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ICH KONNTE MICH über gar nichts mehr wundern. Ich war nicht mehr fähig, Überraschung zu zeigen oder auch nur angemessen darauf zu reagieren.

Ich sah auf Reginalds schwarze Knopfaugen und sagte mit dem mühsamen Lächeln eines Menschen, der aus einer Narkose aufwacht: »Hi, Reg, wie geht’s?«

»Das war es, was ich dir erzählen wollte«, sagte Nell. »Er war im Wohnzimmer. Ich bin fast in Ohnmacht gefallen, als ich sein rosa Ohr unter dem Sofa hervorschauen sah, aber Mrs Burweed schien es gar nicht zu bemerken, also habe ich ihn schnell aufgehoben und in meinem Blazer versteckt. Dann ging ich nach oben, und so bald ich konnte, habe ich ihn aus dem Fenster geworfen.

Mach dir keine Sorgen, er ist schön weich gelandet, unten war Farnkraut.«

Ich nahm die Hände vom Steuer, beugte mich zu ihr hinüber und umarmte sie. »Danke, Nell. Danke, dass du Reg gerettet hast, und mich auch, wie es scheint. Ich weiß nicht, wie William es finden wird, dass er eine uneheliche Enkelin hat, aber du warst heute Nachmittag großartig. Ich weiß nicht, was ich ohne dich gemacht hätte.«

Nell errötete. »Er sieht schon verdammt gut aus.«

»Das ist kein Grund für mich, den Kopf zu verlieren«, sagte ich.

»Er sieht Bill aber kein bisschen ähnlich«, stellte Nell fest. »Natürlich sieht Bill auf seine Art auch gut aus«, fügte sie schnell hinzu, »aber ich hatte erwartet, dass es irgendeine Familienähnlichkeit geben müsste.«

Ich stellte mir Bills dunkelbraune Augen vor, sein ergrauendes Haar, den grauen Bart und den Rettungsring um seinen Bauch und schüttelte den Kopf. »Nein, die beiden sind so verschieden wie Tag und Nacht.« Ich kniff Reginald ins Ohr. »Und was hast du dort unter dem Sofa gemacht, hm?

Hast du nach Wollmäuschen gesucht?«

»Ich glaube, er wollte uns auf etwas aufmerksam machen … das hier.« Nell steckte die Hand in die Tasche ihres Blazers und holte eine weitere Seite heraus, die aus dem blauen Tagebuch gerissen war, in der Mitte gefaltet, wie beim ersten Mal, mit meinem Namen in Tante Dimitys altmodischer Handschrift auf der Außenseite.

»Dimity!«, rief ich und ergriff die Seite. »Super!

Vielleicht hat sie herausgefunden, warum William sich plötzlich für eine dreihundert Jahre alte Familienfehde interessiert.« Ich faltete den Zettel auseinander und las laut.

» Meine liebe Lori,

William hat gemerkt, dass es hier nichts zu entdecken gibt, deshalb ist er nach London gefahren, um Lucy und Edmund Willis zu befragen. Natürlich hat Gerald ihn angelogen, aber vielleicht war das ganz gut so. Wenn William die Fährte verliert, bleiben uns allen viel Ärger und Unannehmlichkeiten erspart. William ist wirklich ziemlich unmöglich.

Was für eine Veranlassung hat er bloß, in einem Familienstreit herumzuschnüffeln, der so lange zurückliegt? Ein Gentleman in seinem gesetzten Alter sollte wirklich wissen, dass es fast immer am besten ist, wenn man keine schlafenden Hunde weckt.

Ich vermute, Gerald wird euch über Williams neueste Pläne ebenfalls anlügen, aber ihr dürft nicht zu hart über ihn urteilen. William hat ihn in eine sehr schwierige Lage gebracht. Eines jedoch möchte ich ganz klar machen: Ich werde kein Fotokopiergerät im Haus dulden. Es würde schrecklich deplatziert wirken, und außerdem bin ich sicher, dass das Geräusch die Kaninchen verjagen würde.

Ich muss jetzt los. Reginald wird dableiben und euch diese Nachricht überbringen. Seht zu, dass ihr William nicht aus den Augen verliert. Ihr müsst dafür sorgen, dass er die Sache fallen lässt, und ich verlasse mich dabei auf euch

Wortlos und nachdenklich kratzte ich mich am Kopf, dann gab ich Nell den Zettel zurück und ließ den Motor wieder an. »Schlafende Hunde und Fotokopiergeräte. Die liebe Dimity. Jetzt ist wieder mal alles so klar wie Kloßbrühe.«

Nell steckte den Zettel wieder ein und setzte Reginald auf die Handbremse zwischen den Sitzen.

