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Die Bezeichnung hatte sich eingebürgert, seit sie zwei Jahre davor zum ersten Mal im Dorf aufgetaucht waren. Sie wurden von Anfang an »die Sektenleute« genannt, und das zeigte, was für ein reserviertes Verhältnis die Leute zu ihnen hatten. Es machte sich kaum jemand die Mühe, herauszufinden, wer genau sie sein mochten, und wenn über sie gesprochen wurde, konnte man am ehesten hören, dass von den Verrückten die Rede war, die den Hof am Dorfrand gemietet hätten und tatsächlich bereit seien, für das Gebäude mit dem reparaturbedürftigen Schindeldach, in das es an mehreren Stellen hineinregnete, und die halb verfallenen Ställe etwas zu zahlen. Die alten Besitzer waren hinausgestorben, die jungen längst woandershin gezogen, und es hatte sich jahrelang kein Käufer gefunden, obwohl bis zuletzt ein Verkaufsschild am Gartentor hing, was allein schon den neu Einziehenden Aufmerksamkeit garantierte.

An einem Sommertag waren sie plötzlich erschienen, in einem großen Kombi mit abgedunkelten Scheiben, der fast lautlos dahergerollt kam und, die Alarmblinker an, vor dem Eingang stehenblieb. Es dauerte eine Weile, als wollten sie es sich noch einmal überlegen, aber schon stiegen sie einer nach dem anderen aus, der Reverend, wie er später von allen genannt wurde, in seinem schwarzen Anzug, ohne den man ihn nie sehen würde, die Frau angeblich mit Kopftuch und Sonnenbrille und die drei Mädchen nicht weiter auffallend, was ihr Äußeres betraf, vielleicht sechzehn und siebzehn, die beiden älteren, und das andere, etwas jünger und, was natürlich doch auffiel, mit dunklerer Hautfarbe. Sie hielten inne, schauten hinüber zum Haus, schauten das Tal hinauf und hinunter und wieder zum Haus, und dann gehen die Meinungen auseinander, obwohl es gar nicht so viele Beobachter gewesen sein konnten, wie sich Zeugen fanden, die es gesehen haben wollten. Die einen sagen, der Mann habe seine Arme emporgereckt und sich mit erhobenem Kopf, den Blick in den wolkenlosen Himmel gerichtet, einmal im Kreis gedreht, die anderen, sie hätten sofort angefangen, Gepäck aus dem Kofferraum zu laden, und es sei Unsinn, der Szene mehr Bedeutung beizumessen, als sie gehabt habe.

Jedenfalls spazierten sie noch am selben Tag durch das Dorf, und auch davon gibt es unterschiedliche Darstellungen, heißt es einmal, sie hätten den Leuten über den Gartenzaun zugerufen, ihnen einen schönen Tag gewünscht und eine Fröhlichkeit zur Schau gestellt, die allenthalben Misstrauen geweckt habe, dann wieder, sie hätten mit niemandem gesprochen. Sie gingen auf der wenig befahrenen Straße nebeneinander, die Mädchen ineinander eingehängt, die Frau am Arm des Reverends, und ganz offensichtlich hatten sie sich herausgeputzt. Es blieb das Bild, an das ich mich immer als erstes erinnerte, wenn ich an sie dachte, obwohl ich nicht dabeigewesen bin. Ich sah sie wie für ein Foto gestellt vor mir, die Töchter in weißen Blusen und langen Röcken, ihr Haar glattgekämmt, während ihre Mutter, jetzt genauso in Schwarz wie der Mann, wohl noch die Sonnenbrille aufhatte, aber nicht mehr das Kopftuch, und ihn um eine Handbreit überragte, eine selbstbewusste Erscheinung und keineswegs das verhuschte, bis in die Physiognomie hinein unterdrückte Wesen, zu dem so manch einer sie später machte.

Da hatte sich schon herumgesprochen, dass sie aus Amerika waren, aber als der Reverend am Abend ins Gasthaus kam, erfuhr man darüber hinaus kaum etwas. Er fragte am nächsten Morgen an der Tankstelle, wo man am besten einkaufen könne, gab zuerst ein viel zu großes Trinkgeld, kehrte jedoch noch einmal um und verlangte den Betrag bis auf ein paar lächerliche Groschen zurück. Wenige Stunden später beobachtete man ihn, wie er den Kombi vor dem Supermarkt parkte und bis oben hin vollud, und dann schleppte er schwer bepackt die Einkaufstaschen zum Haus.

