28

IM SCHEINWERFERLICHT ERSCHIEN das weiße Schild, das die Zufahrt zu Geralds Anwesen anzeigte. Es war halb neun Uhr abends und wurde langsam dunkel, auf der Midhurst Road war außer uns weit und breit kein Auto. Paul bog in die Einfahrt und nahm langsam die Zufahrtsstraße zum Haus durch den dunklen Wald.

Nell auf ihrem Klappsitz hatte sich seitlich zum Fenster gebeugt und spähte angestrengt hinaus.

»Williams Auto«, flüsterte sie.

Mich überlief eine Gänsehaut, als ich an ihr vorbei nach draußen sah und der silbergraue Mercedes im Licht der Scheinwerfer kurz aufleuchtete und wieder verschwand, als Paul die Limousine daneben parkte. Bill war ausgestiegen, noch ehe Paul den Motor abgestellt hatte.

Nell und ich folgten ihm. Sie nahm Bertie vom Beifahrersitz und ich legte kurz die Hand auf den Mercedes, aber Bill war direkt auf die Eingangstür zumarschiert und klopfte nun laut und ungeduldig an.

Mrs Burweed öffnete die Tür und ein breiter Lichtschein erhellte die Dunkelheit. »Es ist wirklich nicht nötig, einen solchen Lärm zu machen, junger Mann«, sagte sie streng. »Besonders nicht um diese Tageszeit. Also, womit kann ich …« Sie verstummte, als sie Nell und mich sah, die jetzt neben Bill an der Tür auftauchten. »Miss – Miss Shepherd, nicht wahr? Wie schön. Mr Gerald wird sich freuen, Sie wiederzusehen.«

»Ach tatsächlich, wird er das?«, murmelte Bill.

Mrs Burweed ignorierte ihn und wandte sich weiter an mich. »Ich fürchte nur, er hat gerade Besuch. Würde es Ihnen etwas ausmachen, zu warten

…«

»Ja, das würde es«, unterbrach Bill sie. »Wo sind sie?«

»Im hinteren Wohnzimmer«, erwiderte Mrs Burweed, eingeschüchtert von Bills herrischem Benehmen. »Aber Mr Gerald hat strenge Anweisungen gegeben …«

»Danke«, sagte Bill und ging an ihr vorbei ins Haus. »Ich finde den Weg.«

Ich bedachte Mrs Burweed mit einem kurzen, entschuldigenden Schulterzucken und eilte hinter Bill her, gefolgt von Nell. Bill wollte gerade die Tür zum Wohnzimmer öffnen, aber Gerald musste den Lärm gehört haben, denn er kam ihm zuvor. Verwirrt sah er Bill an, dann sah er mich und lächelte so herzlich, dass mir die Knie weich wurden.

»Miss Shepherd«, rief er aus. »Was für eine wunderbare Überraschung.«

Bill brummte etwas Unverständliches, holte aus und bedachte Gerald mit einem Faustschlag, der ihn rückwärts ins Zimmer katapultierte. Mit immer noch geballter Faust stürzte Bill hinterher, stand über ihm und brüllte ihn an: »Das ist dafür, dass du meine Frau geküsst hast!«

Nell drehte sich um und sah mich mit großen Augen an. »Also das war’s, was in St. Bartholomäus passiert ist!«

»Es ist gar nichts in St. Bartholomäus passiert«, gab ich ärgerlich zurück. »Bill! Hör auf! Lass ihn in Ruhe.« Ich zog an seinem Arm und wollte ihn in den Flur hinaus ziehen, aber es war, als wollte ich eine Eiche entwurzeln.

Eine ruhige, vertraute Stimme kam aus der Zimmerecke. »Mein lieber Junge, wenn das, was du vermutest, wahr ist, dann hast du mein Mitgefühl, aber glaubst du tatsächlich, dass das der richtige Moment ist, Lori so aufzuregen?«

Ich erstarrte, Bill blieb der Mund offen stehen, und Nell hielt den Atem an.

Gerald stöhnte.

