SIEBZEHN
Für den Rest der Nacht kämpfte Derek mit den inneren Dämonen, die eine ebenso große Schlacht anzettelten wie die echten, denen er in der Gasse gegenübergestanden hatte. Im Gegensatz zu dem, was William gesagt hatte, dass es Rachels Entscheidung war, sehnte sich Derek danach, zu Rachel zu gehen, um ihr zu sagen, was sie zu tun hatte. Er war ganz versessen darauf zu erfahren, welche Entscheidung Rachel treffen würde. Einen Moment lang glaubte er, sie würde Zanus Paroli bieten und nicht zur Arbeit gehen. In diesem Fall würde Zanus wahrscheinlich hierher kommen, um sie zu holen.
Derek hoffte, dass es das war, wofür sie sich entscheiden würde.
Nichts würde ihm besser gefallen, als den Erzfeind noch einmal in die Mangel zu nehmen - Stück für Stück. Nicht einmal William konnte ihm dann einen Vorwurf machen, denn Derek befolgte die Befehle. Er passte auf Rachel auf.
Andererseits, wenn sie sich entscheiden würde, Zanus Paroli zu bieten, brächte sie sich selbst in Gefahr. Vielleicht war es ja besser, wenn sie mitmachte. Weiß der Himmel, was jetzt passieren würde.
Er versuchte sie anzurufen, aber ihr Telefon war ausgeschaltet.
Natürlich hatte sie keine Lust, mit Zanus zu sprechen. In der Annahme, dass er möglicherweise gebraucht werden würde, entweder von Rachel oder William oder von beiden, rief Derek seine Ablösung an und sagte dann dem Hausverwalter, dass er den Tag frei nehmen würde.
Zu der Zeit, zu der Rachel normalerweise das Haus verließ, blieb er in seinem Apartment und ließ die Tür offen stehen, um sie zu beobachten. Sie kam aus dem Aufzug, und er ging hinaus, auf sie zu.
Sie sah ungepflegt aus. Ihre Haare waren ungekämmt. Sie trug kein Make-up. Ihre Klamotten sahen aus, als hätte sie sie aus der Schmutzwäsche gezogen und sich übergeworfen, ohne auch nur einen einzigen Gedanken daran zu verschwenden, was sie trug.
Sie ging auf Dereks Pult zu. »Sind Sie okay? Ich war ganz krank vor Sorge! Ich wollte die Polizei rufen, aber mein Telefon funktionierte nicht! Ich habe versucht, dem Taxifahrer klar zu machen, dass er die Polizei anrufen solle, aber er sprach kein Englisch.« Rachel seufzte.
»Ich hätte Sie anrufen können, aber ich hatte Angst, mein Telefon auch nur einzuschalten. Ich wollte seine Stimme nicht hören ...«
»Oh, alles ging dann gut aus«, sagte Derek beruhigend. »Wie Sie sehen, habe ich es geschafft, da wegzukommen.«
»Aber er hat Sie gesehen!«, sagte Rachel. »Sie haben Ihre Tarnung auffliegen lassen.«
»Tatsächlich glauben meine Bosse, dass das möglicherweise geholfen hat. Wir haben ihn veranlasst, vorzeitig zu handeln. Die Hauptsache ist, dass er Sie nicht gesehen hat.«
Derek war drauf und dran, sie zu fragen, was sie zu tun gedenke, als der Wagen, der sie morgens immer abholte, vor dem Haus vorfuhr.
»Ich muss jetzt gehen, Derek«, sagte sie eilig. »Ich bin froh, dass Sie in Sicherheit sind. Ich war ... besorgt.«
»Wohin fahren Sie?«, fragte er, während er sie zur Tür begleitete.
»Zur Arbeit«, sagte sie. »Ich brauche ein bisschen Normalität in meinem Leben.«
»Werden Sie diesen Deal abwickeln?«, fragte er gespannt.
Sie sah ihn nicht an. »Ich weiß es nicht«, sagte sie, »ich habe mich noch nicht entschieden.«
Sie machte eine Pause und sagte dann sanft: »Ich weiß genau, was ich tun sollte, Derek. Ich sollte zu Mr. Freeman gehen und ihm alles beichten. Aber ... ich habe Angst. Als ich gehört habe, welch furchtbare Dinge Zanus gesagt hat ... «
Sie sah auf, und ihre Blicke trafen sich. »Kann Ihre Organisation mir helfen?«
Derek wusste nicht, was er ihr erzählen sollte. Mehr als alles auf der Welt oder im Himmel wollte er sie beruhigen und Ja sagen, aber er hatte nicht die leiseste Ahnung, was William hinter den Kulissen trieb, und er wollte ihr nichts versprechen, was er nicht halten konnte.
