Kehre 

 

 
 
 

                                         

 

I.  
 
 
 
Der  Friseur  sagte:  Darf  ich  Ihnen  das  anreichen?  Und  hielt  ihm, nach dem Haarewaschen, ein kleines Handtüchlein hin,  womit er sich die Augen auswischen konnte, falls Shampoo  hineingekommen sein sollte. Gottlieb sprang nicht auf, erhob  sich  aber  doch  sehr  plötzlich,  legte  das  Geld  auf  den  Kassentisch und ging. Gerade, daß er noch die umgehängten  Tücher loswerden konnte. Was es zur Zeit kostete, wußte er.  Seit fünfundzwanzig Jahren kam er in dieses Geschäft. Aber  jetzt  nicht  mehr.  Nie  mehr.  Darf  ich  Ihnen  das  anreichen.  Hatte  der  das  fünfundzwanzig  Jahre  lang  gesagt,  und  Gottlieb war dieser Satz fünfundzwanzig Jahre lang nicht auf  die  Nerven  gegangen?  Dann  war  es  höchste  Zeit,  daß  er  reagierte. 

Sobald  er draußen war, rannte er. Er hatte Angst, er könne  umkehren und sich bei seinem Friseur, der ja wahrhaft sein  Friseur  war,  entschuldigen.  Anna  sagte  er  nichts  von  dem  plötzlichen  Aufbruch  im  Friseurgeschäft.  Was  der  Friseur  über  ihn  dachte,  durfte  ihn  nicht  kümmern.  In  ihm  breitete  sich eine Art Zufriedenheit aus: Er hatte getan, was er wollte.  Er  hatte  sich  einmal  nicht  mehr  ganz  beherrscht.  Er  fühlte  sich fast wie in der Badewanne. In der er nie lag, weil er von  Anfang  an  nicht  baden,  sondern  nur  duschen  gelernt  hatte.  Alles falsch sehen, das wollte er. Das wollte er dürfen. Keiner  Erwartung entsprechen. 

Schluß   mit  entsprechen.  Don¹t  rise  to  the  occasion.  Und  gestand sich jetzt doch ein, daß der cholerische Anfall nicht  vom  Friseur  provoziert  worden  war  und  nicht  dem  Friseur  gegolten hatte. Sein Spiegelbild war es. Er hielt sein Spiegel bild  nicht  mehr  aus.  Eine  halbe  Stunde  dieser  Fratze  ausgesetzt zu sein −, das war unzumutbar. Was die Jahre in  seinem  Gesicht  angerichtet  hatten,  das  mußte  er  nicht  auch  noch  anschauen.  Dreißig  Minuten,  achtzehnhundert  Sekun den  lang,  präsentiert  von  einem  kristallscharfen,  alles  entblößenden Friseurspiegel. Er mußte einen Friseur finden,  der  ihm  die  Haare  vor  einem  verhängten  Spiegel  schnitt.  Basta. 

Als   er  noch  fünfzig  Meter  von  zu  Hause  entfernt  war,  überholte  ihn  Anna.  Sie  fuhr  winkend  vorbei,  ließ  das  Ga ragentor  offen,  war  glücklich,  weil  der  Rechtsanwalt  aus  Göppingen jetzt endlich den Vorvertrag für das Bauernhaus  in Wintersulgen unterschrieben hatte. Und das vielleicht nur,  weil sie ihm für seine Analthrombose zu einer Blutegelsalbe  geraten hatte, und die hatte inzwischen gewirkt, der Kunde  ist geheilt. 

