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Ich hatte das Verhältnis zwischen Daniel und mir zu wenig aus seiner Sicht betrachtet. Als der Ältere und als Lehrer musste ich mir die Frage gefallen lassen, was ich von ihm wolle, und tatsächlich brachte erst Herr Bleichert mich darauf, die andere Seite mehr zu bedenken. Der Satz, er habe Daniels Manuskript als Zeichen seiner Zuneigung zu mir gelesen, ging mir nicht aus dem Kopf. Vielleicht hatte ich den Jungen von Anfang an unterschätzt, wenn ich ihm Berechnung unterstellte, sooft er mich um Buchempfehlungen bat. Lange hatte ich geglaubt, er tue es nur, um mir zu imponieren, er frage mich, was er lesen solle, um mich zu beeindrucken, wie er Dr. Prager mit seinen Rechenkünsten beeindruckt hat und für Herrn Bleichert aus der Bibel zitierte, und wenn er las, las er nicht, weil es ihn interessierte, sondern weil er wollte, dass ich es wahrnahm. Dazu brauchte ich mich nur an die Gespräche zu erinnern, die wir manchmal gehabt hatten, wenn er mir ausgeliehene Bücher zurückbrachte. Ich hatte sie oft als mühsam empfunden, als gestellt, geradeso, als unterzöge er sich selbst einer Prüfung und wünschte sich, dass ich ihm bewundernd dabei zuschaute.
Beim Wiederlesen des Manuskripts fragte ich mich, wie ich das andere übersehen konnte. Stand da nicht, wie sehr er sich am Abend immer freue, am nächsten Tag wieder an den Fluss hinauszufahren? Außerdem waren es ja am Anfang die beiden Jungen gewesen, die dort von sich aus auftauchten, ich hatte sie nicht eingeladen, im Gegenteil, ich gab ihnen zu verstehen, dass ich lieber allein wäre, und sie setzten sich darüber hinweg. Wenn ich ernst nahm, was Daniel schrieb, beobachtete er mich, sooft ich vor dem Haus saß und, ein Buch im Schoß, in der Nachmittagssonne eingenickt war. Er schaute mir zu, wenn ich zum Wasser hinunterging und ein paar Züge schwamm. Entweder er blieb sitzen, oder er überlegte, ob er mir folgen solle, und kam gleich darauf in raschen Schritten nach, schlenderte neben mir her und sprang kopfüber in einen der Gumpen am Rand, die vom Flussbett abgetrennt waren und nur bei Hochwasser geflutet wurden. Die tiefsten waren kaum einen Meter tief, aber er schaffte es mit einem flachen Sprung, dass sein Körper sanft über den Grund glitt, ohne dass er sich verletzte, und dann stand er wartend in der schlammigen Brühe, über der es von Insekten nur so schwirrte, und streckte mir die Hände entgegen. In der Sonne glitzerten die Tropfen auf seiner Haut, und ich weiß noch, dass ich jedesmal stehenblieb, ihn anschaute und wartete, bis er die Arme wieder sinken ließ, bevor ich auch nur einen Fuß eintauchte. Das Lachen in seinem Gesicht, in diesen Augenblicken, war ein Lachen zuerst aus kindlicher Freude und danach ein Lachen über mich, weil ich mich so zimperlich anstellte.
Ich hatte immer gedacht, ich sei kaum je mit ihm allein gewesen, doch das stimmte nicht. Natürlich war Christoph in der Regel dabei, aber es gab auch Augenblicke, wo er sich entfernt hatte und außer Sicht- und Hörweite war, und einmal kam Daniel ganz ohne ihn an den Fluss hinaus. Ich weiß nicht mehr, welchen Grund er angab, aber ich erinnere mich, dass er glaubte es begründen zu müssen, und ich erinnere mich an seine Schüchternheit an dem Tag und wie er gespreizt sagte, mir bleibe nichts anderes übrig, als mit seiner Gesellschaft vorliebzunehmen, und so tat, als bräche er in der nächsten Sekunde auf. Das war drei Tage nachdem ich hinter ihm hergelaufen war und ihn umschlungen hatte, und ich wusste selbst nicht, wie mit ihm umgehen. Wir saßen lange schweigend in der Sonne, sprachen über Belangloses, und allein dass er so wortkarg war und nicht die erste Gelegenheit nützte, um eines seiner Gespräche zu beginnen, wie er es meistens getan hatte, wenn Christoph gerade nicht in der Nähe war, zeigt die Besonderheit der Situation. Denn sonst hatte er oft von einem Augenblick auf den anderen das Thema gewechselt, worum auch immer es gerade noch gegangen war, und er hatte mich im Handumdrehen gefragt, wo und in welcher Zeit ich gern gelebt hätte oder ob ich noch lieber überhaupt nicht geboren wäre, hatte eine überdrehte Diskussion angefangen, ob ich auch die Meinung teilte, dass der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik genüge, um die notwendige Endlichkeit der Welt und damit die Nicht-Existenz Gottes zu beweisen, oder hatte sich zu der Anmaßung verstiegen, streng logisch folge allein aus der Tatsache, dass bislang alle Menschen gestorben seien, durchaus nicht, dass auch er sterben werde.