Sie seufzte. »Ich glaube nicht. Sie brauchen sich deshalb nicht schlecht fühlen. Das habe ich mir alles selber zuzuschreiben.«
Sie eilte aus der Tür, sprang in den Wagen und fuhr davon.
Derek ging zurück zu seinem Apartment und zog sich an. Er hatte einige Nachforschungen an der Merc angestellt, wie Rachel sie nannte. Er wusste, dass sie keine Unbefugten auf das Börsenparkett lassen würden, aber sie boten Führungen an, und es gab einen Platz, von dem aus Besucher in die Börsensäle hinunter schauen konnten, um die Aktionen dort zu beobachten. So konnte er Rachel heute im Auge behalten.
Als er angezogen war, stürmte Derek nach oben, um mit Sampson zu reden.
»Sie legte sich hin, nachdem sie nach Hause gekommen war, aber sie hat nicht geschlafen«, berichtete Sampson. »Sie hat sich in ihrem Bett hin und her gewälzt und mich beinahe zerquetscht. Ihr Festnetzanschluss klingelte, und sie hat das Kabel aus der Dose gezogen.«
»Ich werde ihr jetzt folgen«, sagte Derek. »Wir gehen dann heute ein bisschen später spazieren.«
»Das ist in Ordnung, Sir. Ich nehme an, dass Sie mich nicht mitnehmen können?«, fragte Sampson.
»Nein«, sagte Derek bestimmt.
»Ich glaube nicht, dass Sie sich vorstellen können, wie hart es ist, Sir, den ganzen Tag rum sitzen zu müssen und nichts tun zu können, während Rachel möglicherweise in Gefahr ist.«
Derek war schon halb aus der Tür, als er anhielt und sich zu dem Cherub umsah. Sampson sah sehr verlassen aus. Er wirkte verwahrlost, und das Katzenfutter war unberührt.
»Ich kann es mir vorstellen«, sagte Derek. »Du hast einen wirklich guten Job gemacht, Sampson. Ich bin stolz auf dich.«
»Wirklich, Sir?« Sampson richtete sich auf. »Danke! Das bedeutet mir eine Menge. Würden Sie mir, bevor Sie gehen ... die Leberhäppchen ... Sie sind in der Tasche auf dem Küchentisch ...«
Derek nahm ein Taxi zur Chicago Mercantile Exchange. Die Architektur war imposant - zwei Glas-Stahl-Türme ragten auf beiden Seiten des Gebäudes, das die Börsensäle beherbergte, in den Himmel.
Er schloss sich der Tour an, zu dem mit Glas abgetrennten Balkon, von dem aus man die hektischen Börsensäle überblicken konnte. Er schaute hinunter auf ein Meer von Menschen. Nach dem, was der Führer erzählte, befanden sich über sechstausend Börsenmakler auf dem Parkett, von denen alle verschiedenfarbige Jacken trugen. Wie sollte er Rachel da nur finden? Während er die Menge absuchte, hörte er dem Führer im Hintergrund zu und fing an, zumindest ein gewisses Verständnis dafür zu entwickeln, dass Zanus Rachel zu seiner Zielscheibe gemacht hatte. In einem einzigen Jahr wechselten hier Verträge mit einem Basiswert von 333,7 Billionen Dollar den Besitzer. Derek konnte sich eine solch erstaunliche Zahl nicht einmal ansatzweise vorstellen. Glücklicherweise gab es nicht so viele Frauen auf dem Parkett, und Derek entdeckte Rachel schnell in der wogenden Masse der Körper. Sie trug eine rote Jacke und stand auf einer Bank auf einer der Stufen, die den Börsensaal umgaben. Derek beobachtete, wie sie schrie und ihre Hände mit unglaublicher Geschwindigkeit bewegte. Von Zeit zu Zeit sprach sie in ein Headset, während sie immer noch Zeichen mit ihren Händen machte.
Nach dem, was der Führer sagte, wurden mithilfe der Hand-Signale Transaktionen abgewickelt, weil sie schnell waren und man in dem Gedränge der Börsensäle, wo jeder schrie, um auf sich aufmerksam zu machen, sein eigenes Wort nicht verstehen konnte. Das war unglaublich mit anzusehen.