Gottlieb   schaute  zu,  wie  sie  Pflänzchen  auspackte,  die  sie  für ihren Kräutergarten gekauft hatte. Wollte er gesund sein?  Solange  er  gesund  war,  bezweifelte  er  das.  Er  langte an  die  Warze,  die  er  im  Nacken  am  Haaransatz  hatte,  besah  seine  Fingerspitze, sie war blutig. Er langte noch einmal hin. Seine  Warze  blutete.  Zum  Glück  war  Anna  mit  ihren  Kräutern  beschäftigt.  Dr.  Matusaka  hatte  gesagt,  für  die  Lähmung  könne  ein  Bronchialkrebs  in  Frage  kommen.  Aber  seine  Stimme war vollkommen gesund. Der Doktor hatte Gottlieb  geraten,  einen  halben  Ton  tiefer  zu  sprechen,  als  er  es  gewohnt  war.  Es  sei  am  Anfang  ein  bißchen  beschwerlich,  tiefer zu sprechen, als man es gewohnt sei, aber man könne  das zur Natur werden lassen. Gottlieb hatte den einzigen Rat  des  japanischen  Arztes,  den  er  befolgen  wollte,  vergessen  gehabt.  Und  es  tat  sofort  gut,  tiefer  zu  sprechen.  Es  ent spannte,  verlangsamte.  Anna  merkte  es  gleich.  Er  klärte  sie  auf.  Ihr  leuchtete  diese  Umstellung  sofort  ein.  Jetzt  konnte  Gottlieb  den  japanischen  Arzt  ausführlich  loben.  Sie  werde  Gottlieb kontrollieren und ihn sofort darauf hinweisen, wenn  er  wieder  einen  halben  Ton  in  die  Höhe  rutsche.  Gar  nicht  genug wundern konnte sie sich darüber, daß ihr bisher noch  nie  in  den  Sinn  gekommen  sei,  Stimmbandprobleme  durch  Tiefersprechen  zu  behandeln.  Und  führte  ihn  auf  die  Terrasse. Zur Sonnenblume. Die hält sich, sagte Anna. Anna  wollte  also  über  die  Sonnenblume  auf  die  Spenderin  kommen.  Gottlieb  sagte:  Unglaublich.  Anna  sagte:  Ein  Blu menwunder. Und Gottlieb: Deine Pflege. 

Anna  sagte, die Blume stehe noch genau da, wo sie am Tag  des Besuches hingestellt worden sei. Anna habe das Wasser  nicht  gewechselt.  Vielleicht  sei  die  Blume  mit  einem  Gift  behandelt worden, das jede Art von Biologie verhindere. 

Du  hast sie ersetzt. Das ist nicht die Sonnenblume, die die  Besucherin  gebracht  hat.  Er  habe  sich  im  ersten  Augenblick  verblüffen  lassen,  jetzt  sehe  er,  daß  es  gar  nicht  die  selbe  Sonnenblume sei. 

Und Anna: Es ist die selbe, ich schwör¹s. 

