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Die Zeit danach könnte ich je nach meiner Stimmung so oder so beschreiben. Einerseits hatte ich den Eindruck, die Aufregung in der Stadt lege sich nach der zweiten Bombendrohung ebenso schnell, wie sie sich nach der ersten gelegt hatte, andererseits übersah ich die Anzeichen nicht, dass die Anspannung, die am Sonntag im Bruckner für mich geradezu greifbar gewesen war, weiter aufrecht blieb. Allerdings war ich ein schlechter Gewährsmann für die Wirklichkeit, weil ich mich nur auf wenige Beobachtungen stützen konnte. Ich fand, Herr Frischmann mache es sich in seinem Leitartikel, der Mitte der Woche erschien, zu einfach, wenn er noch einmal die überstrapazierte Rede von einem Kinderstreich bemühte und schrieb, das Internet sei voll von Bombenbauplänen, funktionierenden wie nicht funktionierenden, aber das Leben gehe trotzdem weiter, und wenn jemand unbedingt Angst haben wolle, gebe es tausend andere Gründe. Das war ein bisschen gar wenig, aber ich neigte auch nicht zur Hysterie oder ließ mich einschüchtern wie Judith, die sich nicht mehr auf die Straße traute. Drei Tage nach meinem ersten Besuch fuhr ich noch einmal hinaus an den Fluss, und es war wieder alles unverändert im Haus, auch wenn ich auf dem Rückweg auf zwei Polizisten stieß, die sich sicher nicht zufällig dort herumtrieben und meine Anwesenheit aufmerksam registrierten. Ich mied das Bruckner, wo ich am ehesten Dinge in Erfahrung hätte bringen können, weil ich nicht wieder in eine Situation kommen wollte, in der ich mich bedroht fühlte, und in der Schule wich ich jedem Gespräch über Daniel aus und verbat mir, in die Sache hineingezogen zu werden, was insbesondere für Herrn Bleichert galt, der plötzlich ein verschwörerisches Verhalten an den Tag legte und mir begegnete, als wären wir Mitglieder einer Geheimgesellschaft. Der Direktor schmollte mit mir. Wenn er mich auf dem Gang traf, sah er mich mit einem Blick an, der sagen sollte, bei dem Vertrauen, das er in mich setze, habe er etwas anderes erwartet, aber er sprach nicht mit mir, und als ich schon dachte, ich bildete mir das alles bloß ein, überzeugte Frau Pfeifer mich vom Gegenteil, indem sie mir nahelegte, ich solle doch zusehen, die Misstimmung auszuräumen. Die Schüler verhielten sich auffällig ruhig, aber es ginge zu weit, wenn ich behauptete, ich hätte genau deswegen den Verdacht gehabt, sie würden etwas gegen mich aushecken und es sei nur eine Frage der Zeit, bis ihnen einfiel, wie sie die Geschichte gegen mich verwenden könnten. Ich bekam mehrere anonyme Anrufe, bei denen ich dachte, dass sie vielleicht dahintersteckten, und als das Telefon schließlich ein weiteres Mal zu ungewohnter Stunde klingelte und ich, aus dem Schlaf gerissen, ohne zu überlegen, »Daniel, bist du es?« sagte, glaubte ich im Hintergrund ein unterdrücktes Lachen zu hören und konnte mir niemand anders vorstellen, der ein Vergnügen daran hatte, als eine Bande von Dreizehn- oder Vierzehnjährigen.

Es war natürlich kein Zufall, dass ich mich am Wochenende darauf vor dem Tor zu Christophs Haus wiederfand. Ich hatte immer ein ungutes Gefühl, wenn ich an ihn dachte und daran, wie er damals im Sommer nach dem Auftreten des Reverends, ohne sich noch einmal blicken zu lassen, aus meinem Leben verschwunden war. Es stimmt schon, ich hatte mich für ihn von Anfang an weniger interessiert als für Daniel und ihn als seinen Freund einfach hingenommen, obwohl ich ihn bei aller Schwerblütigkeit eher als Leichtgewicht einschätzte. Dann war ich brüskiert gewesen, dass ausgerechnet er sich bei den paar weiteren Begegnungen verhielt, als wäre ich ihm zu nahe getreten. Er sagte nie etwas, aber seine Reaktion war eindeutig, eine Verschämtheit, die in Wirklichkeit einer Unverschämtheit gleichkam, als wollte er nicht mit mir zusammen gesehen werden oder sich jedenfalls von allen Gerüchten, die es über uns gab oder auch nur geben könnte, so weit wie möglich distanzieren, und daher ging ich ihm genauso aus dem Weg wie er mir.

Er hatte Architektur studiert und arbeitete seither nicht nur im Planungsbüro von Herrn Oswald, der damals Bürgermeister gewesen war und gerade für eine zweite Periode kandidierte, sondern hatte auch dessen Tochter Manon geheiratet, mit der mich eine eigene Geschichte verband. Auch sie war eine ehemalige Schülerin von mir, und ich hatte sie in der sechsten Klasse durchfallen lassen, was eigentlich keine große Sache war, aber zum Drama wurde, weil ihr Vater intervenierte und ich das zum letzten Anlass nahm, ihr den Aufstieg auf jeden Fall zu verwehren. Damals war Dr. Prager noch nicht pensioniert, und ich hatte in ihm einen sicheren Verbündeten, weil er eine fast krankhafte Aversion pflegte gegen diese Söhnchen und Töchterchen, für die im Zweifelsfall der Papa es richtete und die dann alles verstopften, den anderen nicht nur die Stellen, sondern das Leben wegnahmen und selbst bei erwiesener Unfähigkeit glaubten, sie hätten etwas Besseres verdient und seien mit dem, was ihnen zugeschanzt wurde, unter ihrem Wert geschlagen. Er hatte einmal beinahe ein Verfahren am Hals gehabt, weil er in einer Klasse so weit gegangen war, zu sagen, man müsse diese verwöhnten Kinder grundsätzlich ein Jahr in die Verbannung schicken oder bei Brot und Wasser einsperren, bevor man sie auf die Welt loslasse, einer von den Ausfällen, wie die Generation von Dr. Prager noch glaubte sie sich leisten zu können. Deshalb brauchte ich auch nicht viel, um ihn auf meine Seite zu ziehen. Es genügte, ihm zu erzählen, wie Herr Oswald in meiner Sprechstunde aufgetreten war und mich abwechselnd zu umschmeicheln und einzuschüchtern versucht hatte, bis ich nicht mehr wusste, ob er mir am Ende Geld anbieten oder mich nur anherrschen würde wie ein zur Gewalttätigkeit neigender Patron seinen Leibeigenen, den eine solche Halsstarrigkeit um Kopf und Kragen bringen konnte.