Zwei Hände nach oben, die Handflächen zum Körper gerichtet, bedeutete kaufen. Zwei Hände nach oben, die Handflächen vom Körper weggerichtet, bedeutete verkaufen. Zahlen konnten mit einer Hand angezeigt werden - sieben zum Beispiel war eine geschlossene Faust mit ausgestrecktem Zeige- und Mittelfinger. Eine geschlossene Faust an die Stirn gepresst bedeutete hundert. Und es gab noch viel mehr Zeichen: für die Monate des Jahres, Marktsignale und so weiter und so fort.
Manchmal bewegte sich die ganze Masse der Körper in eine Richtung, dann wieder in die andere, wie eine große Welle von farbigen Jacken. Die Börsenmakler in den roten Jacken warfen zerknülltes Papier in die Luft, und die Laufburschen in den goldenen Jacken flitzten vor und zurück und brüllten die Börsenmakler an.
Einige Makler trugen helle Jacken, um sich von der Masse abzuheben.
Derek beobachtete das alles, sein Gesicht an das Glas gedrückt.
Rachel stand in der Mitte des ganzen Chaos. Sie wurde in die eine Richtung geschoben, dann in eine andere gezogen und dann wieder geschoben. Körper drehten und wanden sich um sie herum, mit roten und schwitzenden Gesichtern und Armen, die in der Enge und der Hitze des Börsensaals wild um sich schlugen.
Um Himmels willen, wie kann das nur funktionieren?, fragte er sich.
Wie konnten sie nur wissen, wer wem etwas zurief? Wie konnte überhaupt irgendjemand irgendetwas hören? Wie war es möglich herauszufinden, was all die Handzeichen bedeuteten? Wie konnte sie nur das Getöse und den Lärm aushalten ? Es war wie in den brodelnden Hallen der Hölle ...
Dann erinnerte sich Derek daran, wie es war, sich mitten in einem Kampf zu befinden. An das Geräusch von Schwertern, die gegeneinanderschmettern, an Männer, die schrien und weinten, und an den beglückenden Adrenalinstoß ...
Dann dämmerte es ihm. Das war es, was Rachel jeden Tag machte, das war ihr Leben, und es bedeutete ihr alles. Und sie war gut darin.
William hatte das gesagt. Das war der Grund, warum Zanus sie ausgewählt hatte. Dereks Respekt für Rachel stieg ins Unendliche.
Das war es, was Rachel an fünf Tagen der Woche aus freien Stücken machte. Das war eine Schlacht, die niemals endete. Manchmal gewann sie. Manchmal verlor sie.
»Wie du sehen kannst«, erklärte ein Typ, der neben Derek stand, seinem Freund, »im Börsensaal zu arbeiten, ist äußerst strapaziös. Es zehrt sowohl körperlich als auch seelisch an dir. Die meisten Börsenmakler schaffen es noch nicht einmal, ihr erstes Jahr auf dem Parkett durchzuhalten. Sie gehen pleite und verschwinden auf Nimmerwiedersehen.«
Der Typ zuckte die Schultern. »Der Rest ist irgendwann ausgebrannt. Einige brechen sogar zusammen und begehen Selbstmord.«
Derek erinnerte sich an das, was Zanus in der letzten Nacht gesagt hatte. Dass er es so aussehen lassen würde, als hätte Rachel Selbstmord begangen. Er schauderte. Niemand würde auf die Idee kommen, das in Frage zu stellen.
Wenigstens, dachte er, konnte Zanus sie hier nicht erreichen. Der Börsensaal ist möglicherweise der einzige Ort, an dem sogar Dämonen erst einmal gründlich überlegen, ob sie ihn überhaupt betreten wollen. Derek fuhr zurück zum Apartmentgebäude.
Rachel kam direkt nach Börsenschluss nach Hause. Sie sah erschöpft aus, ging aber mit erhobenem Kopf und gestrafften Schultern. Sie kam zu Derek, der auf dem Bürgersteig herumgelungert hatte, um auf sie zu warten.
»Ich habe Zanus gesagt, dass ich diese Geschäfte nicht für ihn mache«, sagte sie, und ihre Stimme klang ausgeglichen und ruhig.
»Wie hat er es aufgenommen?«, fragte Derek besorgt.
»Er war außer sich. Er sagte, er würde es Freeman erzählen. Ich habe ihm gesagt, dass er sich nicht zurückhalten solle. Ich würde es Freeman morgen selber sagen und mich der Börsenaufsicht stellen.«
Rachel wurde blass, blieb aber bestimmt. Ihr Kinn hob sich. »Ich habe Zanus gesagt, er soll in der Hölle verrotten.«
Derek kam unwillkürlich der Gedanke, dass Zanus bereits eine ganze Zeit in der Hölle vor sich hin geschmort hatte. Er lächelte sie an. Er war stolz auf sie. Sie hatte genau die richtige Entscheidung getroffen.