Leider habe ich mir keine Notizen gemacht, aber in seiner Unduldsamkeit durfte es nur das Wesentliche sein, und es waren die verdrehtesten Volten, in die er sich stürzte. Oft bekam ich den Eindruck, er hätte am liebsten eine Liste vorgelegt, um sie mit mir abzuarbeiten und bloß nicht Zeit mit Trivialitäten zu verplempern, und das war auch sein Lieblingswort, »trivial«, ein Wort, das die Mathematiker verwenden, wenn alles klar ist und es nichts zu beweisen gibt. Auffallend war sein gestörtes Vertrauen in die Realität, waren seine Zweifel, ob er einen Platz darin finden würde oder, genauer, ob es sich lohne, einen zu finden oder überhaupt finden zu wollen, oder ob es nicht klüger sei, von vornherein auf Flucht zu setzen. Dabei ging es nur scheinbar darum, was er nach dem Sommer anfangen solle, auch wenn er die größte Sorgfalt darauf verwendete, jede Möglichkeit, die ihm einfiel, als unmöglich zu unterlaufen. Studieren? Irgendwann einen Beruf haben, eine Frau und vielleicht Kinder? Morgens zur Arbeit gehen und am Abend nach Hause zurückkehren wie in einer Vorabendserie? War da nicht besser die Wüste? Es folgten Diskussionen, die er um der schieren Diskussion willen anzettelte, naiv und hochtrabend, geradeso, als wäre er der erste, der darauf verfiel. Dabei war es in diesem Alter normal, sich über all das Gedanken zu machen, und er befand sich in guter Gesellschaft. In fast jeder Klasse gab es die Steppenwolf-Leser und die Siddhartha-Leser, die auf der Suche nach sich selbst für eine Weile keinen Boden mehr unter den Füßen hatten und von denen sich manche noch Jahre danach auf eine Pilgerreise nach Indien begaben, und wenn er herausragte, dann vielleicht nur, weil Indien in seiner Welt keine Rolle spielte und verlorenes Paradies und gelobtes Land ein und dasselbe für ihn waren.
Die Zuspitzung kam mit dem Abbruch seines Studiums. Er hatte sich schließlich für Mathematik entschieden. Ich erinnere mich noch, wie er in der für ihn üblichen Mischung aus Pathos und Ironie sagte, das sei die Sprache Gottes, und wenn er begreifen wolle, wodurch alles zusammengehalten werde, könne er gar nicht genug davon verstehen. In Wirklichkeit war es wohl eher seine Vorliebe für das Abstrakte, die ihn dahin brachte, vielleicht auch ein Versprechen von Wahrheit, das er der Auflösung aller Gewissheiten entgegensetzen konnte, und um so größer schien am Ende die Krise. Es war mitten in der Woche, als er bei mir klingelte, und als ich ihm überrascht öffnete, ging er wortlos an mir vorbei, setzte sich ins Wohnzimmer und begann ohne Umschweife zu sprechen. Er trug ein Sakko zu seiner Trainingshose, war unrasiert und machte einen verwirrten Eindruck, wie er ganz gegen seine Art breitbeinig in seinem Fauteuil saß und mich kaum zu Wort kommen ließ.