Es war für mich zu einer Art Präzedenzfall geworden, weil er immer wieder sagte, seine Tochter verliere nur wegen ihrer schlechten Note in Deutsch ein Jahr, sie müsse nur deswegen die Klasse wiederholen, und ich jedesmal dachte, was er sich erlaube und was er schon wisse von einem Jahr verlieren und wie viele Jahre Robert zu der Zeit bereits verloren hatte, weil er genauso viele Jahre schon tot war. Ich sah ihn ungläubig an, aber er merkte gar nicht, was für eine Geringschätzung in seinen Klagen zum Ausdruck kam. Er war einer von diesen Dialektsprechern, die den Dialekt sprachen, wie andere ihre aufgepumpten Geländewagen fuhren, raumverdrängend und brutal, was in seiner Position ohne Zweifel volksnah hieß, und dass ausgerechnet einer wie er sich herausnahm, Deutsch für nicht weiter wichtig zu halten, musste mich gegen ihn aufbringen. Indes ließ ich ihn reden und machte mir meine eigenen Gedanken. Ich hatte kein gutes Bild von der besseren Gesellschaft unserer kleinen Stadt, zu deren Privilegien ein grobes Auftreten und schlechte Manieren gehörten und die ihr ostentatives Hinterwäldlergetue für eine Tugend hielt, und er war da keine Ausnahme. Zwar hätte ich ihn am liebsten in seine Schranken gewiesen, aber ich beschwichtigte ihn, noch einmal nachdenken zu wollen, und als ich später zum Direktor gerufen wurde, musste ich einerseits lachen, war andererseits in meiner Entscheidung aber längst sicher, als er mich fragte, ob ich nicht ein Auge zudrücken könne. Er gab zu bedenken, es diene auch dem Wohl der Schule, und maßregelte mich, es gehe nicht um Prinzipien, und wenn ich glaubte, der Tochter des Bürgermeisters das Leben schwerzumachen, sei so etwas wie ein revolutionärer Akt und der Anfang vom Umsturz, handle es sich um ein großes Missverständnis, das nur zeige, wie wenig ich von der Welt begriffen hätte.

Ich war schon öfter an dem Tor vorbeigekommen, ohne dass ich je klingelte, und auch jetzt kostete es mich Überwindung, und ich wäre fast umgekehrt, als ich durch die Gegensprechanlage Manons Stimme hörte, die mich einzutreten bat. Das Schiebegitter öffnete sich lautlos, und ich ging über den gekiesten Weg auf die zwei Häuser zu, die Oswaldsche Villa, von außen ein schmuckloser Zweckbau, und das alte Haus unmittelbar daneben, in dem Christoph und Manon wohnten. Es war ein riesiges Anwesen, ein parkähnlicher Garten mitten in der Stadt, von einer mannshohen Mauer umgeben, mit Seerosenteich, Pavillon und einem aufgelassenen Schwimmbad, und während der Verkehrslärm von einem Augenblick auf den anderen wie weggeschaltet war, konnte ich meine Schritte auf dem Kies immer lauter hören. Die beiden Gebäude standen auf einer kleinen Anhöhe, mit einem Blick über die Mauer hinweg, und ich nahm nicht den direkten Weg hinauf, eine breite Treppe, die nach ein paar Stufen jeweils abgesetzt war, sondern wählte die bombastisch angelegten Serpentinen, regelrechte Unendlichkeitsschleifen, als hoffte ich, dass sie sich als Eingang zu einem Labyrinth erweisen würden, in dem ich unentdeckt verschwinden könnte.

Ich hatte Manon seit der Schulzeit nicht mehr gesehen und war unsicher, wie sie bei meinem Anblick reagieren würde. Sie war ein unscheinbares, zur Dicklichkeit neigendes Mädchen mit einem grotesken Herkunftsdünkel und allen Attitüden einer Kleinstadtschönheit gewesen, verträumt, eine Erich-Fried-Leserin, die selbstgedrehte Zigaretten rauchte, um sich beim Rauchen und Verträumtsein zusehen zu können, und es fiel mir schwer, sie mit der Frau zusammenzubringen, die mich vor dem Eingang des Hauses empfing und in einen der Korbsessel plazierte, die dort um einen wuchtigen Holztisch gruppiert waren. Sie war auf diese ausgehungerte, amerikanische Weise schlank, trug Tenniskleidung, ein weißes Trikot, ein hellblaues Röckchen, weiße Turnschuhe, und kehrte nicht mehr die teenagerhafte Ablehnung hervor, mit der sie damals die Welt auf Abstand gehalten hatte, sondern verschanzte sich hinter einer kalten Distanziertheit. Sie hatte jeden brüsk korrigiert, der ihren Namen französisch aussprach, als wollte sie nur keine unnötigen Feinheiten aufkommen lassen, und bei der Erinnerung an dieses Insistieren und den dahinterstehenden Stolz auf das Wahre und Authentische eines möglichst ruppigen Verhaltens schauderte es mich. Es war in ihrer Art gelegen, zu allem erst einmal nein zu sagen, auch wenn es sich um die Wahrheit einer Tautologie gehandelt hätte, aber sobald ich sie sah, wusste ich, dass sie sich diese Mühe nicht mehr machen würde und längst gelernt hatte, dass Höflichkeit die bessere Waffe war.

»Sie entschuldigen mich«, sagte sie, noch bevor ich überlegen konnte, ob ich sie auf die Schule ansprechen sollte oder nicht. »Ich bin leider verabredet und muss Sie allein lassen. Mein Mann steht Ihnen aber jeden Augenblick zur Verfügung. Ich nehme an, Sie sind doch seinetwegen gekommen.«

Damit verschwand sie ohne ein weiteres Wort, und ich weiß nicht, ob ihr Einstand dann auch das Gespräch mit Christoph bestimmte. Ich kam mir jedenfalls vor wie in einem schlechten Film, mit diesem Auftritt oder vielmehr Abgang der Dame des Hauses, den jeder kluge Regisseur als Abklatsch eines Abklatsches herausschneiden würde, und überlegte, ob ich mich nicht einfach davonstehlen sollte. Ich erinnerte mich, wie Manon in dem Jahr, als ich sie durchfallen ließ und es schon klar war, dass es darauf hinauslaufen würde, mich einmal in der Pause abgefangen hatte. Sie war dicht vor mir stehengeblieben, um zu fragen, warum ich Mädchen nicht möge, und sah mich an, als ob sie mich in der Hand hätte. Ich ging wortlos an ihr vorbei, aber etwas von der ohnmächtigen Beklemmung des Ausgeliefertseins, die ich damals empfand, beschlich mich auch jetzt wieder. Vor mir auf dem Holztisch, wie eigens für mich hingelegt, lag ein Buch, ein roter, dickleibiger Ziegel, mit dem ich mich eine Weile beschäftigte. Dabei schaute ich ab und zu hinüber zur Oswaldschen Villa, von deren Veranda man den besten Blick auf meinen Platz hatte, und natürlich fühlte ich mich beobachtet und glaubte auch, als Christoph schließlich erschien, dass er mir die ganze Zeit schon von irgendwo zugeschaut hatte.

»Tut mir leid, dass Manon nicht freundlicher zu dir gewesen ist«, sagte er. »Ich fürchte, sie nimmt dir immer noch übel, dass sie deinetwegen ein Jahr länger hat in die Schule gehen müssen.«

Ich sah auf meine Schuhe und reagierte nicht darauf. Er hatte eine Flasche Wein in der Hand und entkorkte sie, und wie mir später erst klar wurde, tat er das wie alles andere in einer Mischung aus Ironie und Schicksalsergebenheit. Ich schaute über die Blumenrabatten neben der Treppe, und er folgte meinem Blick, ich schaute hinüber zur Villa, in deren Auffahrt ein Bediensteter Herrn Oswalds Auto wusch, schaute über die Ziersträucher hinweg zum äußersten Ende des Gartens, wo eine zusammengeklappte Tischtennisplatte in der Sonne stand, und er ließ mich nicht aus den Augen.

