19
DIE ERKENNTNIS, DASS das Mordkomplott kein Produkt meiner Fantasie war, hatte meine Müdigkeit vertrieben. Vertrauensvoll ging ich ins Arbeitszimmer, knickste höflich vor König Reginald, entzündete im Kamin ein Feuer und machte es mir mit dem blauen Notizbuch im Armsessel gemütlich. Ich war hellwach und hätte bis zum Morgengrauen mit Dimity plaudern können.
»Dimity?«, sagte ich, während ich das Notizbuch aufschlug. »Du wirst nicht glauben, was ich dir zu erzählen habe. Du wirst es einfach nicht glauben.«
Lächelnd beobachtete ich, wie sich Tante Dimitys altmodische Handschrift in gestochen scharfen Kringeln auf dem weißen Blatt entfaltete.
Warum sollte ich Dir nicht glauben, meine Liebe? Ich habe noch nie Deine Wahrhaftigkeit angezweifelt – bis auf einige wenige Ausnahmen, als ich Grund hatte zu glauben, dass Du Details bezüglich Deiner Interaktionen mit gewissen gut aussehenden Männern zurückhieltest.
»Diesmal gibt es keine gut aussehenden Männer«, versicherte ich ihr. »Abgesehen von Bill natürlich.«
Da bin ich ja froh – und beruhigt und auch ein wenig erstaunt. Nun? Was sind Deine unglaublichen Neuigkeiten? Heraus mit der Sprache!
»Einen Augenblick noch«, sagte ich zerstreut. »Ehe ich mit den großen Neuigkeiten herausrücke, sollte ich dir vielleicht kurz berichten, was heute Morgen nach der Kirche geschah. Auch das ist kaum zu glauben.«
Neuigkeiten auf Finch langweilen mich nie.
»Nein, auch diese werden dich nicht langweilen. Der heutige Tag wird in die Annalen von Finch eingehen als der Tag, an dem es von einer Horde Tagesausflügler heimgesucht wurde …«
Ich konnte es kaum erwarten, zu Bills Enthüllungen zu kommen, sodass ich im Schweinsgalopp von den Verwüstungen berichtete, die ein Touristentornado über das Dorf gebracht hatte. Ich erzählte von der Aufräumaktion, die Calvin initiiert hatte, und von den Maßnahmen seines Onkels, die verhindern sollten, dass sich eine solche Katastrophe ein zweites Mal ereignete. Tante Dimity hörte kommentarlos zu, bis ich geendet hatte. Dann floss ihre Handschrift wieder über die Seite.
Dein Bericht macht mich ziemlich sprachlos, Lori. Aber ich bin sicher, dass Finch in Zukunft von marodierenden Touristen verschont bleiben wird.
»Die Dorfbewohner waren vollkommen überwältigt von der Invasion der Barbaren«, sagte ich. »Um dann nochmals auf andere Weise überwältigt zu werden, als der Putztrupp von der Kirmes auftauchte. Womöglich werden sie auf dem Dorfanger ein Denkmal für König Wilfred errichten. Ohne sein Eingreifen würden wir wahrscheinlich noch immer Bonbonpapier in George Wetherheads Garten einsammeln.«
Hat Mr Wetherhead es inzwischen gewagt, wieder den Fuß vor die Tür seines Hauses zu setzen?
»Das entzieht sich meiner Kenntnis. Ich nehme an, morgen werde ich es herausfinden. Ich muss nämlich in Peggys Geschäft, um Milch zu kaufen.«
Wenn Du im Dorf bist, vergiss bitte nicht, Dich nach dem Pfarrer zu erkundigen. Wie mutig von ihm, sich allein einer Horde randalierender Rüpel in den Weg zu stellen. Doch könnte es ein paar Tage dauern, bis er sich wieder von dem Schrecken erholt.
»Ich werde im Pfarrhaus vorbeischauen, um mich zu vergewissern, dass es ihm gut geht.«
Auch würde mich interessieren, ob Peggy Taxmans Schaufenster wieder instand gesetzt wurde.
