1
Der Sommer, von dem ich erzählen will, mit allem, was davor war und danach, liegt jetzt zehn Jahre zurück, und auch wenn ich vieles davon vergessen geglaubt habe, kann ich meiner Erinnerung trauen. Ich bin dann lange nicht mehr draußen gewesen bei dem Haus am Fluss, das ich so sehr mit Daniel und den paar Wochen damals verbinde, als hätte es eine Welt außerhalb gar nicht gegeben. Es ist mein Haus, aber allein es so zu nennen kommt natürlich einer Beschönigung gleich. In Wirklichkeit handelt es sich um die Überreste einer alten Mühle, seit Generationen im Besitz eines anderen Familienzweigs, eine Ruine, mehr war es nicht, die ich in einem Anflug von Sentimentalität erstanden habe, weil sie über Nacht zu haben war und sonst versteigert worden wäre. Auch wenn ich den Kredit heute noch abzahle, war sie mit dem Grundstück drum herum fast geschenkt, wie man so sagt, nur ein paar Quadratmeter, aber weitab von jedem Bauland, weitab von der Stadt und weit genug auch von dem Dorf ein Stück flussaufwärts, das mit seiner Neubausiedlung zwar längst in die Au vorgedrungen ist, aber trotzdem zu einer anderen Sphäre gehört, auf einem anderen Kontinent, wenn man an einem Sommertag auf der Veranda sitzt, seine Gedanken schweifen lässt und sich vorstellt, ein Dampfer würde sich mühsam stampfend die Strömung heraufarbeiten, an der Biegung weiter drunten ins Blickfeld kommen und mit seinen von der Reling winkenden Passagieren wie ein Geisterschiff an einem vorbeiziehen.
Ich dachte, dass ich das Gebäude nie nützen würde oder gar so weit instand setzen, dass es wenn schon nicht bewohnbar wäre, so immerhin ein festes Dach über dem Kopf bieten würde, und es widerstrebte mir, etwas zu kaufen, nur um es zu besitzen, aber die Vorstellung, es könnte in fremde Hände gelangen, brachte mich dann doch dazu, die Mühle zu erwerben. Ich wollte sie haben, und als Begründung fiel mir gerade noch ein »um die Dinge zusammenzuhalten«, aber wenn ich nachdachte, was sich hinter »die Dinge« verbarg, wurde es schon schwieriger, und klar schien einzig und allein, dass es alles mögliche sein konnte, nur eben nicht Dinge. Zu dem Ort hatte ich kaum Erinnerungen, außer der einen, dass ich als Kind einmal dabeigewesen war, als das Heu eingebracht wurde, und ich dann mit meinen Cousins und Cousinen auf dem von einer Kuh gezogenen Heuwagen im Fuder saß und stolz über die weit unter mir träge vorbeiruckelnden Felder schaute. Darüber hinaus war es wenig genug, was ich mit ihm verband, und doch ist das die Gegend, aus der meine Leute mütterlicherseits stammen. Vom Haus ist es nur ein längerer Spaziergang bis zu der Stelle, an der mein Großvater noch vor meiner Geburt, von einem Motorrad erfasst, zu Tode kam, weiter unten am Fluss, durch die Schlucht bei Niedrigwasser erreichbar, befindet sich die Höhle, in der Robert, mein Bruder, seinem Leben ein Ende gesetzt hat, und obwohl niemand genau weiß, wo es gewesen sein mag, muss irgendwo hier mein Onkel ins Wasser gegangen sein. Wenn ich den kleinen, bewaldeten Abhang hinter dem Haus hochstieg, konnte ich die Wiesen sehen, die auch meiner Familie gehört hatten und in denen im vorletzten Kriegsjahr ein in Brand geschossener amerikanischer Bomber notgelandet war, und ich hatte augenblicklich wieder die Geschichte im Kopf, wie meine Mutter sie mir erzählt hat. Sie war damals, acht Jahre alt, mit den anderen Schulkindern bis zu der Stelle gelaufen, an der das Flugzeug schließlich niedergegangen war. Die ganze Klasse hatte es brennend um den freistehenden Berg im Osten kreisen sehen, der ein natürlicher Orientierungspunkt ist, und war von der Lehrerin nicht mehr zu halten gewesen und hinausgestürmt, während es mit dröhnenden Motoren knapp über dem Boden hereinschwebte. Ich habe ein klares Bild von meiner Mutter als Mädchen, obwohl es kaum Fotos von ihr aus der Zeit gibt und ich erst seit ihrem Tod die Obsession entwickelt habe, sie auch auf nur im entferntesten in Frage kommenden Bilddokumenten aus den dreißiger und vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zu suchen. Das Merkwürdige daran ist, dass ich mich dann immer als Gleichaltrigen sehe, immer als kleinen Jungen, der im Sommer 1944 an ihrer Seite war, vielleicht sogar unwillkürlich ihre Hand ergriffen und sie mit sich gezogen hat, Hals über Kopf hinter den anderen her.