»Schön hast du’s hier«, sagte ich und bemühte mich, es nicht abwertend klingen zu lassen. »Ein bisschen größer als unser Haus draußen am Fluss.«

»Ein bisschen, ja.«

»Man könnte fast vergessen, dass wahre Schönheit aus dem Herzen kommt, wenn man sich hier umschaut und sieht, dass alles gut ist.«

Es war nicht so, dass er sich am liebsten entschuldigt hätte, als ich das aussprach, aber er vergewisserte sich mit einem schnellen Blick meines Wohlwollens und lachte nervös.

»Du scheinst immer noch der Alte zu sein«, sagte er dann ein wenig gequält. »Aber so einfach, wie du glaubst, ist es nicht.«

Ich musste ihn nicht erinnern, wie sehr er das alles damals im Sommer abgelehnt hatte, und versuchte es auch gar nicht. Er war in seinen Vorstellungen manchmal sogar weiter gegangen als Daniel, wenn sie darüber sprachen, was sie im Herbst machen wollten, und ich hatte noch im Kopf, wie er einmal sagte, die schlimmste und im Grunde genommen einzige unerlaubte Form des Scheiterns sei, Erfolg in der Provinz zu haben, weshalb sie sich auf jeden Fall verbieten müssten, Teil dieser verkommenen Clan-Gesellschaft zu werden, die in unserer kleinen Stadt das Sagen habe. Er hatte das größte Vergnügen daran gefunden, ihren groben, die Grobheit auch noch absichtlich hervorkehrenden Dialekt zu imitieren, konnte aus dem Stegreif Sketches inszenieren, wie sie sich gegenseitig den Zahnarzt, den Gynäkologen, den Anwalt als den »Pöschten« empfahlen, und jetzt hatte er selbst die Aussicht, als Architekt unter der Fuchtel von Herrn Oswald einer dieser »Pöschten« zu werden, wie ich sie seinerzeit gehabt hätte, wenn ich Manon nicht hätte durchfallen lassen, ein »Pöschter« unter lauter Hornvieh, das sich schwipp! und schwapp! mit Aufträgen und Einfluss versorgte. Es waren natürlich auch Sprüche gewesen, halbstark, und ich beging nicht den Fehler, ihn so viele Jahre danach daran zu messen, eher tat er es selbst, und sein anfängliches Unbehagen kam von daher. Zumindest brauchte er eine Weile, bis er sich entspannte, und obwohl wir über anderes sprachen, hatte ich die ganze Zeit den Eindruck, dass das Thema beständig an die Oberfläche drängte.

»An die paar Annehmlichkeiten, die dieses Leben mit sich bringt, gewöhnt man sich«, sagte er schließlich. »Doch retten kann einen das am Ende auch nicht.«

Ich konnte das Wort unmöglich überhören. Schon als ich zum Tor hereingekommen war, hatte ich beim ersten Blick auf das Anwesen gedacht, ob das Christophs Art war, sich zu retten, und dachte jetzt, dass es keine Rettung gab und dass das ganze Geheimnis darin bestand, das Leben auszuhalten, notfalls sogar mit Haus, Frau und Schwiegereltern in Sichtnähe, und sich nicht dagegen zu wehren. Das sagte ich nicht, und tatsächlich hätte ich den Teufel getan, es zu sagen, aber der Gedanke, so fremd er mir sein musste, stimmte mich versöhnlich. Ich hatte erwartet, dass er es mir schwerer machen würde, nachdem wir uns so viele Jahre aus dem Weg gegangen waren, aber er hätte nicht offener sein können, und auffallend war nur, wie lange wir brauchten, um endlich zum Punkt zu kommen, geradeso, als hätten wir uns keinen absurderen Hintergrund für das Gespräch aussuchen können, das wir dann führten, und scheuten es deswegen.

Jedenfalls hatte ich Daniel kaum erwähnt, als Christoph sagte, er glaube nicht, dass die Geschichte auch nur das Geringste mit ihm zu tun habe. Er nahm endlich in einem der Sessel mir gegenüber Platz, nachdem er davor im Stehen eine nervöse Unruhe verbreitet hatte, und legte in den Satz seinen ganzen Nachdruck. Er strahlte immer noch etwas jungenhaft Gewinnendes aus, wenn er einen ansah, und er fixierte mich jetzt über den Holztisch hinweg, als wollte er keinen Zweifel an seiner Lauterkeit aufkommen lassen.

»Du brauchst dir doch nur das Dilettantische der Ausführung anzuschauen«, sagte er. »Glaubst du, Daniel würde sich bei seinem Perfektionismus so stümperhaft anstellen, dass es dann alle für einen Kinderstreich halten?«

Er wischte seine eigene Frage weg, obwohl er damit nur genau das zum Ausdruck brachte, was ich selbst schon gedacht hatte, und meinte, das sei es aber nicht, was ihn so sicher mache.

»Ich bin überzeugt, dass er gar nicht im Land ist. Du musst doch wissen, dass er nach Israel wollte. Er war bei dir, um sich Geld zu leihen. Ich habe ihm selbst eine kleine Summe gegeben.«

»Ist das nicht ein halbes Jahr her?«

»Mag schon sein, aber ich habe erst vor drei Wochen von ihm gehört«, sagte er. »Da war er immer noch dort und hat nicht den Anschein erweckt, dass er so bald zurückkommen würde.«

Ich sparte mir zu sagen, dass das kein Alibi war und dass es Daniel immer noch Zeit genug für beide Bombendrohungen gelassen hätte. Für mich sprach es sogar gegen ihn und passte zu dem »Kehret um!« und dem »Wehe dir, Chorazin! Wehe dir, Betsaida!«-Irrsinn. Ich war nicht im Bild, wo er sich in den Monaten vor seinem letzten Besuch bei mir überall aufgehalten hatte, aber dass er ausgerechnet noch einmal nach Israel wollte, konnte kein Zufall sein. Er hatte nicht gesagt, wofür er das Geld brauchte, das ich ihm gegeben hatte, und ich bereute jetzt, dass ich nicht neugieriger gewesen war.

»Offen gestanden, kommt es für mich überraschend, dass er in Israel sein soll«, sagte ich. »Hat das etwas mit dem Reverend zu tun?«

Ich hatte den mitleidigen Ausdruck nicht erwartet, mit dem Christoph darauf reagierte. Wie um Zeit zu gewinnen, blickte er hinunter zum Tor, das sich öffnete und wieder schloss, und ließ die zwei Mädchen nicht aus den Augen, die eintraten und, miteinander sprechend und gestikulierend, den Weg zur Villa hinaufgingen, beide in hellen Sommerkleidern, vierzehn- oder fünfzehnjährig, und ohne zu merken, dass wir ihnen zuschauten, so vertieft waren sie in ihr Gespräch. Er sagte, es seien seine Nichten, und so wie er es betonte, kam es mir wie ein Fremdwort vor, und aus der Beobachterposition, in der wir uns befanden, tatsächlich wie etwas Anstößiges, das es nur in schwülstigen Weichzeichner-Filmen über das Frühlingserwachen junger Mädchen gibt. Dann schwieg er, und als ich schon dachte, er werde über meine Frage einfach hinweggehen, wandte er sich plötzlich doch an mich.