»Hast du gemerkt, dass Tante Dimity die Angewohnheit hat, einfach anzunehmen, dass man weiß, wovon sie spricht?«

»Es ist wie ein Zahlenbild, bei dem man die Punkte verbinden muss, allerdings ohne die Reihenfolge zu kennen«, stimmte ich zu. »Aber keine Angst, Nell, wir kommen schon dahinter.« Ich sprach ihr Mut zu, bis wir in die Midhurst Road einbogen und Reginald auf seinem Platz zwischen den Sitzen umfiel. Als ich seine schwarzen Knopfaugen auf mir spürte, wurde ich still.

Vielleicht kannst du Nell mit deiner munteren Fassade täuschen, schien er zu sagen, aber mich täuschst du nicht. Es war, als ob er das Warnlicht gesehen hätte, das durch den Nebel der Andeutungen in Dimitys Brief blinkte. Scheinbar wollte er sich überzeugen, dass ich es auch gesehen hatte.

Gerald Willis war ein Lügner. Wenn ich Dimitys Botschaft richtig verstanden hatte – und da war immer dieses Wenn –, dann hatte er Willis senior nicht die Wahrheit gesagt, was die berühmte Familienfehde von 1714 anbetraf; und mich hatte er hinsichtlich Willis seniors neuesten Plänen angelogen. Ich konnte mir nicht vorstellen, warum Gerald über einen Streit, der vor dreihundert Jahren stattgefunden hatte, nicht die Wahrheit sagen wollte, aber ich hatte einen Verdacht, warum er mich angelogen hatte.

Willis senior musste sich mit ihm über die Gründung einer Filiale geeinigt haben und hatte ihn sicher gebeten, die Sache geheim zu halten, bis er den Plan mit Lucy besprochen hatte. Gerald hatte mich also aus geschäftlichen Gründen angelogen, und obwohl ein Teil von mir es vollkommen verstand, fühlte sich der andere Teil – der ungeduldige, unvernünftige Teil – schrecklich hintergangen.

Ich hatte Gerald vertraut. Ich hatte alles geglaubt, was er mir erzählt hatte. Ich hatte in seine ehrlichen Augen geschaut und einen Menschen gesehen, der geradlinig und anständig war und der seine Karriere den Bedürfnissen seines Vaters unterordnete. Es war schrecklich enttäuschend, festzustellen, dass auch er einfach nur ein Rechtsanwalt war, ein Schlitzohr wie alle anderen, der aus eigenem Interesse nur halbe Wahrheiten sagte. Ich hatte eigentlich kein Recht, enttäuscht zu sein, denn die kleine Nicolette und ich hatten auch nicht gerade ein ehrliches Spiel mit Gerald getrieben – aber ich war es dennoch.

Mein verletzter Finger pochte schmerzhaft, als ich die Hand nach Reginald ausstreckte und ihn wieder aufsetzte. »Wir werden es schon hinkriegen«, wiederholte ich.

»Natürlich«, sagte Nell, »aber ich glaube, wir sollten erst etwas essen.«

» Mais non, ma petite«, sagte ich und versuchte, um Nells willen so unbekümmert wie möglich zu klingen. »Das Essen ist zweitrangig. Erst die Anrufe.«

Im Georgian erwartete uns eine telefonische Nachricht von Emma, aber ehe ich ihren Anruf erwidern konnte, rief ich Miss Kingsley an, um zu fragen, ob Willis senior angekommen war. Sie sagte mir, sie habe ihn weder gesehen noch von ihm gehört, seit wir vor drei Tagen im Flamborough übernachtet hatten.

Miss Kingsley erklärte sich bereit, nachzuprüfen, ob er das Unvorstellbare getan hatte und in einem anderen Hotel abgestiegen war, und ich konnte mich darauf verlassen, dass ihre Suche gründlich sein würde – ihr standen mehr Augen und Ohren zur Verfügung als Scotland Yard. Einer plötzlichen Eingebung folgend, wählte ich die Nummer von Lucy Willis, falls Willis senior sich entschlossen haben sollte, sie aufzusuchen, ehe er ins Flamborough fuhr. Nachdem es zwölf Mal geläutet hatte, legte ich den Hörer auf. Ich war entmutigt und ein wenig deprimiert. Zum ersten Mal seit zwei Jahren hatte ich keine Ahnung, wo mein Schwiegervater die Nacht verbringen würde. Es war ein Vorgeschmack darauf, wie das Leben ohne seine tröstende Anwesenheit sein würde, und es gefiel mir überhaupt nicht.

