11

ICH HATTE ES SO eilig, endlich meine Zwiesprache mit Tante Dimity aufzunehmen, dass ich über die Ottomane stolperte. Widerstrebend änderte ich die Richtung und ging zuerst zum Kamin, um die Lampe auf dem Kaminsims anzuknipsen. Als Nächstes entzündete ich im Kamin ein Feuer und blieb einen Moment lang ruhig stehen, um die Stille des Arbeitszimmers in mich aufzunehmen.

»Ich muss einen kühlen Kopf bewahren, ruhig und gefasst sein, wenn ich Dimity mein Anliegen darlege«, erklärte ich Reginald. »Ansonsten glaubt sie, ich hätte mich erneut auf Vampirjagd begeben. Ich werde sie daran erinnern, dass ich wie Emma sein wollte, doch nachdem ich sie heute auf der Kirmes gesehen habe, bin ich nicht mehr sicher, ob sie ein so gutes Vorbild für mich ist. Sie scheint eine lebhaftere Fantasie zu haben, als ich ihr zugetraut hätte.«

Mein rosa Hase blickte mich verständnisvoll an. Der aufmunternde Glanz in seinen schwarzen Knopfaugen versicherte mir, dass er, gleich was passierte, auf meiner Seite war. Seine unerschütterliche Loyalität war wie Balsam für mein aufgeregtes Gemüt. Mit sicherer Hand langte ich nach dem blauen Buch.

Dann setzte ich mich in den Ledersessel vor dem Kamin, streckte die Füße auf der Ottomane aus und legte das Buch in meinen Schoß. Nachdem ich tief eingeatmet hatte, schlug ich es auf und sagte: »Dimity? Ich bin von der Kirmes zurück.«

Willkommen, Liebes. Die königsblauen Bögen kringelten sich fließend wie Quecksilber über die leere Seite. War es so interessant, wie Du gehofft hattest?

»O ja. Es war interessant.«

Ich freue mich ja so für Dich. Erzähle mir alles.

»Es ist eine völlig andere Welt …«

In allen Einzelheiten berichtete ich von der Kirmes und ließ nur das Ereignis aus, das mich am meisten beschäftigte. Ausführlich beschrieb ich das äußere Bild – das Torhaus, die gewundenen Gassen, die Stände, die Freilichtbühnen, den Turnierplatz – und beschwor die ausgelassene Atmosphäre herauf. Ich erzählte ihr von der Eröffnungszeremonie und dem Kanonendonner, dem Wasserballon-Jongleur und den Bauchtänzerinnen, dem wandelnden Baum und den Madrigalsängerinnen. Voller Bewunderung beschrieb ich die Vielfalt der angebotenen Waren und hob die bemerkenswerte Mundart der Darsteller hervor.

Ich führte sie die Pudding Lane hinauf und die Broad Street hinab, wo ich innehielt, um ihr den würdevollen Auftritt der Zwillinge im königlichen Umzug auszumalen sowie meine Reaktion auf den Anblick Emmas, die herausgeputzt an mir vorbeiritt. Dann nahm ich sie zum Picknickplatz auf dem Hügel mit, ließ sie an Lilians und meinem Lunch und dem köstlichen Honigkuchen teilhaben, während Will und Rob mit im Wind flatternden Einhornflaggen auf ihren Ponys den Turnierplatz umrundeten. Ich beschrieb, wie ein Raunen durch die Menge ging, als die Ritter ihr Waffengeschick unter Beweis stellten, und wie die Erde bebte, als die Rösser beim Tjost im donnernden Galopp aufeinander zurasten. Schließlich stellte ich ihr meinen extrem sexy aussehenden Gatten in Strumpfhose vor, führte sie durch das Zelt und in den Stallbereich, wo meine Erzählung kurzzeitig unterbrochen wurde.

Hatte ich es nicht gesagt! Die Kirmes hat Dich offensichtlich aus dem alten Trott herausgeholt, so wie Du es Dir gewünscht hattest, Lori. Sie scheint jedenfalls inspirierender zu sein als die Hundeschau, der Flohmarkt und die Blumenausstellung zusammen, es sei denn, man bezieht sich auf das Jahr, in dem Patricia Shuttleworths von Flöhen befallener alter Mops den ersten Preis der Hundeschau gewann – was für eine Aufregung! –, aber das war vor Deiner Zeit. Die Kirmes scheint all Deine Wünsche erfüllt, ja Deine Erwartungen übertroffen zu haben. Du musst erschöpft sein, Liebes.

