aussprachen. Übergriffe gegen ›gekaufte Babys‹.

Oberflächlich schien »Notwendigkeit«, eine so einfache Entschuldigung zu sein. Doch Nessus war zutiefst abgestoßen von dem, was er selbst herbeigeführt hatte, und schaute nicht mehr weiter zu. Die Berichte würden automatisch in den Bordarchiven abgespeichert; wenn Nessus es also jemals würde ertragen können, konnte er sich später immer noch damit befassen.

Jetzt konzentrierte er sich auf die Lebensgeschichte eines Menschen, die Nike besonders interessierte, eines Flatlanders namens Plutarch – doch in diesem Augenblick erklang ein Alarm. Über der Biografie, die Nessus gerade las, flammte eine Texteinblendung auf: Sangeeta Kudrin, stellvertretende Unterstaatssekretärin für Verwaltungsfragen der Vereinten Nationen.

Nessus blickte auf. Hinter einem Einwegspiegel hatte in einer Kabine aus GP-Zellen-Material eine Frau materialisiert. Sie war auffallend zierlich, hatte mandelförmige Augen und trug im Gesicht zahlreiche Piercings. Dazu trug sie einen konservativ geschnittenen braun-orangefarbenen Anzug. Die Hautbemalung, die Nessus bislang erkennen konnte, bestand vor allem aus zahlreichen Spiralen in unterschiedlichen Blautönen.

Die Frau wirkte geradezu panisch.

Nessus legte sein Lesegerät beiseite, als seine Besucherin mit beiden Fäusten gegen die Kabinenwände hämmerte. »Ihnen wird nichts geschehen.«

»Wo bin ich?«, wollte sie wissen. »Und wer sind Sie?« Nicht: Wie bin ich hier hergekommen? Nessus war beeindruckt. Sie hatte bereits verstanden, dass diese Entführung auf einen Eingriff in das Transferkabinen-System zurückzuführen sein musste. »Sie dürfen mich Nessus nennen.«

»Wo bin ich, Nessus?«

»Das ist unbedeutend.« Darüber ließ er sie einen Augenblick nachdenken. »Sie haben damit aufgehört, weiterhin – wie befohlen – Berichte abzugeben.« Sie hatte damit aufgehört, Informationen zu vorherbestimmten Zeiten in vorherbestimmten Transferkabinen zu deponieren, sodass Nessus’ Handlanger sie abholen konnten.

Sangeeta schluckte. »Ich habe viele Informationen bereitgestellt.«

»Nichtsdestotrotz.« Schon bald würde ihre Körperwärme den beengten Innenraum der Kabine aufheizen. Die Stepperscheibe in der Decke der Kabine war mit einem Filter ausgestattet und tauschte Kohlendioxid gegen Sauerstoff aus, doch das konnte Nessus’ Besucherin nicht wissen. Er wartete ab.

»Was wollen Sie von mir?«, fragte sie schließlich.

»Informationen über Sigmund Ausfaller.«

Die Frau zuckte sichtlich zusammen. »Das ist nicht machbar.« Nessus wartete ab, bis sie hinzufügte: »Was ist denn mit Ausfaller?«

»Ich wünsche regelmäßige Berichte über seine Arbeit.«

»Sie wollen, dass ich Ausfaller ausspioniere? Dieser Mann ist hochgradig paranoid! Vielleicht verstehen Sie ja nicht, was das heißt: Das bedeutet, dass er alles und jeden verdächtigt!«

Schweigend wartete Nessus, während Sangeeta allmählich Schweißtropfen auf die Stirn traten und ihr über das Gesicht rannen. Hektisch blickte sie sich um, suchte nach einem Ausgang, den es nicht gab. Dann erklärte Nessus: »Die ARM ist Teil der Vereinten Nationen. Es muss doch entsprechende Berichte geben.«

»Eines kann ich Ihnen sagen.« Ein verstohlener Blick. »Ausfaller weiß Bescheid.«

Nessus hakte nach: »Worüber weiß er Bescheid?«

»Über die Erpressungen! Ich mag ja hier gefangen sein, aber er fängt jetzt gerade Sie!«

»Erklären Sie das«, forderte Nessus sie mit sanfter Stimme auf.