Emma hatte auch nichts von Willis senior gehört, aber Bill hatte angerufen, nach mir gefragt und seine Telefonnummer hinterlassen. Emma hatte pflichtschuldigst Nells Geschichte zum Besten gegeben, dass wir nach Haslemere gefahren waren, um uns die Glocken anzusehen, aber sie hatte ihm unsere Telefonnummer im Georgian nicht gegeben.

»Ich habe gesagt, ihr seid noch unterwegs«, erklärte Emma. »Ich dachte, du möchtest vielleicht nicht mit ihm sprechen, bis du Vetter Gerald besucht hast. Übrigens«, fügte sie ziemlich verwundert hinzu, »hast du ein Fotokopiergerät bestellt?«

Fast hätte ich den Hörer fallen lassen.

»Es wurde hierher gebracht, weil bei euch niemand da war«, sagte Emma. »Es ist an dich adressiert, aber ich wusste nicht genau, was ich damit machen soll.«

»Nicht in mein Haus!« Ich ließ mich in den pfirsichfarbenen Sessel fallen, nahm Reginald als Verstärkung auf den Schoß und erzählte Emma ausführlich von Tante Dimitys neuestem Kryptogramm, von meinem Gespräch mit Gerald und von meiner Theorie darüber, was Willis senior im Schilde führte. »Das Fotokopiergerät ist nur die Spitze des Eisberges«, schloss ich düster. »Wenn es nach William geht, wird mein Cottage bald unter Kabeln statt unter Rosen verschwinden.«

»Das klingt, als ob er vorhat, in deinem Haus eine Filiale von Willis & Willis einzurichten«, bemerkte Emma.

»So ist es«, sagte ich, »aber ich werde es ihm nicht erlauben. Vielleicht ist es egoistisch von mir, aber ich brauche ihn in Boston. Er ist das einzige Familienmitglied, dem meine Anwesenheit keinen latenten Brechreiz verursacht.«

»Du hast doch noch Bill«, bemerkte Emma.

»Habe ich das?«, murmelte ich. Ich merkte, dass ich Reginald im Würgegriff hielt, und versuchte, mich zu entspannen. »Jedenfalls, würdest du bitte das Fotokopiergerät vorläufig in eine deiner Scheunen stellen? Ich erlöse dich davon, sobald ich zurück bin.«

»Kein Problem«, sagte Emma. »Kann ich sonst noch etwas für dich tun?«

»Ja«, sagte ich, indem ich gedankenverloren mit Reginalds Ohren spielte. »Du kannst dein gut geschultes Hirn mal in Gang setzen und dich ins Internet begeben. Sieh mal nach, ob du irgendetwas über diesen Familienstreit aus dem Jahre 1714 finden kannst, von dem Miss Kingsley uns erzählt hat. Es muss doch genealogische oder historische Verzeichnisse geben, die du anzapfen kannst.«

Regs Augen flackerten, und ich fügte eilig hinzu:

»Natürlich nur, wenn du Zeit hast.«

»Einer meiner Grundsätze ist, niemals nach Einbruch der Dunkelheit im Garten zu arbeiten«, sagte Emma trocken. »Ich fange gleich heute Abend an. Wie kommst du denn mit Nell klar?«

Ich sah hinüber zu Nell, die gerade die Speisekarte für den Zimmerservice studierte. »Ich hätte nichts gegen eine Tochter wie sie«, sagte ich leise, »aber ich glaube, sie ist ziemlich einmalig. Nell«, rief ich. »Hier ist Emma. Willst du mit ihr reden?«

Ich gab Nell den Hörer, zog mein Tweedkostüm aus und ließ Badewasser einlaufen. Von der Aufregung des Vormittags und der Anstrengung der langen Autofahrt – ganz zu schweigen von den vielfältigen Schrecken des Nachmittags – fühlte ich mich seltsam ruhelos und niedergeschlagen. Ich hoffte, ein heißes Bad würde mich entspannen, aber danach war ich noch rastloser als vorher. Während ich meine Jeans und den Baumwollpulli anzog, überlegte ich, ob ich Bill anrufen sollte, aber dann fiel mir ein, dass ich ja noch immer nicht in der St. Bartholomäus Kirche gewesen war. Ich würde jetzt gehen, entschied ich, nicht nur, um sie meinem Mann beschreiben zu können, sondern auch, weil ich mir von dem Spaziergang mehr Appetit aufs Abendessen erhoffte.