Und   Gottlieb:  Aber  sie  hat  jetzt  ein  anderes  Gesicht,  eine  andere Stimmung. 
Das  habe  sie  auch  bemerkt,  sagte  Anna.  Sie  führe  das  auf  das zurück, was die Spenderin erlebt habe oder jetzt erlebe.  Wie, findet Gottlieb, sieht die Sonnenblume jetzt aus? 
Vorher  war  es,  sagte  Gottlieb,  eine  runde  dunkle  Uner gründlichkeit, vollkommen beschirmt von einem makellosen  gelben  Blätterkreis.  Sie  sah  aus,  als  wisse  sie,  daß  man,  sie  anschauend, nichts mehr wollen könne, als sie anzuschauen.  Sie hatte sozusagen alles Selbstbewußtsein der Welt. 
Und jetzt, fragte Anna. 
Sie ist verstört, zerstört. Die Blätter stehen so, als wolle kein  Blatt mit dem nächsten Blatt noch irgendetwas zu tun haben.  Jedes  sträubt  sich  gegen  jedes.  Das  dunkle  Rund,  löchrig,  verwüstet.  Er  wundere  sich  nur  noch  darüber,  daß  er  das  nicht sofort gesehen habe. 
Das  Sehen  braucht  mehr  Zeit  als  das  Hören,  sagte  Anna.  Durch  das  Hinschauen  verändert  sich  das  Angeschaute  andauernd. Der Sehende produziert das Gesehene. Mehr als  der Hörer das Gehörte. 
Gottlieb sagte: Unglaublich. 
Und Anna: Was? 
Und Gottlieb: Du. 
Anna  nahm  den  Krug  mit  der  Sonnenblume  und  trug  ihn  hinaus. In den Garten. Als sie zurückkam, machte sie durch  eine  Geste  deutlich,  daß  Gottlieb  nicht  fragen  sollte.  Man  nennt das Entsorgung, sagte sie. 
Als  sie  beide  im  Haus  waren,  läutete  das  Telephon.  Anna  machte pantomimisch klar, daß Gottlieb den Telephondienst  wieder  zu  übernehmen  habe.  Gottlieb  meldete  sich.  Es  war  der vom Kamingeschäft. Als erstes sagte er: Sind Sie krank?  Gottlieb sagte: Nicht daß ich wüßte. Der mußte zuerst noch  bemerken,  daß  Herrn  Dr.  Zürns  Stimme  zuerst  geklungen  habe,  als  sei  Herr  Dr.  Zürn  krank.  Ja,  also,  ob  sich  Zürns  entschieden hätten, welches Kamingitter sie nehmen wollten.  Ja, sie haben. Sie nehmen das höhere. Das freute den. Er läßt  es noch heute nachmittag einbauen. 
Anna  schüttelte  den  Kopf  so  schwer  und  so  langsam,  wie  man  ihn  schüttelt,  wenn  man  etwas  überhaupt  nicht  mehr  versteht.  Gottlieb  fragte  nach.  Aber  Anna  sagte:  Laß  nur.  Gottlieb  fragte,  was  er  lassen  solle.  Anna  war  deutlich  bemüht,  jetzt  nichts  Trennendes  entstehen  zu  lassen.  Sie  seien  doch  endlich  wieder  eines  Sinnes,  was  sollen  da  die  Bagatellen.  Und  kam  zu  ihm  hin  und  legte  ihm  die  Hände  um  den  Hals.  Und  weil  er  spürte,  dass  sie  sich  anstrengen  mußte,  freundlich  zu  sein,  mußte  er  fragen.  Da  brach  es  förmlich  aus  ihr  heraus:  Du  hättest  nach  dem  Preis  fragen  sollen. Kein Mensch bestellt eine Ware, ohne nach dem Preis  zu fragen. Jetzt kann er verlangen, was er will. Sie war laut  geworden, er erinnerte sie daran, daß sie einmal gesagt hatte,  ihr  mache  es  nichts  aus,  angeschrieen  zu  werden,  aber  so  angeschrieen zu werden, daß es die Nachbarn hörten, ertrage  sie nicht. Darauf sie: So laut sei sie nicht gewesen. Einen so  laut anschreien, daß die Nachbarn es hörten, das schaffe nur  er. 
Als  sie  abends  auf  der  Terrasse  saßen  und  Gottlieb  einen  Karton ins Kaminfeuer warf, protestierte sie. Warum? Karton  gibt eine andere Asche. Na und? Sie: Die fliegt herum beim  leisesten  Windhauch.  Gottlieb  mußte  sagen,  daß  aber  kein  Windhauch zu spüren sei. Dann beherrschten sich beide. 
