DREIUNDZWANZIG
Am nächsten Morgen wachte Rachel auf. Offenbar hatte sie so tief geschlafen, dass ihr Arm taub geworden war. Sie war mit ihrem Arm über den Augen eingeschlafen, und jetzt konnte sie ihn nicht mehr bewegen. Sie nahm den Arm von ihrem Gesicht und spürte sofort das kribbelnde Gefühl, das ankündigte, dass das Blut wieder in die Finger floss.
Sie fühlte sich genauso benommen wie ihr Arm und wartete sehnsüchtig auf das Kribbeln, um wieder zu sich zu kommen. Das dauerte nicht lange. Derek war tot, und der Schmerz überrollte sie wie ein Panzer; es schien so, als würde er das ganze Leben aus ihr herausquetschen.
Sie fühlte sich leer, verloren und allein. So schrecklich allein. Sie hatte auch Sampson verloren. Er war nicht mehr da, um ihre Tränen wegzulecken. Rachel ließ den Tränen und Schluchzern freien Lauf und weinte, bis sie nicht mehr konnte.
Die Erinnerung an die letzte Nacht war ganz klar. Sie erinnerte sich daran, dass William gesagt hatte, er könne ihr diese Erinnerung nehmen, und wie sehr sie sich dagegen gewehrt hatte. Sie erinnerte sich an ihre tapferen Worte, die sie William letzte Nacht gesagt hatte, allerdings fühlte sie sich an diesem Morgen schon nicht mehr so mutig.
Sie drehte sich auf den Rücken und lag für eine lange Zeit nachdenkend auf ihrem Bett. Derek hatte ihr ein Geschenk gegeben -
ihr Leben. Rachel lag da, schluchzte und atmete, weil Derek sich für sie geopfert hatte, damit sie weiterleben konnte.
Du lebst, also was willst du jetzt machen? Willst du dir noch weiter leid tun? Dich vom Dach stürzen, so wie Zanus es gewollt hatte? Nein, du bist zu schwach, und du brauchst Hilfe, und William ist nicht hier, um für dich zu beten und seine Flügel über dir auszubreiten.
Rachel wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Sie schloss die Augen, verlangsamte ihre Atmung und betete.
»Lieber Gott, bitte erhöre mich. Ich bin einer deiner Schützlinge, und ich muss dich um Vergebung bitten. Ich war schwach. Nein, ich bin schwach. Und ich brauche deine Hilfe, um diesen Tag zu überstehen. Ich habe mich von Geldgier und Macht leiten lassen. Ich hatte Angst und habe einen Fehler gemacht. Ich habe das Vertrauen verloren. Bitte vergib mir. Und bitte pass auf Derek auf. Ich liebe ihn.
Halt ihn in deiner Nähe. Und sage Sampson, dass ich ihn grüße und dass ich ihn vermisse. Danke. Amen.«
Rachel öffnete ihre Augen. Erleichtert, dass sie etwas empfand, stieg sie aus dem Bett und ging ins Badezimmer. Ihr Gesicht war rot und aufgedunsen, die Augen blutunterlaufen. Erstaunlicherweise fühlte sie sich körperlich trotzdem gut, abgesehen von den Schlägen, die Zanus ihr verpasst hatte. Ihre Lippe war immer noch geschwollen.
Rachel stellte sich lange unter die heiße Dusche und zog sich dann an.
Sie fuhr mit dem Aufzug hinunter und betrat die Lobby, die ihr fremd erschien. Sie schaute sich um, so als hätte sie sie noch niemals zuvor gesehen. Das war nicht ihre Lobby. Es fehlte etwas.
»Derek fehlt«, flüsterte sie.
Ein Fremder - ein neuer Portier - schaute sie an. Er stand auf und kam auf sie zu.
»Guten Morgen, ich bin Sean ...«
Rachel ging an ihm vorbei, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Sie öffnete die Tür, bevor er es geschafft hatte, dort zu sein, und ging die Stufen hinunter. Sie hatte ihrem Fahrer gesagt, dass er sie an diesem Morgen nicht abholen sollte. Sie musste ein Taxi finden, doch sie hatte nicht die Absicht, den neuen Portier zu bitten, ihr eins zu rufen.
Angesichts dessen, was sie heute Morgen plante, würde sie sowieso aus diesem teuren Gebäude ausziehen müssen. Sie stellte fest, dass sie beinahe dankbar war. Sie ging bis zum Ende des Blocks, um sich ein Taxi zu nehmen.
Rachel stand vor Mr. Freemans Tür. Sie zögerte nur einen kurzen Augenblick, einfach lange genug, um ihre Nerven zu stählen.