»Möchtest du, dass ich mitkomme?«, fragte Nell, als ich ihr von meinen Plänen erzählte.

»Danke, Nell«, sagte ich, »aber ich glaube, ich würde gern ein bisschen allein sein.«

»Aber du hast noch nichts gegessen«, protestierte sie und langte nach der runden Büchse, die Gerald mir gegeben hatte. »Und du hast Bill auch noch nicht angerufen.«

Ich sah auf die Uhr. »In Maine ist es jetzt erst früher Nachmittag. Ich habe noch reichlich Zeit, ihn später anzurufen. Du kannst ja schon mal unser Abendessen bestellen, ich bleibe nicht lange.«

»Du solltest jetzt eine Kleinigkeit essen«, sagte Nell hartnäckig. Sie nahm den Deckel von der Keksdose. »Lass uns doch mal sehen, was Mrs Burweed …« Nell sprach nicht weiter, sondern blickte sprachlos in die offene Dose.

»Was ist denn los?«, fragte ich. »Es sind Baisers, nicht wahr?«

Langsam schüttelte Nell den Kopf, in ihren blauen Augen war ein fast komischer Ausdruck der Verwirrung. »Geralds Vater muss deine Mutter gekannt haben, Lori. Ich glaube, das hier sind Karamellbrownies.«

»Mach keinen Quatsch«, sagte ich. »Das kann doch auf keinen Fall …«

»Probier mal«, sagte Nell und hielt mir die Dose hin.

Ich nahm eines und biss hinein. Es war feucht und von weicher Zähigkeit, jedoch gleichzeitig etwas körnig, mit einem Hauch von Vanille und einer guten Portion Rohrzucker – zu meiner grenzenlosen Verwirrung waren Thomas Willis’ Brownies identisch mit denen, die ich heute Morgen gebacken hatte.

»Vielleicht war Thomas Willis im Krieg in London«, vermutete ich.

»Das müssen wir Gerald fragen, wenn wir ihn das nächste Mal sehen«, sagte Nell.

Was nicht so bald geschehen wird, wenn es nach mir geht, dachte ich. Ich legte das angebissene Brownie auf den Tisch und verließ das Zimmer.

Es ist seltsam, eine unbekannte Stadt in der Abenddämmerung zu sehen. Man kann keine Farben unterscheiden, alle Linien erscheinen weich, und scharfe Kanten werden undeutlich, wie in einer verwischten Bleistiftzeichnung. Der Verkehrslärm auf der Hauptstraße war bis auf ein gelegentliches Auto abgeklungen, und die wenigen Fußgänger, denen ich begegnete, sahen aus, als ob sie sich beeilten, zu ihrem Abendessen nach Hause zu kommen. Niemand blieb vor einem der schwach beleuchteten Schaufenster stehen.

Dank der Straßenlaternen gelang es mir ohne Probleme, den Weg zu finden, den Miss Coombs auf der Karte eingezeichnet hatte. Als ich aus dem Hotel getreten war, wandte ich mich nach links, bis ich zu einem schmalen Fußweg kam, einer gepflasterten Gasse zwischen zwei hohen Mauern, die hinter einer Reihe von Gärten entlangführte.

Außer mir ging kein Mensch hier, und mich überkam ein merkwürdiges Gefühl der Vertrautheit und Einsamkeit. Ganz in der Nähe hörte ich Stimmen – die Unterhaltung von Familien, die in der kühlen Abendluft noch draußen zusammensaßen –, aber ich sah niemanden.