»Wie ich Peggy kenne, bin ich mir sicher, dass das geschehen ist«, sagte ich, um dann ironisch hinzuzufügen: »Wie ich Peggy kenne, wurde es sogar durch eine bessere Scheibe ersetzt.«
Gewiss hätte sie keine Skrupel, ein besseres Modell als das bisherige Fenster zu verlangen. Ich hoffe auch, man hat Miranda Morrow dafür gedankt, dass sie das Blumenbeet am Kriegsdenkmal wieder angepflanzt hat. Und vergiss nicht, nachzuschauen, ob das Pubschild repariert wurde. Bestimmt gelingt es Dir auch herauszufinden, ob die auf Horace Malverns Betreiben hin eingesetzten Polizeikontrollen wirkungsvoll gewesen sind.
»Ganz richtig. Wenn das Dorf nach dem heutigen Kirmestag abermals wie ein Schiffswrack aussieht, werden ein paar Constables Ärger mit Horace bekommen.« Ich verlagerte unruhig meine Position im Sessel. »Würde es dir was ausmachen, wenn wir jetzt das Dorf eine Weile sich selbst überlassen und zur Kirmes zurückkehrten?«
Überhaupt nicht. Ich nehme an, dass Deine unglaublichen Neuigkeiten etwas damit zu tun haben, und kann es nicht erwarten, sie zu erfahren.
Mit einem leisen Triumphgefühl blickte ich auf die Schrift hinab und verkündete: »Ich hatte recht mit meiner Theorie von einem Mordversuch, Dimity. Von Anfang an hatte ich recht. Ich habe mir nichts eingebildet und auch keine voreiligen Schlüsse gezogen. Mein Instinkt hat mir gesagt, dass auf der König-Wilfred-Kirmes etwas nicht im Lot ist, und er hatte recht.«
Dein Instinkt war schon immer recht zuverlässig, Lori. Lediglich Deine Fantasie hat Dich manchmal ein wenig in die Irre laufen lassen.
»Diesmal hat sie mich nicht in die Irre laufen lassen. Jemand versucht tatsächlich, König Wilfred zu ermorden.«
Ich verstehe Deine Euphorie, kann sie jedoch leider nicht mit Dir teilen. In Wahrheit wünschte ich mir von ganzem Herzen, dass Du Dich geirrt hättest. Hat man den Saboteur dingfest gemacht?
»Noch nicht. Ich weiß auch nicht, ob er jemals hinter Gitter kommen wird. Aber ich bin sicher, dass man ihn bald fasst. Pass auf …«
Ich gab Tante Dimity einen langen und detaillierten Bericht über mein Gespräch mit Bill, einschließlich dessen, was ich ihm über meine Erlebnisse des vergangenen Tages erzählt hatte, und dessen, was Horace Malvern Bill über das Drama hinter den Kirmeskulissen berichtet hatte. Nach Tante Dimitys unnötigem Kommentar über meine Interaktionen mit gut aussehenden Männern war ich versucht, den Teil mit dem Lüsternen Jack auszulassen, doch da ich ja unbestritten eine mehr als unwillige Empfängerin seiner amourösen Avancen gewesen war, beschloss ich, dass ich ihn getrost einfließen lassen konnte.
Wie von mir vorhergesehen, schoss sich Tante Dimity prompt auf die Episode mit dem Lüsternen Jack ein, nachdem ich mit meinem Bericht zu Ende war, wenngleich ihre Einlassung eine unerwartete Note hatte.
Ich bin froh, dass Du Sir Jacques’ Angriff abwehren konntest, wünschte jedoch, dass Du gegenüber dem Hofnarren ebenso standhaft gewesen wärst.
»Was meinst du damit?«, fragte ich verwirrt.
Du hast Dich von ihm zu einem abgelegenen Ort führen lassen, wo er Dir Wein einschenkte und Dich mit Komplimenten überhäufte … Muss ich fortfahren?
»Nein, aber zum ersten Mal, seit ich mich erinnern kann, glaube ich, dass du diesmal diejenige bist, die zu viel in etwas hineininterpretiert«, sagte ich lachend. »Lass mich ein paar Dinge klarstellen, Dimity. Erstens ist Jinks einer der Hauptakteure der Kirmes, ein von weitem erkennbarer Darsteller. Die Menschen erwarten von ihm, dass er die ganze Zeit Späße macht. Wenn er mit mir auf der Kirmes zu Mittag gegessen hätte, wäre er ständig belästigt worden. Zweitens hat er keineswegs versucht, mich betrunken zu machen. Er hat mir lediglich ein kleines Glas Wein eingeschenkt und auch nicht versucht, mir in einem unbeobachteten Moment nachzugießen. Drittens war ich ihm dankbar, dass er meinen Aufzug kritisch musterte. Viertens nahm ich seine Komplimente nicht ernst. Sie sind Teil seines Jobs. Er verteilt sie automatisch, und als ich ihn aufforderte, damit aufzuhören, tat er es. Ende der Geschichte.«
Aber wird es tatsächlich das Ende der Geschichte sein? Gut aussehende Männer sind nicht Deine einzige Schwäche, Lori. Du fühlst Dich auch von Männern angezogen, die Dich zum Lachen bringen.
