KAPITEL ZWANZIG

 

 

»Seid ihr euch da sicher?«, rief Omar von der Brücke.

»Ja!«, antworteten Eric und Kirsten einstimmig.

»Zum letzten Mal«, fuhr Kirsten fort, während sie den Inhalt ihres Rucksacks durchwühlte. »Bist du bereit?«

»Wir halten die Position. Die Thruster müssen sich dafür aber ganz schön anstrengen.«

Kirsten spähte durch das Aussichtsfenster des Gemeinschaftsraums. Selbst bei maximaler Vergrößerung war die geheimnisvolle GP-Zelle Mark IV des Instituts nicht zu erkennen. Gewaltig stand NSW 5, die Welt, die sie hier umkreisten, als größte der sechs Welten der Flotte vor ihnen.

Fast unter Maximalschub beschrieb die Explorer einen konzentrischen Halbkreis zu dieser Umlaufbahn. Nur falls irgendjemand sie zufälligerweise mit dem bloßen Auge entdeckte, würde man sie bemerken. Den Leitstellen-Transponder der Explorer hatten sie zum Schweigen gebracht, den Schleichfahrt-Modus aktiviert.

Rein theoretisch sollte jeder Einzelne, der irgendetwas mit der Flotte zu tun hatte, immer noch glauben, die Explorer sei weit von hier entfernt und würde nach wie vor Oceanus untersuchen. Omar übermittelte immer weiter Berichte und rein fiktionale Telemetriedaten an die Hyperwellen-Boje, die sie dort zurückgelassen hatten.

Sind wir hier gerade richtig clever, fragte sich Kirsten, oder sind wir nur sehr, sehr gut darin, uns irgendetwas einzureden? »Wir sind wirklich besser vorbereitet«, sagte Eric. Konnte er ihre Gedanken lesen? Der unausgesprochene Vergleich galt natürlich dieser Expedition, die sie alleine geplant hatte: der Vorstoß zu diesem Institut für Menschenforschung.

Oder besser gesagt: die Kirsten eben nicht anständig geplant hatte. »Vorausgesetzt«, gab sie zurück, »dieses Stepperscheiben-Netzwerk ist wirklich so konfiguriert, wie wir das hier erwarten.«

»Selbst wenn die Bürger nicht von Natur aus so systematisch wären – warum sollten sie an Bord ihrer Schiffe kein Standard-Kennungssystem verwenden? Warum sollten sie Zeit und Energie darauf verschwenden, jedes Mal ein neues zu erfinden?«

Wenn Eric recht hatte, dann entsprach das Kennungssystem auf diesem GP4-Schiff exakt dem des Stepperscheiben-Systems an Bord der Explorer. Also sollten sie an Bord dieses geheimnisvollen Schiffes unbemerkt in einem Lagerraum materialisieren können. Und wenn Eric unrecht hatte? Dann konnten sie überall auftauchen. In der Messe des Schiffs. Auf der Brücke. Kirsten hatte noch nie eine Toilette für Bürger gesehen …

»Leute?«, meldete sich nun wieder Omar zu Wort.

»Wir sind so weit«, bestätigte Eric. Mit einer Hand umklammerte er den Kommunikator, während er die erste Kennung ausprobierte, die zu diesem Subnetzwerk der Lagerräume gehören musste. »Bin noch da. Was meint ihr: Wird es da Schwerkraft geben?« Er versuchte eine zweite Einstellung. Dann eine dritte.

Und er verschwand.

Kirsten ließ ihm zehn Sekunden Zeit. So konnte er notfalls wieder zurückkommen – für den Fall, dass er an irgendeiner unschönen Position gelandet war oder in der Nähe eines möglichen Zeugen. Und falls er nicht zurückkehrte, so hatte er diese zehn Sekunden Zeit, um die Ziel-Stepperscheibe freizumachen. »Omar, drück uns die Daumen.« Kirsten griff nach ihrem Rucksack und trat …

 

… in einen riesenhaften Lagerraum. Sofort stolperte sie auf eine der Wände zu.

