KAPITEL ZWÖLF

 

 

Die Tapferkeit der letzten Tage forderte ihren Tribut.

Zusammengekrümmt kauerte Nessus in seinem Wohnraum, seine Stimmung schwankte zwischen Hochgefühl und schierer Panik. Das Zusammentreffen mit Nike hatte ihn zu sehr aufgewühlt, als dass an Schlaf auch nur zu denken gewesen wäre. Die Zeit, die sie gemeinsam verbracht hatten, war alles, was sich Nessus jemals erträumt hatte. Mehr noch! Und doch … Nike war zweifellos zu Größerem bestimmt. Wie konnte ein dahergelaufener Einzelgänger wie Nessus auch nur darauf hoffen, eine Vereinigung mit einem Bürger einzugehen, der sehr wohl der nächste Hinterste sein mochte?

Mit beiden Mündern zupfte sich Nessus an der Mähne; sämtlicher Zierrat, den er für das besondere Ereignis angelegt hatte, war bereits daraus gelöst. Um ganz ehrlich zu sein: Sonderlich geziert war er wahrlich nicht gewesen – nur ein paar wild zusammengeworfene bunte Bänder und einige schiefe Zöpfe. Nikes Frisur hingegen war ein echtes Kunstwerk gewesen! Was sollte Nike denn bloß über ihn denken?

So viel zu seiner prinzipiellen Ablehnung jeglicher Mähnenzier gegenüber!

Dieser Gedanke war Nessus nie zuvor gekommen, aber die Absicht, der nächste Hinterste zu werden und damit bewusst die Verantwortung für die ganze Konkordanz übernehmen zu wollen, erforderte eine ganz eigene Form des Mutes. Die Gefahren, denen man sich dabei würde stellen müssen, waren nicht körperlicher Natur, doch die Pflichten, die mit dieser Aufgabe kamen, waren ohne jeden Zweifel endlos und unüberschaubar. Wie konnte er, Nessus, auch nur darauf hoffen, sich mit einem derartigen Gefährten zu vereinigen? Und doch …

Die Zeit, die sie gemeinsam verbracht hatten, war fantastisch gewesen!

Fünfzig Tänzer, die in immer komplexeren Mustern umeinander wirbelten: Schneller und schneller klapperten die Hufe, bis es zu einem frenetischen Crescendo anschwoll. Danach wurde Nessus in eine Gesellschaft eingeführt, die mehr Zier und Schmuck trug, als er sich das jemals hatte vorstellen können … und dort stand er dann Flanke an Flanke mit einigen der einflussreichsten Personen der ganzen Konkordanz. Reihe um Reihe von Weidetischen, auf denen es ausschließlich frische, echt gewachsene Dinge gab: Körner und Wurzeln und frisch gepresste Säfte, ohne eine Spur der synthetischen Nahrung, von der sich die weitaus meisten Bürger ernährten.

Und all das hatte Nessus zusammen mit Nike erlebt! Das Muskelzittern verriet Nessus unverkennbar, dass er kurz davor stand, wieder in Depressionen zu verfallen – und so lehnte er sich mit aller Macht gegen sämtliche seiner Instinkte auf: Er suchte einen Ort auf, der ihn immer beruhigte.

Auf der Besuchergalerie im Harem-Haus herrschte stets Betrieb.

Angesichts des Lebens, das Nessus derzeit führte, hatte das Harem-Haus etwas äußerst Abstraktes: Nie wusste er, wo genau er sich befand – in welchem der mehr als eintausend Stockwerke, an welchem von einhundert körperlich erfahrbaren Orten. Bis Nessus nicht Teil eines eingetragenen Bündnisses geworden war – und bis diesem Paar nicht eine Lizenz ausgestellt worden war, die sie offiziell zu Gefährten machte –, würde dass Stepperscheiben-System ihn immer wieder zu einem beliebigen, rein nach dem Zufallsprinzip ausgewählten Zuschauerareal befördern. Wie oft Nessus auch hierher zurückkehrte, es war sehr unwahrscheinlich, dass er dieselbe Gefährtinnenherde zweimal zu Gesicht bekäme. Gemäß den gesellschaftlichen Gepflogenheiten geschah das zu Nessus’ eigenem Besten, damit er sich nicht in unziemlicher Weise zu einem einzelnen Weibchen hingezogen fühlte.