»Nun, von Jinks fühle mich jedenfalls nicht angezogen«, sagte ich fest. »Nachdem ich meinen Gatten in seinem mittelalterlichen Kostüm gesehen habe, bezweifle ich, dass ich jemals wieder einen zweiten Blick auf einen anderen Mann werfen werde.«
Die Hoffnung stirbt zuletzt.
»Du scheinst das große Ganze außer Acht zu lassen, Dimity. Es geht hier nicht um mich. Es geht um Calvin und Edmond und die kleine Mirabel.«
Ich muss zugeben, dass mir alle drei irgendwie leidtun. Es ist natürlich klar, dass man Edmond das Handwerk legen muss, aber man kann es ihm nicht verübeln, dass er ein so naives, dummes Ding wie Mirabel beschützen möchte. Was Mirabel betrifft … so stimme ich Dir zu, Lori. Sie wird von den Sternen in ihren Augen geblendet. Ich fürchte, dass ihr ein böses Erwachen bevorsteht.
»Und Calvin?«, fragte ich.
Er verdient eine ordentliche Tracht Prügel dafür, dass er mit Mirabels Gefühlen spielt, aber die Todesstrafe verdient er nicht.
»Ich glaube, er ist sich gar nicht bewusst, dass er irgendetwas falsch macht«, sagte ich nachdenklich. »Edmond zufolge ist er bekannt dafür, jungen weiblichen Ensemblemitgliedern den Kopf zu verdrehen. Ich würde wetten, dass es für ihn nichts weiter als ein Spiel ist, das eben dazugehört.«
In diesem Fall ist Mirabel nicht die einzige Kandidatin für ein böses Erwachen.
»Es wird ihm schwerfallen zu glauben, dass jemand aus seiner Belegschaft ihn so sehr hasst, dass er ihm den Tod wünscht. Calvin sieht sich in der Rolle des fröhlichen Monarchen, glaubt, dass alle ihn lieben.«
Er scheint dem gleichen Wahn zu erliegen wie Sir Jacques.
»Niemand ist so verblendet wie der Lüsterne Jack«, widersprach ich vehement. »Der hat doch tatsächlich geglaubt, dass ich nicht mehr von ihm lassen könnte, sobald ich von seinen ›Freuden gekostet‹ hätte.« Ich erschauderte, sodass das Notizbuch in meiner Hand zitterte. »Igittigitt.«
Männer, die sich für unwiderstehlich halten, sind es in den seltensten Fällen.
Ich blickte ins Kaminfeuer, verscheuchte die Erinnerung an Sir Jacques’ Atem und rief mir stattdessen ins Gedächtnis, wie kräftig seine Arme waren.
»Ich wünschte, ich hätte Bill nichts von ihm erzählt«, sagte ich besorgt. »Ich habe Angst, dass er etwas Heldenhaftes unternehmen wird, zum Beispiel, dem Lüsternen Jack ein blaues Auge zu verpassen.«
Wäre das denn so schlimm?