»Mit dem Reverend?«

Er sah mich mit einem ironisch besorgten Blick an.

»Wie kommst du darauf?«

»Na ja«, sagte ich. »Angeblich glaubt der Reverend, dass dieses Jahr das Jahr ist, in dem in Israel der Entscheidungskampf bevorsteht.«

Ich wusste nicht, warum ich den Unfug überhaupt aussprach, und genierte mich, noch bevor er gereizt erwiderte, ob er mir verraten solle, was der Reverend sonst noch alles glaube. Er brachte mich damit in die Rolle eines Befürworters, der ich nicht war, und als ich das aufklären wollte, machte ich es nur schlimmer. Er fiel mir ins Wort und sagte, er sehe nicht ein, sich mit solchen Hirngespinsten herumschlagen zu müssen, und es sei am besten, sich gar nicht damit zu beschäftigen.

»Sag bloß, du gibst etwas darauf, was der Reverend glaubt. Er glaubt, es ist wissenschaftlich erwiesen, dass ein Mensch drei Tage im Bauch eines Wals überleben kann. Selbstverständlich glaubt er an Adam und Eva und dass man von Oralsex Krebs und Haarausfall bekommt. Er glaubt noch eine ganze Menge anderer Dinge, die du lieber nicht hören willst.«

»Ich weiß«, sagte ich kleinlaut, weil ich mich von ihm so sehr in die Defensive gedrängt fühlte. »Um so schlimmer, dass die Bombendrohungen seinen Geist atmen.«

»Ach was«, sagte er. »Für das ›Kehret um!‹ braucht es keinen Reverend. Du findest überall Zustimmung, dass es so mit der Welt nicht mehr weitergehen kann und sie auf ihr Ende zutreibt, wenn sich nicht grundlegend etwas ändert. Du musst nicht einmal ein konkretes Unbehagen äußern. Wer würde dir da schon widersprechen?«

»Aber ist eine Bombendrohung nicht etwas anderes?«

»Was soll sie anderes sein, zumindest eine in diesem Stil?«

»Immerhin ist sie die Ankündigung einer Tat. Sie sagt, dass bald etwas geschehen wird, und nimmt dieses Geschehen vorweg. Es sind nicht mehr nur Worte. Das ist doch ein Unterschied.«

»Solange es bei der Drohung bleibt, ist sie nichts anderes als das, was du jeden Tag an den Stammtischen hören kannst«, sagte er. »Du musst nur einmal an die richtigen Orte gehen und dir erzählen lassen, wer alles an die Wand gestellt gehört oder wessen Kopf in einen Kübel Scheiße gesteckt werden soll, um von den exklusiveren Feinheiten erst gar nicht zu reden.«

So kämpferisch kannte ich ihn nicht, aber als er noch einmal anfing, das habe alles nichts mit Daniel zu tun, neigte ich dazu, ihm zuzustimmen. Er sagte, auch das mit Israel dürfe man nicht überbewerten, es sei einfach seine Liebe zum Land gewesen, die ihn hingezogen habe, seit er mit Herrn Bleichert zum ersten Mal dort gewesen war, und er habe immer gesagt, wenn es irgendwann einmal keinen Ort mehr auf der Welt für ihn gebe, könne er zuletzt noch ins Heilige Land gehen oder, wie er sich dann merkwürdigerweise ausgedrückt habe, nach Judäa oder Samaria, geradeso, als versetzte er sich in die Gedanken eines Siedlers, der ohne jedes Recht, aber mit Verweis auf die Bibel die fremden Gebiete für sich in Anspruch nahm. Als er nach unserem Sommer am Fluss die paar Monate in Jerusalem verbrachte, hatte Christoph ihn besucht, und was er mir davon erzählte, erklärte einiges. Ich hatte Daniels Vorliebe für die Wüste immer für einen Spleen gehalten, bestenfalls für einen von seinen Versuchen, sich interessant zu machen, und wurde jetzt daran erinnert, dass sie für ihn der Ort auf der Welt war, an dem man am weitesten aus der Welt hinausgehen konnte und wo Weitergehen in die einmal eingeschlagene Richtung und Umkehr in eins fielen.

Die beiden waren zwei Wochen lang im Land herumgefahren, und ich weiß noch, wie Christoph sagte, Daniel habe die Orte am Anfang nach ihren Namen und ihrem Vorkommen in der Bibel ausgesucht und dann mehr und mehr danach, dass sie keinen Namen hatten.

»Wenn man mit den falschen Erwartungen dorthin kommt, gibt es kaum trostlosere Orte auf der Welt als die Orte, an denen Jesus seine Wunder gewirkt hat«, sagte er. »Kennst du den Witz, dass seine Wiederkehr allein deshalb ausgeschlossen ist, weil es ihm nach dem ersten Mal gereicht hat und er sich einen Aufenthalt in dieser gottverlassenen Landschaft kein zweites Mal antun will?«

Es war genau das, was Palästinareisende beklagten, seit es diese Spezies gab, die Kreuzritter vielleicht ausgenommen, und sowenig ich an der Triftigkeit seiner Beobachtungen zweifelte, so wenig verstand ich, warum er sich derart hineinsteigerte.

»Selbst Nazareth. Was glaubst du, was das heute anderes ist als eine heruntergekommene, laute Araberstadt mit ein paar grotesk geschmacklosen Kirchen? Selbst Bethlehem.«

Das fand ich alles nur mühsam und sagte, diese Enttäuschung erlebe man doch mit jedem Buch, wenn man versuche, es mit der Wirklichkeit abzugleichen, und nicht nur mit der Bibel. Ich erinnerte mich an die paar Briefe, die Robert aus Amerika geschrieben hatte, und sein unterschwelliges Bedauern, dass er in St. Louis nichts von dem St. Louis seiner Indianergeschichten vorgefunden habe und dass es nicht einmal der Mississippi, mochte er noch so groß und weit sein, mit dem Mississippi seiner Kindheit aufnehmen könne. Es bedurfte für mich keiner Worte, das war das Glück und das Unglück des Lesers.

»Du willst doch nicht behaupten, Daniel ist mit Vorstellungen von einer Weihnachtskrippe und Winterträumen im Kopf in Israel herumgefahren«, sagte ich dennoch, weil ich mich ärgerte, dass ich mich überhaupt auf das Gespräch eingelassen hatte. »Er mag vielleicht naiv gewesen sein, aber so naiv nun auch wieder nicht.«

»Trotzdem hat er diese Sehnsucht gehabt.«

»Welche Sehnsucht denn, bitte?«

»Die Sehnsucht, ergriffen zu sein.«

Ich lachte unbehaglich, aber Christoph ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und sagte, einmal sei er es sogar gewesen, tatsächlich ein einziges Mal auf der ganzen Reise, und zwar ausgerechnet in Hebron, wo er unbedingt das Patriarchengrab habe besuchen wollen.