Dort, wo eine Bürger-Arcology Wohnräume und Büros beherbergen mochte, eng gepackt wie Bauklötze, sah Nessus hier eine offene, fast natürlich wirkende Landschaft. Weidegras breitete sich vor ihm aus, gelegentlich von Sträuchern und Baumstämmen unterbrochen sowie von Teichen und gurgelnden Bächen. Dank der Digitaltapete entstand der Eindruck, diese wogende Heidelandschaft würde sich bis zum virtuellen Horizont erstrecken. Über einen blauen Holo-Himmel jagten holografische Wolken hinweg. Die Paarungsfelder selbst befanden sich selbstverständlich an einem anderen Ort und waren von hier aus keinesfalls einzusehen.

Nessus drängte sich durch die Bürgermassen, bis er eine schalldichte Sichtwand erreicht hatte, die nur von seiner Seite aus durchsichtig war. Die mitleidigen Blicke der verliebten Pärchen versuchte er zu ignorieren. In diesem Raum waren die Singles eindeutig in der Minderheit, und die meisten von ihnen waren deutlich jünger als Nessus. Eines Tages, dachte Nessus, könnten Nike und ich hier stehen und die Geburt unseres Kindes abwarten. Eines Tages werden Nike und ich hier stehen.

Doch das ablehnende Geflüster schmerzte dennoch. Während früherer Besuche hatte Nessus gelegentlich Lügengeschichten erzählt – sein Gefährte sei noch aufgehalten worden –, und jedes Mal hatte Nessus dabei die Leute, die ihn mitleidig anschauten, ein wenig zu laut angesprochen. Doch jetzt war seine Stimmung einfach viel zu komplex, um sich in derartig sinnlosen Ausflüchten zu ergehen.

»Das da ist unsere Braut.«

Ein neues Pärchen hatte sich zu Nessus’ Linken an die Scheibe gedrängt. Die Liebenden standen Seite an Seite, zwei ihrer Hälse hatten sie verliebt umeinander geschlungen. Gesprochen hatte der Größere der beiden: ein Bürger mit leuchtend blauen Augen und einer üppigen, zwar schlichten, aber doch gepflegten roten Mähne. Sein Gefährte war fast ebenso groß wie er; sein hübsches Fleckenmuster – gelbbraun auf cremeweiß – erinnerte Nessus an einen Panda. Beide trugen Broschen, die vermuten ließen, dass sie sich gerne mit abstrakter Kunst befassten.

Mit dem freien Mund und gerecktem Hals deutete einer der beiden auf ein Rudel von drei Gefährtinnen. Ihre Flanken hoben und senkten sich langsam, während sie am dichten blaugrünen Weidegras knabberten.

»Die mittlere?«, riet Nessus. Sie war die dickste der drei, also war sie wahrscheinlich trächtig. Vorgestellt hatten die beiden sich nicht, aber ›Panda‹ und ›Rotschopf‹ waren als interne Bezeichnungen ja auch voll und ganz ausreichend.

»Genau die«, stimmte Panda zu. »Sie trägt unser Kind.«

»Wohlstand Ihnen und Ihrer Familie«, sagte Nessus. Die traditionelle Erwiderung war gewiss die ungefährlichste.

»Sie sieht kräftig aus, finden Sie nicht?«, fuhr Panda stolz fort.