Sowie ich das Hotel verlassen hatte, war mir ein weiteres Geräusch aufgefallen, das den Stadtplan fast überflüssig gemacht hätte. Es war das Läuten von Kirchenglocken, und je mehr ich mich St. Bartholomäus näherte, desto lauter wurde es. Als die Dämmerung in völlige Dunkelheit überging, fing das Läuten erneut an, es ging etwas durcheinander und wurde unterbrochen, um gleich darauf weitaus harmonischer wieder einzusetzen. Es klang, als ob die Glöckner von St. Bartholomäus ihre Übungsstunde hätten. Als ich auf dem Fußweg schließlich das Friedhofstor erreicht hatte, waren die Glocken jedoch verstummt. Die Probe war für heute beendet.

Ich trat durch das Tor des Friedhofs, stand dann an der Längsseite der Kirche und sah nach oben.

Die Außenwände waren ein Mischmasch aus rauen Steinmauern und Rundbögen, am hinteren Ende war ein gedrungener, viereckiger Glockenturm und an der einen Seite führte ein ziegelgedeckter Vorbau aus Holz zum Kirchenportal. Auf dem Friedhof waren überwiegend sehr alte Gräber, und als ich mich bückte, um mir einen der flechtenbewachsenen Grabsteine näher anzusehen, wurde die Seitentür geöffnet und im Licht, das aus dem Inneren der Kirche strömte, sah ich die Glöckner schwatzend und lachend in den Vorbau hinaustreten. Ich blieb im Dunkeln stehen und beneidete sie um ihre Kameradschaft. Schließlich ging das Licht in der Kirche aus und ein untersetzter Mann mittleren Alters, den ich an seinem steifen weißen Kragen als Pfarrer erkannte, kam heraus und rasselte mit einem großen Schlüsselbund.

»Entschuldigung«, sagte ich und trat aus der Dunkelheit. Der Schlüsselbund landete laut klirrend auf dem Boden.

»Du lieber Himmel!«, rief der Pfarrer aus, indem er sich bückte, um es aufzuheben. »Haben Sie mich jetzt erschreckt.«

»Das tut mir Leid«, sagte ich. »Ich wollte Sie nicht erschrecken, ich hatte nur gewartet, bis das Läuten aufhörte. Ich wollte die Probe nicht stören.«

»Das hätte gar nichts ausgemacht«, sagte der Pfarrer und richtete sich wieder auf. »Mein Name ist Steven Hawley, ich bin der Pfarrer von St. Bartholomäus. Ihrem Akzent entnehme ich, dass Sie Amerikanerin sind.«

Ich bejahte es, und um eine Diskussion über Dereks Arbeit an den Glocken zu vermeiden, sagte ich, dass Miss Coombs mir vorgeschlagen hatte, mir die Kirche anzusehen.

»Die gute Miss Coombs«, sagte der Pfarrer.

»Was würden wir ohne sie machen?« Die Schlüssel klirrten, als er auf seine Uhr schaute. »Sie ist besser als ein Dutzend Werbefirmen. Ich vermute, Sie möchten die Fenster sehen?«

Ich nickte höflich. Ich hätte auch gern die Glocken gesehen, aber dazu würde es heute Abend wohl keine Gelegenheit mehr geben.

»In Ordnung«, sagte er und sprach schnell weiter, als er mich in die Kirche geleitete und das Licht wieder anknipste. »Aber ich fürchte, ich muss Sie dann allein lassen. Ich habe gleich eine Sitzung mit dem Finanzausschuss der Gemeinde und weiß Gott, wir haben viel zu besprechen.« Er deutete auf einen schmalen hölzernen Tisch, der neben der Tür an der Wand stand. »Nehmen Sie sich einen Prospekt. Ich schließe dann nach der Sitzung ab.« Er sah nochmals auf die Uhr, lächelte mich kurz, aber freundlich an und machte sich eilig auf den Weg.

Als seine Schritte verklungen waren, überfiel mich wieder dieses Gefühl der Einsamkeit. Zwar sehnte ich mich nicht nach der Gesellschaft fremder Menschen, aber ich hätte alles darum gegeben, wenn Bills bärtiges Gesicht jetzt im Türrahmen aufgetaucht wäre. Ich verspürte ein leises Bedauern, was aber sofort von einer Welle der Empörung überrollt wurde. Wenn Bill sein Versprechen gehalten hätte und wie geplant mit mir nach England gekommen wäre, dann würde Willis senior jetzt keine Pläne schmieden, um Boston zu verlassen, und ich würde hier nicht in dieser verlassenen Kirche stehen und mir vorstellen müssen, wie schön es wäre, wenn mein Mann auch hier wäre.