»Ich werde morgen jedenfalls nicht durch den Ärmelkanal schwimmen, aber es geht schon.«

Ich muss zugeben, dass mich Emmas Verwandlung nicht so überrascht wie Dich. Schließlich ist sie eine Gärtnerin, und Gärtner sind im Grunde Träumer. Wie sonst wären sie in der Lage, eine Handvoll Samen zu betrachten und sich vorzustellen, dass daraus eine prachtvolle Rabatte aus mehrjährigen Pflanzen erwächst?

»So habe ich das noch nie betrachtet«, räumte ich ein.

Bills Verwandlung, auf der anderen Seite, war vollkommen überraschend – obwohl, vielleicht hätte es uns stutzig machen sollen, dass er so vehement protestierte. Die meisten Männer würden als Pfauen gehen, wenn man ihnen erlaubte, ihre Federn zu zeigen, ich fürchte nur, dass sie in der Neuzeit allzu sehr entmutigt wurden. Ich bin sicher, Dein Mann genießt seinen mittelalterlichen Geckenaufzug mehr, als er selbst es je erwartet hätte.

»Ich für meinen Teil genieße den Anblick auch«, sagte ich und rief mir die hübsche Szene in der Diele in Erinnerung.

Natürlich tust Du das. Du bist mit einem äußerst attraktiven Ehemann gesegnet. Es wäre ein Jammer gewesen, ihn in eine Mönchskutte zu hüllen. Danke, dass Du mich so lebendig an Deinem Tag hast teilnehmen lassen, Lori. Mir ist, als hätte ich die König-Wilfred-Kirmes selbst miterlebt. Aber nun musst Du ins Bett gehen. Wenn Du morgen wieder zur Kirmes willst, brauchst Du Deinen Schlaf.

Ich räusperte mich. »Ich habe dir noch nicht alles erzählt, Dimity.«

Tut mir leid, ich wolle Dir nicht das Wort abschneiden. Fahr doch fort, bitte.

»Eine Reihe ungewöhnlicher Dinge haben sich bei der Kirmes ereignet.«

Ungewöhnlicher als ein umherwandelnder Baum?

»Ja, weil der Baum nichts anderes als ein verkleideter Kerl auf Stelzen war. Die Dinge, von denen ich dir berichten will, waren sehr real.« Um Mut zu schöpfen, warf ich Reginald einen verstohlenen Blick zu, dann kauerte ich mich wieder in meinen Sessel und bemühte mich, wie eine abgespannte Zeitungsreporterin zu klingen. »Ich muss dir eine Geschichte erzählen. Es geht um Liebe. Wenn es stimmt, was ich glaube, braucht die König-Wilfred-Kirmes bald einen neuen Handlanger. Oder einen neuen König. Kommt drauf an, was als Erstes passiert.«

Eine hervorragende Einleitung, Lori. Mein Interesse ist jedenfalls geweckt.

»Zu meiner Geschichte gehören eine Handsäge, eine beschädigte Brüstung, ein fliegender Sandsack, ein gerissenes Seil.« Ich hielt inne. »Und ein Liebesdreieck.«

Hurra! Ich wusste, Du würdest mich nicht enttäuschen, Liebes. Bitte fahr fort mit Deiner aufregenden Erzählung. Ich sitze wie auf glühenden Kohlen.

Tante Dimitys Antwort troff vor Sarkasmus, doch ließ ich mich davon nicht entmutigen. Ich hatte schon so oft die Grenzen der Vernunft überschritten, dass es törichter Optimismus gewesen wäre, hätte ich eine ernste und nüchterne Reaktion erwartet. Ihr neckender Ton bestärkte mich nur darin, ihr zu beweisen, dass meine Vermutungen keine Einbildung waren.

»Heute früh, ehe die Kirmes die Pforten öffnete, hörte ich das Geräusch einer einzelnen Handsäge, das aus dem Bishop’s Wood zu uns herüberdrang. Hätte ich mehrere Sägen gehört, hätte ich keinen Gedanken daran verschwendet, doch das Geräusch einer einzelnen Säge deutete darauf hin, dass sich eine Person an einem spezifischen Objekt zu schaffen machte.«

Es deutet auch darauf hin, dass jemand in den frühen Morgenstunden arbeitete, als das Kirmesgelände noch verlassen dalag.