»Bill, hilf deinem Vetter auf«, gebot Willis senior vom entfernten Ende der Couch. »Und du, Nell, sag bitte Mrs Burweed, dass ein Anruf bei der Polizei nicht notwendig ist. Lori, ich weiß, dass du keine große Familie hattest, aber inzwischen müsstest du eigentlich wissen, dass man den Ausdruck ›kussfreudige Verwandtschaft‹ nicht ganz so wörtlich nehmen sollte.«

Willis senior musste Mrs Burweed sein großes Ehrenwort geben, dass Bill kein gefährlicher Irrer sei, ehe sie sich bereit erklärte, den Telefonhörer hinzulegen und zwei Eisbeutel aus der Küche zu holen, einen für Geralds Veilchenauge, den anderen für die schmerzenden Knöchel an Bills rechter Hand.

»Du Dummkopf«, sagte ich, während ich vor Bills Stuhl hockte und jeden seiner Finger genau untersuchte. »Dies war die einzige gesunde Hand, die du noch hattest. Vermutlich erwartest du jetzt, dass ich dich füttere.«

»Hm«, erwiderte Bill und sah noch immer mit finsterem Gesicht zu Gerald hinüber, der ausgestreckt auf dem schäbigen Sofa lag.

»Hör auf jetzt«, schimpfte ich. »Ich hatte dir doch gesagt, dass es nicht Geralds Schuld war. Er wusste nicht, dass ich deine Frau bin. Er wusste nicht mal, dass ich überhaupt verheiratet bin. Außerdem hatte es nichts zu bedeuten. Er wollte doch nur nett sein.«

Geralds Stimme kam unter dem Eisbeutel hervor. »Darum geht es nicht«, nuschelte er undeutlich. »Gibt Dinge, die muss ein Mann klarstellen.

Unantastbarkeit der Ehe gehört dazu. Da gibt’s keine Grauzonen.«

»Ganz richtig.« Bill nickte beifällig, hörte jedoch, als er sich dabei ertappte, sofort wieder auf und sah Gerald mit gerunzelter Stirn an, als ob es ihn beunruhigte, dass ausgerechnet der Mann ihn verteidigte, den er gerade k. o. geschlagen hatte.

Ich gab Bill seinen Eisbeutel zurück und setzte mich auf die Lehne seines Sessels, wo ich ihn im Auge behalten konnte. Das hintere Wohnzimmer sah genauso trist und langweilig aus wie das letzte Mal, als wir hier gewesen waren. Die Dunkelheit hatte die Bäume hinter dem großen Panoramafenster verschluckt, und an beiden Enden der Couch brannten Stehlampen. Ihr sanftes Licht dämpfte die Schäbigkeit des Raumes etwas und ließ die rotgoldenen Lichter in Geralds kastanienbraunem Haar aufleuchten. Er war ähnlich wie bei unserem letzten Besuch gekleidet, in ausgebleichten Jeans und einem alten tannengrünen Hemd aus weichem Baumwollstoff.

Willis senior sah irgendwie anders aus, aber ich konnte nicht gleich erkennen, was es war. Er saß Bill und mir gegenüber am Ende der Couch, auf die Mrs Burweed mehrere Kopfkissen für Gerald aufgetürmt hatte. Er trug einen makellosen anthrazitgrauen Nadelstreifenanzug, ein weißes Hemd und eine erlesene silbergraue Seidenkrawatte, aber das alles war nichts Ungewöhnliches. Willis senior war immer gut gekleidet, genau wie Nell. Sein weißes Haar war von der hohen Stirn zurückgekämmt und seine grauen Augen blickten so ruhig wie immer.

Vielleicht waren sie ein wenig heller als sonst, wenn er mich ansah, aber das hatte ich erwartet.

Er musste sich schrecklich freuen, Bill und mich zusammen zu sehen. Im Moment jedoch hatte er seine Aufmerksamkeit Nell zugewandt.

Nell saß auf einem Fußschemel zwischen Willis senior und dem Kamin und unterhielt sich leise mit ihm. Plötzlich sahen sie in meine Richtung, und ich sah, wie Willis senior nickte. Und dann lächelte Nell mich so strahlend an, dass es mich fast umwarf.

»Mr Willis! Alles in Ordnung?« Paul stand in der Tür und sah misstrauisch im Zimmer umher, wobei er mit der einen Hand einen Reifenheber, mit der anderen Reginald umklammerte. Er musste sich bewusst sein, was für ein merkwürdiges Bild er abgab, denn er kam schnell zu mir und gab mir Reginald.