Im  Bett  lud  er  Anna  ein,  mit  ihm  die  Annehmlichkeit  des  Erlaubten  zu  feiern,  die  Wärme  der  Legitimität,  die  Unver schämtheit  des  Aufeinanderangewiesenseins,  die  Erweck barkeit alles gemeinsam Gehabten, die Fülle der Erinnerung  als  ein  Schutz  und  Schirm  gegen  alle  Gemeinheiten  der  Gegenwart.  Ein  nichts  auslassendes  Gefühl.  Wie  immer,  wenn  mehr  als  Wiederholung  gefragt  ist,  spielte  Wieder holung  eine  große  Rolle.  Anna  würzte  mit  Details.  Ihre  Paradegeschichte,  der  Herr  der  fünf  Ausschüttungen,  zwei  davon  schon  in  der  Annäherung.  Das  sagte  sie  so  neu,  als  habe sie es noch nie gesagt. Das war die Paradeseite aus der  vergilbenden  Ehechronik.  Unvorstellbar,  daß  sie  solche  Kontakte  nie  gehabt  hatte.  Er  hatte  sie  zurückzuholen  aus  den  Fängen  wild  auftrumpfender  Erinnerungsschweine reien.  Das  war  ihm  immer  eine  ihn  ganz  und  gar  aufpeitschende  Beschäftigung.  Annas  unbestreitbare  Gegen wart  und  Anwesenheit.  So  wurde  es  doch  noch  ein  Fest.  Niemand weiß so genau wie Anna, was für ihn schön ist. Mit  Kunst erzeugt sie Natur. Und sie weiß selber nicht mehr, daß  sie ihm etwas zuliebe tut. Die Freude, ihm etwas zuliebe zu  tun,  reißt  sie  so  hin,  daß  sie,  was  sie  tut,  nur  noch  um  ihretwillen  tut.  Mehr  kann  zwischen  zwei  Menschen  nicht  sein. Ihn steckte sie an. Er wollte sie übertreffen. Ihn eroberte  die Begierde, zu ihr noch lieber zu sein als sie zu ihm. Und  alles ohne  Calvados. Eines Tages oder eines Nachts wird er  herausbringen,  ob  Anna  sich  das  Trinken  angewöhnt  hatte,  weil  ihr  dann  die  Auftritte  als  Maklerin  leichter  fielen  oder  damit  ihr  das  Miteeinanderschlafen  besser  gelang.  Sie  war  keine  Alkoholikerin.  Sie  selber  sagte,  im  Calvados  lebe  der  Geist  der  Äpfel.  Für  sie  sei  es  eine  Kommunion.  Beates  Kommunion war ihr sicher fremd. Auch wenn er ihr einmal  alles, was ihm je passiert war, zu erzählen vermochte −, das  nicht.  Äpfel  waren,  auch  ungebrannt,  Annas  Früchte.  Sie  könnte,  sagte  sie,  von  Brot  und  Äpfeln  leben.  Damit,  daß  Gottlieb  und  sie  es  zu  keinem  Obstgarten  gebracht  hatten,  hatte  sie  sich  noch  nicht  abgefunden.  Gottlieb  wußte,  eines  Tages  würde  sie  ihn  auf  eine  sanft  ansteigende,  baumbe standene Wiese führen und sagen: Gekauft. 
Bis  drei  Uhr  nachts  hatten  sie  einander  hineingeredet,  hineingerissen  in  eine  Festlichkeit,  hatten,  was  sie  einander  taten, Feiern genannt. Er hatte alles, was er sagte, aus Annas  Augen  bezogen.  Er  hatte  ihr  gesagt,  daß  er  es  in  Amerika  nicht  mehr  ausgehalten  habe,  weil  ihn  ihre  Augen  verfolgt  hätten.  Ihr  Blick,  der  bloße  Blick.  Bei  anderen  sei  der  Blick  immer  gefärbt  von  einer  augenblicklichen  Stimmung  oder  Absicht.  Und  hatte  an  Beates  Augenausdruck  gedacht.  Traurig  oder  trotzig  oder  träumerisch.  Annas  Blick  aber  sei  der  bloße  Blick.  Ein  dunkles  Meer.  Ohne  bestimmte  Bedeutung.  Jede  Bedeutung  verweigernd.  Wie  das  Meer  eben. Und dann hatte er ganz direkt werden und hatte sagen  müssen:  Aller  Brennstoff  stammt  aus  deinen  Augen.  Verführungsgerede  natürlich.  Anna  muß  man  verführen.  Man  muß  sie  herumkriegen.  Aber  noch  nie  hatte  sie  sich  selber als die prinzipiell Unbereite so theatralisch produziert  wie  in  dieser  Nacht.  Sie  herumzukriegen  als  märchenhafte  Aufgabe. Man kann viel falsch machen, aber man kann noch  mehr  richtig  machen.  