»Das ist richtig.« Von Tante Dimitys Bemerkung ermuntert, fuhr ich fort. »Während der Eröffnungszeremonie brach ein Teil der Brüstung am Wehrgang des Torhauses ab. Und zwar in dem Augenblick, als sich König Wilfred darauflehnte. Wenn Lord Belvedere ihn nicht am Surkot gepackt und zurückgerissen hätte, wäre der König sechs Meter tief auf die Erde gestürzt.«

Großer Gott. Wie betrüblich.

»Es wird noch betrüblicher, wenn man bedenkt, dass der König die Zeremonie geprobt hat und sie jeden Morgen wiederholt. Mit anderen Worten, er stützt sich also bei jeder Vorführung auf dieselbe Stelle.«

Eine ziemlich sichere Vermutung, würde ich sagen. Willst Du, dass ich eine Beziehung zwischen einer einzelnen Handsäge und der eingestürzten Brüstung herstelle?

»Noch nicht.« Ich wollte mich nicht zur Eile antreiben lassen. »Erst als ein junger Mann namens Edmond Deland auf der Bühne erschien, um die Trümmer zu beseitigen, brachte ich die beiden Ereignisse zusammen. Edmond ist eine Art Hausmeister der Kirmes und trägt kein Kostüm. In der Tat scheint er der einzige Mitarbeiter zu sein, der bei der Arbeit moderne Alltagskleidung trägt.«

Kann man von seinem Aufzug darauf schließen, dass er nicht ganz vom Geist der Kirmes ergriffen ist?

»Ja, das glaube ich. Aber vor allem hat mich seine Reaktion auf den Zwischenfall mit der Brüstung erstaunt – er verhielt sich irgendwie … merkwürdig. Als er die Trümmer erblickte, wirkte er mürrisch. Und als er zu dem Loch in der Brüstung hinaufschaute, wurde sein Ausdruck wütend und enttäuscht. Außerdem kam ich nicht umhin, die Handsäge in seiner Schubkarre zu bemerken.«

Ah, ich verstehe! Du glaubst, dass sich Edmond Deland mit seiner Handsäge am frühen Morgen an der Brüstung zu schaffen machte, in der Hoffnung, die Eröffnungszeremonie zu stören. Als die Zeremonie wie geplant weiterlief, war er wütend und enttäuscht, weil sein Plan nicht aufging. Bin ich auf dem richtigen Weg?

»Fast. Ich werde jetzt ein wenig vorauseilen. Erinnerst du dich an die Madrigalsängerinnen, von denen ich dir erzählt habe?«

Wie könnte ich die kleine Mirabel vergessen, das hübsche Mädchen mit den haselnussbraunen Augen und der Engelsstimme?

»Als ich dem Gesang lauschte, sah ich Edmond Deland wieder. Er hielt sich im Schatten zwischen zwei Buden auf, wo er unbeweglich wie eine Statue stand und Mirabel unverwandt ansah, als betete er sie an. Ich schwöre dir, Dimity, seine Hingabe war nahezu greifbar. Sie schien ihn nicht zu bemerken, und er machte keine Anstalten, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.«

Jeder einigermaßen sensible Beobachter würde darauf schließen, dass Edmond Deland hoffnungslos in die kleine Mirabel verliebt ist. Und voilà – wir haben zwei Seiten unseres Liebesdreiecks! Wer komplettiert es?, frage ich mich.

»Dazu komme ich gleich«, sagte ich ohne Eile. »Wie ich dir bereits erzählte, kündigte eine Trompetenfanfare den königlichen Umzug an. Und augenblicklich eilten die Sängerinnen aus der stillen Seitengasse in die Broad Street. Mir schien es, als hätten sie ihren Standort gewechselt, um Mirabel die Gelegenheit zu geben, dem Festzug beizuwohnen.«

Wie hat Edmond es aufgenommen?

»Als er die Trompeten hörte, schien er wieder äußerst wütend. Er sagte kein Wort, sondern stapfte nur verärgert davon. Ich folgte Mirabel.«

Natürlich.