»Vielleicht müssen Sie sich gar nicht stellen«, sagte er. »Vielleicht passiert ja noch irgendetwas ...«
Rachel schüttelte ihren Kopf und warf ihm ein mattes Lächeln zu.
»Danke für all Ihre Hilfe, Derek. Ich hätte niemals die Stärke aufgebracht, das zu tun, wenn Sie nicht gewesen wären.«
Er ging auf sie zu und nahm ihre Hand. Sie sah zu ihm auf. Ihre Lippen Öffneten sich leicht. Er beugte sich zu ihr hinüber. Plötzlich zog sie ihre Hand weg, drehte sich um und rannte förmlich die Treppe hinauf, durch die Tür und ins Haus.
Tief seufzend ging Derek in sein Apartment.
Einige Minuten später klingelte sein Telefon. In der Hoffnung dass es William war, der Neuigkeiten hatte, nahm Derek ab. Er war erstaunt, Rachels Stimme zu hören.
»Derek, irgendetwas stimmt nicht!«, sagte sie verzweifelt,
»Sampson ist weg.«
»Keine Panik. Vielleicht versteckt er sich nur. Sie wissen ja, was für ein Balg er sein kann«, versuchte Derek sie zu beruhigen.
»Ich habe schon überall nachgeschaut! Und als ich nach Hause kam, war meine Tür nicht abgeschlossen, sie stand leicht offen. Ich schwöre, dass ich sie heute Morgen, als ich gegangen bin, abgeschlossen habe. Sind Sie heute mit ihm spazieren gegangen?
Kann es sein, dass Sie die Tür offen gelassen haben.«
»Ich habe sie zugemacht und abgeschlossen.« Derek war jetzt besorgt. »Schauen Sie im Hausflur nach ihm.« »Im Hausflur? Aber warum ...«
»Im Hausflur«, sagte Derek entschlossen. »Ich komme nach oben.«
Wenn ihre Tür offen gewesen war, dann konnte es sein, dass sich noch jemand in ihrem Apartment befand. Er wollte sie nicht erschrecken, indem er sie darauf hinwies, aber er musste sie dazu bewegen, ihr Apartment zu verlassen. Er wartete nicht auf den Aufzug, sondern rannte die Treppe hinauf, wobei er immer zwei Stufen auf einmal nahm.
Völlig außer Atem kam er oben an und entdeckte Rachel vor ihrer Tür. Sie starrte den Hausflur entlang und rief Sampsons Namen. Sie hatte ihre Arbeitskleidung gegen Jeans und ein Sweatshirt ausgetauscht.
»Er ist nicht im Hausflur«, sagte sie, als Derek an ihr vorbeieilte. »Er ist hier nirgends.«
Er ging durch ihr Apartment und schaute in jedem Wandschrank, in der Wäschekammer und anschließend auch hinter der Couch und unter dem Bett nach.
»Ich habe schon überall nach ihm gesucht«, fuhr Rachel fort, und ihre Stimme wurde vor lauter Angst höher. »Er war nicht an der Tür, als ich nach Hause kam. Er ist nicht hier ...«
»Und auch niemand sonst«, sagte Derek. Sie starrte ihn verwirrt an und begriff dann, was er meinte. »Sie glauben doch nicht, dass jemand ... dass Zanus ... aber wie sollte jemand heraufkommen, ohne an Ihnen vorbeizumüssen? Sie hätten sie gesehen!«
Derek schüttelte den Kopf. »Servicepersonal geht hier den ganzen Tag ein und aus. Nach dem, was im Logbuch steht, hat ein Typ in Miss Simmons' Apartment die Leitungen angeschlossen. Ein anderer hat in 42 die Spülmaschine repariert.«
»Glauben Sie, dass jemand ihn mitgenommen hat?« Rachels Augen füllten sich mit Tränen. »Aber warum? Es ist keine Rassekatze, nicht wertvoll ...« Sie hielt inne, starrte Derek an. Dann legte sie ihre Hand vor den Mund.