Seit der letzte Abschnitt der Autobahn fertiggestellt ist, fahre ich manchmal hinaus zu der Raststätte, die ziemlich genau dort errichtet wurde, wo das Flugzeug bei seiner Notlandung zum Stillstand gekommen war. Die Trasse verschwindet unmittelbar dahinter im Berg, so dass das Dorf vom Verkehrslärm verschont bleibt, und man kann endlos zuschauen, wie der Tunnel gleich einem riesigen Schlund Auto um Auto verschluckt. Ich trinke an der Bar ein Bier oder auch zwei und mache mich dann auf nach Hause, eine Fahrt von kaum einer Viertelstunde, die sich nur schwer ausdehnen lässt, weshalb ich jedesmal mit dem Gedanken spiele, ich könnte ein Zimmer in dem Motel nehmen und über Nacht bleiben. Ich bin schon so weit gegangen, mir einen Grund zurechtzulegen, wenn ich gefragt würde, warum, aber auf dem Weg zur Rezeption hat mich noch immer der Mut verlassen. Fast alle, die auf dem Gelände arbeiten, sind aus dem Dorf, die meisten so jung, dass sie kaum wissen, wer ich bin, aber weil ich nicht auffallen will, sehe ich mich vor. In der einen Woche wähle ich den Montag für meinen Besuch, in der nächsten den Donnerstag, einmal vor, einmal nach dem Schichtwechsel am Abend, so dass mit einiger Wahrscheinlichkeit dieselben Leute mich nicht allzu oft zu Gesicht bekommen. Bis zu der Stelle, wo ich das Auto stehenlasse, wenn ich zu meinem Haus will, sind es von der Raststätte knapp zwei Kilometer, und ich müsste nicht einmal zurück auf die Autobahn, es gibt einen eigenen Weg, aber unter normalen Umständen käme ich in Monaten vielleicht einmal auf die Idee, vorbeizuschauen und nach dem Rechten zu sehen oder eine halbe Stunde vor der Tür zu sitzen und auf den Fluss hinauszublicken.
Damit will ich sagen, ich hätte mich wohl die längste Zeit nicht mit diesen Dingen beschäftigt, wäre ich nicht auf den Gedanken verfallen, ich sei in der Zeitung auf Daniels Bild gestoßen. Ich war wie jeden Dienstag und jeden Freitag während des Schuljahres ins Bruckner zum Abendessen gegangen und hatte gegen meine Gewohnheit die dort ausliegenden Blätter überflogen, und ich bin sicher, dass nur meine Beiläufigkeit mich überhaupt erst darauf brachte, er könnte es sein. Es wird Untersuchungen geben, die dieses Erkennen des flüchtigen Blicks erklären, und es muss mich nicht kümmern, dass ich bei genauerem Hinsehen nicht zu sagen vermocht hätte, wieso ich davon überzeugt war. Ich könnte mir etwas zusammenreimen, eine bestimmte Neigung des Halses, etwas in den Augen, den leicht geöffneten Mund, aber die Wahrheit ist, dass ich es nicht weiß. Es war ein grobkörniges Foto, aufgenommen wahrscheinlich von einer Überwachungskamera, sein Kopf in einer Menschenmenge hervorgehoben, indem er eingekreist und heller grundiert war. Dazu kam, dass er unrasiert wirkte und die Kapuze seines Sweatshirts übergezogen hatte, als wollte er sich unkenntlich machen, was sich bei Nachforschung womöglich sogar als einer der Gründe herausstellen würde, warum er von allem Anfang an in den Fokus geraten war.