»Das hat alles keinen Sinn«, sagte er, ohne mir zuzuhören, als ich ihn umzustimmen versuchte. »Wohin auch immer ich blicke, ich sehe nur Leute mit leeren, vergeudeten Leben, die sich mit sinnlosen Dingen beschäftigen, leere, sinnlose Gespräche führen und darauf warten, dass sie von dem Unsinn erlöst werden und sterben.«
Es hätte eine von unseren Diskussionen werden können, wäre nicht seine Verzweiflung gewesen, aber so wusste ich, dass es diesmal anders war, und sah ihn abwartend an, als er fortfuhr, er müsse aus allem heraus. Damit kippte er den Rucksack mit Büchern, den er vor sich abgestellt hatte, auf den Teppich, als wären es lauter Beweisstücke für die Vergeblichkeit, von der er sprach, und behauptete, sie gehörten mir, er habe vergessen, sie zurückzugeben. Ich sagte, dass ich keines vermisste, aber er bestand darauf und händigte mir eines nach dem anderen aus, und ich nahm sie ohne hinzusehen und legte sie auf den Abstelltisch neben dem Sofa.
»Aus allem heraus?« sagte ich schließlich. »Wohin willst du?«
Er zögerte nicht mit der Antwort.
»Irgendwohin, wo es einen Sinn ergibt.«
Doch kaum hatte er das ausgesprochen, schien er auch schon darüber zu lachen. Ich kann nicht sagen, was ihn von einem Augenblick auf den anderen umschwenken ließ, aber wenn er gerade noch grüblerisch verquält gewirkt hatte, hellte sich seine Stimmung plötzlich auf. Es war, als könnte er sein eigenes Lamentieren nicht mehr hören und beeilte sich, es wegzuwischen.
»Ach was, vergiss das mit dem Sinn. Einen solchen Ort gibt es nicht. Für den Anfang würde es schon reichen, wenn ich ein paar Tage in dein Haus könnte.«
Er schien selbst glücklich über die Wendung, ob ihm das gerade erst eingefallen war oder ob er die ganze Zeit schon darauf abgezielt hatte.
»Ich könnte fischen und jagen.«
»Wie willst du das machen?« sagte ich, überrascht von dieser unerwarteten Leichtigkeit, der ich nicht traute. »Mit Pfeil und Bogen?«
Er hatte immer kokettiert, zwei linke Hände zu haben, und ich konnte mir nicht vorstellen, dass er ein Gewehr bediente, ganz abgesehen davon, wo er es hernehmen sollte.
»Außerdem steht der Winter vor der Tür.«
Ich hatte das nur so dahingesagt, aber er merkte sofort auf.
»Das stört mich nicht«, sagte er. »Der Winter ist meine Jahreszeit. Solange ich mich erinnern kann, war ich gern draußen im Schnee. Ich bin im Winter geboren.«
Ich wusste, er war ebenso unsinnig wie grundlos stolz auf die Geschichte seiner Geburt, ob sie nun stimmte oder Teil seiner Privatmythologie war. Er hatte mir einmal erzählt, dass er in einer Lawinennacht mitten im Nirgendwo zur Welt gekommen sei, und wahrscheinlich war das der Grund für die Euphorie, in die er sich jetzt hineinsteigerte. Er malte sich aus, wie es wohl wäre, den ganzen Tag im Freien zu verbringen, wie er Wildspuren folgen oder sich im Wald auf die Lauer legen und ein Loch in die Eisdecke des zugefrorenen Flusses hacken würde. Er könnte Fallen aufstellen und schauen, was aus den Vorräten geworden war, die er damals im Sommer mit Christoph angelegt hatte. Sie hatten eines Tages an einer Stelle hinter dem Haus ein paar Dutzend Konservendosen vergraben, mit Ablaufdatum irgendwann im nächsten Jahrtausend, aber nicht weil sie dachten, sie könnten sie einmal brauchen, sondern weil ihnen der Gedanke gefiel und ihr Versteck erst ein richtiges Versteck wäre, wenn sie sich mit solchen Spielen wenigstens in ihrer Phantasie von der Außenwelt abgeschottet hätten. Ich hatte schon damals gedacht, dass es nicht die Wildnis war, die ihn in diese Erregung versetzte, sondern nur seine Idee von der Wildnis, und das waren immer noch meine Bedenken, wenn ich ihm bei seinem Schwärmen zuhörte.
»Ich glaube, du hast keine Vorstellung, wie es da draußen ist, wenn es erst einmal geschneit hat«, sagte ich. »Dann sind die Wege tagelang nicht geräumt, und es verirrt sich keine Menschenseele dort hinaus.«
»Um so besser«, sagte er. »Ich will allein sein.«
Ich sah ihn kopfschüttelnd an.