»Oh Gott!«, flüsterte sie von Entsetzen gepackt. »Ich habe mich geweigert, diese Geschäfte abzuschließen. Ich habe Zanus gesagt, er solle zur Hölle gehen. Oh, Derek, was, wenn ... ?«
»Ziehen Sie keine voreiligen Schlüsse«, sagte Derek. »Vielleicht habe ich vergessen, die Tür abzuschließen, und der Wind hat sie aufgestoßen. Kommen Sie. Ich werde Ihnen helfen, Sampson zu suchen. Wahrscheinlich ist er draußen und streunt da irgendwo herum. Wir werden ihn finden. Er kann nicht weit sein.«
Seine beruhigenden Worte brachten wieder ein wenig Farbe auf Rachels Wangen. Er wünschte nur, er könnte sich selber beruhigen.
Eine gewöhnliche Katze hätte sich vielleicht dazu entschlossen, ein wenig herumzustreunen. Eine Katze, die in Wirklichkeit ein Cherub war, mit der Aufgabe betraut, auf einen Menschen aufzupassen, hätte die Wohnung unter gar keinen Umständen verlassen.
Es sei denn ...
Vielleicht hatte Sampson die Dinge in die eigenen Hände beziehungsweise Pfoten genommen. Er hatte Derek heute Morgen gefragt, ob er ihn mitnehmen würde. Sampson war dafür bekannt, dass er schusselig und unzuverlässig war, auch wenn er diesen Job bis jetzt richtig gut gemacht hatte. Es könnte sein, dass der Cherub sich dazu entschlossen hatte, auf eigene Faust Nachforschungen anzustellen. Derek hoffte, dass das die Antwort war.
Sie rannten aus dem Haus und suchten den ganzen Bürgersteig und auch die Straße ab. Sie schauten unter Büschen und parkenden Autos nach. Keine Spur von einer orangefarbenen Katze. Rachel und Derek riefen beide Sampsons Namen. Keine Antwort.
»Es könnte sein, dass er in den Park gelaufen ist, wo wir immer unsere Spaziergänge machen«, vermutete Derek. Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht.
»Ich werde dorthin gehen und nach ihm suchen«, bot Derek an.
»Gehen Sie nach oben und ruhen Sie sich ein bisschen aus.«
Rachel schüttelte den Kopf. »Nein, ich könnte jetzt unmöglich schlafen. Ich muss weitersuchen.«
Sie starrte in Richtung Park. In Derek wuchs eine düstere Vorahnung heran. Irgendetwas stimmte hier nicht. Sampson hätte niemals seinen Posten verlassen. Derek hatte das schreckliche Gefühl, ganz genau zu wissen, wo er nachschauen musste. Er ging geradewegs auf die Bank zu, auf der er und Sampson ihre Unterhaltungen geführt hatten. Und da, unter der Bank lag Sampsons Körper, über und über mit Blut verschmiert.
Derek versuchte, Rachel die Sicht zu versperren, aber sie war zu schnell für ihn. Sie stieß ihn zur Seite.
»Das kann nicht sein!«, schrie sie. »Das ist er nicht! Das ist eine andere Katze! Das muss eine andere Katze sein!«
Sie brach in Tränen aus.
Derek schaute hinab auf den blutigen Körper. Es gab nicht den geringsten Zweifel daran, dass es Sampson war, und es sah so aus, als wäre er von einer schrecklichen Bestie zerfleischt worden. Lange Krallenspuren durchzogen sein Fell. Ein Ohr war fast abgerissen, ein Auge aufgeschlitzt. Blut und Speichel liefen aus seinem gebrochenen Kiefer. Sein Schwanz war in einem seltsamen Winkel geknickt. Ein Bein hing nur noch an einer Sehne. Sein Fell war durch das Blut ganz verfilzt. Derek zog seine Jacke aus, legte sie über die Katze und wickelte sie darin ein.
Dereks Herz klopfte ihm bis zum Hals, Schmerzen brannten in seiner Brust. Er hätte nicht gedacht, dass er das einmal sagen würde, aber er hatte angefangen, den kleinen, tapferen Cherub zu mögen und zu bewundern.
»Geben Sie ihn mir«, sagte Rachel. »Ist er tot?«
»Nein, aber ziemlich schwer verletzt«, sagte Derek.
Derek hob den schlaffen Körper hoch und gab ihn Rachel.
»Wir sollten ihn zu einem Tierarzt bringen!«, sagte sie fieberhaft.
»Hier in der Nähe muss irgendwo ein Tierarzt sein. Wir brauchen ein Telefonbuch ...«
»Rachel, warten sie. Schauen Sie.« Derek wollte ihr eigentlich nicht zeigen, was er gefunden hatte, aber er hatte keine andere Wahl.