Eric fing Kirsten ab und ersparte ihr so einen Sturz. »Ist mir auch passiert«, sagte er. »Nicht gerade eine optimale Geschwindigkeitsanpassung.«

Wie war noch diese Wunderzahl? Zweihundert Fuß pro Sekunde, hatte sie im Kopf. Sie mussten gerade so den Schwellenwert erreicht haben. Wäre der Geschwindigkeitsunterschied etwas größer gewesen, hätte das Stepperscheiben-Paar keinen Transfer zugelassen. Etwas geringer, und die Impulskompensation wäre perfekt gewesen.

Wenn Bürger niemals auf die Idee kamen, man könne wenige Meilen durch einen völlig raubtierfreien Wald zu Fuß gehen, dann kamen sie gewiss niemals auf die Idee, man könne einen Satz über einhunderttausend Meilen zwischen zwei Schiffen machen, die sich mit entsprechend angepasster Geschwindigkeit auf dem gleichen Kurs befanden. »Unter den gegebenen Umständen erscheint mir die Anpassung durchaus präzise.«

Hastig gingen sie die Gänge hinab, bis sie ein Terminal fanden. Eric kniete sich auf den Boden und setzte seinen Rucksack ab. Immer noch trug er die Pastellfarben – und dazu einen Topas-Ring, dessen Gegenstück an Kirstens Hand blitzte. »Schau du dich etwas um, während ich mich hiermit beschäftige. Und halt die Ohren offen. Falls man uns erwischt, werben wir gerade umeinander und sind ganz furchtbar ausgelassen und albern.«

Als würde das erklären, warum sie ein Schiff gestohlen hatten und jetzt unerlaubt durch ein Raumschiff schlichen, das zu den bestgehüteten Geheimnissen der Konkordanz gehörte. Doch Kirsten lächelte nur und schwieg.

Der Plan war sehr einfach: Die Kommunikatoren einer Mannschaft waren tragbar, folglich verfügten alle Schiffe über drahtlose Netzwerke. Also galt es, in irgendeiner abgelegenen Ecke dieses Lagerraums einen Netzwerk-Sniffer zu verstecken. Der sollte sämtliche Kommunikations-Datenpakete aus der Umgebung aufspüren und abspeichern. Außerdem sollte in Sicht- und Hörweite des Terminals auch noch ein Videofon aufgestellt werden.

Bei einem späteren Besuch würden sie die abgespeicherten Daten dann einsammeln. Sämtliche Befehle, die während irgendwelcher Inventuren eingegeben wurden – ob nun über die Tastatur oder verbal –, würden ihnen unverschlüsselte Datenproben liefern, mit denen sie die Verschlüsselung des schiffseigenen Netzwerks knacken konnten. Falls es ihnen gelänge, Login-Sequenzen der Mannschaft abzufangen, wäre das natürlich ein netter Bonus, auch wenn Kirsten Zungenabdruck-Biometrie als Identifizierungsmethodik deutlich wahrscheinlicher erschien.

Während Eric sich an die Arbeit machte, schaute Kirsten sich um, schlich von einer Reihe Tanks und Vorratsbehältern zur nächsten. Als sie die Rohstofflager endlich hinter sich gelassen hatte, drängte sich Kirsten zwischen vollgestopften Regalen hindurch, in denen sie alles Mögliche vorfand, von komplexen Photonik-Komponenten bis zu riesigen Konstruktionsbauteilen. Die mussten entweder zu komplex oder zu groß sein, um rasch synthetisiert werden zu können.

»Eric«, flüsterte sie. Kirsten war sich fast sicher, dass niemand ihre Kommunikatoren hier bemerken würde, aber warum auch nur das kleinste Risiko eingehen? Vor ihrem geistigen Auge sah sie, wie Nessus die Köpfe bewegte: auf/ab, ab/auf – er hieß ihre Vorsicht gut. »Eric. Wie läuft’s?«

»Der Sniffer ist schon versteckt«, gab er flüsternd zurück. »Jetzt arbeite ich an einer Energiezuschaltung. Wäre doch eine Schande, wenn wir nicht zurück an Bord kämen, bevor die Batterien leer sind, oder? Wie sieht’s mit der Zeit aus?«

Kirsten hatte ihr Uhren-Implantat auf den Stoppuhr-Modus umgestellt. »Noch acht Minuten.« Noch acht Minuten, bis Omar erneut eine exakte Geschwindigkeitsanpassung versuchen würde, um ihnen die Rückkehr zu ermöglichen. Danach würde Omar im Abstand von fünf Minuten immer wieder die Kurse der beiden Schiffe angleichen und damit immer in der Nähe der GP4-Zelle bleiben.