»Während des ersten Teils des Umzugs trat sie von einem Fuß auf den anderen. Sie war ein einziges Nervenbündel, als könnte sie kaum erwarten, endlich den Mann ihrer Träume zu erblicken. Als sie König Wilfred sah, keuchte sie hörbar, und als er ihr eine Kusshand zuwarf, errötete sie wie die aufgehende Sonne und knickste in seine Richtung. Wenn die anderen Sängerinnen sie nicht fortgezogen hätten, wäre sie dem König womöglich die Broad Street hinauf gefolgt.«

Und deshalb ist der König die dritte Person in unserem Liebesdreieck.

»Was ihn zu Edmonds Rivalen macht«, hob ich hervor.

Ja, das ist wahr. Ist dem König bewusst, dass er der Rivale eines wütenden jungen Mannes mit Handsäge ist?

»Das weiß ich nicht. Aber ich kann dir erzählen, was als Nächstes geschah.«

Rasch fasste ich den Vorfall mit der Quintana zusammen, nicht ohne Bills Erklärung einfließen zu lassen, dass so etwas so gut wie nie vorkam. Als Nächstes berichtete ich von dem gleichmäßig ausgefransten Seilende und meiner Schlussfolgerung, dass das Seil zuvor halb durchtrennt worden sein musste. Als ich schließlich auch von meinem misslungenen Versuch erzählt hatte, das Seilende des Sandsacks sicherzustellen, lehnte ich mich in meinem Sessel zurück und wartete, bis Tante Dimity ihre eigene Schlussfolgerung gezogen hatte. Sie brauchte nicht lange.

Korrigiere mich, falls ich mich irre, Lori. Du scheinst anzunehmen, dass Edmond nicht allein das Ziel verfolgt, den Ablauf der Kirmes zu stören, sondern auch seinen Nebenbuhler zu ermorden.

»Ich bin mir bewusst, dass meine Vermutung weit hergeholt klingt«, sagte ich ruhig. »Und ich mag dazu neigen, voreilige Schlüsse zu ziehen, aber ja, ich glaube, dass Edmond Deland versucht, König Wilfred zu töten.«

Das ist eine äußerst schwerwiegende Beschuldigung.

»Ich weiß, doch denk noch mal darüber nach, Dimity. Edmond ist ein idealer Tatverdächtiger. Er hat Zugang zu jedem Quadratzentimeter der Kirmes, Tag und Nacht. Er verfügt über die Werkzeuge, die es brauchte, um die Brüstung als auch das Seil an der Quintana zu manipulieren. Auch hat er die Möglichkeit, rasch Beweise verschwinden zu lassen, weil es zu seinem Job gehört, das Gelände sauber zu halten.«

Ich zweifle nicht, dass Edmond die Mittel und die Gelegenheiten hat, die Taten auszuüben, derer Du ihn beschuldigst. Was ich jedoch in Frage stelle, ist sein Motiv.

»Er ist krank vor Eifersucht«, sagte ich.

Er müsste krank sein, wenn er eifersüchtig auf Calvin Malvern wäre. Der Calvin, den ich kannte, war ein gutmütiger, pummeliger Tagträumer. Ich kann ihn mir einfach nicht als Objekt der Begierde eines hübschen Mädchens vorstellen.

»Ein Mittelalterfest ist eine große Bühne, auf der es nur um Rollenspiele geht«, erklärte ich. »Auf der Kirmes wird aus einem stinknormalen Teenager namens Tommy Grout ein Harold le Rouge, seines Zeichens Schildknappe des edlen Ritters Sir Peregrine. Ähnlich verwandelt sich Calvin Malvern, ein gutmütiger pummeliger Tagträumer, in einen lüsternen König.«

Wie kommst Du auf die Idee, dass er lüstern ist?

»Oh, entschuldige«, sagte ich und richtete mich in meinem Sessel auf. »Ich habe vergessen, dir von Bills nacktem Hintern zu erzählen.«

Ich bin mir nicht hundertprozentig sicher, ob ich etwas von Bills nacktem Hintern hören möchte.

»Ich rede nicht von seinem Hintern«, beeilte ich mich zu sagen. »Ich rede von dem nackten Hintern, den er gesehen hat, als er mit den Zwillingen zum Festbankett des Königs im Camp der Darsteller ging.«

Ich bin zugleich irritiert und fasziniert. Sind die Darsteller etwa Nudisten?