»Sehr sogar«, bestätigte Nessus. In Wirklichkeit erschienen ihm alle Gefährtinnen arg zerbrechlich. Selbst die Größten unter ihnen waren kaum halb so groß wie ein durchschnittlicher Bürger. Und das war natürlich nicht der einzige Unterschied. Die Körper der Gefährtinnen waren zwar ebenso braunweiß gemustert wie die der Bürger, doch dabei vollständig von Fell bedeckt.

In der Zwischenzeit priesen Panda und Rotschopf den Intellekt ihrer Braut; Nessus’ innere Qualen entgingen den beiden völlig. Nessus fragte sich, ob er ebenfalls jegliche Objektivität einbüßen würde, wenn – sobald! – für ihn die Zeit gekommen war, sich eine Gefährtin zu suchen.

Die Körpergröße war nur der offensichtlichste Unterschied zwischen Bürgern und Gefährtinnen. Fast ebenso augenfällig war die mähnenbedeckte Schädelplatte zwischen den Schultern. Bei Gefährtinnen war dieser Buckel deutlich flacher ausgeprägt – einfach, weil sich unter dieser Schädelplatte ein deutlich kleineres Gehirn befand. Gefährtinnen konnten nicht sprechen, und sie vermochten auch nicht, allzu viel zu erlernen, auch wenn die Intelligentesten unter ihnen – so hatte Nessus zumindest gehört – einige einfache Worte zu verstehen in der Lage waren und in gewisser Weise ihre Ehemänner lieb gewinnen konnten.

Aber das war ja nun doch noch etwas völlig anderes als ›Vernunftbegabtheit‹.

Es hatte Zeiten gegeben, da war Nessus fest davon überzeugt gewesen, das strukturierte, gedankenlose Leben der Weibchen sei als idyllisch einzuschätzen – und das nicht nur wegen des ansonsten unvorstellbaren Luxus, in dieser weidenartigen Landschaft echte, organische Nahrung zu sich nehmen zu können. Wie befreiend musste es doch sein, sich nicht einen Großteil seines Lebens ständig zu fragen, ob man wohl eines Tages als würdig erachtet werden würde, Kinder zu zeugen. Doch Nessus’ Schicksal war nun einmal die übermäßige Selbstbeobachtung, und diesen kleinwüchsigen, gedankenlosen Wesen, die er dort vor sich sah, war ein anderes Schicksal bestimmt …

Schließlich verabschiedeten sich Panda und Rotschopf. Noch eine Zeit lang beobachtete Nessus die Gefährtinnen, bis es ihm selbst zu peinlich und zu schmerzlich wurde, ohne einen Gefährten dort zu stehen.

Und die ganze Zeit über ging Nessus immer wieder diese Möglichkeit durch den Kopf, die ihm bereits in Nikes Büro eingefallen war – und sie nahm immer klarere Züge an.

 

Geistesabwesend schlenderte Nike durch sein Büro. Kundschafter sind ein wertvolles Gut, rief er sich ins Gedächtnis zurück. Sie sind äußerst selten, in jeder Generation lassen sich nur wenige finden. Warum, wenn nicht aufgrund dieser Seltenheit, sollte er – ein Vizeminister! – sich mit den Personalakten eines jeden einzelnen von ihnen befasst haben? Warum hätte er dafür sorgen sollen, einen von ihnen sogar persönlich kennen zu lernen? Jeder Kundschafter war von sich aus völlig abnormal, man musste ihn verhätscheln, bei Laune halten … Diese Kundschafter benötigten jede nur erdenkliche Art geschmackloser Ermutigung. Bei ihren jeweiligen Missionen waren sie ganz auf sich allein gestellt, lebten in völliger Isolation, fernab der Flotte.

Nur ein motivierter Freiwilliger war in der Lage, eine derartige Aufgabe zu erfüllen.