Es war erst drei Tage her, dass es auf dem Bahnhof eine Bombendrohung gegeben hatte, und der Abgebildete, hieß es, werde im Zusammenhang damit gesucht. Die Aufregung in der Stadt hatte sich schon wieder gelegt, und ich konnte mich nicht genug wundern, wie schnell das bei uns ging. Ein paar Stunden, in denen sich ein Gefühl des Ausnahmezustands breitgemacht hatte, ein kurzes Aufflackern nach den ersten Nachrichten in der Zeitung, bevor von neuem die alte Lethargie eingekehrt war, wonach die Dinge, ob gute oder schlechte, nicht hier passierten, sondern anderswo, und ich starrte jetzt mit einer anhaltenden Empfindung von Unwirklichkeit auf das Bild. Er war es, sagte ich mir und hätte im nächsten Moment schwören können, dass ich mich täuschte. Das Gebäude mit den Schaltern und dem Warteraum war stundenlang abgesperrt gewesen, der Zugverkehr lahmgelegt, nachdem ein anonymer Anruf eingegangen war und man gleich danach auf einer der Toiletten eine Tasche entdeckt hatte, in der sich dann allerdings nur eine verbeulte Autobatterie mit einem Wirrwarr von Kabelwerk fand, bedrohlicher aussehend, als sie in Wirklichkeit war. Daneben lag ein Zettel mit den in Buchstaben unterschiedlichster Größe zusammengeklebten Zeilen »Kehret um!«, »Erste und letzte Warnung!« und »Beim nächsten Mal wird es ernst!«, gefolgt von einem unentzifferbaren Gekrakel, das wohl der Ersatz für eine Unterschrift sein sollte.
Ich wartete, bis Agata an meinem Tisch vorbeikam, und bat sie, einen Blick auf das Foto zu werfen, weil ich dachte, sie würde meinem Verdacht am ehesten noch folgen können. Immerhin hatte sie bereits im Bruckner gearbeitet, ihre erste oder zweite Saison im Café, als Daniel in seinem letzten Schuljahr an jedem Wochenende dorthin gegangen war, um Karten zu spielen. Sie stellte das Tablett mit den leeren Gläsern, das sie in der Hand hatte, auf den Nebentisch und setzte sich mit aufgestützten Ellbogen mir gegenüber. Ihr Chef mag es nicht, wenn sie allzu sehr fraternisiert, und für das Privileg, dass sie bei mir immer eine Ausnahme machte, akzeptierte ich, dass sie mich manchmal behandelte wie ein Kind. Daher erwartete ich, sie würde das auch jetzt wieder tun, und verhielt mich still, während sie nach der Zeitung griff. Ich brauchte gar nicht hinzuschauen, um mir den Gesichtsausdruck vorstellen zu können, mit dem sie mich gleich danach über den Rand hinweg ansah, die Mischung aus Spott und Gereiztheit, die es ihr ermöglichte, noch dem offensichtlichsten Aufschneider eine Zeitlang in sein Paralleluniversum zu folgen, ehe sie gerufen wurde oder selber befand, es reiche. Sie stammte aus einem kleinen Dorf in Ungarn, direkt hinter der burgenländischen Grenze, und bezog einen paradoxen Stolz daraus, durch diese Tatsache auf alles, was ihr im Leben widerfahren würde, so gründlich vorbereitet zu sein, dass es keine Überraschungen für sie gab. Also nahm sie von ihren Stammgästen die größten Merkwürdigkeiten hin, und vielleicht wäre es mit der Klientel von alleinstehenden Männern, die sich Abend für Abend an der Theke einfand, auch nicht anders gegangen, als dass sie zuhörte, bis sie einen auf diese Weise zu mustern begann. Es war eine wortlose Aufforderung, sich zu beherrschen, wenn einer endgültig ein Bier zuviel bestellt hatte und ausfällig zu werden drohte oder wenn er ihr mit seinen Sprüchen auf die Nerven ging oder gar zum wiederholten Mal die Geschichte seiner gescheiterten Ehe erzählte, zusammen mit der Präsentation einiger zerknitterter Schnappschüsse aus glücklicheren Tagen und der Versicherung, wie prächtig die Kinder sich machten. Sie hatte diese zerstreute Art, eine Zigarette aus der Packung zu ziehen und anzuzünden, die gleichzeitig Ausdruck äußerster Konzentriertheit war, und ich schaute ihr einmal mehr zu, wie sie das mit einer Hand bewerkstelligte und nach dem ersten Zug von neuem auf das Bild starrte.