»Ich vermute, dass Sie Ihre Opfer, oder zumindest einige von ihnen, nach einem ausgeklügelten Datensammelprogramm auswählen. Ich wüsste nicht, wie Sie sonst mich hätten finden können. Es geht um meinen … kreativen Umgang mit Geldern der Vereinten Nationen.« Sie ließ sich gegen eine Wand der Kabine sacken. »Es sieht ganz danach aus, als hätte Ausfaller exakt diese Art Angriff auf die Vereinten Nationen befürchtet. Er hat eine nichtexistente Person in die Personalakten eingeschleust und ihr eine verdächtige Vergangenheit verpasst – um jeden zu schnappen, der genau das tut, was Sie gerade machen.«

Nessus zitterte; seine ganze Manie war aufgebraucht. »Woher wissen Sie das?«

»Aus genau demselben Grund, weswegen Sie mich hier haben wollten. Ich habe beschränkten Zugang zu seinen Berichten. Zumindest hatte ich diesen Zugang. Nachdem Sie versucht haben, seinen Köder unter Druck zu setzen, hat er jeglichen Zugang weiter eingeschränkt.« Sie lachte verbittert auf. »Und wenn ich seinem Beispiel gefolgt wäre, dann wäre ich jetzt nicht hier! Seit diese nichtexistente Person einen Umschlag mit Ihrem Zerberus-Symbol erhielt, verzichtet Ausfaller konsequent darauf, Transferkabinen zu nutzen.«

Und wenn Miguel und Ashley, ohne es zu wissen, versucht hatten, die ARM zu erpressen? Gewiss hatte Ausfaller sie dann mit Desinformation gefüttert. Und Ausfaller würde auch versuchen, andere unter Druck gesetzte Personen ausfindig zu machen, echte Mitarbeiter der Vereinten Nationen, die durch diese noch unbekannten Erpresser bedroht wären. Und wenn Nessus und seine Handlanger eine Möglichkeit finden konnten, sie einzuschüchtern, konnte Ausfaller genau das Gleiche tun.

Erneut erzitterte Nessus, und er fragte sich, wie viele falsche Daten er wohl schon nichts ahnend hingenommen hatte.

Er widerstand der Versuchung, unruhig mit einem Huf auf das Deck zu trommeln, als ihm klar wurde, was das alles bedeutete. Angenommen, Ausfaller wusste, dass sich jemand am Transferkabinen-System zu schaffen gemacht hatte – natürlich wären Puppenspieler die offensichtlichsten Verdächtigen. Und da die ARM ohnehin schon nach der Flotte suchte …

»Nessus!« Seine Gefangene versuchte vergeblich, durch den Spiegel hindurchzublicken. Sie keuchte jetzt, und in ihrer Stimme schwangen bereits Anflüge von Hysterie mit. »Sind Sie noch da?«

Es gelang ihm, seine Furcht unter Kontrolle zu bringen. »Ich habe viele Quellen bei den Vereinten Nationen. Ausfaller kann sie unmöglich alle kennen. Ich rate Ihnen, nichts über unsere Beziehung oder dieses Gespräch zu verraten. Falls Sie ihn doch informieren, werde ich das erfahren.«

Sangeeta erschauerte. War das ein Schauer der Erleichterung, weil Nessus’ letzte Worte zweifellos andeuteten, er werde sie wieder freilassen? Oder war es Angst, weil sie fürchtete, Ausfaller könne von ihren Veruntreuungen erfahren? Vielleicht beides. »Ich werde überhaupt nichts zu ihm sagen.«

Abgesehen davon, dass sein Gewissen es ohnehin von ihm verlangte, hatte Nessus ohnehin keine andere Wahl, als seine Gefangene gehen zu lassen. Wenn jetzt eine hochrangige Mitarbeiterin der Vereinten Nationen verschwand, so würde das Ausfallers Misstrauen nur noch anstacheln. Und wenn sie wirklich mit Ausfaller sprach, dann würde sie doch nichts anderes berichten können, als dass sie entführt und verhört worden war. Nessus würde dadurch nicht weiter gefährdet.

Und was war mit Ausfaller selbst? Der war nach wie vor unerreichbar. Nessus musste davon ausgehen, dass dieser Paranoiker eine ›Im Falle meines Todes oder meines Verschwindens‹-Nachricht für die Behörden vorbereitet hatte.

Mit einem Zungendruck gab Nessus den Befehl ein, der Sangeeta aus dieser Zelle zur Transferkabine im Vorzimmer ihrer Wohnung teleportierte. Falls diese Frau wirklich die Absicht hatte, ihr Wort Nessus gegenüber zu halten, würde sie einen Augenblick Zeit benötigen, die Fassung wiederzugewinnen.

Ebenso wie Nessus auch die seine wiedergewinnen musste. Ohne seine Fassung konnte er wohl kaum damit rechnen, die Dienste eines erstklassigen Astrophysikers in Anspruch zu nehmen.