Es war wirklich nicht fair, und in meinem Hinterkopf meldete sich leise eine verräterische Stimme: Er hat sich für die Biddifords und gegen dich entschieden. Das hätte er nicht tun dürfen.

Ich sagte der Stimme, sie solle sich zum Teufel scheren, und raffte mich auf, um mich ein wenig umzusehen. St. Bartholomäus schien keine sehr alte Kirche zu sein – die verputzten Wände waren zu eben und gerade, die steinernen Säulen zu glatt und schmucklos, aber ich wusste aus jüngster Erfahrung auch, wie irreführend solche Eindrücke sein konnten. Unter meinen Füßen befand sich möglicherweise eine Krypta aus dem zwölften Jahrhundert.

Die Kammer, in der die Glocken geläutet wurden, war am Fuße des viereckigen Turmes, gegenüber dem Altar, und vom Rest des Kirchenraumes durch eine feste Holzwand mit einer kleinen Tür getrennt.

Über der Wand jedoch war der Spitzbogen offen geblieben, und ich konnte die Glockenstränge sehen, die wie Sprossen eines umgedrehten Regenschirms nach unten zusammenliefen. Die Tür war jedoch, wie überall, aus Sicherheitsgründen verschlossen.

Ich folgte dem Rat des Pfarrers und blätterte einen der Prospekte durch, die auf dem Holztisch lagen. Er war liebevoll von »M. B.« zusammengestellt worden und ich warf eine Hand voll Münzen in den Holzkasten, als kleinen Unkostenbeitrag – und als Friedensangebot an den Finanzausschuss, der den Pfarrer zweifellos dafür rügen würde, dass er für eine einzige amerikanische Touristin so viel Strom verschwendete.

Laut Prospekt war St. Bartholomäus im Jahre 1871 an der Stelle einer älteren Kirche gebaut worden – der viereckige Turm an der Rückseite war ein Überbleibsel aus dem dreizehnten Jahrhundert. Unter den zahlreichen interessanten Einzelheiten waren zwei Fenster, das eine war dem Dichter Gerard Manley Hopkins gewidmet, dessen Eltern in Haslemere gelebt hatten, das andere ehrte den Königlichen Hofdichter, Alfred Lord Tennyson, dessen Heimatdorf, Aldworth, etwas südlich der Stadt auf Blackdown Hill lag. Außerdem, wie mich M. B. in dem Prospekt belehrte, war das TennysonFenster von Sir Edward BurneJones entworfen worden.

Da ich schon immer eine Vorliebe für Tennyson hatte, legte ich den Prospekt zurück und ging auf die andere Seite, um mir das Fenster des Hofdichters zuerst anzusehen. Draußen war es bereits ganz dunkel und daher konnte man das Bild aus Buntglas kaum erkennen, die Worte darunter waren jedoch gut lesbar. Sie waren aus dem Gedicht »The Holy Grail«:

» Ich, Galahad, sah den Gral, Den Heiligen Gral auf den Altar sich senken, Und so gestärkt ritt ich davon

Zu zerschmettern alles Böse auf der Welt …«

Galahad, dessen Herz so rein war, dass ihm ein Blick auf den Heiligen Gral gewährt worden war, war mir schon immer ziemlich melancholisch vorgekommen. Tennyson hatte sein Möglichstes getan, um den Kampf des jungfräulichen Ritters gegen das Böse als fromme und freudige Pflichterfüllung darzustellen, aber für mich klang auch ein leises Bedauern aus Galahads Worten, wenn er über seinen Verzicht auf die Liebe einer Frau sprach: » Ich spürte nie der Liebe Kuss, noch die Hand einer Jungfrau in meiner

Vielleicht wollte er sich auch nur wichtig machen, dachte ich jetzt, als ich wieder zum Fenster hinaufsah. Der alte Galahad wird bestimmt kein Waisenknabe gewesen sein. Zudem war der Liebe Kuss auch nicht mehr so überwältigend, wenn man erst mal den Kummer durchmachen musste, der nur allzu oft danach kam. Mit einem wehmütigen Lächeln wollte ich mich dem Fenster von Hopkins zuwenden, als ich ein Geräusch hinter mir hörte.

Überzeugt, dass der Finanzausschuss einstimmig beschlossen hatte, meinen Besuch abzukürzen, war ich bereits entschlossen zu gehen, blieb aber wie angewurzelt stehen.

Gerald Willis stand in der Tür.