»Du willst doch nicht im Ernst von mir wissen, wer das ist«, sagte sie und kniff scherzhaft die Augen zusammen, wobei über ihrer Nasenwurzel eine senkrechte Falte entstand, auf die sie den Daumen legte, wie um sie zu glätten. »Bei der Qualität der Aufnahme würde ich nicht einmal meinen eigenen Bruder erkennen.«
Sie unterdrückte ein Gähnen, als ich sie fragte, ob ich ihr einen Tip geben solle. Dann nickte sie, und als ich zögerte, wollte sie schon aufstehen und gehen. Im selben Augenblick sah ich einen Anflug von Staunen und Erschrecken in ihrem Gesicht, und ich wusste, sie hatte begriffen.
»Das glaubst du doch selbst nicht.«
Es war klar, dass sie den Namen aus schierem Aberglauben nicht in den Mund nehmen würde, und ich gab ihr Zeit, sich an die Überraschung zu gewöhnen, während ich mich erinnerte, wie sehr sie Daniel mochte, wie ihr bei der Arbeit im Café noch im größten Trubel aufgefallen war, wenn er hereinkam, oder wie sie sich manchmal nach der Sperrstunde zu den Kartenspielern setzte und sie die letzte Runde in Ruhe fertig spielen ließ, nur um in seiner Nähe zu sein. Er musste gar nichts weiter tun, um ihr den Kopf zu verdrehen, und sie war beileibe nicht die einzige gewesen, die auf ihn aufmerksam wurde. Ich hatte zweimal bei ihr geschlafen und jeweils die halbe Nacht damit zugebracht, über ihn zu sprechen, was mir damals noch als ganz normal erschienen war, jetzt aber nicht nur angesichts ihrer Abwehr wie ein einziger Exzess vorkam.
»Wenn du mich fragst, du siehst Gespenster«, sagte sie, nachdem sie sich umgeschaut hatte, als befürchtete sie, jemand könnte uns zuhören. »Vielleicht solltest du mehr unter Leute gehen.«
Das war ihre übliche Empfehlung, wenn ihr eine Situation unbehaglich wurde, wenn sie Distanz suchte oder Überlegenheit signalisieren wollte. Aber allein daran, dass sich ihr Akzent bemerkbar machte, der sonst keinem mehr auffiel, erkannte ich, wie aufgeregt sie war. Etwas an dem Gespräch ging ihr gegen den Strich, und sie bemühte sich nicht, das zu verbergen.
»Wann war er eigentlich zum letzten Mal hier?«
»Weiß ich nicht«, sagte ich, wenngleich ich es ganz genau wusste, und schaute an ihr vorbei auf den großen Abreißkalender neben der Theke, der einen Sonntag im April anzeigte, aber natürlich wieder einmal um ein paar Tage hintan war, weil niemand sich die Mühe machte, jeden Morgen das Blatt vom Vortag abzureißen. »Es ist auf jeden Fall schon einige Zeit her.«
»Wenn ich mich nicht täusche, müssen es knapp zwei Jahre sein«, sagte sie. »War es nicht bei der Hochzeit von Judith?«
Als ich nicht antwortete, lachte sie.
»Ich weiß, du willst nicht darüber sprechen, aber ich habe nun einmal meine Freude daran, ihn mir dabei vorzustellen.«
Sie nannte es ein schauriges Ereignis, und ich nahm das hin, obwohl ich kaum an mich zu halten vermochte, ihr nicht den Mund zu verbieten.
»Er hätte sogar Trauzeuge sein sollen und ist erst im letzten Moment abgesprungen«, sagte sie dann. »Zur Feier ist er aber trotzdem gekommen.«
Die alte Geschichte beschäftigte sie immer noch. Wir hatten uns schon oft darüber unterhalten, und es kam für mich nicht überraschend, dass sie sofort wieder darauf ansprang. Dabei spielte es auch keine Rolle, ob ich ihr widersprach oder zustimmte, es endete unweigerlich in ihrem Lamentieren.