Jetzt  auch  noch  das  Ältersein,  das  er  nicht Altsein nennen läßt. Anna hat sich eine abschließende  Tonart angewöhnt, sie nimmt vorweg, was noch gar nicht da  ist,  eigentlich  sieht  sie  aus,  wie  sie  immer  ausgesehen  hat.  Offenbar ist sie innerlich älter als äußerlich. Er weigert sich,  Alter zu gestehen. Für sich fühlt er sich älter als alt, aber er  kann  sein  Altsein  mit  niemandem  teilen.  Auch  nicht  mit  Anna.  Soll  sie  ihr  Altsein  haben  und  er  seins.  Weil  es  keine  verständigungsintensivere  Situation  geben  kann  als  die  des  Paars im Bett, wird eben dadurch auch die Verständigungs armut  deutlich:  Die  eigene  Schwere  wird  durch  nichts  so  erlebbar wie durch den Versuch, in die Luft zu springen. Wie  hätte  er  denn  bei  dem,  was  Anna  im  Bett  erlebte  oder  produzierte,  nicht  zum  Beobachter  werden  können!  Ihr  Gesicht  war  ein  Film,  der  in  dieser  Nacht  uraufgeführt  wurde.  Das  Gesicht  durchlief  ein  ganzes  Leben.  Zuerst  mädchenhaft, die Lippen schälen sich  nur zögernd von den  Zähnen.  Sie  scheint  dagegen  zu  sein,  daß  sie  schon  lächle.  Aber  sie  will  zugewendet  sein.  Gunstvoll.  Dann  doch  teilnehmend. Dann mehr als teilnehmend. Selber tätig. Mehr  als  nur  mitmachend.  Einerseits  hingerissen,  andererseits  hinreißend.  Der  schönste  Ehrgeiz  der  Welt.  Siegen  wollend,  ohne es zu wissen. Dann schon frech. Lustbewußt. Scharf auf  Schamlosigkeit.  Genußgierig.  Und  zeigend,  daß  sie  es  sei.  Dann  nur  noch  mitgenommen.  Leidend.  Mundoffen.  Die  Augen  rein  schwarz.  Sich  zu  zwei  Spalten  verengend.  Endlich  eine  Konzentration  aller  Kraftlinien  auf  der  Nasenwurzel. So entgleist hat sie noch nie ausgesehen. Sagt  sich  Gottlieb.  Dem  Tod  näher  als  dem  Leben.  Die  Zunge  zwischen  den  halboffenen  Lippen  wie  ein  erlegtes  Wild.  Speichel  trieft.  Sie  ist  hinüber.  Und  hat  ihn  mitgenommen.  Sie  schafften  es,  einander  zu  verfallen.  Und  so  lagen  sie  dann. Länger. Wahrscheinlich war er vor ihr eingeschlafen. 
Am  nächsten  Morgen  eroberte  sie  seine  Aufmerksamkeit,  bevor  er  recht  wach  oder  zu  einer  Besinnung  gekommen  war.  Er  saß  auf  der  Terrasse,  frühstückte  dumpf,  auf  jeden  Fall bewußtseinsfern, vor sich hin, da stand Anna, schon aus  der  Stadt  zurück,  unter  der  Tür  und  sagte  übermütig:  Du  könntest heute abend meinen Mann darstellen. Und Gottlieb  mühelos:  Nichts  lieber  als  das.  Auf  welcher  Bühne?  Anna  schwenkte  den  Blumenstrauß,  den  sie  in  der  Hand  hatte.  Rosen,  aber  von  allen  Farben,  die  bei  Rosen  überhaupt  vorkommen.  Lissi  Reinhold,  sagte  Gottlieb.  Bravo,  sagte  Anna,  Sträuße  nur  aus  einer  Sorte  Blumen,  aber  da  in  allen  Farben,  das  ist  immer  noch  Lissi  Reinhold.  Und  was  wird  gespielt,  fragte  Gottlieb.  Sie  will  mir  wieder  einmal  etwas  zuschanzen,  sagte  Anna,  ein  Hotel,  in  Konstanz.  Gottlieb  sagte: Toll. Anna korrigierte streng: Lieber Mann, das war in  deiner  Zeit,  als  ein  Hotel  noch  toll  war.  Gottlieb  sagte:  Daß  sie  mein  Schwanenhaus  damals  schmählich  an  Kaltammer  verraten hat, kann sie ohnehin nicht mehr gutmachen. 