Wie sollte es auch anders sein? ›Zu mehreren ist man sicherer‹ war eine Weisheit, die schon in den Genen der Bürger verankert war, als die ›Vernunftbegabtheit‹ noch in weiter Ferne lag. In der Nähe der Herde lauerten geduldig zahllose Raubtiere, jederzeit bereit, sich auf jeden zu stürzen, der zu jung oder zu alt war, zu schwach oder zu unaufmerksam, um stets Schritt mit der Herde zu halten. Doch wenn niemand nach neuen Weiden Ausschau hielt? Dann konnte die ganze Herde verhungern!

Auf Hearth waren sämtliche Raubtiere schon seit langer Zeit ausgerottet, doch nun drohten andere, noch größere Gefahren. Alien-Rassen, die sich ihrerseits in der Raumfahrt ergingen, umzingelten die Flotte. Vor zahlreichen Generationen war die einst leuchtend gelbe Sonne von Hearth zu einem roten Riesen angeschwollen und hatte so diese geradezu epische Reise des Planeten erforderlich gemacht. Das galaktische Zentrum selbst war in einem Sturm todbringender Strahlung explodiert – einem Sturm von tausenden von Lichtjahren Dicke. Wenn niemand sich vorauswagte, wer sollte dann die Flotte vor neuen Gefahren warnen? Woher sollte die Konkordanz ohne Kundschafter wissen, wohin sie vor der Gefahr fliehen konnte?

Natürlich waren das alles nur vorgeschobene Gründe. Ein gemeinsamer ruhiger Spaziergang am Ufer, das Ballett, die anschließende Privatparty … Nike wusste genau, dass er sich Nessus gegenüber sehr weit vorgewagt hatte. Der Kundschafter mit dem wilden Blick und der zerzausten Mähne war ganz offensichtlich sehr von ihm angetan. Und völlig schamlos hatte Nike diese Verliebtheit ausgenutzt.

Jetzt hingegen schämte sich Nike dafür, auch wenn es natürlich recht spät dafür war – und Nessus hatte sehr drängend darum gebeten, ihn wiedersehen zu können. Nike hatte zugestimmt. Schon bald würde er Nessus bitten müssen, sich auf eine neue Mission zu begeben. Um der Sicherheit aller willen durfte keine andere Spezies jemals Hearth finden.

Was Nessus im vom Menschen besiedelten Weltraum würde tun müssen, war schlichtweg entsetzlich.

Ein Summer unterbrach Nikes düstere Gedanken. »Ja?«

»Herr Vizeminister, Ihr Besuch ist hier«, meldete sein Assistent über das Intercom.

»Führen Sie ihn herein.« Reflexartig strich sich Nike einige nicht ganz perfekt liegende Haare zurecht. Dann erschien sein Assistent auch schon in der Tür; neben ihm stand der Kundschafter. »Bitte, kommen Sie herein.«

Nessus platzte fast vor kaum verhohlenem Enthusiasmus. Zwei unordentlich geflochtene Zöpfe zeigten, dass er durchaus bereit war, sich sozialen Normen zu fügen. Kaum erkennbare Druckstellen ließen erahnen, dass der Kundschafter dort vor Kurzem noch Bänder getragen hatte. »Ich habe eine Antwort!«

Das klang nicht so, als hätte es irgendetwas mit den Gefühlen zu tun, zu denen Nike ihn in derart unangemessener Art und Weise noch ermutigt zu haben fürchtete. »Wie ich Sie beneide! Wie lautete denn die Frage?«, versuchte er Zeit zu gewinnen.

Aufgeregt trat Nessus von einem Vorderbein auf das andere. »Ich rede von einer Lösung für das Problem mit den Wildmenschen. Ich kann sie retten! Das heißt, ich weiß, wie ich sie auf andere Gedanken bringen kann.«

›Sie auf andere Gedanken bringen‹ klang nicht nach einer angemessenen Lösung für das Problem. »Sie können die ARM davon abhalten, uns zu finden?«

»Ja, ja!« Bekräftigend nickte Nessus wechselseitig mit beiden Köpfen. »Ich war im Harem-Haus und …«

Hatte Nikes Ermutigung Nessus schon so weit getrieben? Das alles wurde Nike peinlicher und peinlicher. Schlimmer noch: Dieser Kundschafter hier war nicht der Einzige, der sich wegen der Zeit, die sie miteinander verbracht hatten, ein wenig verändert hatte … Nike selbst verspürte plötzlich ein sonderbares Mitgefühl.