»Trauzeuge bei der Hochzeit der Frau, für die er sich so lange zum Narren gemacht hat. Allein die Vorstellung ist geschmacklos. Die ganze Stadt hat gesehen, dass er ihr nachgelaufen ist wie ein aufgeregtes Hündchen. Bei allem Verständnis für seine Spinnereien, das muss mir einmal jemand erklären. Er hat so etwas doch gar nicht nötig gehabt. Mein Gott, ein Glückskind wie er. Wenn er nur ein bisschen geschickter gewesen wäre, hätte er an jedem Finger drei Verehrerinnen haben können.«
Darauf wusste ich wieder nichts zu erwidern, und ich sagte auch nichts von dem kurzen Besuch, den er mir vor knapp sechs Monaten abgestattet hatte, unserer tatsächlich letzten Begegnung. Es war in den ersten Novembertagen, Abend schon, draußen bereits dunkel, und er stand unangekündigt vor der Tür, wollte sich zuerst nicht überreden lassen hereinzukommen und blieb über Nacht. Das überraschte mich nicht, war er doch in den Jahren nach seiner Schulzeit immer wieder einfach so bei mir aufgetaucht, anfangs noch häufiger, dann seltener, und auch seine Bitte, ihm Geld zu leihen und keine Fragen zu stellen, strapazierte unser Verhältnis nicht weiter. Ich wollte wissen, wieviel, und als er sagte, alles, was ich dahätte, sah ich ihn zwar erstaunt an, ging dann aber ins Schlafzimmer und holte es. Es war keine große, aber auch keine ganz kleine Summe, zweieinhalbtausend Euro, die ich neben meinem als gestohlen gemeldeten Pass nachlässig unter ein paar Hemden verwahrte, um vor mir die romantische Vorstellung aufrechtzuerhalten, jederzeit verschwinden zu können, und er nahm die Scheine, lauter Hunderter, faltete sie mit einem ausweichenden Blick und steckte sie in die Hosentasche. Er hatte sich schon einmal einen Betrag bei mir geborgt und ihn zurückgezahlt, ohne etwas zu erklären und ohne dass ich ihn daran erinnern musste. Deshalb kam ich auch jetzt nicht auf die Idee, er sei vielleicht in Schwierigkeiten, und als wir uns später am Küchentisch gegenübersaßen, irritierte mich höchstens die Tatsache, dass er nach meinem Haus fragte und ob ich noch manchmal an den Fluss hinausführe. Er war in einer Gesprächspause darauf gekommen, aus einer Verlegenheit, die ihn plötzlich befallen hatte, und ich wurde das Gefühl nicht los, er tue es nur meinetwegen, er liefere mir ein genau bemessenes Quantum Sentimentalität für mein Entgegenkommen. Es hörte sich wie Trost an, ohne dass ich hätte sagen können, wofür, es sei denn dafür, dass die Zeit verging und ich immer noch nicht weiter war als sein ehemaliger Lehrer, während er sich auf und davon gemacht hatte.
Dass ich das Agata verschwiegen hatte und auch jetzt noch verschwieg, war ungewöhnlich, weil ich sie sonst brav über Daniel auf dem laufenden hielt. Dafür sorgte sie, indem sie regelmäßig fragte, ob ich etwas von ihm gehört hätte, und genau bedacht war er in all den Jahren zu einer Konstante in unseren Gesprächen geworden, wenn ich ins Bruckner kam und sie sich zu mir setzte und sich mit einem verträumten »Wo Daniel jetzt wohl ist?« oder einem fahrigen »Was Daniel jetzt wohl macht?« nach ihm erkundigte. Sie war neugierig, aber es war ihr nicht verborgen geblieben, dass mich das auch beschäftigte, und also gerieten wir ins Spekulieren, als er sich nicht mehr so oft blicken ließ wie in den ersten Monaten nach der Matura. Wir wunderten uns, ob er noch in Bosnien sei, wo er nach Abbruch seines Studiums hingegangen war, um beim Wiederaufbau eines im Krieg zerstörten Dorfes mitzuhelfen, ob es stimme, dass er sich auf einem Frachtschiff verdingt hatte, oder ob er wirklich bei der jährlichen Verlosung zu einer Greencard gekommen sei und sein Glück in Amerika versuche, und als eine der letzten Möglichkeiten blieb immer Israel, weil er bereits in seiner Schulzeit einmal dort gewesen war und seither davon schwärmte. Dann wieder hieß es, er sei in einem Dorf zwanzig Kilometer flussabwärts als Handlanger auf einem Bau gesehen worden, er jobbe von Dezember bis März oder April in einem der Täler als Skilehrer und schlage sich die restlichen Monate irgendwie durch, fahre Lastwagen für eine Spedition, überstelle Neuwagen von Deutschland in die Türkei oder gar in den Iran oder den Irak oder lebe von der Hand in den Mund, wenn er nichts anderes bekomme oder keine Lust habe zu arbeiten.