»Danke, Paul.« Ich setzte Reginald auf Bills Schoß, in der Hoffnung, dass das Häschen einen beruhigenden Einfluss auf meinen Mann haben würde. »Aber ich glaube, Sie sollten lieber den Wagenheber in Sicherheit bringen, ehe Mrs Burweed ihn sieht. Wir haben sie gerade mit Mühe davon abhalten können, die Polizei zu rufen.«

Paul sah rückwärts über die Schulter zurück und sprach aus dem Mundwinkel. »Aber Master Bill sagte doch, sein Vater sei in großer Gefahr.«

»Hat er das gesagt?« Willis senior sah zu Bill, der sehr aufmerksam die Decke betrachtete. »Sehr merkwürdig. Vielleicht hat mein Sohn, als er sich den Arm verstauchte, auch einen Schlag auf den Kopf bekommen. Wie Sie sehen, Paul, bin ich in keinerlei Gefahr.«

Paul senkte die Hand mit dem Wagenheber.

»Dann bringe ich den wohl am besten in den Kofferraum zurück und schaue mal nach, ob Mrs Burweed uns einen Tee machen kann.«

»Und Sandwiches«, rief Nell. »Lori hat noch nichts zu Abend gegessen.«

»Geht in Ordnung, Mylady«, sagte Paul. Er sah im Zimmer umher und schüttelte den Kopf. »Hier sieht’s aus wie auf einem Schlachtfeld.« Er drehte sich auf dem Absatz um und verschwand.

»Gerald«, sagte Willis senior, »da dies dein Haus ist, möchte ich dich fragen, ob du mit der Änderung des heutigen Abendprogramms, wie es sich aus den jüngsten Vorfällen ergibt, einverstanden bist. Fühlst du dich in der Lage, unsere Unterhaltung fortzusetzen?«

»Auf jeden Fall.« Gerald schwang die langen Beine über den Rand der Couch und setzte sich auf. Er legte eine Hand auf die Kopfkissen, um sich Halt zu verschaffen, und nahm den Eisbeutel vom Auge, das blau und zugeschwollen war. Bis morgen würde sich der Bluterguss wahrscheinlich über die Hälfte seines Gesichtes erstrecken.

»Um Gottes willen«, murmelte Bill. Er gab mir Reginald und setzte sich neben Gerald. »Lass mich mal sehen.« Gerald bog gehorsam den Kopf zurück und strich sich das Haar aus der Stirn. »Das tut mir sehr Leid, Gerald.«

»Ach was«, sagte Gerald. »Ich an deiner Stelle hätte wohl auf einer Enthauptung bestanden.«

Bill runzelte die Stirn. »Ich glaube, ich sollte dich vielleicht zum Röntgen ins Krankenhaus fahren.«

»Eine Tasse Tee tut’s auch.« Gerald hob den Eisbeutel wieder ans Auge und streckte die Hand aus. »Freut mich, dich kennen zu lernen, Vetter.«

Bill grinste schuldbewusst und nahm zögernd Geralds Hand. »Gleichfalls, Vetter. Ich habe schon viel von dir gehört, und obwohl es mir schwer fällt, es zuzugeben – es scheint alles wahr zu sein.«

»Hört sich an, als ob ich das als Kompliment verstehen muss«, sagte Gerald.

Willis senior stand auf. Er war ein zierlicher Mann, nicht im Entferntesten so groß und breitschultrig wie sein Sohn, aber jetzt schien er den Raum zu füllen. »Ehe wir fortfahren«, sagte er und sah uns der Reihe nach streng an, wie ein unzufriedener Schulmeister, »wäre ich sehr dankbar, wenn mir jemand sagen würde, warum ihr drei hier seid.

Vielleicht Eleanor, denke ich.« Er verschränkte die Hände auf dem Rücken und nickte Nell zu. »Eine kurze Erklärung, bitte …?«

Nell nahm sich diese Aufforderung zu Herzen – ihre Zusammenfassung war ein Meisterwerk an Knappheit. Sie ließ so viel aus, dass die gesamte Schilderung unserer weiten und ereignisreichen Reise nur etwa drei Minuten in Anspruch nahm und den Tenor hatte: »Wir hatten uns um dich Sorgen gemacht, William, deshalb sind wir dir nachgereist.«

Bills Beschreibung seines Unfalls am Little Moose Lake war ähnlich kurz: »Ich machte mir Sorgen um Lori, deshalb bin ich hergeflogen, um zu sehen, was los ist. Kleiner Unfall unterwegs.«

Willis senior nickte weise, sah von Nell zu Bill, dann kam er herüber und stellte sich direkt vor mich.