»Dazu musst du nicht mitten im Winter in den Wald gehen.«
»Lass mich doch einfach«, sagte er bestimmt und hätte gleichzeitig nicht passiver sein können. »Ich weiß selbst, was gut für mich ist.«
»Hast du eine Ahnung, wie kalt es am Fluss wird? Es können schnell einmal minus zehn oder minus fünfzehn Grad sein. Willst du erfrieren?«
»Das wird schon nicht geschehen. Ich liebe die Kälte. Außerdem gibt es im Haus ja auch noch den Ofen, den wir damals für solche Fälle aufgestellt haben.«
Es mag verrückt klingen, aber alles, was ich vorbrachte, um ihn abzuschrecken, zog ihn in Wirklichkeit an, und zwei Wochen später, mit dem ersten Schnee, war er fest entschlossen, es zu versuchen. Er stand unangemeldet mit leuchtenden Augen und einem neuen Rucksack vor der Tür, hatte einen Schlafsack und einen Gaskocher gekauft, beide von allerbester Qualität, ohne dass ich sagen konnte, woher er das Geld nahm, und bestand darauf, dass ich ihn an den Fluss hinausbrachte. Ich wusste nicht, wo er in den Nächten davor untergekommen war, aber er sah aus wie ein Abenteurer aus dem Katalog, der sich auf eine wohlkalkulierte Tour einließ und in Anorak, Windhose und Skimütze perfekt ausgerüstet und motiviert wie ein Novize nicht erwarten konnte, dass es endlich losging.
Erst eine Woche davor hatte ich einen Ausbruch von ihm erlebt, der mich an seinem Zustand zweifeln ließ. Wir saßen im Kino, und ein Werbespot, der ihm missfiel, genügte, dass er laut wurde und nicht mehr zu beruhigen war, bis ich mit ihm den Saal verließ. Darin stand eine junge Frau vor einer Wandtafel, kurzes, schwarzes Röckchen, die Brüste hochgedrückt wie in einem Dirndl, das Lächeln zähnefletschend, eine Brille in den Haaren, und richtete an ihre erwachsenen und deutlich älteren Schüler die Frage, wie man »Erfolg« buchstabiere. Ein Stöckchen in der Hand, mit dem sie nacheinander auf sie zeigte, rief sie zwei auf, hörte sich kopfschüttelnd und von oben herab ihre ebenso naheliegenden wie korrekten Antworten an und malte dann ein großes »T«, ein großes »U« und ein großes »N« auf die Tafel, wobei sie die Buchstaben aussprach, als hätte sie Schwerhörige oder Hilfsschüler vor sich. Sie war mit ihrer Belehrung noch nicht fertig, als er aufsprang und polternd über sie herzog. Dabei hatte ich den Eindruck, er fühle sich direkt von ihr gemeint, und genauso direkt pöbelte er zurück und nannte sie eine heruntergekommene blöde Drecksnull, die schon noch sehen werde, wo sie mit ihren Sprüchen bleibe, wenn das Leben sie erst einmal gezeichnet hätte und sie sich etwas anderes einfallen lassen müsse, als dumm daherzureden und den Leuten ihre aufdringlichen Titten ins Gesicht zu drücken.