Agata gegenüber hatte ich ihn nicht nur einmal meinen besten Schüler genannt, und das sagte ich auch jetzt wieder. Ich glaube, »der vielversprechendste« war das Wort, das ich verwendete, und ich fügte hinzu »der klügste, der begabteste« und ärgerte mich im selben Augenblick über meine Nostalgie. Ich hatte mir nicht überlegt, welchen Verlauf das Gespräch nehmen würde, wenn ich nicht achtgab, aber als ich sah, wie sie sofort aufmerkte, war mir klar, dass ich es mit einem Satz in die Richtung gelenkt hatte, die mir am wenigsten behagte.
»Du bist mir ein schöner Kindskopf, Anton«, sagte sie lachend, obwohl die Schwere in ihrer Stimme nicht zu überhören war. »Wenn du so weitermachst, trauerst du ihm noch in der Rente nach.«
Außer ihr gab es unter meinen Bekannten niemanden, der mich mit meinem Namen ansprach, und ich hätte ihn auch sonst von keinem hören wollen. Bei ihr war es etwas anderes, war es nicht Ermahnung, nicht Festschreibung, gefälligst der zu sein, der ich immer schon gewesen war, sondern Staunen darüber, was wohl noch alles von mir kommen würde, und das schwang auch jetzt mit. Ich sah, wie sie ihre Zunge von einem Mundwinkel zum anderen gleiten ließ, und während ich überlegte, wie ich mich am besten herauswinden könnte, machte sie ein spitzes Geräusch zwischen den Zähnen und räusperte sich.
»Ein Lehrer, der nicht von seinem Schüler loskommt.«
»Da redet die Richtige«, sagte ich. »Was ist mit dir?«
Ihre Anhänglichkeit hatte ich nie ganz verstanden. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie in den Monaten, in denen Daniel regelmäßig ins Bruckner gegangen war, öfter als ein paar Mal auch nur wenige Worte mit ihm gewechselt hatte, und in den Jahren danach dürfte sie ihn nicht allzu oft gesehen haben. Fragen wollte ich sie nicht, aber ich brachte meine Verwunderung über ihre Beharrlichkeit zum Ausdruck.
»Wo Daniel jetzt wohl ist? Erinnere dich, Agata. Du hast mich nicht hundertmal, du hast mich tausendmal gefragt. Was Daniel jetzt wohl macht?«
Dabei bereute ich, sie überhaupt angesprochen zu haben. Ich schaute ihr zu, wie sie in der Pause, die dann entstand, noch einmal die Zeitung in die Hand nahm und so tat, als würde sie das Bild genauer studieren. Etwas Hartes war in ihr Gesicht getreten, und als sie sich wieder an mich wandte, schwang das auch in ihrer Stimme mit.
»Es ist seltsam genug, dass wir uns alle von ihm haben einwickeln lassen. Nicht, dass ich das nach dem Foto sagen könnte, aber genau genommen hat er nicht einmal gut ausgesehen. Und dass er ein umgänglicher Mensch war, kann niemand behaupten. Er muss uns mit etwas anderem hypnotisiert haben.«
Ich sagte, es sei seine Art gewesen, die Unbedingtheit, mit der er die Dinge ernst genommen habe, aber sie erwiderte nur, ein bisschen mehr Freundlichkeit hätte gewiss nicht geschadet, und schien sich plötzlich zu besinnen, worüber wir eigentlich sprachen.