»Es mochte daran liegen, dass dort die Erinnerung an das Massaker vor drei Jahren noch so wach gewesen ist, aber auch daran, dass wir uns an den beiden Eingängen haben deklarieren müssen«, sagte er. »Ich erinnere mich noch genau, wie Daniel sowohl vor den jüdischen als auch vor den muslimischen Wachen gesagt hat, er sei Christ, und wie das etwas Peinliches, aber gleichzeitig auch Feierliches für ihn war.«

»Und was war mit dir?«

»Ich habe ihnen gesagt, dass ich nichts bin. Weder Jude noch Moslem, noch Christ, und auch alles andere nicht. Es ist nicht das Schlechteste, wenn man die Wahl hat und sie ausschlägt.«

»Haben sie nicht darauf bestanden, dass du etwas bist?«

»Nein«, sagte er. »›Nichts‹ war gut genug.«

Sie hatten sich zuerst den jüdischen Gebetsraum mit einer Schulklasse geteilt und waren dann ganz allein in der Moschee und starrten auf die düsteren Kenotaphe, als ein Wärter lautlos von hinten auf sie zutrat.

»Wir haben ihn beim Hereinkommen nicht bemerkt, und als er jetzt auf das rechte Grabmal zeigte und Isaak sagte, mit einem deutlichen Absetzen zwischen den beiden ›a‹, und auf das linke Grabmal zeigte und Rebekka sagte, in seiner arabischen Aussprache, und sich ohne ein weiteres Wort wieder in seine Nische zurückzog, ist Daniel wie vom Blitz getroffen dagestanden.«

»Wie vom Blitz getroffen?«

Ich sah Christoph mit einem spöttischen Lächeln an.

»Mich würde interessieren, wie sich das anfühlt.«

»Ich habe gesehen, wie im ersten Augenblick der Schreck in ihn gefahren ist, dann aber gleich die Freude«, sagte er. »Anders kann ich es leider nicht ausdrücken.«

Schon bei Daniels Berichten nach seiner ersten Israel-Reise hatte ich gemerkt, als was für eine zweischneidige Erfahrung er es empfand, gewissermaßen in der Bibel herumspazieren zu können. Er nahm es einerseits als etwas ganz und gar Vertrautes wahr, als wäre er endlich nach Hause gekommen, weil ihm die Namen bekannt waren, und als würde sich das »Kinder Israels« ebenso auf ihn beziehen wie auf jeden Itzig aus New York, der plötzlich in der Gegend von Jericho seine wahre Heimat entdeckte, wie der Reverend nicht ganz koscher und tatsächlich feindselig gesagt hatte, und war andererseits doch enttäuscht. Das Unerreichbare wurde für ihn auf einmal erreichbar, und genau das schien mir sein Problem. Er konnte die Mauern von Jerusalem durch das Jaffator, das Damaskustor oder durch das Löwentor betreten, durch das Jesus sie in seinen letzten Stunden betreten hatte. Er konnte aus der Altstadt hinaus und war auf dem Weg zum Ölberg, hier das Grab von Maria, da der Garten Gethsemane, dort das Grab von Absalom, die Gräber der Propheten, nur ein paar Schritte voneinander entfernt, er konnte zu Fuß über den Ölberg hinüber und war in Bethanien, dem Heimatort von Lazarus, oder er ging in das Kidron-Tal und in die Stadt Davids. Der Kreuzweg verlief durch das muslimische Viertel und mitten durch einen arabischen Suk, und die Schädelstätte, der Berg Golgotha, der Berg Zion und der zerstörte Tempel Salomons mit der Klagemauer befanden sich in angenehmer Gehweite vom Österreichischen Hospiz. Der Tempelberg war der Ursprung der Welt, der Ort, von wo Gott die Erde nahm, um Adam zu erschaffen, der Ort, wo Kain und Abel ihr Opfer darbrachten und Abraham seinen Sohn Isaak zum Opfer bringen wollte, aber auch der Ort, von wo Mohammed zum Himmel aufgefahren war, und es lag ihm alles zu Füßen, er konnte ein paar tausend Jahre Geschichte an einem Tag ablaufen, konnte durch das Alte und das Neue Testament und seine Mythen schlendern, mit kleinen Schlenkern hinein in den Koran, als wäre es nur ein harmloser Spaziergang und nicht ein ständiger Gleichgewichtsakt auf einem bluttriefenden Pfad.

Ich kam nicht dagegen an, dass ich das alles plötzlich wieder im Kopf hatte, obwohl ich mich dagegen wehrte. Es war ein Elend, in diese Welt hineingezogen zu werden, ein Elend, wahrzunehmen, wie wenig es brauchte, wie viel davon auch in den eigenen Knochen steckte, wenn man mit der Bibel aufgewachsen war, und wie sehr es sich in erster Linie als Schicksal herausstellte, als Verhängnis und nicht als die Verheißung, die einen von Kindesbeinen an auf Trab halten sollte. Natürlich erkannte ich darin den Daniel unseres gemeinsamen Sommers am Fluss wieder, andererseits war er mir fremd in seiner kategorischen Weltabgewandtheit, ja, ich fand seine Selbstbezogenheit abstoßend. Er war zum zweiten Mal in Israel, und zum zweiten Mal kümmerte er sich wenig um die Realität, auch wenn Christoph etwas anderes behauptete und sagte, es sei alles viel komplizierter. Auf einmal fiel mir wieder ein, über welche Geringfügigkeiten wir uns damals nachmittagelang den Kopf zerbrochen hatten, und ich fragte mich noch mehr, als ich es sonst tat, wie stark diese Abgehobenheit auch von mir stammen mochte. Am elegantesten war uns immer erschienen, von einer Position möglichst durch ein Labyrinth von Gedanken zu ihrem Gegenteil zu gelangen, ohne auch nur einmal den Boden der Wirklichkeit zu berühren, als wäre das der selbstverständlichste Weg von einer Wahrheit zur anderen. Ich wusste nicht, ob man durch solche Sophistereien jemanden wirklich für etwas Robusteres untauglich machen konnte, war aber froh, dass Christoph mir widersprach. Er selbst war wenige Tage nach einem Anschlag, bei dem zwei Selbstmordattentäter auf dem größten Markt in Jerusalem mehr als ein Dutzend Menschen mit in den Tod gerissen hatten, ins Land gekommen und sagte, ich würde Daniel unterschätzen, wenn ich glaubte, dass er das nicht mit der gleichen Bestürzung wahrgenommen habe wie alle anderen.

»Ich weiß, dass du dir Vorwürfe machst wegen der Bücher, die du ihm zu lesen gegeben hast«, sagte er. »Ich glaube nicht, dass er in ihnen auch nur irgend etwas gefunden hat, was nicht schon vorher in ihm da war. Wenn du wissen willst, weshalb er so geworden ist, musst du die Gründe woanders suchen. Hast du mit Judith gesprochen?«

»Ja«, sagte ich. »Warum?«

»Weil du bei ihr am ehesten eine Erklärung findest.«

»Bei Judith?«

»Natürlich ist sie nicht die einzige gewesen. Hat sie dir nicht von seinen nächtlichen Anrufen erzählt und wie er ihr aus dem Hohenlied zitiert hat? Er hat seine Masche auch an anderen ausprobiert.«

Ich war überrascht von der plötzlichen Wendung des Gesprächs und auch davon, wie sicher Christoph zu sein schien, damit die letztgültige Erklärung zu haben. Es hörte sich bei ihm nicht anders an als Inspektor Hules Diagnose von einem jungen Mann, der soziale Situationen hasse und wahrscheinlich ein gravierendes Problem mit dem anderen Geschlecht habe, aber so erfuhr ich auch von dem Vorfall, der am Ende der Grund war, aus dem Daniel seine Stelle im Österreichischen Hospiz verloren hatte. Ich hütete mich, dem zuviel Bedeutung beizumessen, denn so wie Christoph es erzählte, war mein Eindruck, er stelle eine verfahrene Geschichte nur allzu einfach dar.