Bei allen Merkwürdigkeiten, die ich da schon an ihm wahrnahm, war es zum ersten Mal, dass er offen aggressiv wurde, und auf der Fahrt hinaus an den Fluss dachte ich, wie fremd er mir war, trotz unseres gemeinsamen Sommers und trotz der Verbindung, die wir seither aufrechterhielten. Ich erinnerte mich, wie er mich damals nicht nur einmal gefragt hatte, ob ich ihn aufnehmen würde, wenn er sich etwas zuschulden kommen ließe, ob ich für ihn da wäre, wenn er durch alle Netze fiele, ob ich zu ihm hielte, wenn die Polizei nach ihm suchte, weil er eine Bank ausgeraubt oder einen Fußgänger überfahren und Fahrerflucht begangen hätte oder weil er im Verdacht stünde, eine Frau ermordet zu haben. Er brachte das Haus immer mit dem Ausnahmezustand in Verbindung und sah etwas Heimliches und Unheimliches darin, das ihn mit einem frostigen Behagen erfüllte, stellte sich vor, er könnte sich dorthin zurückziehen und es würde ihn vor allem bewahren, wenn er in seiner Welt ein Chaos angerichtet hätte, und jetzt fuhren wir schweigend hinaus, und ich setzte vergeblich an, ihm zu sagen, dass zum Glück nichts von alldem passiert sei. Unter den Büchern, die er bei mir zurückgelassen hatte, war ich auf ein Blatt Papier gestoßen, auf das ich ihn ansprechen wollte, aber ich kam nicht dazu, weil er alles mit seiner Gutgelauntheit übertünchte. Es war mit Blockbuchstaben überschrieben und sollte eine Aufzählung von Dingen werden, die er hasste, war aber leer, und ich fragte mich, ob er es mir absichtlich untergeschoben hatte, während er neben mir auf dem Beifahrersitz saß und am Radio herumdrehte, bis er einen Musiksender fand. Wenn ich das Wort an ihn richtete, trällerte er vor sich hin und sah unbeteiligt hinaus auf die vorbeiziehende Landschaft, als unternähmen wir nur einen Ausflug, wie wir es zu anderen Zeiten getan hatten, und wären am Abend wieder zurück.
Es kommt mir immer noch ganz und gar unwirklich vor, dass ich drei Tage später die gleiche Fahrt mit seiner Mutter machte. Sie hatte erfahren, dass er draußen am Fluss war, und wollte, dass ich sie zu ihm hinausführte. Ich hatte sie davor ein einziges Mal mit ihm zusammen gesehen. Das war auf dem Fußballplatz gewesen, nach meiner Rückkehr aus Istanbul, als ich die Jugend trainierte und Daniel, noch vor unserer ersten Begegnung in der Schule, ein- oder zweimal beim Training aufgetaucht war. Sie hatte ihn abgeholt und ein paar Worte mit mir gewechselt, während er verlegen neben ihr stand und die Hand abwehrte, mit der sie ihm über das Haar strich. Er errötete und zog sie mit sich weg, als sie mich achtzugeben bat, dass er sich nicht überanstrenge. Sie sagte, er habe Asthma, und das war auch jetzt wieder das erste, wovon sie sprach, wenngleich sie vor Erregung nur ein Stammeln zustande brachte und in einem fort wiederholte, er sei zu schwach für solche Eskapaden und die Nächte im Freien würden ihn umbringen.
Auf der ganzen Fahrt kam ich kaum zu Wort, weil sie immer wieder begann, mir Vorwürfe zu machen, und auf der Rückfahrt weinte sie. Wir standen noch auf dem Parkplatz, wo ich das Auto abgestellt hatte, als sie sich schon eine Zigarette anzündete und rauchte, und währenddessen liefen ihr lautlos Tränen über die Wangen. Ich hatte sie mit Daniel allein gelassen und war zum Wasser hinuntergegangen, um dort zu warten, aber er weigerte sich, mit ihr zu sprechen, und jetzt bat sie, ob nicht ich es noch einmal versuchen könne. Sie kurbelte das Fenster auf ihrer Seite herunter und wedelte mit beiden Händen den Rauch hinaus, und mit der Kälte kam diese fast körperlich spürbare Stille herein, die ich immer nur am Fluss wahrzunehmen glaubte. Dann wandte sie mir ihr Gesicht zu, und ich sah, dass sich in der einbrechenden Dunkelheit schon die Konturen zu verlieren begannen.
»Sie sind der einzige, der ihn noch erreichen kann«, sagte sie, als sie ein wenig ruhiger geworden war, aber immer noch lautlos vor sich hin weinend. »Ihnen vertraut er.«
Ich zweifelte, ob das stimmte. Dazu genügte es, daran zu denken, wie er an mir vorbeigesehen hatte, als ich mit ihr vor dem Haus aufgetaucht war. Er saß nicht weit von der Veranda auf dem Findling, mit dem ich mich bei meinen ersten Aufräumarbeiten auf dem Grundstück so sehr abgemüht hatte, und rührte sich nicht, aber an der Art, wie er in sich gekrümmt war, als wäre er mitten in der Bewegung erstarrt, konnte ich alles ablesen. Es kam mir wie ein Totstellreflex vor, als ich ihm eine Hand auf die Schulter legte, seine ganze Körperhaltung Abwehr, als hätte ich ihn hintergangen, und natürlich verweigerte er auch mir jedes Wort.