»Müsstest du nicht auf der Stelle zur Polizei gehen und Meldung erstatten, wenn du wirklich überzeugt bist, ihn zu erkennen, und Grund zu der Annahme hast, dass er es ist, der wegen der Sache gesucht wird?«
Ich schwieg, aber ich war erleichtert, dass sie im selben Augenblick gerufen wurde. Vielleicht hätte ich ihr sonst gesagt, ich würde es nicht tun, aber es war auch so klar, und der ironische Blick, mit dem sie mich beim Aufstehen ansah, sollte deutlich machen, dass sie verstanden hatte. In ihm lag keine Komplizenschaft, eher eine aufgesetzte Verwunderung über das Spiel, und als sie sich im Weggehen nach mir umwandte, wusste ich, ich würde ihr vertrauen können, auch sie würde nichts ausplaudern, allein schon weil sie das Ganze nicht ernst nahm. Sie trug die Arbeitskleidung, die sie all die Jahre getragen hatte, einen schwarzen Rock, eine weiße Bluse, und ich dachte blödsinnigerweise, dass ihr das etwas Verlässliches gab. Trotzdem überlegte ich, ob ich sie nicht doch ausdrücklich bitten sollte, das Gespräch zu vergessen, aber als sie nach wenigen Minuten mit leicht geröteten Wangen zurückkam, beruhigte mich gerade, dass sie den Faden genau dort wiederaufnahm, wo wir unterbrochen worden waren.
»Dein bester Schüler also«, sagte sie, als wollte sie alles in einem Wort zusammenfassen. »Sollte er es am Ende doch noch zu etwas gebracht haben?«
Mit einem solchen Sarkasmus hatte sie sonst nicht über ihn gesprochen, und ich weiß noch, dass auch sie mich dann von einem Augenblick auf den anderen nach dem Haus fragte.
»Fährst du manchmal hinaus?«
Ich schüttelte den Kopf, und sie verwendete das Wort »Refugium«, als sie sagte, Daniel habe es einmal als sein eigentliches Zuhause bezeichnet.
»Ich erinnere mich, wie er von den Tagen geschwärmt hat, die ihr zusammen draußen am Fluss verbracht habt. Er hat dich den wichtigsten Menschen in seinem Leben genannt. Ihr müsst euch sehr nahe gewesen sein.«
Damit wollte sie gewiss keine Anspielung machen, aber ich sah sie alarmiert an. Damals hatte die ganze Stadt davon gemunkelt, und es fanden schnell die ersten Spaziergänger den Weg zu uns hinaus, die gehört hatten, dass ein Lehrer mit zweien seiner Schüler ganze Tage in der Wildnis verbrachte. Sie wagten sich bis an die Grenze des Grundstücks vor, grüßten aufdringlich und begannen ein Gespräch, während sie sich auffällig unauffällig umsahen. Das musste sie wissen, aber was auch immer ihr Antrieb war, darauf zu sprechen zu kommen, so viel Frivolität, mich böswillig daran zu erinnern, traute ich ihr nicht zu.
»Du kennst doch die Geschichte«, sagte ich. »Wenn du willst, kann ich sie dir gern noch einmal erzählen, aber das ändert nicht das Geringste.«
Als sie gleich darauf von neuem wegmusste, nützte ich die Gelegenheit und verabschiedete mich. Zu dem Foto hatte ich nichts mehr sagen wollen, tat es dann aber doch, auch wenn es wieder nur der Ausdruck meiner Sorge war. Ich bat sie, den Zeitungsausschnitt mitnehmen zu dürfen, und sie blickte mich mit einem Lächeln an und meinte, ich möge ihn ruhig unter der Lupe betrachten, würde dadurch aber nicht mehr sehen, es sei alles nur in meinem Kopf. Dann ging sie, und ich schaute ihr nach, wie sie sich entfernte, bevor ich selbst aufstand. Sie war immer noch jung, immer noch keine dreißig und in gewisser Weise immer noch die geheimnisvolle Fremde, die von außen kam und allen zuhörte, aber kaum zu bewegen war, etwas aus dem Leben preiszugeben, das sie hatte, wenn sie im Frühjahr und im Herbst jeweils für ein paar Wochen nach Hause fuhr. Nicht nur einmal hatte ich sie danach gefragt, aber sie war ausgewichen, sie könne mir alles mögliche von sich erzählen, und doch würde ich von ihrer Welt wenig verstehen. Ich hatte mir damals die größte Mühe gegeben, mich nicht brüskiert zu fühlen, aber jetzt glaubte ich zu begreifen, worauf sie angespielt hatte. Es ging nicht nur um sie, und es ging nicht nur um mich. Sie hatte sagen wollen, dass niemand etwas vom anderen wusste, wenn es darauf ankam, und da konnte ich ihr schwer widersprechen.