22
SWANN FÜHRTE UNS in die Küche, wo Lucy Willis sein Spinatsoufflé überwachte, dann ging er wieder nach draußen, um zusammen mit Paul unser Gepäck nach oben zu tragen. Denn wie er uns erklärte, durfte niemand, der die lange Fahrt zur Cobb Farm gemacht hatte, diese verlassen, ohne mindestens ein Mal hier zu übernachten.
Die Küche war ein warmer, anheimelnder Raum mit einem ziegelroten Fliesenboden und Wänden, die ebenfalls aus unverputzten roten Ziegelsteinen bestanden. In der Mitte stand ein gescheuerter Holztisch, der für zwei Personen gedeckt war. Über der Spüle war ein großes Fenster, durch das man auf ein Feld blickte, auf dem zwei Pferde grasten.
Auf den Regalen über dem großen, holzbeheizten Herd stapelten sich Töpfe und Pfannen. An den Wänden waren alte Küchenbüfetts und Unterschränke aneinander geschoben und ersetzten die üblichen Arbeitsplatten, und ein riesiger verglaster Bücherschrank aus irischer Kiefer beherbergte ganze Stapel von Tellern, Reihen von Teekannen und verschiedene alte Stücke aus geblümtem Porzellan.
Swanns Auffassung darüber, was zum Tee gehörte, war eindeutig die des typischen Landbewohners. Auf dem Herd köchelte ein Topf Gemüsesuppe, dessen Aroma allein einem die Knie weich werden ließ. Daneben lagen auf einem Drahtrost ein frischgebackenes Brot und eine Apfeltorte zum Abkühlen. In der Mitte des Tisches stand eine Tonvase mit Feldblumen, umgeben von einem Krug eisgekühlter Limonade, einer Tonschale mit Butter und einem silbernen Untersetzer, auf dem in Kürze das Soufflé landen würde.
Lucy hatte ihre Geschäftskleidung abgelegt, und damit den Hauch von Lebensüberdruss, der in London von ihr ausgegangen war. Sie trug eine legere Hose, ein rotes Sweatshirt mit abgeschnittenen Ärmeln und an den Füßen dicke Wollsocken ohne Schuhe. Sie hatte sich das dunkle Haar mit zwei Schildpattkämmen zurückgesteckt, und ihre lebendigen braunen Augen strahlten.
»Hallo«, sagte sie herzlich und ging zu meiner großen Freude ohne weitere Umstände zum Du über. »Ich hatte mir schon gedacht, dass ihr Vetter William hierher folgen würdet. Er war da und ist wieder weg, fürchte ich, aber ich hoffe, ihr werdet nicht ebenfalls gleich wieder weiterfahren. Ich hoffe doch, dass Swann euch zum Tee eingeladen hat.«
»Das hat er, und wir haben angenommen«, versicherte ich ihr, wobei ich mich bemühte, sie nicht merken zu lassen, wie mir das Wasser im Mund zusammenlief. Ich gab Paul und Nell einen Wink und in Rekordzeit waren drei weitere Gedecke aufgelegt, wobei wir uns durch heimliche Blicke darüber verständigten, was für ein Glück wir doch hatten, dass uns das Essen im Pub erspart geblieben war.
Swann musste nach seiner Rückkehr diese heimlichen Blicke – einige von Nell, aber auch von mir – bemerkt und auf seine Weise gedeutet haben, denn sobald wir uns gesetzt hatten, wandte er sich an Lucy und sagte: »Ich glaube, unsere Gäste haben bemerkt, dass ich etwas jünger bin als meine Frau.«
Lucy seufzte. »Ich glaube, du wirst ihnen wohl die Sache mit den Affendrüsen erklären müssen.«
»Das wäre geschwindelt«, sagte Swann tadelnd.
»Nein, sie sollen die Wahrheit hören, und nichts als die Wahrheit. Seht ihr«, fuhr er fort, indem er von mir zu Nell sah, »ich war Stallbursche hier, als ich Anthea kennen lernte. Und als sie mich zum ersten Mal ihre Pferdebox ausmisten ließ, war es um mich geschehen. Es ist schon etwas Besonderes um eine ältere Frau, die weiß, wie man eine Reitpeitsche gebraucht …« Er sah verträumt vor sich hin, während wir stumm dasaßen, die Suppenlöffel wie erstarrt zwischen Teller und Mund.
Lucy brach das Schweigen mit einem glucksenden Lachen.
»Du erzählst Quatsch«, sagte Nell vorwurfsvoll.