Während die Frau den ganzen Tag verschwunden blieb, hatten die Mädchen schon das zu tun begonnen, was sie in den kommenden Wochen meistens tun sollten oder was man sich zumindest von ihnen erzählte. Sie spielten Federball und verteilten die Tore eines Krocketspiels über den Obstgarten, der zum Haus gehörte, so dass man sie mit ihren Schlägern wie in die Landschaft gestellt einmal da, einmal dort sehen konnte, als hätten sie eine knifflige Aufgabe zu bewältigen. Außerdem nahmen sie von Anfang an ihre Plätze zum Lesen ein, eine Kuhle im Boden, die Stufe vor der sonnenbeschienenen Holzwand, an der früher das Brennholz aufgestapelt war, die Hinterbank eines Autos, die sie in der Scheune gefunden hatten und unter einen Sonnenschirm mitten in die Wiese setzten.

Seit ihrer Ankunft waren noch keine vierundzwanzig Stunden vergangen, und sie hatten sich schon eingerichtet. Es war eine rasche Besitznahme, mit der sie ihr Revier absteckten, das sie kaum mehr verließen, und es geriet zur Ausnahme, wenn sie sich nach ihrem Begrüßungsspaziergang noch einmal ins Dorf wagten. Die Entfernung zu den nächsten Häusern war groß, alles aufgegebene Güter, die jetzt von türkischen Familien bewohnt wurden und dem Ortsteil mit seinen paar Dutzend Einwohnern in den Gasthausgesprächen den Namen Little Istanbul gaben, was angeblich auch erklärte, warum sie von Anfang an für sich blieben. Dafür tauchten bald schon die ersten Mopeds an dem halb verwahrlosten Grundstück auf, deren Knattern sie von weitem ankündigte, und man konnte zu jeder Tageszeit Jungen sehen, die jetzt ihren Treffpunkt dort hatten, den Mädchen über die Reste einer Hecke hinweg bei ihren Spielen zusahen und, möglichst ohne den Anschein von Eile zu erwecken, aufbrachen, wenn der Reverend oder seine Frau vor die Tür trat.

An manchen Tagen sah man die ganze Familie frühmorgens in den Kombi steigen und wegfahren und erst spätabends wieder zurückkommen, und es fiel zwar auf, dass sie immer wieder auf der Trasse der damals noch im Bau befindlichen Autobahn einen Spaziergang machten, aber das taten andere auch, als müsste das Land ein letztes Mal in Besitz genommen werden, bevor die Strecke den Autos übergeben wurde. Meistens schlenderten sie die paar Minuten bis zur Raststätte, die erst im Rohbau war, breiteten dort eine Decke aus und picknickten oder saßen eine Weile nur da. Das Wetter war in der Regel gut, aber sie ließen sich von diesem Ritual auch nicht abhalten, wenn es regnete, hatten dann Schirme dabei, standen mit gesenkten Köpfen um einen leeren Mittelpunkt im Kreis und schienen zu beten.

Das war der Stand der Dinge, als ich eines Tages auf dem Hauptplatz zufällig in Herrn Bleichert hineinlief, dem ich seit Beginn der Ferien nicht mehr begegnet war. Ich hatte die Geschichten davor von allen möglichen Leuten gehört, schließlich waren der Reverend und seine Familie in diesem Sommer nicht nur im Bruckner das erste Gesprächsthema, aber es brauchte schon den Pfarrer und seine Erregung, um mir wirklich klarzumachen, was da passierte. Er blieb auf dem Gehsteig neben mir stehen und hielt mich am Ärmel fest, während er prompt auf mich einzureden begann.

»Hast du gehört, dass der Verrückte jetzt anfängt, die Leute im Gasthaus, oder wenn er sie auf der Straße trifft, mit seinen Vorstößen zu belästigen, ob sie an die Bibel und an Jesus Christus glauben?« fragte er. »Er stellt sie vor die Wahl, ob sie gerettet werden wollen oder nicht, und schwört, eine todsichere Methode zu haben und nur zehn Minuten ihrer Zeit in Anspruch zu nehmen, um sie vor der Hölle zu bewahren.«

Er war so außer sich, dass er sich verhaspelte und immer noch eine Anekdote über den Reverend zum besten gab, immer noch einen Vorfall, der zeigen sollte, wozu er sich verstieg.