»Er hat ausgerechnet in der Grabeskirche jungen Frauen aufgelauert, offenbar angezogen von ihrer Andächtigkeit, und ist ihnen dann durch die ganze Stadt gefolgt«, sagte er. »Das hat zu Beschwerden und schließlich nach einer besonders krassen Entgleisung zu seiner Entlassung geführt.«

Ich ließ ihn reden und hörte nur mehr mit halbem Ohr zu. Zwar hatte ich wieder eine Geschichte, die in Israel spielte, aber es war eine Geschichte, bei der ich mich geniert hätte, sie zu erzählen. Kein Wort von dem Konflikt im Land, kein Wort über die wirkliche Geschichte, statt dessen die Nöte eines ehemaligen Ministranten, der von unverzeihlicher Naivität war und offensichtlich eine beträchtliche Energie entwickelte, um diesen Nöten zu entkommen. Christoph hätte mir genausogut von Daniels Liebe zu einer Palästinenserin erzählen und sie schwülstig ausmalen können, und es hätte nicht aufgesetzter gewirkt, im Gegenteil. Daraus hätte sich wenigstens ein spannender Zusammenhang konstruieren lassen, mit einer Verbindung zu einer Terrorgruppe und einem handfesten Motiv für eine Bombendrohung. Statt dessen lieferte er mir diesen zu spät gekommenen Jünger, den ich mit abgeknabberten Fingernägeln und dem Geruch nach ungewaschener Wäsche verband, eine Elendsgestalt, vor der sich die Frauen zu Recht in Sicherheit brachten.

Bei mir verfestigte sich immer mehr der Eindruck, dass ich weniger von Daniel wusste denn je. Natürlich hatte ich nicht wirklich geglaubt, es könne sich noch ein politischer Hintergrund auftun, der die beiden Bombendrohungen weniger absurd erscheinen ließe, oder zumindest auf andere Weise absurd, aber mir wäre alles lieber gewesen als diese buchstäbliche Auflösung der Figur, dieses buchstäbliche Verschwimmen der Geschichte im trüb Religiösen, ihr Verdampfen und Vernebeln in müden Weihrauchschwaden. Dann war da auch noch Israel. Ich konnte mir nicht verhehlen, welches Unbehagen es mir bereitete, wie Christoph darüber sprach. Schließlich hatte ich ihn in Geschichte unterrichtet, und ich empfand die offensichtlichen Auslassungen, die er sich leistete, auch als gegen mich gerichtete Provokation. Mir lag auf der Zunge, ihn zu fragen, ob sie in Yad Vashem gewesen seien, aber ich fragte nicht. Ich wollte nicht hören, wie er vielleicht triumphierend nein gesagt hätte, als müsste er sich ausgerechnet damit beweisen, dass er der Schule endgültig entwachsen war, oder wie er mit einem übertriebenen Stöhnen ja gesagt hätte, dem Stöhnen, das auch in der Klasse bei dem Thema nie ganz ausgeblieben war, als wären manche Schüler es leid, zum hundertsten und zum tausendsten Mal darauf hingewiesen zu werden, auch wenn ich es gerade zum ersten Mal erwähnte. Dabei war er damals einer von den Interessiertesten gewesen, und auch Daniel hatte keineswegs die Augen davor verschlossen, wie man es angesichts seiner Reisen im Land vielleicht annehmen könnte, sondern, ganz wie es seine Art war, mich nach Büchern gefragt, und ich hatte sie ihm gegeben, zuerst vor allem Primo Levi, später Imre Kertész und Aleksandar Tišma, und sein Schweigen, als er sie mir zurückbrachte, als Zeichen der Erschütterung angesehen.

In einer plötzlichen Eingebung nahm ich das Buch wieder zur Hand, in dem ich geblättert hatte, bevor Christoph aufgetaucht war. Es lag während unseres ganzen Gesprächs zwischen uns auf dem Holztisch und wog schwer mit seinen über tausend Seiten. Ich hatte da und dort hineingelesen und fühlte mich an etwas erinnert, aber es dauerte, bis ich darauf kam, woran. Es war der Roman Atlas wirft die Welt ab von Ayn Rand, und das gleiche Buch hatte ich damals im Freien gefunden, als ich zum Hof des Reverends hinausgefahren und mitten in der Nacht um das Haus gestrichen war. Ich hatte es vor der Haustür vom Boden aufgelesen und ohne nachzudenken an mich genommen. Dann hatte ich es im Auto liegenlassen und später noch einmal in der Wohnung verlegt und, als ich mich schließlich darum kümmern wollte, merkwürdigerweise nicht mehr wiedergefunden. Es war natürlich die englische Ausgabe gewesen, ein Buch, an das ich seither nicht mehr gedacht hatte, aber jetzt hielt ich die deutsche in den Händen und sah Christoph an.

»Das gibt es doch nicht«, sagte ich und schwenkte es aufgeregt vor ihm hin und her. »Du wirst nicht glauben, wo ich das schon einmal gesehen habe.«

Ich sagte es ihm, aber er winkte ab, als ich eine Verbindung herstellen wollte und fragte, ob er sich vorstellen könne, dass der Reverend damals mit seinen Verrücktheiten bis ins Haus des Bürgermeisters vorgedrungen sei.

»Schon möglich, aber was willst du damit sagen?«

»Ich frage mich, ob Herr Oswald das Buch von ihm hat.«

»Das glaube ich nicht«, sagte er, als wäre es ihm unangenehm, damit konfrontiert zu werden. »Zwar ist es bei uns nur schwer zu bekommen, aber er hat natürlich seine Kanäle.«

Ich erkundigte mich, ob er es gelesen habe, aber er schüttelte den Kopf und hatte plötzlich einen wehmütigen Ausdruck in den Augen.

»Manon beschäftigt sich gerade damit. Unter den Parteifreunden ihres Vaters kursiert es als eine Art Bibel, aber niemand nimmt sich die Zeit, es auch wirklich zu studieren. Deshalb hat er sie gebeten, es für ihn zu tun und ihm zu sagen, was drinsteht.«

»Und?«

»Ich glaube, es ist ein ausgemachter Schmarren. Eine von Grund auf verlogene Schwarzweißmalerei, wie sie nur aus Amerika kommen kann, obwohl die Autorin, soviel ich weiß, ursprünglich aus Russland stammt. Es lohnt sich gar nicht, darüber zu reden.«

»Doch, doch«, sagte ich. »Du hast mich neugierig gemacht.«

Er sah mich irritiert an und schien zu überlegen, ob ich es ernst meinte oder ob ich ihn nur auf den Arm nehmen wolle, und ließ sich dann nicht länger bitten.