»Wer kann es ihm verdenken«, sagte Lucy. »Die Leute haben so bizarre Theorien über die zweite Ehe meiner Mutter, dass die Wahrheit sogar mir ziemlich langweilig vorkommt. Tatsache ist, dass Swann meine Mutter während einer sehr schweren Zeit ihres Lebens davor bewahrte, durchzudrehen.«
»Aber, aber.« Swann versah sein Brot mit einer großzügigen Portion Butter. »Anthea ist der besonnenste Mensch, der mir je begegnet ist. Zugegeben, sie ist ein bisschen verrückt, wenn es um Pferde geht, aber damit kann ich leben.« Er legte die Hand an den Mund und fügte im Bühnenflüsterton hinzu: »Musste ich auch. Bevor ich Anthea heiratete, hatte ich noch nie ’ne Pferdebox gesehen, aber seitdem habe ich mehr ausgemistet, als mir lieb ist.«
Lucy stand auf, um die Suppenteller abzuräumen und das Soufflé zu servieren, dann setzte sie sich wieder. »Der Direktor von Cloverly House rief mich an und erzählte, dass ihr Onkel Williston besucht habt«, sagte sie. »Das war sehr nett von dir, Lori. Ich hoffe, mein Onkel war kein zu großer Schock für dich.«
»Es wäre ein weitaus größerer Schock gewesen, wenn du mir nicht vorher von Julia Louise und ihren beiden Söhnen erzählt hättest«, entgegnete ich.
»Ich fand ihn goldig«, sagte Nell. »Er denkt wirklich, dass er Sir Williston ist.«
»Ja, das denkt er«, bestätigte Lucy.
»Warum hatte Sir Williston nur Angst vor seiner Mutter?«, fragte Nell. »Ich war sehr überrascht, als Onkel Williston uns sagte, dass er sich vor Julia Louise fürchtete.« Langsam drehte ich mich zu Nell und sah sie an. Ich hatte das Manuskript, das sie Sir Poppet entwendet hatte, inzwischen ebenfalls gelesen, und ich konnte mich nicht erinnern, dass Julia Louises Name darin erwähnt wurde.
Was führte sie im Schilde?
»Ich kann mir nicht vorstellen, warum er dir das erzählt hat«, sagte Lucy. »Sir Williston hatte keinen Grund, sich vor seiner Mutter zu fürchten. Er war ein guter und pflichtbewusster Sohn – ganz das Gegenteil von seinem Bruder.«
»Das wäre Lord William«, sagte Nell.
»Lucy und Anthea sind ganz vernarrt in Julia Louise«, bemerkte Swann, an mich gewandt.
»Meine bescheidene Meinung ist, dass sie ein fürchterlicher alter Drachen gewesen sein muss.«
»Swann«, sagte Lucy leise, wobei sie den Kopf schüttelte, als ob sie das alles schon oft gehört hatte.
»Antheas Forschungsarbeiten sind mir bekannt«, erinnerte Swann sie. »Sie hat die halbe Nacht mit Vetter William darüber gehockt, um ihm alles zu zeigen, deshalb ist mir das alles sehr gut in Erinnerung. Wirklich, Lucy, denk doch mal an all die Prozesse, die Julia Louise angestrengt hat. Es verging doch kaum ein Tag, an dem sie nicht jemanden verklagt hat.«
»Sie hat eben die Interessen der Familie vertreten«, sagte Lucy ruhig.
Doch Swann fuhr mit seinem Protest fort. »Dann setzt sie dem Ganzen noch die Krone auf, indem sie ihr eigenes Fleisch und Blut ins Exil schickt, bloß weil er sich ein bisschen die Hörner abgestoßen hat.«
»Ihr ging es um den guten Namen der Familie«, beteuerte Lucy.
»Na ja, für Lord William war es ein Glücksfall, wenn du mich fragst«, sagte Swann. »Schließlich musste der arme alte Williston mit dem Drachen zu Hause bleiben.« Er deutete mit seinem Brotkanten auf Nell. »Ich glaube, die kleine Nell hat es ganz richtig erfasst, dass Sir Williston eine ziemliche Angst vor Julia Louise gehabt haben muss. Ich weiß, mir wäre es nicht anders gegangen.«
Lucy wollte gerade etwas erwidern, doch Nell kam ihr zuvor.
»Hatte Julia Louise ein Mündel?«, fragte sie.