»Ausgerechnet einen Arbeiter, der gerade von seiner Schicht im Betonwerk nach Hause geht, spricht er nach ein paar unverfänglichen Sätzen über das Wetter darauf an, ob er eine Vorstellung habe, wohin er käme, wenn er in diesem Augenblick sterben würde. Das darf doch nicht wahr sein. Einen arglos vor sich hin Bummelnden fragt er, ob er wisse, dass er ein Sünder sei, einen anderen, ob er mit ihm beten wolle, und als der Mann das verneint, bietet er ihm an, für ihn zu beten, und als er auch damit auf Ablehnung stößt, versichert er ihm, Gott würde ihn trotzdem lieben und ihm hoffentlich eines Tages das Herz öffnen.«

»Das klingt ja ganz, als ob du eifersüchtig wärest«, sagte ich lachend, als Herr Bleichert schließlich atemlos eine Pause machte. »Wie spricht er eigentlich mit ihnen?«

»Das versuche ich dir doch gerade zu erklären. Wie soll er schon sprechen? Ich verstehe nicht, worauf du hinauswillst.«

»Spricht er deutsch?«

Herr Bleichert nickte.

»Für einen Amerikaner sogar sehr gut.«

Er ließ meinen Ärmel los und sah mich an.

»Dabei soll er den Eindruck erwecken, als hätte er die paar Sätze auswendig gelernt«, sagte er dann. »Das muss seine Auftritte noch grotesker machen, und die meisten fliehen, wenn sie ihn nur sehen.«

Trotz dieser Vorkommnisse gab es am Ende so wenig Faktisches, dass das Gerede schon überhandzunehmen begann, Mutmaßungen, dass der Reverend und seine Familie sicher nicht freiwillig aus Amerika weggegangen seien, und was sie wohl zu verbergen hätten, als in der dritten Woche ihres Aufenthalts ein langer Bericht über sie in der Zeitung erschien, und darin fanden sich dann wahrlich romanhafte Züge. Ich wurde von Agata darauf hingewiesen, und obwohl sie sonst nichts von den Geschichten hielt, die im Bruckner kursierten, ließ sie sich jetzt davon mitreißen. Die Arme weit von sich gestreckt, stand sie hinter der Theke und schien bereit, vor Neugier selbst jedes Geheimnis auszuplaudern.

»Hast du das über die Sektenleute schon gesehen?«

Sie schob mir die Zeitung hin.

»Offenbar sind sie nicht zufällig hier. Sie haben sich den Ort gezielt ausgesucht. Der Grund ist der amerikanische Bomber, der im Zweiten Weltkrieg auf den Wiesen in der Au notgelandet ist. Das Ereignis jährt sich in diesem Sommer zum fünfzigsten Mal.«

»Aber was hat das mit ihnen zu tun?«

»Der Reverend scheint der Sohn eines der damaligen Besatzungsmitglieder zu sein«, sagte sie. »Er hat sich schon immer die Stelle ansehen wollen, an der sein Vater um ein Haar ums Leben gekommen wäre. Die Rede ist von einem Gelübde. Außerdem muss er selbst wenige Tage nach der Bruchlandung geboren sein, und es soll ein doppeltes Jubiläum für ihn werden.«

Ich fragte sie, warum er dann überhaupt ein Geheimnis um den Grund seines Hierseins gemacht und niemandem im Gasthaus oder auf der Straße etwas von der Geschichte seines Vaters erzählt habe, und sie zögerte nicht mit der Antwort.

»Er hat sich die Aufgabe gestellt, zuerst wenigstens zehn Seelen zu retten, aber die Leute von der Zeitung sind ihm zuvorgekommen.«

Illustriert war der Artikel mit drei Fotos, die zwar nichts von alldem bewiesen, aber immerhin passten. Das eine war ein Portraitbild, der Reverend in seinen Zwanzigern, und man hätte sich über einen militärischen Hintergrund nicht gewundert, bei dem uniformähnlichen Hemd, seinem Bürstenhaarschnitt und dem allzu klaren Blick. Das zweite Bild zeigte die Besatzung des Bombers, aufgenommen kurz vor ihrem letzten Einsatz, neun gerade erst erwachsen gewordene Männer, wie es schien, aufgestellt wie eine leicht dezimierte Fußballmannschaft, vier vorne, fünf hinten, sein Vater mit einem Pfeil hervorgehoben, und sie blickten alle mit einer Zuversicht in die Kamera, als ginge es wirklich nur um eine sportliche Auseinandersetzung, bei der zudem der Sieger schon feststand. Auf dem dritten Bild posierte eine junge Frau vor dem in der Wiese gestrandeten, wie ein verendetes Untier wirkenden Flugzeug, einen Arm in die Hüfte gestützt, den Kopf in den Nacken geworfen, wie sie es vielleicht auf einem Kinoplakat gesehen hatte, und hinter ihr ragten zwei geknickte Propellerblätter in die Luft und das leere Gerippe der Pilotenkanzel.