Als er die Katze aufgehoben hatte, entdeckte er ein Stück Papier, das unter der Katze gelegen hatte. Es standen drei Namen auf dem Blatt, Namen mit schwarzer Tinte geschrieben und mit Blut durchnässt.
KIM ... BETH ... LANA.
Rachel starrte auf das Blatt Papier. Ihr Gesicht wurde leichenblass.
»Oh, mein Gott! Wenn ihnen etwas passiert, dann ist das meine Schuld«, flüsterte sie. »Einzig und allein meine Schuld.«
Sie schwankte, während sie die verletzte Katze im Arm hielt.
Tränen liefen ihr über das Gesicht.
Derek sah die Angst, die Verzweiflung und das Leid in Rachels Augen, und er hatte sich noch nie so hilflos gefühlt. Da gestand er sich ein, dass er sie liebte. Er wollte sie nie wieder leiden sehen. Er wollte niemals wieder ohne sie sein.
Verflucht seien seine Befehle! Verflucht seien William und Erzengel Michael! Derek kniete neben Rachel. Er legte seine Arme um sie und Sampson und hielt sie beide fest. Rachel lehnte sich an ihn und weinte. Er sah sich schnell im Park um, um zu sehen, ob jemand in der Nähe war. Nicht, dass es irgendetwas geändert hätte. Er musste tun, was er tun musste. Die ganze Welt sollte ihn sehen.
Der Himmel sollte ihn sehen.
Vorsichtig nahm er Rachel die Katze aus dem Arm.
»Gehen Sie und holen Sie ein wenig Wasser für ihn«, sagte er ihr.
»Da drüben bei dem Hotdog-Stand ist ein Springbrunnen.«
Rachel stellte keine Fragen. Sie war zu aufgeregt, zu aufgewühlt. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Sie tat, was Derek befohlen hatte, und ging hinüber zu dem Springbrunnen.
Der Mann an dem Hotdog-Stand gab ihr einen Becher, und sie füllte ihn mit zitternden Händen.
Nachdem sie gegangen war, legte Derek seine Hände auf Sampsons Körper. Michael hatte ihm verboten, seine himmlischen Kräfte einzusetzen. Derek hatte diese Anordnungen befolgt, sogar in der letzten Nacht, als die Dämonen versucht hatten, ihn zu töten. Er hatte seine Befehle befolgt und wäre beinahe gestorben. Er war nicht bereit, Sampson sterben zu lassen. Der Cherub sollte kein Opfer dieses Krieges werden. Derek würde nicht zulassen, dass das passierte. Er spürte, wie die Macht des Himmels durch ihn hindurchströmte und ihn mit Wärme erfüllte. Diese Wärme schickte er in Sampsons Körper.
Unter der Jacke kam ein gedämpftes und empörtes »Miau« hervor.
»Sei still!«, sagte Derek mit leiser Stimme. »Du solltest verletzt sein!«
»Aber es war Zanus, Gebieter«, sagte Sampson und fauchte den Namen wütend. »Er hat mir das angetan!«
»Ja, ich weiß. Beruhige dich. Rachel kommt zurück. Und spiel jetzt mein Spiel bitte mit. Bei dieser ganzen Sache werden sicherlich ein paar Leckerbissen für dich abfallen.«
»Sie haben recht, Sir«, sagte Sampson. »Daran hatte ich gar nicht gedacht.« Die Katze schloss ihre Augen und gab ein mitleiderregendes Wimmern von sich.
»Derek?«, sagte Rachel, sie klang benommen.
Er schaute auf, sah sie dastehen und ihn mit großen Augen anstarren. Sie hielt den halbvollen Becher in der Hand.
»Wer sind Sie?«, flüsterte sie.
»Derek«, sagte er und versuchte zu lächeln. »Das wissen Sie doch.
Warum?« Sie blinzelte ihn an und wirkte verwirrt. »Ich dachte, ich hätte gesehen ... Ich hatte den merkwürdigen Eindruck ... Ach nichts.
Vergessen Sie's.« Sie schüttelte ihren Kopf.
»Ich habe mir die Katze einmal gründlich angesehen, während Sie weg waren«, sagte Derek. »Ich denke, sie kommt wieder auf die Beine. Ihre Verletzungen sind überwiegend oberflächlicher Natur.«
Sampson gab ein weiteres mitleiderregendes Miauen von sich.
»Oberflächlich? Sie war fast tot ...« Rachel schob die Jacke zur Seite.
Der Kopf der Katze wurde sichtbar, und ihre grünen Augen blinzelten in die Sonne. Das Fell war mit Blut bedeckt, sie sah sehr schwach aus, aber sie schaffte es, mit der Zunge über Rachels Hand zu schlecken.