Wir Bürger, dachte er, selbst die inbrünstigsten Experimentalisten, sind doch ein äußerst konformistischer Haufen. Wie es wohl war, mit Neugier und Risikofreude aufzuwachsen? Irgendwie hatte es Nessus erlernt, sich zu fragen, was wohl hinter dem nächsten Hügel liegen mochte … und dann – was noch verwunderlicher war! – auch dorthin zu gehen, um nachzuschauen, und das gezwungenermaßen auch noch alleine. Laut seiner Personalakte hatte sich Nessus schon lange von seinen Eltern entfremdet.

»… Schlüssel zu allem ist, das Fruchtbarkeits-Komitee zu diskreditieren.«

Eine hochentwickelte Zivilisation, die aus nur wenigen Milliarden Wesen bestehen sollte, überstieg schlichtweg Nikes Vorstellungskraft. Dennoch hatten die Vereinten Nationen der Menschen bereits ein System zur strengen Geburtenkontrolle eingeführt. »Sie schlagen vor, einen Skandal zu inszenieren, um die Menschen von ihrer Suche nach der Konkordanz abzulenken.«

Nessus wandte seinem Gegenüber beide Köpfe zu und starrte ihn an. »Stellen Sie sich doch nur einmal vor, es kämen Gerüchte auf, einige Bürger würden sich Bräute und das Recht, sich fortzupflanzen, auf eine wie auch immer geartete Weise erkaufen. Wie würden wir alle wohl darauf reagieren?« Nikes Entsetzen musste ihm deutlich anzusehen sein, denn fast ohne Pause setzte Nessus hinzu: »Ganz genau.«

So abwegig es scheinen mochte – es ergab durchaus Sinn. Nur die Überzeugung, bei den Fortpflanzungsbeschränkungen gehe es gerecht zu, machten diese Beschränkungen überhaupt erträglich. Würde Zweifel an der Gerechtigkeit dieses Systems aufkommen, so würde das selbst auf Hearth zu Unruhe und Streit führen. Wie wohl die Wildmenschen darauf reagierten? Mit gewaltigen Unruhen, vermutete Nike. Möglicherweise sogar mit Gewalt. Und das mochte sehr wohl dazu führen, dass die Sicherheitskräfte der Menschen sich nicht mehr um diese rein spekulative Suche nach der Heimatwelt der Puppenspieler würden kümmern können. »Lässt sich das denn bewerkstelligen?«

»Ich denke ja – vorausgesetzt, wir können auf hinreichend große Ressourcen zurückgreifen«, antwortete Nessus. »Ich habe mir gedacht, unsere Agenten könnten einige Mitglieder des Fruchtbarkeits-Komitees bestechen und andere kompromittieren, indem sie in deren Namen Bankkonten eröffnen. Die Wirtschaft der Menschenwelten muss sich erst noch davon erholen, dass General Products so einfach verschwunden ist. Je mehr die Menschen an Reichtum eingebüßt haben, desto schneller werden sie argwöhnen, es mit einer Verschwörung zu tun zu haben. Viele werden glauben, die Reichen würden sich Geburtsrechte erkaufen. Einige gezielte Andeutungen hier, ein paar heimliche Zuwendungen an politische Opportunisten dort …«

Es war ihrer Kommunikation nicht gerade zuträglich, dass Nessus immer wieder in diese Sprache der Wildmenschen verfiel – wie hieß die noch? Interspeak? –, wann immer ihm in ihrer gemeinsamen Sprache Begriffe fehlten. Nach mehreren dieser sprachlichen Ausreißer kam Nike endlich eine Erkenntnis: Einen Großteil seines Lebens hatte Nessus nur mit Menschen sprechen können! Selbst nach seiner Rückkehr zu Flotte – nachdem die Explosion des galaktischen Zentrums bekannt geworden war – hatte er sich hauptsächlich in der Nähe anderer Menschen aufgehalten: eben der Kolonisten.