Für mich war das alles bestenfalls ein Kuriosum, und ich las halb amüsiert, halb kopfschüttelnd über die Verranntheit des Reverends, der sich seine eigene Welt zusammenbaute. Je mehr ich darüber in Erfahrung brachte, um so weniger fühlte ich mich angesprochen, und das galt vor allem für seinen religiösen Hintergrund. Es waren endzeitliche Visionen rund um die Wiederkehr Christi, die ihn umtrieben, und ich konnte der Zusammenklitterung von rationalen und irrationalen Splittern nichts abgewinnen, in der die Bruchlandung des Bombers als Wunder gefeiert wurde und die Überlebenden als Wiedergeborene.

Es hatte auf jeden Fall mit dem Bericht in der Zeitung zu tun, dass es am Tag des Jubiläums eine kleine Feier gab. Die Blaskapelle rückte aus, wie sie bei anderen Anlässen ausrückte, ein einziger Anachronismus, und schob sich in breiter Formation über die Autobahntrasse vor bis zur Landestelle. Dort hatte sich rund um ein Stehpult ein Häufchen Neugieriger versammelt, nicht mehr als eineinhalb Dutzend, manche wahrscheinlich nur dorthin bestellt, damit nicht gar keiner da wäre, und unter dem Lärm der Baumaschinen, die in den letzten Wochen näher gekommen waren, brachte man es hinter sich. Ein Vertreter des Gemeinderats hielt eine Rede, in der er von Terrorfliegern und Befreiern sprach, als wären die Worte beliebig austauschbar, aber alle klatschten, und dann las der Reverend etwas von einem Zettel ab, bevor er an Ort und Stelle eine Metallplatte mit den Namen der Besatzungmitglieder im Boden vergrub. Anschließend spielte noch einmal die Musik, und nachdem die Aufgebotenen wieder abgezogen waren, stand er allein mit seiner Frau und den drei Mädchen in der Landschaft. Es war halb vier am Nachmittag, und alle, die sie noch sahen, sprachen von einem ergreifenden Anblick, wie sie sich an den Händen nahmen, die Köpfe hoben und in den Himmel schauten.

Im Sommer darauf kamen sie wieder, aber da war das Teilstück der Autobahn schon fertig, und sie konnten nicht mehr über die Trasse gehen. Es war das Jahr, in dem es in der Nähe im Nebel eine Massenkarambolage gegeben hatte, mit fast drei Dutzend Autos und vier Toten, und als sie zurück waren, lagen immer noch verwelkte Blumen an der Böschung, und man konnte in den Feldern, unweit der damaligen Landestelle des Bombers, Wrackteile finden. Sie gingen häufig in die Raststätte zum Essen und mussten den parallel zu den Fahrbahnen verlaufenden Schotterweg nehmen. Es gab jetzt keine Bekehrungsversuche mehr, keine Rettungsversprechen, und wenn man etwas über sie hörte, waren es Andeutungen, dass die Streitigkeiten mit den türkischen Nachbarn zugenommen hätten, Beschwerden, dass in einem Hinterhof geschächtet werde, gegenseitige Anschuldigungen, nicht zu grüßen, bis eines Morgens der große Kombi mit zerstochenen Reifen und abgerissenen Scheibenwischern auf der Straße stand. Der Reverend holte die Mädchen ins Haus, wenn die Jungen mit ihren Mopeds auftauchten, und man konnte sie nur mehr selten im Garten sehen, lauschte vergeblich auf das beruhigende Plop-Plop der Federbälle, das ein paar Wochen lang zu jeder Tageszeit hatte einsetzen können, und begann ihre selbstverständliche Anwesenheit im Freien zu vermissen.