»Sie ist okay«, sagte Rachel erfreut. »Sie scheint tatsächlich nicht so schwer verletzt zu sein. Aber ... wo kommt das ganze Blut dann her?«
»Verletzungen der Kopfhaut«, sagte Derek. »Die bluten stark.«
Rachel tröpfelte ein wenig von dem Wasser in Sampsons Mund.
»Ich bin so froh, dass er wieder gesund wird!«
Sie war einen Moment lang still, streichelte die Katze, die laut schnurrte und ab und zu leicht hustete.
»Zanus hat das getan«, sagte sie. »Er hat Sampson so zugerichtet und diese ... schreckliche Nachricht hinterlassen. Er wird meinen Freundinnen etwas antun, wenn ich nicht mit ihm kooperiere. Wie ist er bloß in mein Apartment hineingekommen? Sie hatten heute keinen Dienst, oder?«
Derek schüttelte den Kopf. Er konnte schlecht an zwei Orten gleichzeitig sein, und selbst wenn er im Dienst gewesen wäre und nicht auf Rachel aufgepasst hätte, so wäre er dennoch nicht in der Lage gewesen, den Erzfeind aufzuhalten, der ihre Wohnung auf unzählige Arten betreten haben konnte. So war es beispielsweise möglich, dass er sich in eine Spinne verwandelt hatte und durch das Fenster hineingekrochen war oder in eine Rauchwolke, die durch das Schlüsselloch hineingezogen war.
»Ich wünschte, ich wäre da gewesen, aber ich glaube nicht, dass das irgendeine Rolle gespielt hätte«, sagte Derek »Er wäre wahrscheinlich sowieso nicht durch den Vordereingang hereingekommen, Rachel. Er hätte irgendeinen anderen Weg hineingefunden.«
»Ich vermute, dass Sie recht haben.« Rachel seufzte. »Ich habe keine andere Wahl«, sagte sie verzweifelt. »Ich werde machen müssen, was er von mir verlangt. Es ist mir egal, was aus mir wird. Ich kann es nicht zulassen, dass er meine Freundinnen verletzt.«
»Lassen Sie ihn nicht gewinnen, Rachel«, sagte Derek. »Halten Sie durch. Seien Sie stark. Ich werde mit meinen Leuten sprechen. Die werden etwas tun, um Ihnen zu helfen. Sie müssen etwas tun!«
Er beugte sich hinunter, um Sampson zu streicheln.
Rachel sah Derek aufmerksam an. »Sie lieben ihn, nicht wahr?«
Sampson zwinkerte Derek zu.
»So weit würde ich vielleicht nicht gehen«, sagte Derek verdrießlich. Er streckte die Hand aus, um die Katze hinter den Ohren zu kraulen. »Aber er ist eine feine Katze. Ich bin glücklich, dass er wieder auf die Beine kommt.«
»Sie sind so gut und freundlich zu mir gewesen, und ich war ein kompletter Feigling, als ich Sie da in diesem Club alleingelassen habe. Das tut mir leid.«
Sie lehnte sich an ihn und gab ihm einen Kuss auf die Wange.
»Danke, Derek.«
Sie nahm die Katze, die immer noch in Dereks Jacke eingewickelt war, in ihre Arme. Derek nahm den Zettel, zerknüllte ihn und warf ihn in einen Papierkorb. Er streckte seine Hand aus und berührte vorsichtig ihre Wange - er konnte noch die
Berührung ihrer Lippen spüren. Er wünschte, er könnte ihre Schmerzen lindern, aber das konnte er nicht. Alles, was er tun konnte, war, auf sie aufzupassen und sie zu lieben.
Aber wenigstens hatte er Sampson geholfen. Er hatte dem Himmel und der Hölle die Stirn geboten.
Er und Rachel gingen schweigend zurück zu ihrem Apartment.
Derek konnte fast die Schatten der schwarzen Flügel sehen, die über ihr schwebten. Er legte den Arm um sie und hielt sie fest, während sie gingen. Er musste mit William sprechen, aber erst einmal würde er dafür sorgen, dass Rachel und Sampson sicher nach Hause kamen.
»Lassen Sie ja niemanden hinein«, warnte er sie, als er sich zum Gehen wandte.