»Die Liebe macht dich stark«, sagte sie zu sich selbst und klopfte an die Tür.
»Hallo, Rachel, bitte kommen Sie herein.« Freeman schaute sehr ernst drein. Vielleicht wusste er ja schon alles.
Rachel setzte sich in den Stuhl, der gegenüber von Freemans Schreibtisch stand. Sie presste ihre Hände fest ineinander und atmete einmal tief durch. Sie hatte die Szene in Gedanken schon tausendmal durchgespielt. Aber das machte es auch nicht leichter.
»Mr. Freeman ...«
»Was haben Sie mit Ihrer Lippe gemacht?«, fragte er.
»Ich ... oh, ich bin vor eine Tür gelaufen. Hören Sie zu, ich mache es jetzt für uns beide nicht noch schwieriger, als es ohnehin schon ist.
Ich werde jetzt sozusagen einfach die Karten auf den Tisch legen.«
Rachel räusperte sich. »Ich habe für einen Ihrer Kunden, Mr. Zanus, kürzlich ein paar illegale Geschäfte getätigt.«
Rachel sah, wie alle Farbe aus Mr. Freemans Gesicht wich. Er starrte sie an. Auf seiner Wange war ein nervöses Zucken zu beobachten. Er hatte bereits den Untergang seiner Firma vor Augen.
»Ich möchte Ihnen versichern«, sagte Rachel, »dass ich alle Schuld auf mich nehme. Sie werden da nicht mit hineingezogen. Niemand von Ihnen wird das.«
Freeman blinzelte. »Zanus! Was für ein Mr. Zanus? Wir haben keinen Kunden mit dem Namen Zanus.«
Rachel seufzte. »Sie wollen den Tatsachen offensichtlich nicht ins Auge sehen, Mr. Freeman. Mr. Andreas Zanus ist im System registriert.« Rachel deutete auf Freemans Computer.
Freeman begann, den Namen einzugeben. »Zanus. Z-A-N-U-S. Ist das die richtige Schreibweise?« »Ja, das ist sie.«
Freeman schüttelte den Kopf. »Ich finde ihn nicht.« Er schaute wieder zu Rachel, die auf den Bildschirm des Computers starrte.
Er hatte recht. Da gab es keinen Zanus.
Freeman sah wieder zu ihr. »Warum setzen Sie sich nicht hin, Rachel«, sagte er leise. »Hier, nehmen Sie ein Glas Wasser.«
Rachel setzte sich. Sie führte das Glas zu ihren Lippen, konnte allerdings keinen Schluck nehmen. In ihrem Kopf drehte sich alles.
»Aber was ist mit dem Euro ? Dem Markt ? Gestern ... die Katastrophe ...«
»Katastrophe?« Freeman starrte sie mit einer Ratlosigkeit an, die sich schnell in Sorge verwandelte. »Rachel, Sie haben in der letzten Zeit fürchterlich hart gearbeitet. Ich fürchte, Sie leiden am Burn-out-Syndrom. Ich habe das schon einmal gesehen. Nicht genug Schlaf.
Nicht genug zu essen. Vielleicht sollten Sie sich ein wenig Urlaub nehmen und sich einmal so richtig ausruhen. Bitte nehmen Sie mir das nicht übel, aber Sie sehen überhaupt nicht gut aus.«
Rachel stellte das Glas auf den Tisch. »Vielleicht haben Sie recht, Mr. Freeman. Ich habe nicht geschlafen.«
Er sah sehr besorgt aus, als er sie verabschiedete. »Nehmen Sie einen Monat frei! Sie haben es sich verdient.«
Rachel ging aus dem Zimmer. Sie war ganz benommen. Wie konnte es nur sein, dass es keine Registrierung der Geschäfte gab, die sie gemacht hatte? Keinen Eintrag von Zanus ? War sie auf dem besten Wege, verrückt zu werden? Sie ging zu ihrem Büro und öffnete ihre Computerdateien.
Der Ordner auf dem Desktop mit dem Namen ZANUS war nicht mehr da.
Rachel schaute auf das Display ihres Handys. Dort war Zanus noch eingetragen. Sie starrte auf seinen Namen. Rachel hatte letzte Nacht gesehen, wie er in die Hölle geschleppt worden war. Zitternd rief sie seine Nummer auf. Ein lauter Ton war zu hören, und eine mechanische Stimme sagte emotionslos: »Kein Anschluss unter dieser Nummer.«
»Gott sei Dank!«, sagte Rachel mit großer Erleichterung. Sie nahm ein Taxi 2urück nach Hause und fragte sich, was sie mit dem Rest des Tages anfangen sollte.