Langsam, nach vielen Fragen und ausgiebigen Diskussionen über die Verhaltensweise der Wildmenschen, entwickelte sich auch vor Nikes geistigem Auge ein Plan – wenngleich nur sehr grob. »Sind die derzeit noch zurückgehaltenen Einkünfte der General Products Corporation dieser Aufgabe angemessen?«

»Falls dieses Vorgehen erfolgreich ist, wird Geld nicht das Problem sein.«

Falls? Nessus, der vor Gewissheit geradezu übergesprudelt war, als er Nikes Büro betreten hatte, sackte regelrecht in sich zusammen. Nike sah, dass er dem Kundschafter gegenüber zu hart aufgetreten war. »Ich bin sehr zuversichtlich, aber natürlich bleiben noch zahlreiche Details zu erarbeiten. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie diesem Vorgehen Ihre höchste Priorität einräumen würden. Bitte kommen Sie bald wieder, um mich über das Voranschreiten auf dem Laufenden zu halten.«

Während seiner ausführlichen, sturzbachartigen Erläuterungen vorhin hatte Nessus eine sonderbare Redewendung verwendet: ›chirurgischer Schlag‹. Ganz offensichtlich bezog sich diese sonderbare Formulierung auf primitive Behandlungsmethoden und auf Kriegsführung gleichermaßen. Gemeint sein musste die Anwendung von Gewalt, und das genau dort, wo sie maximale Wirkung entfaltete. Nike hatte diese Metapher nur im weitesten Sinne erfasst, doch das reichte bereits aus. Falls Nessus’ Trick tatsächlich funktionierte, so müsste man den von Menschen besiedelten Welten gar keine getarnten Objekte mit relativistischer Geschwindigkeit mehr entgegenschleudern. Millionen von Toten – selbst unter Aliens, und selbst zur Verteidigung der Konkordanz – sollten immer nur der letztmögliche Ausweg sein.

Und Wildmenschen hatten sich bereits als durchaus hilfreich erwiesen, wenn sie – ohne ihr eigenes Wissen – gegen andere potenzielle Gegner der Flotte eingesetzt wurden. Als Nike an die Kzinti zurückdachte, eine äußerst aggressive Karnivoren-Spezies, die mehrmals Angriffe gegen die Wildmenschen vorgetragen hatte – und jedes Mal zurückgeschlagen worden war –, erschauderte er beinahe. Sollte die Flotte jemals geortet werden, wäre es durchaus möglich, dass derartige relativistische Bomben auf die bewohnten Welten der Bürger selbst herabregneten.

Die entsetzlichen Folgen waren nur zu leicht vorstellbar: kriegerische Handlungen der ARM nach der Entdeckung der Kolonie auf NSW 4. Überlebende Angehörige der ARM, die nach einem Präventivschlag umso erboster wären. Und was, wenn die Flotte durch Kzinti entdeckt würde – durch Kzinti, die nicht mehr länger durch die Menschen im Zaum gehalten würden? Kzinti, die noch aggressiver wären, wenn sie erst einmal vom Schicksal der Menschen erfahren hätten? Jegliche dieser Möglichkeiten war schlichtweg undenkbar.

Das Undenkbare zu denken gehörte genau zu den Aufgaben, die Nike zufielen. Innerlich wappnete er sich. Jegliche Hoffnung darauf, ein akzeptables Ergebnis zu erzielen, hing jetzt ganz von diesem Einzelgänger ab, der hier zitternd vor ihm stand.