Deshalb machte ich seiner Mutter auch keine großen Hoffnungen. Ich ertrug ihre abwechselnd still duldende und gleich wieder aufbrausende Anwesenheit neben mir im Auto fast nicht mehr und wäre am liebsten ausgestiegen und ziellos in die Nacht gelaufen. Einen Augenblick musste ich gegen den Impuls ankämpfen, ihr etwas Grobes an den Kopf zu werfen, war jedoch sofort wieder die Umgänglichkeit in Person.
»Am besten warten wir ein paar Tage und schauen, was passiert«, sagte ich. »Wenn wir Glück haben, ergibt sich alles von allein.«
Ihr Nein kam so abrupt, dass sie sich im nächsten Augenblick entschuldigte, sie wolle mich nicht anherrschen.
»Das ist zu lange«, sagte sie dann mit einer plötzlichen Sanftheit, die ihre Stimme rauh und voller Sehnsucht klingen ließ. »Wie soll das gehen?«
»Wir sehen, ob er nicht von selbst zurückkommt.«
»Das glaube ich nicht«, sagte sie. »Ich habe Angst.«
Sie war wieder in einen härteren Ton verfallen.
»Ich habe Angst«, wiederholte sie, und ich konnte das Zucken ihrer Lippen sehen, das sie vergeblich unter Kontrolle zu bringen versuchte. »Er war schon als Kind merkwürdig, aber so habe ich ihn noch nie erlebt.«
Ich erinnere mich, wie sie dann von seiner Verschlossenheit und Unnahbarkeit sprach, aber ich weiß nicht mehr, wie sie darauf kam zu behaupten, ich sei wie ein Vater für ihn. Eine Weile hatte ich ihr nur halb zugehört, und als sie das sagte, schrak ich auf. Wir standen immer noch auf dem Parkplatz, und ich schaute auf die vereinzelten Lichter des Dorfs in der Ferne und, etwas näher, die von der Neubausiedlung und versuchte mir nicht anmerken zu lassen, dass es mir kaum gelang, meine plötzliche Panik niederzuhalten.
»Er hat immer von seinem Vater geschwärmt«, sagte ich schließlich. »Ich habe keinen Ehrgeiz, seine Stelle einzunehmen.«
Ich dachte nichts weiter dabei, aber wenn ich geahnt hätte, was ich mit diesen Worten heraufbeschwor, wäre ich sicher vorsichtiger gewesen.
»Was hat er Ihnen von seinem Vater erzählt?«
»Nur das Beste.«
»Hat er Ihnen erzählt, er sei tot?«
»Nein«, sagte ich. »Das höre ich zum ersten Mal.«
»Hat er Ihnen erzählt, er sei ein Lebemann gewesen?«
»So kann man es wohl nennen.«
»Er habe eine Zeitlang in Paris und London gelebt?«
»Ich glaube, ja.«
»Er habe die Frauen geliebt? Habe einen Sportwagen besessen? Er habe einmal einen Sechser im Lotto gehabt, aber den Schein im Restaurant liegenlassen und es keinen Tag in seinem Leben bereut?«
»Ja«, sagte ich. »Aber was soll das?«
»Es ist alles erstunken und erlogen«, sagte sie. »Ich habe den Buben allein aufgezogen, und er hat seinen Vater gar nicht gekannt.«
Ich hatte eine unsägliche Geschichte abgewehrt, indem ich mich selbst aus dem Spiel nahm, und mir dafür eine andere eingehandelt, in die sie sich jetzt nicht weniger begierig stürzte, die Geschichte vom abwesenden Vater, die in den großen Legenden längst die vom verlorenen Sohn ersetzt hatte. Ich startete den Motor und fuhr schweigend los, als müsste ich ein paar Kilometer zwischen mich und dieses Gespräch bringen, doch sie redete einfach weiter. Die Details habe ich nicht mehr in Erinnerung, aber ich tue ihr nicht unrecht, wenn ich sage, dass es die immer gleichen waren und dass sie keine Rolle für mich spielten. Es schien ganz und gar absehbar, das Räsonieren, wer wen verlassen habe und wessen Schuld es sei, und während sie sich in Einzelheiten verlor und nach einem Grund und einem Grund hinter dem Grund suchte, warum Daniel so geworden war, dachte ich die ganze Zeit, der Junge saß doch nicht bei minus zehn Grad im Wald und versuchte sich zu beweisen, dass er ohne einen Menschen auskommen konnte, nur weil ein Unglück zwingend aus dem anderen folgt.