»Es handelt von einer Gruppe von Leuten, die denken, dass es so nicht mehr weitergehen kann, und sich entscheiden, in Streik zu treten. Sie glauben, dass die Gesellschaft ihre Verdienste nicht ausreichend würdigt, und ziehen sich aus allem zurück. Sie sind überzeugt, dass die Welt, von ihnen allein gelassen, in kurzer Zeit am Ende ist.«

»Das klingt ja wie eine Strafaktion«, sagte ich. »Aber wohin wollen sie sich denn zurückziehen? Die Welt ist überall. Auf einen anderen Stern?«

Ich musste an den Reverend denken, der gesagt hatte, dass immer mehr Leute in den Wald gingen, aber bevor ich das erwähnen konnte, antwortete Christoph schon.

»Nein«, sagte er. »Irgendwo ins Gebirge.«

»Und nach ihnen die Sintflut?«

»Ja, ein großes Reinemachen.«

»Aber welche Leute?«

»Die das Ganze in Gang halten oder es jedenfalls von sich glauben«, sagte er. »Unternehmer, Angestellte in führenden Positionen, Manager. Solche Leute. Wie sagt man gleich?«

»Die Elite«, sagte ich müde. »Meinst du das?«

»Ich habe keine Ahnung, wer sonst noch mit von der Partie sein soll«, sagte er, ohne darauf einzugehen und offensichtlich schon belustigt über die Vorstellung. »Aber für den einen oder anderen Fernsehkoch, den einen oder anderen Starfriseur, den einen oder anderen Fitnesstrainer und das eine oder andere missratene Töchterchen wird es sicher Platz genug geben.«

Ich wollte das Wort aussprechen, aber er kam mir zuvor.

»Alles in allem die ›Pöschten‹ also, würde ich sagen.«

So wie er es sagte, hätten es Außerirdische sein können, Mutanten aus einem Science-fiction-Film, vielleicht mit menschlichem Antlitz, aber mit ganz anderen Antennen und Verdrahtungen, als Normalsterbliche sie haben. Es war ihm anzusehen, wie glücklich es ihn machte. Er genoss es richtig, und wenn er sich gerade noch beherrscht hatte, kannte er jetzt kein Halten mehr und prustete, sich immer wieder vor Lachen unterbrechend und nach Luft ringend, los.

»Stell dir vor, die ›Pöschten‹ ziehen sich aus allem zurück. Sie lassen uns arme Schlucker allein auf der Welt. Die ›Pöschten‹ schießen sich selbst auf den Mond.«

Es klang tatsächlich nicht gerade, als ob er gerettet wäre. Er schien plötzlich in einer überdreht ausgelassenen, regelrecht hysterisierten Stimmung, und während er sich weiter erheiterte, fiel mir auf, dass er nach fast jedem Lachen zur Villa hinüberschaute, was meinem anfänglichen Verdacht, von dort beobachtet zu werden, nur neue Nahrung gab. Seine Auflehnung hatte etwas von der Auflehnung eines Kindes, das, berauscht von der Macht der eigenen Worte, im selben Augenblick auch schon die Strafe fürchtet. Ich wusste nicht, wofür er sich schadlos hielt, aber wenn ich eine Bestätigung gebraucht hätte, dass es wahrscheinlich nicht einfach war, der Schwiegersohn eines »Pöschten« zu sein und direkt unter seinen Augen zu gedeihen und sich zu vermehren oder vielleicht auch nur Daumen zu drehen, erhielt ich sie damit. Indes schwieg ich in dem beklemmenden Gefühl, einen Verdacht gegen ihn zu haben, den ich gar nicht haben wollte, und vielleicht ruderte er deswegen zurück und sagte von einem Augenblick auf den anderen, ich solle nur keine falschen Schlüsse ziehen, er sei alles in allem glücklich und könne nicht klagen. Ich beruhigte ihn, er brauche sich keine Sorgen zu machen, und als er dann auch noch mit der Erklärung kam, es sei nur deswegen mit ihm durchgegangen, weil er sich an unseren Sommer damals erinnert habe, und mich entschuldigend ansah, als würde er von einer unverzeihlichen Verirrung sprechen, fing er sich schnell wieder, und der Abstand, den es zwischen uns gab und den es immer schon gegeben hatte, war von neuem hergestellt.

Dass ich auch Herrn Oswald selbst treffen würde, hatte ich nicht erwartet. Seit seinem Auftritt in meiner Sprechstunde hatte ich ihn nicht mehr gesehen, aber wie er jetzt auf dem Weg von der Villa daherkam und auf uns zuhielt, war es zu spät, mich zu empfehlen und der Begegnung auszuweichen. Ich hatte ihn als größeren, kräftigeren Mann in Erinnerung, was wohl auch daran lag, dass ich damals gesessen war und er stehend auf mich eingeredet hatte. Er näherte sich mit schnellen Schritten, nahm die letzten Stufen mit Schwung, streckte mir von weitem die Hand hin und setzte sich unaufgefordert. Er erinnerte sich offensichtlich an mich, brachte es aber gleichzeitig fertig, so zu tun, als würde er sich der Umstände, unter denen wir uns kennengelernt hatten, gerade nicht entsinnen. Statt dessen strotzte er vor Umgänglichkeit, obwohl er nicht mehr den Dialekt sprach, mit dem er mich einzuschüchtern versucht hatte, sondern dieses singende, servile Kellner- und Dienstboten-Deutsch, in das in unserer Gegend noch die gröbsten Kerle von einem Augenblick auf den anderen verfallen können, wenn sie es für opportun halten, und das einen ob seiner Unterwürfigkeit wünschen lässt, sie möchten doch lieber wieder aus voller Brust lospoltern. Ich hatte sein Bild auf dem Herweg an fast jeder Straßenecke plakatiert gefunden, und angesichts des Glanzes und der Buntheit der Kopien war es wahrscheinlich unausweichlich, dass mir das Original ein wenig blass und farblos erschien. Er wurde als der Beste für die Stadt beworben, und ich musste nur daran denken, wie Christoph das Wort gerade noch verballhornt hatte, dass mich das zum Lachen reizte.

Dabei war mir lange nicht klar, worauf Herr Oswald hinauswollte. Eine Weile sah es ganz danach aus, als wäre er tatsächlich nur gekommen, um Smalltalk zu führen, vielleicht auch im Hinblick auf die anstehenden Wahlen, und als er schließlich auf Daniel zu sprechen kam, dachte ich zuerst, es sei nichts anderes als das, und war überrascht, als ich feststellte, dass er ihn tatsächlich kannte. Er sagte, das mit dem Jungen sei traurig, und zweifelte offensichtlich nicht, dass Daniel für die beiden Bombendrohungen verantwortlich war. Ich hielt es für das übliche Gerede und hielt es auch noch für Gerede, als Herr Oswald klagte, wie schade es um ihn sei, er sei ihm klug und aufgeschlossen erschienen und hätte sicher eine große Zukunft gehabt, wenn es nur jemandem gelungen wäre, ihn von seinen religiösen Spinnereien abzubringen.

Ich glaubte, mich verhört zu haben, als er dann sagte, es sei ja auch kein Wunder, dass seine Tochter zuerst in Daniel verliebt gewesen sei. Dabei warf er einen Blick auf Christoph, wie um sich zu vergewissern, dass er damit nicht zuweit ging, aber gleichzeitig ließ er keinen Zweifel, dass er sich das auf seinem Grund und Boden herausnehmen konnte. Er sagte es wie etwas, das gesagt werden musste, wenn er Daniel gerecht werden wollte, und alles andere wäre falsche Rücksichtnahme.