»Lori? Vielleicht bist du ein wenig ausführlicher?«

Ehe ich antworten konnte, ging die Tür auf und Mrs Burweed und Paul kamen herein und brachten Tee, eine große Platte mit Sandwiches und einen Kuchenständer mit Karamellbrownies. Willis senior bestand darauf, dass ich erst etwas aß, aber sowie ich fertig war, ruhte sein Blick wieder auf mir, freundlich, aber bestimmt.

Ich beantwortete seine Fragen, so gut ich konnte. »Zuerst«, sagte ich von meinem Platz auf Bills Armlehne, »zuerst sind Nell und ich dir nachgefahren, um dich davon abzubringen, Boston zu verlassen.«

»Meine Schuld«, sagte Bill. »Wenn ich nicht so blöd gewesen wäre, hättest du nie daran gedacht wegzugehen.«

»Aber du bist blöd gewesen«, stellte Willis senior fest.

Bill zog den Kopf ein. »Ich weiß, und es tut mir mehr Leid, als ich sagen kann, Vater. Bitte, nimm meine Dummheit nicht als Anlass, wegzuziehen.

Wir brauchen dich.«

»Ich kann dir versprechen«, sagte Willis senior bereitwillig, »dass ich nicht aus Boston wegziehen werde.«

Ich starrte ihn an und war verblüfft über die Leichtigkeit, mit der mein Schwiegervater all seine komplizierten Pläne fallen ließ. »Aber was ist mit dem Haus, das du in Finch gemietet hast, und mit den Möbeln und der ganzen Büroausstattung?«

»Ich bin sicher, dass alles eine gute Verwendung finden wird«, sagte Willis senior. »Und jetzt fahre bitte in deiner Erzählung fort, Lori. Du hast mir erklärt, warum ihr anfangs hinter mir hergefahren seid. Bedeutet das, dass ihr irgendwann andere Gründe hattet?«

»Eigentlich gleich nachdem ich anfing, mit Geralds Familie Bekanntschaft zu machen.« Zögernd sah ich zur Couch.

»Bitte, Lori«, sagte Gerald mit einer müden Handbewegung, »sprich ganz offen. Dein Schwiegervater hat es den ganzen Nachmittag schon getan.«

»Als ich Lucy und Arthur und Onkel Williston kennen gelernt hatte«, sagte ich zu Willis senior,

»hörte ich wohl auf, mir um dich Sorgen zu machen, und machte mir Sorgen um … um alles andere.«

»Wie zum Beispiel?«, half Willis senior nach.

Ich zählte an den Fingern auf. »Zum Beispiel …warum Gerald aus der Firma ausgeschieden ist – und warum er sich mit Sally trifft. Zum Beispiel, wer Sybella Markham war. Zum Beispiel, warum du glaubst, dass Anne Elizabeth Court Nummer drei dir gehört.« Ich hob die Hände. »Es ist ein Gewirr aus losen Bruchstücken, aber …«

»Da hast du zur Hälfte Recht«, sagte Gerald leise. »Es ist ein Gewirr, das gebe ich zu, aber die Bruchstücke lassen sich alle zusammensetzen.« Er drückte die Handflächen gegeneinander und verschränkte seine schlanken Finger. »Sybella und Sally … Vergangenheit und Gegenwart … die Sünden der Väter und der Söhne …« Seine Stimme war nur noch ein Flüstern und er drückte seine Hände gegen die Stirn.

Willis senior sah ihn ruhig an. »Eine gewaltige Last für einen Mann«, sagte er. »Es wird Zeit, dass du sie abwirfst, Gerald, und uns die Wahrheit sagst.« Er nahm seinen Platz wieder ein, zog seine Taschenuhr heraus, sah sie an und steckte sie wieder ein. »Im Hinblick auf unser Gespräch heute Nachmittag und die Zeit, die uns jetzt noch bleibt, würde ich dich bitten, uns zuerst die Wahrheit über Sybella zu erzählen.«

»Ich wusste es«, sagte Nell leise. »Ich wusste, dass es Sybella wirklich gab.«