»Das nicht gerade.« Ich räusperte mich, ehe ich zögernd fragte: »Hast du schon mal von freier Liebe gehört?«

Du meine Güte, Lori. Freie Liebe ist keine Erfindung eurer Generation, wie ihr immer glaubt. Wenn ich mich nicht irre, wurde der Begriff in den 1860ern geprägt, auch wenn er damals nicht dieselbe Bedeutung hatte. Wie auch immer, mir ist die moderne Variante durchaus vertraut. Welche Rolle spielt freie Liebe in unserer Geschichte?

»Bill zufolge ist freie Liebe, wenn du mir den Ausdruck verzeihen magst, eine grassierende Erscheinung im Camp. Edmond dagegen scheint so konservativ zu sein, dass er nicht einmal während der Arbeit ein Kostüm tragen möchte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er das freizügige Betragen seiner Kollegen im Camp gutheißen würde. Calvin seinerseits ist absolut fasziniert von Mittelalterfesten. Techtelmechtel scheinen Bestandteil seiner Stellenbeschreibung zu sein.« Ein anderer Gedanke schoss mir durch den Kopf, und ich zögerte nicht, ihn zu äußern. »Das würde erklären, warum Calvin den Sommer in einem komfortablen Wohnmobil verbringt statt im Farmhaus seines Onkels. Horace Malvern würde freie Liebe unter seinem Dach gewiss nicht dulden.«

Ich habe verstanden, was Du meinst. Calvin Malvern mag für derlei Spielchen nichts übrig haben, aber König Wilfred würde nicht zögern, seine Rolle auszunutzen, eine unbedarfte junge Madrigalsängerin zu verführen.

»Ich stelle nur Vermutungen an«, sagte ich vorsichtig, »aber ich glaube, Edmond ist ein Romantiker. Er will seinen unschuldigen Engel vor den lüsternen Klauen des Königs retten und gleichzeitig den König bestrafen, weil er mit seiner Angebeteten spielt.«

Mord ist eine ziemlich extreme Form der Strafe.

»Aber wir wissen doch beide, dass Liebe Menschen zu extremen Handlungsweisen treiben kann«, sagte ich weise.

Es herrschte eine lange Pause, ehe sich die anmutige Handschrift weiter auf der Seite entfaltete.

Nun … Du hast am Anfang Deines Berichts ein paar interessante Details ausgelassen, Lori. Was für einen ereignisreichen Tag hattest Du!

»Ich weiß, was du mir sagen willst, Dimity. Du willst mir sagen, dass ich mal wieder vorschnell war, dass ich zu viel in die Situation hineininterpretiere und dass meinen Schlussfolgerungen zu wenig harte Fakten zugrunde liegen. Doch ehe du das tust, frag dich bitte eines: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass König Wilfred an einem einzigen Tag zwei merkwürdige Unfälle hat, die beinahe sein Leben kosten?«

Ich nehme an, dass die Wahrscheinlichkeit höher ist, als Du denkst. Wie Lilian Bunting meinte, ist die König-Wilfred-Kirmes eine komplexe Theaterform. Wie bei jeder Theaterunternehmung gehen Dinge von Zeit zu Zeit unweigerlich daneben.

»Aber würde man erwarten, dass derselben Person an einem Tag zwei spektakulär gefährliche Unfälle zustoßen?«, sagte ich eindringlich.

Wohl eher nicht. Aber ebenso wenig würde ich jemandem wie Edmond zutrauen, Urheber dieser spektakulären Unfälle zu sein. Wenn Du mit Deinen Vermutungen richtig liegst, haben seine Mordanschläge nicht in irgendwelchen dunklen Winkeln stattgefunden, sondern vor den Augen eines großen Publikums. Ist einem konservativen jungen Mann ein solch dramatisches Gespür zuzutrauen?

»Es geht nicht um das Drama«, erwiderte ich. »Edmond handelt pragmatisch. Ein Sabotageakt erlaubt ihm, woanders zu sein, wenn der vermeintliche Unfall passiert. Er ist so klug, sich vom Ort des Verbrechens fernzuhalten.«

Aber würde ein romantischer junger Mann ausgerechnet einen Sabotageakt wählen, um sein Ziel zu verfolgen? Würde er sich nicht einfach ein Schwert schnappen und um die Ehre seiner Angebeteten kämpfen? Liebe Güte, da liegen so viele Schwerter herum, er muss einfach nur zugreifen.