Es wunderte mich dann auch nicht sehr, dass sie sich nach diesem Auftritt nie mehr bei mir blicken ließ. Sie rief zwar noch von Zeit zu Zeit an, aber es genügte ihr, wenn ich sagte, Daniel sei wohlauf, und weiter wollte sie nichts wissen. Ich erzählte ihr, dass er zu mir zum Duschen kam, dass er sich Bücher in der Bibliothek auslieh und dass er sich manchmal für ein paar Stunden in ein Café setzte, weihte sie ein, worüber wir sprachen, auch wenn in Wirklichkeit oft nicht die Rede davon sein konnte, und entwickelte dabei so viel Überzeugungskraft, dass es nach einem richtigen Leben klang. Die ersten paar Male erwähnte ich noch, dass er nach wie vor draußen am Fluss sei, aber dann sparte ich es mir, und es blieb unausgesprochen zwischen uns, ohne dass ich einschätzen konnte, ob es sich in ihrem Kopf damit eher verfestigte oder verflüchtigte.
In Daniels Manuskript fand sich nichts von alldem. Lange Zeit war ich sicher, dass er in den beiden Wintermonaten im Haus mit der Niederschrift begonnen hat, aber er schrieb nur über unseren Sommer, und als ich es jetzt wieder las, suchte ich vergeblich nach Anzeichen, die etwas von seiner Ausgesetztheit verrieten. Ich stieß nicht auf den geringsten Hinweis, es sei denn, ich wollte sein geradezu wollüstiges Schwärmen von der Schwüle und Wärme jener Tage als Kompensation für die Kargheit und Kälte nehmen, in die er sich manövriert hatte. Es wäre naheliegend gewesen, dass er eine Verbindung herstellte, dass er über seine Situation nachdachte und wenigstens erwähnte, er sei wieder an genau dem Ort, an dem er vor Jahren ein paar Wochen verbracht hatte, wenn auch unter anderen Umständen, aber nichts davon, kein Wort und auch nichts zwischen den Zeilen. Er sah ganz davon ab, und der Winter schien für ihn nicht zu existieren, wenn er sich an unsere Zeit draußen am Fluss erinnerte.
Ich weiß nicht, was ich damals erwartete, als ein Tag zum anderen kam und er keine Anstalten machte, das Experiment abzubrechen und sein altes Leben wieder aufzunehmen. Vielleicht hätte ich anders reagiert und versucht, es ihm auszureden, wenn ich von Anfang an gewusst hätte, dass es zwei volle Monate dauern würde. Er machte nicht den Eindruck, er sei unglücklich, und wenn er zu mir kam, war höchstens die Ruhe, die er ausstrahlte, befremdlich, die Unbekümmertheit, mit der er manchmal am frühen Nachmittag auftauchte und beim ersten Dunkelwerden wieder verschwand. Anders als früher wirkte er bei diesen Besuchen nicht sehr gesprächig, und ich gewöhnte mir an, ihn nicht zu fragen. Wenn überhaupt, erzählte er von seinen Tagen am Fluss. Es waren elementare Beobachtungen, welche Spuren er am Ufer finde, dass ein Reh zum Haus gekommen sei und ihn sekundenlang aus nächster Nähe angestarrt habe oder dass er morgens, wenn es ganz still werde, manchmal einen Ton zu hören glaube, von dem er nicht wisse, woher er stammte. Ein Ereignis, möglichst klein, nach dem anderen, ohne dass daraus etwas folgte und ohne dass es eine Verbindung zwischen ihnen gab. Er neigte sonst nicht zu dieser Wald-und-Wiesen-Sensibilität und zwang sich entweder dazu, oder sie war Ausdruck dessen, was mit ihm passierte. Er hatte mir noch wenige Monate davor die Kontinuumshypothese zu erklären versucht und mit Unendlichkeiten verschiedener Mächtigkeit herumjongliert, dass mir Hören und Sehen verging, und schien plötzlich auf alles Argumentieren zu verzichten und nur mehr Staunen, Augenblick und Anbetung sein zu wollen. Ich glaube nicht, dass das freiwillig geschah. Er sprach nicht darüber, aber ich vermute, dass er sich überfordert hat, eine Höhenkrankheit des Denkens, wie ich mir sagte, die ihn dazu zwang, sich des Allereinfachsten zu vergewissern. Ich hatte mir das damals noch nicht klargemacht, aber es war geradeso, als hätte er endlich auch in seinen Gedanken zu der Schlichtheit gefunden, die er in vielem anderen schon lange propagierte und in der er seit seinem ersten Aufenthalt in Israel tatsächlich auch lebte.