»Ein verwaistes junges Mädchen vielleicht, das bei ihr lebte und um das sie sich kümmerte?«
Lucy sah überrascht aus. »Nein. Warum fragst du?«
»Etwas, was Onkel Williston sagte, klang irgendwie danach«, antwortete sie leichthin. »Aber es ist nicht wichtig.«
Lucy wollte gerade eine Gabel voll Soufflé zum Mund führen, doch sie setzte sie wieder ab. »Was du bei meinem Onkel nicht vergessen darfst«, sagte sie ernst, »ist, dass er weniger ein historisches Ereignis nachspielt als … sich hinter einer historischen Persönlichkeit versteckt. Er interpretiert alles durch den Filter seiner Geschichte.«
»Das hat man uns in Cloverly House auch gesagt«, sagte Nell, und dann wechselte sie schnell das Thema, indem sie Swann fragte, ob sie mir eine Kanne mit Sir Poppets Kräutertee brauen dürfe. Ich erklärte kurz die Geschichte mit der verdorbenen Blutwurst, und während Nell den Tee machte, unterhielt Swann uns mit Anekdoten über seine kulinarischen Erlebnisse in exotischen Ländern. Er war gerade dabei, zu erklären, dass es in Peking fast so schwer war, Hundefleisch abzulehnen wie dieses überhaupt zu erkennen, als ich plötzlich so herzhaft gähnen musste, dass ich fast meine Teetasse mit verschluckt hätte.
»Oh, es tut mir Leid.« Swann sah uns schuldbewusst an. »Ihr müsst völlig erledigt sein nach eurer langen Fahrt. Lucy, bitte bring deine Cousine gleich nach oben. Sie muss sich vor dem Abendessen etwas hinlegen, das wird ihr gut tun.«
Das Schlafzimmer, in das Lucy mich führte, war ländlich eingerichtet, ein Doppelbett mit einem einfachen Kopfteil aus Eiche und einer Patchworkdecke, ein Sessel und eine Ottomane mit Chintz
überzug; Kleiderschrank und Toilettentisch waren ebenfalls aus Eiche, und auf dem Boden lag ein bunter Flickenteppich. Auf dem Nachttisch neben dem Telefon saß Reginald.
Lucy ging durchs Zimmer und hob ihn auf.
»Der ist ja goldig. Hast du ihn schon lange?«
»Seit ich mich erinnern kann«, sagte ich, wobei ich rot wurde. Ich war es nicht gewohnt, Reg Fremden vorzustellen.
»Ich finde es süß, dass du ihn mitgebracht hast.«
Lucy ließ sich in den Sessel fallen und berührte Reginalds rosa Schnäuzchen mit der Nase.
»Manche Leute würden es kindisch finden.« Ich streifte die Schuhe ab und setzte mich mit ausgestreckten Beinen auf das Bett. Nach dem langen Sitzen im Auto fühlten sie sich leicht geschwollen an.
»Manche Leute sind ungehobelte Dummköpfe«, sagte Lucy mit ehrlicher Überzeugung. »Er erinnert mich an meinen Onkel Tom. Nicht dass der wie ein Kaninchen aussieht«, fügte sie lachend hinzu.
»Aber er hat eine Stoffgiraffe, schon seit seiner Kindheit. Sie heißt Geraldine. Im Büro hatte sie ihren Platz auf dem Bücherbord hinter seinem Schreibtisch, und ich sagte Gerald immer …« Lucy kniff Reginald leicht ins Ohr, während das Lachen aus ihren Augen verschwand. »Ich sagte ihm immer, dass er nach einer ausgestopften Giraffe benannt worden sei«, schloss sie leise. Sie sah mit so wehmütigem Lächeln zu mir hinüber, dass ich mich getroffen fühlte. »Du weiß ja, wie Cousins so sein können.«
»Das weiß ich nicht«, entgegnete ich, »ich hatte nie welche.«
»Gar keine?«, fragte Lucy ungläubig.
»Meine Eltern waren beide Einzelkinder«, erzählte ich. »Und ich auch. Und nun, wo meine Eltern tot sind, habe ich gar keine Verwandten mehr.«
»Doch, hast du«, erklärte Lucy. Sie setzte Reginald wieder auf den Nachttisch, setzte sich auf die Bettkante und nahm meine Hand. »Du hast sogar eine ziemlich große Verwandtschaft. Da sind zunächst Arthur und meine Schwestern und ich, dann meine Mutter und Swann und Onkel Tom und Onkel Williston.« Sie beugte sich etwas näher zu mir.
»Und wie du weißt, zählt Onkel Williston doppelt.«
Sie hielt kurz die Luft an, als ob sie nicht glauben konnte, was sie soeben gesagt hatte, dann platzten wir los und kicherten wie zwei Schulmädchen im Schlafsaal. Von dem Augenblick an war Lucy Willis keine Fremde mehr und ich wusste, was immer zwischen Bill und mir geschehen würde, meine englische Familie würde ich nie mehr loslassen.