Dass Christoph mir leid tat, kann ich nicht behaupten, aber ich sah ihn bestürzt an, während Herr Oswald seinen Arm tätschelte und an mich gewandt fortfuhr, es sei nun einmal so im Leben, dass man sich mit dem Zweitbesten bescheide, wenn man das Beste nicht bekommen könne. Ich habe die Situation noch genau in Erinnerung. Er bemühte sich gar nicht, das besonders ironisch klingen zu lassen, oder seine Ironie hatte sich schon abgenützt, weil es nicht das erste Mal war, dass er dieses Spiel spielte, ja, es schien ihm gar nicht bewusst zu sein, was für eine Ungeheuerlichkeit er sich da erlaubte.

»Der Bub hat schon etwas Besonderes gehabt«, fing er noch einmal an. »Ich erinnere mich, wie er zu mir gekommen ist und mich gefragt hat, was aus meiner Kindheit ich am meisten vermisse.«

Ich hatte bereits vergessen, dass Daniel auch ihn an seiner Umfrage beteiligt hatte, aber es war natürlich naheliegend.

»Er war gerade aus Israel zurück und vielleicht ein bisschen schwärmerisch«, sagte ich. »Was haben Sie gesagt?«

Dabei zwang ich mich, meinen Blick von Christoph abzuwenden und Interesse zu mimen, aber Herr Oswald lachte nur über meine Frage.

»Wie Sie vielleicht wissen, war ich damals Bürgermeister«, sagte er, als wäre das schon eine Antwort darauf. »Da haben Sie nicht viel Spielraum.«

Er hörte nicht auf, Christophs Arm zu bearbeiten, während er mich gleichzeitig nicht aus den Augen ließ und voller Jovialität weiterredete.

»Ich hätte sagen können, meinen Teddy, und alle hätten geglaubt, ich will mich andienen. Es kann sich ja niemand vorstellen, dass ein Politiker ein Mensch mit Gefühlen ist. Ich hätte sagen können, meine erste Kinderfrau, die mich nach dem Rodeln im Winter in den Arm genommen hat, und ich hätte mich der Lächerlichkeit preisgegeben, weil mir das als Männerphantasie ausgelegt worden wäre.«

»Und wie haben Sie sich aus der Affäre gezogen?«

»Ich habe gesagt, ich vermisse mich selbst als den Knaben, der ich war. Ich vermisse mich in meinem blauen Anzug bei der Erstkommunion zwischen meinem Vater im gleichen blauen Anzug und meiner Mutter in einem blauen Kostüm. Ich habe gesagt, ich vermisse alles, woran ich damals geglaubt habe.«

Dieser Ausbruch von Sentimentalität kam für mich ganz und gar unerwartet, und ich wusste nicht, was sagen, und nahm wieder Christoph in den Blick, der endlich seinen Arm frei gemacht hatte und dasaß, ohne eine Miene zu verziehen. Er schien das schon zu kennen und sah Herrn Oswald eine Weile aus ausdruckslosen Augen an, bevor er erwiderte, sein Herr Schwiegervater werde auf seine alten Tage ein bisschen wunderlich, und das nun seinerseits mit gerade so viel Ironie versetzte, dass es nicht von Bitterkeit zu unterscheiden war. Dann stand er auf und entschuldigte sich, er müsse jetzt leider zu seiner Arbeit zurück. Er machte jedoch keine Anstalten zu gehen, bis auch Herr Oswald sich erhob. Eine Weile blieben sie vor mir stehen, als sollte ich entscheiden, wer in dem Schlagabtausch der Sieger sei, aber als ich schon glaubte, es werde noch etwas kommen, eilte Christoph wortlos davon.

Vor der Villa waren wieder die beiden Mädchen aufgetaucht. Sie hatten unsere Anwesenheit bemerkt und winkten zu uns herüber. Einen Augenblick war ihr Lachen zu hören, das Lachen der Jüngeren, das immer so klang, als würden sie an den Älteren etwas komisch finden. Dann gingen sie eingehängt zum Tor hinunter, drehten sich noch einmal zu uns um und waren in der nächsten Sekunde wie zwei Luftwesen verschwunden.

Ich stand selbst schon wieder auf der Straße, als mir einfiel, dass ich Herrn Oswald doch nach dem Buch hätte fragen sollen. Die Gelegenheit hätte ich gehabt, als er mir die Hand schüttelte und sagte, er könne doch mit meiner Stimme bei den Wahlen rechnen. Es ging mir immer noch durch den Kopf, dass es vielleicht doch nicht zufällig das gleiche Buch war, das ich vor dem Hof des Reverends hatte mitgehen lassen, und die Idee, der Verrückte könnte Einfluss auf ihn genommen haben, ließ mich nicht los, auch wenn damit nichts bewiesen wäre. Zu Hause suchte ich noch einmal nach meinem Exemplar, aber ich fand es wieder nicht. Ich überlegte, ob es unter den Büchern sein konnte, die ich vor einiger Zeit auf den Dachboden geschafft hatte, doch als ich fast schon so weit war, hinaufzugehen und nachzuschauen, bremste ich mich. Zu sehr schreckte ich davor zurück, die Bananenschachteln noch einmal zu öffnen, die ich damals zusammengepackt hatte. Ich hatte mich von jedem einzelnen Buch nur schwer getrennt, war dann aber schnell froh gewesen, es nicht mehr um mich zu haben, obwohl es noch einige Zeit brauchte, bis ich mir das eingestand. Da hatte ich beim Lesen auch längst schon aufgehört, mich zu fragen, was wohl Robert dazu gesagt hätte, wenn mir ein Buch gefiel, und ich wusste, dass ich mich noch von vielen anderen würde trennen müssen, vielleicht sogar von meiner ganzen Bibliothek, wenn ich endlich meinen Frieden mit ihm finden wollte.

Der Besuch bei Christoph erzeugte ein leeres Gefühl in mir. Weil ich nicht klüger war als zuvor, sagte ich mir, ich wäre besser nicht hingegangen. Ich hatte nie viel darüber nachgedacht, wie die beiden Jungen zueinander standen, wenn ich von der ersten Gewissheit ihrer Freundschaft und Unzertrennlichkeit absah, aber Herrn Oswalds wie ernst auch immer gemeinte Aussage, Manon sei zuerst in Daniel verliebt gewesen, ließ mich wieder überlegen, welche Zufälligkeiten ein Leben bestimmten, das von außen betrachtet als notwendig erschien, als hätte es nie eine Wahlmöglichkeit gegeben. Es widerstrebte mir zu denken, Daniel könnte an Christophs Stelle in dem Haus neben der Oswaldschen Villa sitzen, und doch dachte ich es um so mehr, als ich es nicht glaubte und auch nicht glauben wollte. Ich plazierte ihn mutwillig an die Seite von Manon, sah ihn mit ihr auf der Veranda des Hauses, ein Paar wie tausend andere Paare, und vermochte nichts anderes darin zu sehen als eine weitere Form des Übels. Es war unmöglich, dass er seine Rolle so spielte wie Christoph, und wenn ich mir vorzustellen versuchte, wie er sich in dem goldenen Käfig machen würde, waren die beiden Bombendrohungen weit weg, aber ich durfte meine Gedankenspielereien nicht über einen bestimmten Punkt hinaustreiben, oder sie endeten erst recht in Mord und Totschlag.