»Wenn Edmond den König vor aller Augen attackieren würde, käme er hinter Gitter. Aber hinter Schloss und Riegel kann er Mirabels Ehre nicht länger verteidigen.«

Auch wieder wahr.

Ich schürzte die Lippen und seufzte müde. »Ich habe auch nicht auf alle Fragen Antworten, Dimity. Aber mein Bauch sagt mir, dass auf der Kirmes etwas Merkwürdiges vorgeht.«

Etwas Merkwürdiges … und potenziell Tödliches. Vielleicht ist es gefährlich, König zu sein.

Ich las ihre Worte zwei Mal, ehe ich zaghaft fragte: »Denkst du, dass ich möglicherweise auf einer Spur bin, die irgendwohin führt?«

Ich würde noch nicht so weit gehen, jemanden des versuchten Mordes zu bezichtigen. Vielleicht haben wir es einfach nur mit einem Fall von gefährlichem Unfug zu tun. Womöglich verfolgt jemand das Ziel, die Kirmes zu vereiteln, indem er den Eindruck erweckt, als wäre der Aufenthalt dort gefährlich?

»Warum sollte das jemand tun?«

Da fallen mir ein Dutzend Gründe ein: Gehässigkeit, Neid, Eifersucht, Gier, Rache. Deine Aufgabe besteht darin, den wahren Grund zu finden.

»Tatsächlich?«, sagte ich aufgeregt.

In der Tat. Ich glaube, dass die Situation weitere Nachforschungen erfordert.

»Das glaubst du wirklich?« In seliger Ungläubigkeit starrte ich blinzelnd auf das Notizbuch.

Ja, ganz bestimmt. Ich bin froh, dass Du morgen wieder die Kirmes besuchst. Da wirst Du Gelegenheit haben, weitere Informationen zu sammeln. Ich für meinen Teil wüsste gern, wer heute früh mit der einsamen Handsäge hantierte und was er oder sie damit tat. Wenn es einen Zeugen gibt, der gesehen hat, wie sich jemand an der Brüstung zu schaffen machte, dann haben wir womöglich unseren Übeltäter.

»Ich werde mich umhören«, sagte ich.

Ich wüsste auch gern mehr über die Quintana. Haben die Ritter vor ihrer Darbietung noch einmal trainiert? Wenn dem so ist, muss der Täter nach der Probe an dem Seil herumgepfuscht haben, und zwar bevor die Kirmes ihre Pforten öffnete.

»Wenn er das Seil vor der Probe manipuliert hätte, wäre es schon dabei gerissen«, sagte ich eifrig nickend. »Hätte er sich aber daran zu schaffen gemacht, als die Kirmes bereits im Gang war, hätte er riskiert, dabei gesehen zu werden. Kaum hatte die Kirmes ihre Pforten geöffnet, wimmelte es dort nur so vor Leuten, und die meisten spazierten erst mal herum, um sich alles in Ruhe anzuschauen.«

Unser Bösewicht ist möglicherweise von einem Darsteller gesehen worden. Versuche, einen Zeugen ausfindig zu machen, der ihn im passenden Zeitraum auf dem Turnierplatz gesehen hat, am besten mit einem scharfen Messer in der Hand.

»Ich werde mein Bestes tun«, sagte ich.

Ich würde Dir auch raten, morgen Dein Kostüm zu tragen.

»Nachdem ich Bill und Emma verkleidet gesehen habe, versteht sich das von selbst. Ich kam mir heute wie ein Partymuffel vor.«

Du solltest Dich morgen wie ein Darsteller fühlen. Finde heraus, ob jemand der Beteiligten einen Groll gegen König Wilfred hegt. Die Menschen werden sich Dir eher anvertrauen, wenn sie in Dir eine Kollegin sehen. Benutze Dein Kostüm als Verkleidung. Vielleicht verschafft es Dir sogar Zugang zum Camp.

»Ich werd’s diesen Bauernmaiden zeigen«, versprach ich ihr. »Aber meine Kleider werde ich im Camp anbehalten.«

Da bin ich aber erleichtert. Dass Du ein offenes Ohr für allgemeinen Tratsch haben solltest, daran muss ich Dich ja nicht erinnern.