»Bill ist zwar gut gewachsen«, sagte ich, »aber er ist Anwalt. Er geht mit Worten um, nicht mit Schwertern. Der Lüsterne Jack hingegen ist ein Bär von Mann und übt sich tagtäglich im Schwertkampf. Bill hat das Herz am rechten Fleck, doch bin ich mir sicher, dass der Lüsterne Jack ihn vom Platz fegen würde.«
Wäre das von Bedeutung? Ohne Vorwarnung erschien plötzlich ein Gedichtvers in Tante Dimitys kringeliger Schrift auf der Seite:
»Wie könnt’ ein Mann besser sterben
Als im Angesicht eines furchtbaren Kampfs
Um die Asche seiner Väter
Und die Tempel seiner Götter?«
Macauleys unsterbliche Worte kann man zwar nicht eins zu eins auf Bills Situation anwenden – ich will natürlich nicht, dass Sir Jacques ihn tötet, und um Asche und Tempel geht es auch nicht wirklich –, aber die zu grunde liegende Empfindung ist die gleiche. Bills Bereitschaft, sich Blessuren zuzuziehen, adelt seine Anstrengungen, wie immer die Sache auch ausgehen mag. Es ist nichts Ehrenwertes daran, einen Kampf zu beginnen, den man gewinnen kann. Ritter müssen sich manchmal dem Kampf mit einem Drachen stellen, auch wenn er noch so aussichtslos scheint. Ich rate Dir nicht, Bill zu ermuntern, Lori, aber wenn er beschließt, Deine Ehre zu verteidigen, würde ich vorschlagen, Du hältst Dich zurück und lässt ihn machen. Man weiß nie. Er könnte Dich überraschen. Manch ein Ritter hat schon einen Drachen getötet.
Ich stützte den Ellbogen auf die Armlehne meines Sessels, legte das Kinn in meine Hand und seufzte traurig. Obwohl mir Tante Dimitys Rat nicht gefiel, machte er doch irgendwie Sinn. Im Spaß hatte ich Bill meine Erlaubnis erteilt, den Lüsternen Jack bewusstlos zu schlagen, doch brauchte er meine Erlaubnis gar nicht. Er war mein Ehemann, und er war ein Mann. In unserem Ehevertrag gab es einen Paragraphen, der ihm das Recht gab, seine Frau zu beschützen, außerdem sagte ihm sein männlicher Stolz, er müsse für seine Frau kämpfen. Beim Gedanken an die schrecklichen Dinge, die bei einem dermaßen ungleichen Kampf geschehen könnten, erschauderte ich, doch sollte Bill tatsächlich beschließen, sich physisch mit dem Mann zu messen, der sich auf mich gestürzt hatte, würde ich mich ihm nicht in den Weg stellen.
»Ich werde vor dem Schlafengehen einen Beutel Eiswürfel ins Eisfach tun«, sagte ich. »Und wenn ich morgen nach Finch fahre, werde ich Miranda Morrow schon mal vorwarnen, für den Fall, dass wir ein paar Kräuterwickel benötigen. Ihre Rezepturen sind unschlagbar, wenn es um blaue Flecken und Prellungen geht.«
Sehr weise.
Ich blickte mit einem vagen Lächeln auf das aufgeschlagene Notizbuch. »Es ist bestimmt seltsam, wieder ins Dorf zu kommen, nachdem ich so viel Zeit auf der Kirmes verbracht habe. Jeder und alles wird so … normal sein.« Ich schwieg einen Moment, während ich den Gedanken weiterspann. Plötzlich stockte mir der Atem für einen Moment, denn mir war noch etwas anderes eingefallen. »O du meine Güte, ich frage mich, wer den Cottage-Wettbewerb gewonnen hat.«
Das wirst Du morgen ebenfalls herausfinden, während Du Dich nach Mr Wetherhead und dem Pfarrer und dem Schaufenster von Peggy Taxman und dem Pubschild erkundigst und danach, ob Miranda Morrow ihren Dank für die Blumenbeete erhalten hat. Sie hat einen so originellen Blumengeschmack.
»Wenn ich den ganzen morgigen Tag damit beschäftigt sein werde, mich auf den neuesten Stand in Sachen Dorfklatsch zu bringen«, sagte ich, »gehe ich jetzt besser ins Bett.«
Ich wollte Dir gerade einen gleichlautenden Vorschlag machen. Wie Du weißt, kann es ganz schön anstrengend sein, Klatsch und Tratsch zu sammeln. Schlaf gut, meine Liebe. Und Gratulation. Es mag Dir zwar nicht gelungen sein, einen Vampir zu fangen, aber wenn Du Glück hast, wirst Du womöglich Zeuge, wie Dein Ritter in glänzender Rüstung einen Drachen tötet.
»Wenn Bill Glück hat, meinst du wohl«, murmelte ich, nachdem die königsblaue Schrift von der Seite verschwunden war. Ich warf einen Blick zu König Reginald hinauf und stöhnte wohlig. Es war nicht leicht, eine Maid in Bedrängnis zu sein.