Kirsten ging weiter. Sie fand weitere Vorratsbehälter und Bauteile, Komponenten und Versorgungsgüter. Ersatz-Synthesizer.

Notrationen (Gras und Getreide) – für den Fall, dass sämtliche Synthesizer gleichzeitig ausfielen. Aber nichts Informatives. Beim nächsten Blick auf ihr Implantat blieben ihnen noch sechs Minuten. »Eric?«

»Ich habe freie Leitungen für den Sniffer und das Videofon gefunden. Die kann ich über Induktion anzapfen. Ich hab mir Leitungen hinter riesigen Stapeln von Zeug vorgenommen.«

Clever. Auf diese Idee wäre Kirsten nicht gekommen. Ein Induktions-Koppler, den man über eine Stromleitung klemmte, zweigte dort Energie ab, ohne ein einziges Mal den gesamten Stromfluss zu unterbrechen. Wirklich äußerst unauffällig.

Kirsten erreichte eine Sackgasse. »Vier Minuten. Ich komme jetzt wieder zurück.«

Dass alles so höhepunktlos ruhig verlief, steigerte Kirstens Anspannung so weit, dass sie hätte schreien mögen. Wir haben ja überhaupt noch nichts herausgefunden, dachte Kirsten, außer dass wir wirklich an Bord kommen können. Und in wenigen Minuten würden sie wieder an Bord der Explorer zurückgehen.

»Fertig«, meldete Eric.

»Komm zurück!«

Es musste doch irgendetwas hier geben, irgendeinen weiteren Hinweis in dieser langen Kette von Zeichen und Signalen. Einfach nur abzuwarten, bis sie das nächste Mal unbemerkt hierher würden zurückkehren können, und die ganze Zeit nur darauf zu hoffen, irgendwelche entschlüsselbaren Daten zu finden … das war schlichtweg unerträglich.

Drei Minuten. Auf dem gleichen Wege ging Kirsten zurück, passierte Notrationen, Chemikalien, Bauteile …

Sie hetzte an Eric vorbei, lief die Gänge hinab, die sie bislang noch nicht erkundet hatte, und suchte nach etwas sehr Spezifischem – und sehr Einfachem.

In diesem Lagerraum befanden sich Rationen und große Bauteile. Die Überlebensausrüstung würde man nicht ausschließlich über Stepperscheiben erreichen können. Die riesigen Bauteile würden sich auch nicht über die Stepperscheiben befördern lassen, die Eric und Kirsten bislang gesehen hatten – die in der Mitte dieses Lagerraums. Logischerweise musste ein Vorratsraum auch eine gewöhnliche, physische Tür aufweisen – und Kirsten war sich immer noch nicht sicher, bis sie sie sah.

Eine riesige Tür, in die ein großes Fenster eingelassen war.

»Eric«, rief Kirsten. »Komm mal her.«

»Die Zeit ist fast abgelaufen«, widersprach er ihr aus weiter Entfernung; zwischen Kirsten und ihm lagen mehrere Gänge.

»Jetzt, Eric!« Kirsten starrte durch das Fenster, einen breiten Korridor hinab und dann durch eine transparente Innenwand hindurch. Hinter dieser Innenwand gähnte der zentrale Hohlraum dieser riesigen GP4-Zelle.

Und in der Mitte dieses Hohlraums schwebte ein unverkennbar fremdartiges Raumschiff. Ein Ramjet.

Kaum noch lesbare englische Buchstaben auf dem vernarbten, uralten Rumpf verrieten den Namen dieses Schiffes: Long Pass.