Die Bürotür war immer noch geschlossen. Mit einem Pflichtgefühl, das noch stärker war als seine Scham, beugte sich Nike ein wenig vor und streichelte Nessus zärtlich über die zerzauste Mähne. »Kommen Sie bald zurück. Ich verlasse mich auf Sie.«

 

Irgendeiner von Nikes Mitarbeitern führte Nessus zu einer Isolationskabine. Nessus kannte den Weg hinaus schon von seinem letzten Besuch, doch diese Besprechung hier hatte ihn zu sehr erschöpft, um Einwände erheben zu können. Immer noch spürte er Nikes zärtliche Berührung an seiner Mähne. Gewisse Worte mussten noch ausgesprochen werden, doch manche Taten sprachen für sich selbst.

Der schweigsame Mitarbeiter hatte sich nicht vorgestellt – was nicht weiter verwunderlich war, denn die langen smaragdgrünen Perlenschnüre, die er in seine Zöpfe eingeflochten halte, wiesen ihn eindeutig als ranghohen Konservativen aus. Dieser Bürokrat war zweifellos ebenso ein Stabsmitarbeiter wie ein Beobachter aus den Reihen der gegnerischen Partei.

Nessus hatte sich in eine manische Phase hineingesteigert. Wie sonst hätte er das Selbstbewusstsein finden sollen, jemandem Ratschläge zu erteilen, der so weit in den hinteren Reihen stand wie Nike? Doch es war unmöglich, unbegrenzt lange derart aufgewühlt zu bleiben. Depression und panikartiges Fluchtverhalten ließen sich nicht lange aufschieben.

Nessus trat aus der Isolationskabine heraus und steuerte einen nahe gelegenen öffentlichen Nexus an, und von dort ließ er sich in einem einzigen Satz zu einem seiner Lieblingstäler in einem kleinen Park befördern. Federartige purpurne Hecken umgaben ihn. Über ihm flatterten Keimträger mit bunten Flügeln. Einige Bürger wichen hastig vor Nessus zurück, als sie seinen wilden, gehetzten Blick sahen.

Nessus’ Zittern wurde immer schlimmer. Er hatte viel versprochen und noch viel mehr angedeutet. Zumindest hatten ihm diese Worte Nikes Respekt eingebracht. Nun musste er bald zu Nike zurückkehren und ihm eine Lösung für jedes nur erdenkliche Folgeproblem vorlegen.

Für Nike würde Nessus seinen Kolonisten-Kundschaftern das Selbstvertrauen einflößen, das sie benötigten, um die vor der Flotte liegende Strecke auch ohne ihn zu erkunden. Für Nike würde er freiwillig im Vom Menschen Besiedelten Weltraum bleiben, solange das erforderlich wäre – solange es notwendig wäre, um die Menschen zu unterwandern und dafür zu sorgen, dass sie sich heillos zerstritten.

Die Aufgabe, die vor Nessus lag, würde ihm mehr abverlangen und ihn mehr überfordern als alles, woran er sich jemals versucht hatte. Das Zittern seiner Gliedmaßen wurde schlimmer und schlimmer; schon bald würden die Versagensängste seine Fähigkeit zur Selbstbeherrschung übersteigen. Ein letzter Stepperscheiben-Schritt brachte Nessus zurück zu dem kuscheligen Zufluchtsort, den seine Wohnung schon immer für ihn dargestellt hatte. Dann ergab er sich in das Entsetzen und krampfte sich zu einer so kleinen Kugel zusammen, dass er kaum atmen konnte.

Und doch zweifelte Nessus nicht einen Augenblick daran, dass er diese Aufgabe übernehmen würde. Die Sicherheit der Flotte stand auf dem Spiel.

Nike zu enttäuschen – und ihn auf diese Weise zu verlieren – war schlichtweg undenkbar.