»Ich bin morgen mit Jinks dem Hofnarren zum Mittagessen verabredet. Er hat mir versprochen, mich auf den neuesten Stand der Gerüchteküche zu bringen.«

Du bist ja in Sachen Klatsch und Tratsch mit allen Wassern gewaschen, Lori. Finch war eine gute Schule für Dich.

»Morgen früh auf dem Weg zur Kirche werde ich Bill einen Crash-Kurs geben. Es kann nicht schaden, wenn ein zusätzliches Augenpaar hinter den Kulissen für uns Ausschau hält.«

Wirst Du ihm von Deinem Verdacht erzählen?

Ich dachte gründlich darüber nach und schüttelte dann den Kopf. »Ich werde Bill erst einweihen, wenn ich mehr Fakten gesammelt habe. Wenn ich einen Frühstart hinlege, wird er mich nur auslachen.«

Dein Gatte ist ein liebenswerter Mann, er kann aber mitunter auch sarkastisch sein.

»Ja, das kann er«, stimmte ich ihr eifrig zu. »Besonders wenn es um meine Mutmaßungen geht.«

Wenn es Dir gelingt, handfeste Beweise zu finden, wirst Du Bill eher überzeugen können. Schade wegen des Seils, aber vielleicht ergibt sich ja noch etwas anderes. Falls ja, versuche unbedingt, es in Deine Hände zu bekommen.

»Danke für den Tipp, Dimity«, sagte ich und rollte mit den Augen.

Sarkasmus liegt in unserer Familie. Mach Dir nichts daraus. Bei mir ist er stark ausgeprägt. Zurück zur Tagesordnung. Dir obliegt es herauszufinden, wer der Saboteur ist und – falls Dir das möglich ist, ohne Deine Sicherheit zu gefährden – ihm das Handwerk zu legen, ehe er dem König etwas antut. Es könnte im wahrsten Sinn des Wortes ein Spiel auf Leben und Tod sein.

»Lass mich nur machen, Dimity.« Ich starrte grimmig auf die Seite, während ich Lilian Buntings Worte zitierte: »Ich will nicht, dass die König-Wilfred-Kirmes von einem Blutvergießen befleckt wird.«

In der Tat. Ernst beiseite: Mich würde interessieren, welche Wirkung das freizügige Leben der Darsteller auf das Dorf haben wird.

»Ich glaube nicht, dass es irgendeinen Einfluss hat. Die meisten Darsteller wohnen im Camp. Wenn sie irgendwohin fahren, dann nach Oxford oder in eine andere größere Stadt. Finch ist nicht gerade ein Vergnügungsparadies.«

Vielleicht hast Du recht. Es ist spät geworden, Lori. Du solltest zu Bett gehen. Du musst morgen hellwach sein, wenn Du den Saboteur stellen willst.

Ein Gefühl der Dankbarkeit stieg warm in mir auf, während ich den letzten Satz las. Als ich das Arbeitszimmer betreten hatte, war ich auf alle möglichen Reaktionen von Seiten Dimitys gefasst: Zweifel, Necken, ja sogar dass sie mich auslachen würde, weil ich schon wieder ein haarsträubendes Szenario heraufbeschwor. Stattdessen hatte Tante Dimity meine Geschichte ernst genommen, zunächst mit berechtigtem Zweifel, um mir dann verschiedene Möglichkeiten der Ermittlung vorzuschlagen. Nie war ihr Vertrauen in mich offensichtlicher gewesen.

Lächelnd fuhr ich die zarte Schrift mit der Fingerspitze nach. »Danke, dass du mir zugehört hast, Dimity. Ich war mir nicht sicher, ob du mir nach dem Vampirfiasko je wieder dein Ohr schenken würdest.«

Was für ein Fiasko? Ich dachte, es sei eine höchst erfolgreiche und lohnenswerte Unternehmung gewesen. Aber nun ab mit Dir, Liebes. Wir werden uns morgen wieder unterhalten.

Als die blaue Schrift auf der Seite verblasst war, schlug ich das Buch zu und drückte es zärtlich an die Brust. Noch immer lächelnd räumte ich es weg, wünschte Reginald eine gute Nacht und begab mich in die Wäschekammer. Doch als ich die Kostüme aus der Waschmaschine nahm und sie aufhängte, wanderten meine Gedanken zur Kirmes zurück.

Wo war Edmond Deland?, fragte ich mich. Und was würde er als Nächstes tun?