Es war auch in diesem Jahr, dass ich sie zum ersten Mal sah. Im Sommer davor war nie jemand dagewesen, wenn ich an ihrem Haus vorbeikam, aber jetzt ergab es sich in der Raststätte fast zwangsläufig, dass wir aufeinandertrafen. Ich fuhr da schon immer wieder zur Mühle hinaus, ohne dass ich mich entschließen konnte, was ich mit ihr tun sollte, und wenn ich auf dem Rückweg meinen obligatorischen Halt machte, stieß ich manchmal auf sie. Ich hatte nach dem, was über sie erzählt wurde, ganz andere Vorstellungen von ihnen gehabt und merkte erstaunt, von welchen Bildern die stammten. Es war lächerlich genug, aber ich hatte mir tatsächlich eine Quaker- oder eine Amish-Familie ausgedacht, in der ganzen Strenge und Beschränktheit, wie ich sie von Fotos kannte, und musste mich von der Wirklichkeit nun eines Besseren belehren lassen. Der Reverend war ein massiger Mann, sicher über hundertzwanzig Kilo, ein guter Esser, mit schweren Händen, für die er immer eine Ablage suchte und die er nur in Ermangelung einer anderen Möglichkeit in seinem Schoß faltete, die Frau ohne alle Sprödigkeit, mit einem weichen Gesicht und weichen, braunen Augen, und die Mädchen ganz Mädchen, ganz Frische und Anmut, keine Rede davon, dass sie besonders verschlossen waren, wie ich gehört hatte, keine Rede von einer ungesunden Blässe nach ein paar langen Ferienwochen. Zusammen fielen sie höchstens dadurch auf, dass sie immer am gleichen Tisch saßen und nicht in Eile waren wie alle anderen, die nur zum Tanken und für einen Imbiss stehenblieben und gleich wieder verschwanden.

Schon da hatte ich den Eindruck, dass der Reverend mich wahrnahm, dass er einen Punkt daraus machte, mir zuzunicken, wenn ich kam oder ging, und kurz davor war, ein Gespräch mit mir zu beginnen, was er aber erst im Jahr darauf tat, als sie zum letzten Mal den Sommer im Dorf verbrachten und ich tagtäglich zum Fluss hinausfuhr und fast ebenso tagtäglich die Raststätte aufsuchte. Ich saß an der Theke und hatte ihn nicht herankommen sehen, da stand er plötzlich hinter mir und fragte, ob er mich auf einen Kaffee einladen könne. Seine Stimme war tief und schien noch, wenn er sie senkte, durch den ganzen Gastraum zu hören zu sein. Er wartete meine Antwort nicht ab und bestellte, während er einen Hocker neben mich zog und sich umständlich zurechtsetzte. Ich hatte mich ihm nicht ganz zugewandt und verharrte mit steifen Schultern in meiner halb verwinkelten Stellung, dass er es nur als Affront auffassen konnte, aber er tat so, als merkte er es nicht, zündete sich eine Zigarette an und schob mir mit einem angedeuteten Nicken die Packung hin.

»Sie haben ein Haus draußen am Fluss.«

Ich sah, dass seine Frau und die Mädchen an ihrem Tisch sitzen geblieben waren und uns beobachteten, aber an ihren Gesichtern ließ sich nichts ablesen.

»Davon kann keine Rede sein«, sagte ich. »Es ist nur eine alte Mühle, und sie ist in einem Zustand, dass sie bald in sich zusammenfällt, wenn ich mir nicht etwas überlege.«

Ich weiß nicht, ob er es auf eine Einladung anlegte, als er sagte, sie seien manchmal in der Gegend, aber ich ging nicht darauf ein. Der Kaffee kam, und ich nickte ihm zu, obwohl ich ihm weiterhin halb den Rücken zukehrte. Er rauchte eine Weile, und dann erzählte er, sein Großvater habe ein Haus an einem See gehabt, in dem er all seine Kindheitssommer verbracht habe, und ich wusste erst recht nicht, was er von mir wollte.

»Es muss bei Ihnen wunderbare Plätze zum Angeln geben«, sagte er, als ich schon dachte, er würde sich ganz in Sentimentalität auflösen. »Angeln Sie?«

»Nein, aber warum fragen Sie mich das?«

»Sie angeln nicht?«

»Nein«, sagte ich, jetzt schon gereizter. »Ich angle nicht.«

»Sie haben also keine Ahnung, wie es ist, wenn Sie einen wirklich schweren Brocken an der Leine halten«, sagte er, und ich konnte nicht anders, als an seine grotesken Missionierungsversuche zu denken und daran, dass er in seinem Selbstverständnis wahrscheinlich ein Menschenfischer war. »Es ist das nackte Leben, das Sie in den Händen spüren. Sie können sein Gezappel fühlen. Wissen Sie, was Ihnen da entgeht?«

Seine Hartnäckigkeit hatte mich bockig gemacht, aber als ich sagte, ich sei nicht einmal sicher, ob es in dem Fluss überhaupt Fische gebe, lachte er nur.