»Es ist nicht nett, über meinen armen Onkel Witze zu machen«, sagte Lucy, indem sie sich erschöpft gegen das Kopfteil des Bettes lehnte. »Er hat so viel durchgemacht.« Sie wischte sich mit dem Ärmel eine Lachträne aus dem Augenwinkel, dann fragte sie etwas ernster: »Hat er wirklich gesagt, dass er sich vor Julia Louise fürchtete? Ich frage nur, weil er noch nie zuvor von ihr gesprochen hat. Ich wüsste einfach gern, was das zu bedeuten hat.«
»Ich glaube, er hat sie nicht direkt namentlich erwähnt«, improvisierte ich. »Er sagte so etwas wie …« Ich schloss die Augen und versuchte, mich an das Protokoll zu erinnern: »›Ich kann Ihnen nicht alles erzählen, denn wenn Mutter davon hörte, würde sie mich bestrafen.‹«
»Und hast du irgendeine Ahnung, was er damit gemeint haben könnte?«
»Ich vermute, es hat mit deinem Vater und Onkel Willistons Frau zu tun.«
»Douglas und Sybil«, murmelte Lucy kopfschüttelnd. »Manchmal scheint es, als sollten wir nie aufhören, für ihre Sünden zu büßen.«
»Ich würde sagen, deiner Mutter ist es gelungen.«
Lucys Lächeln erreichte ihre Augen nicht. »Ja, aber sie hat Swann. Wir haben nicht alle so ein Glück.« Sie stand auf. »Ich darf dich nicht länger von deinem Nickerchen abhalten. Ich kann dir gar nicht sagen, wie ich mich freue, dich so schnell wiederzusehen, Lori. Nach diesen vielen Gesprächen über die Familiengeschichte bekam ich plötzlich Lust, Mutter zu besuchen, und ich bin froh, dass ich gekommen bin. Es gibt doch nichts Besseres als die saubere, gesunde Luft von Yorkshire, um einen wieder zuversichtlich zu machen.«
Nachdem sie gegangen war, sah ich nachdenklich auf die Tür, dann nahm ich den Telefonhörer ab und wählte Emmas Nummer.
»Was gibt’s?«, fragte sie. »Hast du neue Detektivarbeit für mich?«
»Wir brauchen nur noch ein paar zusätzliche Informationen zu der alten Geschichte«, sagte ich ihr. »Erinnerst du dich an Sybella Markham? Die Frau, deren Name auf der Kaufurkunde des Hauses steht, das der Familie Willis in London gehört?
Nell scheint zu denken, dass sie eine Waise war und Julia Louise zum Vormund hatte, aber Lucy behauptet, dass Julia Louise nie ein Mündel hatte.«
»Interessant.« Emma schwieg einen Moment.
»Haben wir etwa den Verdacht, dass Julia Louise ihr Mündel ebenfalls verbannt hat, genau wie ihren Sohn, um sich dann ganz bequem ihren Besitz unter den Nagel zu reißen?«
»Ich bin mir nicht sicher«, erwiderte ich. »Wie zuverlässig sind eigentlich Nells Ahnungen?«
»Die sind meist sehr zuverlässig«, versicherte Emma mir. »Aber wenn du willst, schau ich mal nach, ob ich etwas finden kann, um sie zu untermauern.«
»Danke, Emma. Ich muss jetzt aufhören.«
»Ich auch«, sagte sie. »Es ist ein herrlicher Tag und die Stangenbohnen rufen.«
Ich ging zum Frisiertisch, auf den Swann meinen Aktenkoffer gelegt hatte, und holte das blaue Tagebuch heraus. Ich setzte mich damit aufs Bett und öffnete es, aber noch ehe ich ein Wort gesagt hatte, erschien Tante Dimitys Schrift auf der Seite.
Hier gibt es keine Spur von Julia Louise, meine Liebe, also muss sie an dem anderen Ort sein. O Lori, ich fürchte, sie muss etwas sehr Schlimmes getan haben. Ich wusste, dass Williams Vorhaben unvorsichtig war. Wenn du es Lucy sagen musst, dann bring es ihr schonend bei. Sie braucht eine Freundin und sie mag dich sehr. Sie könnte sich wieder zurückziehen, wenn du ihre verehrte Ahnfrau madig machst.
Ich wartete, und als nichts weiter auf der Seite erschien, klappte ich das Buch zu. Mit einem Seufzer streckte ich mich auf dem Patchworküberwurf aus und sah zur Decke. Hatte Nell richtig geraten?
War Julia Louise der Vormund von Sybella Markham gewesen? Und hatte die Drachenmutter wirklich etwas ›sehr Schlimmes‹ mit ihrem Mündel angestellt?
»Was ist mit Sybella passiert?«, fragte ich mich laut, wobei ich erschauerte, als sei jemand über mein Grab gegangen.