»Ich bin wohl ziemlich sicher«, sagte Rachel mit einem scheuen Lächeln. »Zanus wird mir nichts antun. Er braucht mich.« Ihre Lippen zitterten. »Es sind meine Freunde, um die ich mir Sorgen mache.«
»Er wird Ihnen nichts antun. Wenn er es tut, dann hat er nichts mehr gegen Sie in der Hand«, sagte Derek. »Und wie Sie schon gesagt haben, braucht Zanus Sie. Ich werde jetzt gehen und mit meinen Leuten reden.«
Rachels Verstand war nach wie vor in Aufruhr, und erstaun-licherweise dachte sie nicht an Zanus oder die Gefahr, in der sie steckte. Ihre Gedanken konzentrierten sich auf Derek.
Sampson war dem Tode nahe gewesen. Rachel hatte ihn kurz zu Gesicht bekommen, bevor Derek ihn in seine Jacke gewickelt hatte, und der kleine Körper war schrecklich zugerichtet gewesen, viel schlimmer als die wenigen oberflächlichen Kratzer, die sie jetzt behandelte.
Sie wegzuschicken, um Wasser zu holen, war ein Vorwand gewesen.
Das wusste sie. Er wollte, dass sie wegging, damit sie nicht mitbekam, wie ihre Katze starb, zumindest hatte sie das zu diesem Zeitpunkt vermutet. Aber als sie wieder zurückkam, hatte sie Derek beobachtet, wie er Sampson auf dem Arm hielt, und plötzlich war er nicht mehr Derek gewesen. Er war ein strahlendes Wesen, stark und kraftvoll, in Weiß gekleidet und in ein herrliches Licht getaucht, das die sterbende Katze einhüllte. Dann blinzelte sie, das Bild verschwand, und er war wieder Derek.
»Das liegt am Schlafmangel«, erklärte sie Sampson, als sie die Katze in der Spüle in der Küche badete. »Man bekommt Halluzinationen, wenn man nicht geschlafen hat.«
Sampson miaute und stupste ihre Hand mit seinem Kopf an, weil er von ihr gestreichelt werden wollte. Sie strich über sein nasses Fell.
Dann nahm sie ihn hoch und schaute ihm in die grünen Augen.
»Ich glaube, du weißt Dinge, die ich nicht weiß. Wie kann das sein?
Ich wünschte, du könntest sprechen. Ich wünschte, du könntest mir erzählen, was mit Derek los ist. Wer ist er wirklich?«
Derek. Stark und kraftvoll. Sie erinnerte sich daran, dass sie, als er sie in seinen starken Armen hielt, gedacht hatte, sie wolle für immer dort bleiben, sicher und beschützt. Er liebte sie. Sie wusste, dass er sie liebte. Und sie fing an zu glauben, dass sie ihn auch liebte.
Zu schade, dass sie es vermasselt hatte. Sie vermasselte alles.
Rachel griff nach dem Telefon und drückte eine Nummer in ihrem Kurzwahlverzeichnis.
»Zanus«, sagte sie ruhig. »Ich werde diese Deals morgen abwickeln.«
»Gutes Mädchen«, sagte er. »Ich wusste, dass du es dir noch einmal überlegen würdest.« »Da gehe ich jede Wette ein«, sagte sie, als sie auflegte.
Derek eilte zur Fullerton-Street-Brücke, um mit William zu sprechen.
Er ging im Kopf noch einmal durch, was er ihm sagen wollte. Das große Ganze hin oder her, der Himmel musste handeln, um nicht nur Rachel zu beschützen, sondern auch ihre Freunde. Er würde darauf bestehen. Entweder sie würden ihm zuhören, oder er würde einen Krawall veranstalten, der den Himmel erschütterte.
Aber als er dort ankam, war William nicht da.
»Hast du meinen Freund gesehen?«, fragte er einen Mann, der in der Nacht, in der sie ihn vor den Dämonen gerettet hatten, mit William zusammen war.
»Der alte Kerl mit dem Hut? Ja. Ein Typ kam, um nach ihm zu suchen. Er sagte, dass jemand mit ihm sprechen wolle. Jemand mit Namen ... warten Sie ... Michael. Das war der Name.« Der Mann schüttelte seinen Kopf. »Der Kerl, der gekommen war, sah ziemlich verärgert aus. Wenn Sie mich fragen, Ihr Freund William steckt ganz schön in Schwierigkeiten.«
Derek hielt sich bis lange nach Einbruch der Dämmerung in der Nähe der Brücke auf, aber William kam nicht zurück, und letzten Endes ging Derek, besorgt, Rachel so lange allein und unbewacht gelassen zu haben, niedergeschlagen wieder zurück auf seinen Posten.
William steckte in Schwierigkeiten. Und Derek glaubte zu wissen, warum ...