Der Engel hatte gesagt, dass er möglicherweise in der Lage war, Dinge in Ordnung zu bringen ...
Das Taxi hielt vor ihrem Haus an. Rachel stieg aus. Sie ging auf die Tür zu und hielt den Blick auf ihre Schuhe gerichtet -vernünftige Schuhe.
Sie schaffte es nicht aufzublicken, um den neuen Portier dort stehen zu sehen. Das war dumm. Sie wusste, dass es dumm war. Derek war weg, und sie musste sich daran gewöhnen, durch diese Lobby zu gehen.
Sie wusste nicht, was sie mit sich anfangen sollte. Ihr Apartment wäre leer. Nichts außer Stille würde dort oben auf sie warten. Kein fröhliches Miau. Keine Katze, die um ihre Beine schlich und unter ihre Füße geriet. Was sollte sie jetzt machen?
Sie könnte zur Merc zurückgehen, aber der bloße Gedanke an die ganze Unruhe, das Schubsen und Schieben machte sie fast krank. Sie dachte daran, ihre Freundinnen anzurufen. Sie würden sich an Zanus erinnern. Oder vielleicht auch nicht. Wenn nicht, wie sollte sie erklären, was ihr passiert war?
»Das kann ich nicht«, stellte sie niedergeschlagen fest.
Vielleicht würde sie Kim anrufen, um einfach zu reden, nur um ihre Stimme zu hören. Aber Kim hasste es, während der Arbeit gestört zu werden. Und außerdem war sie wahrscheinlich in einer Besprechung. Lana würde noch gar nicht auf sein. Sie arbeitete bei den Spätnachrichten. Beth wäre wahrscheinlich wieder mit drei verschiedenen Dingen gleichzeitig beschäftigt. Sie lebten alle ihr eigenes Leben.
Rachel musste einen Weg finden, das ihre weiterzuleben.
Sie seufzte und war bereit, die Zähne zusammenzubeißen, als der neue Portier ihr die Tür aufhielt.
»Guten Morgen, Ms. Duncan.«
Bei dem Klang der Stimme horte Rachels Herz auf zu schlagen. Sie blickte auf. Und fiel in Ohnmacht.
»Rachel, Liebling, Rachel, komm wieder zu dir.« Rachel kam wieder zu sich. Sie schaute in Dereks Augen. Er hatte sie auf eine Bank in der Lobby getragen und sie daraufgelegt. Jetzt kniete er neben ihr und schlug mit der Hand auf ihre Wange.
Rachel hob die Hand, um sein Gesicht zu berühren. Seine Haut war warm. Seine Augen waren warm. Er atmete, war also lebendig.
»Das tut mir leid, Rachel«, sagte er reumütig. »Ich wollte dich überraschen und nicht zu Tode erschrecken.«
»Wo wir gerade vom Tod sprechen«, sagte Rachel mit zitternder Stimme. »Du bist tot gewesen. Ich habe dich sterben sehen!« Sie griff nach ihm und hielt ihn ganz fest.
»Sch, sch. Ich weiß. Es ist okay. Ich bin okay.« Derek umarmte sie, streichelte ihr Haar, beruhigte sie. »Ich soll dir von William sagen, dass er dein Angebot, uns beim Kampf zu helfen, angenommen hat.
Aber du brauchst einen Partner.«
Derek zuckte mit den Schultern. »Und er sagt, dass ich noch viel lernen muss, bevor der Himmel bereit ist, mich aufzunehmen.«
Er schaute sie an und lächelte. »Und du wirst mir dabei helfen, oder nicht, Rachel?«
Anstelle einer Antwort zog sie ihn ganz nah an sich heran und küsste ihn lange und leidenschaftlich.
»Oh, bevor ich es vergesse, ich habe ein Geschenk für dich.«
Derek zog den Reißverschluss seines Rucksacks auf und holte eine braun-schwarz gestreifte Katze heraus. Er gab sie Rachel.
Die Katze miaute laut, da man sie offensichtlich bei ihrem Nickerchen gestört hatte.
Rachel zögerte einen Moment. Sie schaute erst auf die Katze, dann sah sie Derek an.
»Oh, nein, es ist wirklich eine Katze. Die gewöhnliche Art.« Derek lächelte. »Und ich bin Derek. Die gewöhnliche Art. Ein ganz normaler Mann, der dich von ganzem Herzen liebt.«
Rachel lächelte, nahm die Katze und drückte sie an sich, wobei sie ihr Kinn an dem Kopf der Katze rieb, als Derek und sie in Richtung Aufzug gingen, der sie nach oben in ihr neues Leben bringen würde.