Natürlich erschrak ich. Er war mein bester Schüler gewesen und schien sich über Nacht in einen nicht nur materiell, sondern auch intellektuell anspruchslosen und dauernd lächelnden Simpel verwandelt zu haben. Er hatte in der letzten Klasse Aufsätze geschrieben, in denen seine Lust am komplexen Argumentieren mehr als nur zu erahnen war, die Gründlichkeit, eine Sache immer von einer Seite und noch einer Seite zu betrachten und dann alle Seiten für unzureichend zu erklären, hatte manchmal fast jeden Satz mit Fußnoten versehen, um zu zeigen, woher etwas kam und wohin es gehen könnte, und hätte das jetzt wahrscheinlich als eitles Blendwerk beiseite gewischt. Ich wusste nicht, was er las, wenn er in die Bibliothek ging, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass es Bücher waren, die eine neue Einfachheit feierten. Er hatte darin immer eine Pose gesehen und gesagt, diese Selbstbeschränkung und Bescheidenheit in der Wahrnehmung, diese Bewunderung des Kleinen und Abseitigen, diese Genügsamkeit, an den Rändern der Welt das Paradies entdecken zu wollen, ja, diese ganze Tiefstapelei sei in ihrer Aufdringlichkeit, sich sichtbar zu machen, die Hochstapelei weniger der Bedürfnislosen als der Unbedarften, und auf einmal ging er einher wie einer von ihnen. Er hatte nie die Bäume voneinander zu unterscheiden gewusst und kannte nun ihre Namen, sprach sie aus, als wäre das Aussprechen ein Schöpfungsakt, der von Mal zu Mal beglaubigte, dass am Anfang das Wort war. Er hatte sich einen Wanderstock geschnitzt, und den Filzhut, den er meistens auf dem Kopf trug, schmückte eine Hahnenfeder oder ein dünner Tannenzweig. Er konnte einen Kiesel am Straßenrand aufheben und ihn drehen und wenden bis zur Verzückung. Der frühe Mond war wie ein nie gesehenes Gestirn für ihn, wenn er mitten im Schritt stehenblieb, um eine Wolkenformation zu betrachten, und ich hätte mich nicht gewundert, wenn er auf seinem Weg in die Dämmerung ein Lied gesungen hätte wie ein Wandersmann vor hundert Jahren in seiner sprichwörtlichen Frühjahrsmunterkeit.
Ich weiß nicht, ob man Weltfremdheit lernen kann, ob man sich entschließen kann, von einem Tag auf den anderen die Schrulligkeiten eines dahergelaufenen Zausels anzunehmen, aber am ehesten schien das sein Programm zu sein, Weltfremdheit als Weltvertrautheit, auch wenn er ohne Zweifel bestritten hätte, überhaupt ein Programm zu haben. Damals war mir das noch nicht so bewusst, und in dieser Schlüssigkeit ergibt es sich tatsächlich erst im Rückblick. Ich glaube, ich habe ihn, wenn er bei mir war, jedes einzelne Mal eingeladen, doch über Nacht zu bleiben, aber er ließ sich nicht zurückhalten. Er saß im Wohnzimmer, und wenn ich schon dachte, er werde diesmal vielleicht eine Ausnahme machen und sich überreden lassen, schaute er auf die Wanduhr und sagte, er müsse gehen. Meistens lehnte er es ab, gefahren zu werden, und wenn ich ein Stück mitkam, war ich nicht sicher, ob er es mochte oder ob er lieber allein gewesen wäre. Gewöhnlich bemerkte er nichts dazu, aber einmal fragte er mich, ob ich ihn die halbe Strecke begleiten könne, und obwohl diese exakte Angabe nur Zufall war, ist sie mir im Kopf geblieben, als hätte er es genauso gemeint und im Zweifelsfall darauf geachtet, dass ich keinen Schritt weiter tat und mich nicht mit ihm verirrte.