»Natürlich gibt es Fische.«

Er sah mich mitleidig an.

»Dann jagen Sie wohl auch nicht?«

Es folgte die Geschichte von seinem ersten Gewehr, das er zum zehnten Geburtstag geschenkt bekommen habe. Ich konnte ihn nicht bremsen, er schilderte mir glückselig, wie er mit seinem Großvater in sternklaren Nächten auf die Jagd gegangen sei, irgendwo im amerikanischen Süden. Er beteuerte, nie glücklicher gewesen zu sein als da, nie mehr erfüllt von der Gewissheit, ein Mensch nach Gottes Bild zu sein, und sprach von der Unschuld des Landes, das vor wenigen Generationen noch den Indianern gehört habe.

»Sie fischen und Sie jagen nicht«, sagte er schließlich, und es klang, als hätte er gesagt, ich würde nicht trinken und nicht essen. »Was machen Sie dann da draußen?«

Abgesehen von dem Vater und der Tochter bei Roberts Begräbnis, mit denen ich kaum gesprochen hatte, war er mein erster Amerikaner. Ich kannte ihn gerade einmal eine Viertelstunde, aber er war ein besonderes Exemplar von Mann mit seiner vierschrötigen Visage und der Beharrlichkeit, mit der er auf mich einredete. Irritiert wartete ich auf eine Pause, bevor ich mich ihm mit einem Ruck ganz zuwandte. Ich hatte nicht gedacht, dass das reichen würde, um ihn einzuschüchtern, aber etwas in meinem Blick musste ihm zu verstehen gegeben haben, dass es genug war, so wie er eilig seinen Kaffee austrank, den er noch nicht angerührt hatte, wobei er nach jedem Schluck absetzte und mich in den Augen behielt.

»Wenn das Ihre neue Strategie sein soll, sich an jemanden heranzumachen, dann ist vielleicht sogar die Brachialmethode besser«, sagte ich. »Warum fragen Sie mich nicht, ob ich an Jesus Christus und an die Bibel glaube, und sparen sich dieses Gerede?«

»Nichts für ungut.«

»Fragen Sie mich doch, ob ich gerettet werden will.«

»Verstehe«, sagte er. »Ich frage Sie nicht.«

»Ich will aber gerettet werden.«

»Verstehe.«

»Fragen Sie mich, ob ich mit Ihnen beten will.«

Er sah mich jetzt mit offenem Mund an, und ich musste mich zurückhalten, dass ich ihm nicht ins Gesicht lachte, so absurd erschien mir die Situation.

»Ich will mit Ihnen beten«, sagte ich, als er nicht antwortete, und ich hatte kein Gefühl, ob ich laut oder leise war. »Fangen Sie an, und ich spreche Ihnen Wort für Wort nach.«

Wie aufgebracht ich war, merkte ich nur an seiner Reaktion. Er ließ sich mit einer flinken Bewegung, die ich bei einem Mann von seiner Statur nicht erwartet hätte, vom Hocker gleiten und saß schon wieder mit seiner Familie am Tisch, als ich aufstand und ging. Ich überlegte, bei ihnen stehenzubleiben und etwas Beschwichtigendes zu sagen, aber dann winkte ich ihm zu, und er winkte zurück, während die drei Mädchen mich mit feindseligen Blicken anstarrten und seine Frau in ihrer Handtasche herumkramte. Sie konnten unser Gespräch nicht mitgehört haben, aber offenbar kannten sie die Niederlage, dass er irgendwo abgeblitzt war, und hatten eine antrainierte Haltung entwickelt, sich hinter ihn zu stellen. Ich sah, dass er auf der Stirn schwitzte, sah den Schweiß unter seinen Achseln und war froh, als ich draußen war. Dort strich ich eine Weile um mein Auto herum und atmete tief ein und aus, bevor ich einstieg, und als ich auf die Autobahn fuhr und von einem Gang in den nächsten hinaufschaltete, verstand ich nicht, warum mich dieses Gefühl von Freiheit packte, warum dieser Ausbruch über alle Maßen, nur weil ich ihm entkommen war.