In  Lissi  Reinholds  Immernochsalon  saß  dann  tatsächlich  kein  tolles,  sondern  eher  ein  kümmerliches  Hotelierpaar.  Kläglich  und  klagend.  Vorgestellt:  Hugo  und  Jacqueline.  Nachname unverständlich. Hugo und Jacqueline haben sich  das  Hotel  ein  Leben  lang  erarbeitet,  sind  jetzt  schuldenfrei,  sind alt, müssen verkaufen, um davon leben zu können. Der  Mann  nickte,  sobald  seine  Frau  sprach,  ununterbrochen.  Vielleicht  hörte  er  nur  zu,  wenn  seine  Frau  sprach.  Die  dünne  Jacqueline  trug  eine  gewaltige,  eine  steil  hinaufra gende  Perücke,  die  ihrerseits  auch  zu  allem,  was  die  Frau  sagte, nickte. Gottlieb dachte: Vor zwanzig Jahren hätte Lissi  Reinhold,  die  damals  noch  schwarzweiße  Luxusjeeps  fuhr,  die Monteverdi Safari hießen, ein so verkümmertes Paar nicht  eingeladen.  Lissi  Reinhold  sang  nicht  mehr.  Sie  hatte  nicht  nur  ihre  Stimme  verloren.  Gottlieb  konnte  nicht  mehr  wie  früher  den  Abend  lang  an  Frau  Reinholds  grünspangrüner,  durchsichtiger Seide auf und niederschauen und das Gefühl  haben,  eingeladen  zu  sein,  Frau  Reinholds  Wölbungen  und  Rundungen  ganz  direkt  mit  den  Augen  nachzubeten.  Von  Lissi  Reinhold  war  nichts  übrig  geblieben  als  ein  kleider behängtes Gebein. Braungebrannt war sie noch immer, aber  jetzt  sah  sie  aus  wie  geröstet.  Anna  hat  alles,  was  Lissi  Reinhold  durchlitten  hat,  und  das  waren  nicht  nur  Krank heiten,  immer  gemeldet.  Anna  hat  bei  allen  Kontakten  das  Menschliche  verwaltet.  Ihre  Fähigkeit,  teilzunehmen,  war  das  Ursprünglichste  überhaupt.  Zu  Hause  in  der  Herde  wahrscheinlich. Auf der Herfahrt hatte Anna ihn, wie es die  Routine befahl, auf den neuesten Stand gebracht: Judith, die  ihrer Mutter nachgesungen und als Siebzehnjährige Konzerte  gegeben hatte, die in Magdas Klasse immer die Klassenbeste  gewesen war, die sei jetzt glücklich, hieß es, verheiratet mit  einem  Ofensetzer,  der  sie  und  drei  Kinder  sorgenfrei  ernähre.  Und  Benjamin,  Primus  in  Julias  Klasse  und  schon  früh  Landesfechtmeister,  war  jetzt  Bademeister  in  Saulgau.  Aber die Zeit, in der man sich nach den Kindern erkundigen  mußte, war ohnehin vorbei. Es herrschte eine unverabredete  Übereinkunft,  daß  man  die  Kinder  am  besten  nicht  mehr  erwähne.  Daß  die  zärtlichkeitssüchtige  Labradorhündin  Wunni hatte eingeschläfert werden müssen und durch einen  einschüchternden  Dobermannrüden  ersetzt  worden  war,  hatte Anna zum Glück mitgeteilt. Der werde Dante gerufen. 
Dante  räkelte  sich  dann  auch  zentral  im  Zimmer.  Er  war  offenbar durchdrungen von der Gewißheit, daß alle nur ihm  zuschauten.  Dem  Hotelierspaar  versprach  Anna,  sie  werde  sicher  bald  einen  Käufer  finden.  Da  sagte  Hugo  dann  doch  noch einen Satz: Das habe Paul Schatz auch versprochen und  dann  sei  er  gestorben.  Das  klang,  als  sei  Paul  Schatz  gestorben,  weil  er  versprochen  hatte,  diesem  dahinküm mernden Paar zu helfen. Das hieß: Wer uns helfen will, dem  passiert  etwas  Schlimmes,  ich  warne  Sie.  Gottlieb  empfand  es als eine der im Handel üblichen Demütigungen. Man war  zweite  Wahl.  Lissi  Reinhold  rief:  Bitte,  Hugo,  nichts  von,  nichts  über  Paul  Schatz.  Schone  uns!  Und  erklärte  ihre  Lautstärke:  Paul  Schatz  sei  der  erste  Mensch,  dem  sie,  auch  nach  seinem  Tod,  nichts  Gutes  nachsagen  könne.  Wäre  sie  simpel  religiös,  würde  sie  sagen,  sein  jäher  Tod  sei  eine  Strafe  für  die  fürchterliche  Ausstellung  seiner  Zeichnungen  im  Mauracher  Schloß.  Genialer  Amateur,  steht  dann  in  der  Zeitung. Professionelles Schwein hätte drin stehen sollen. Sie  habe,  daran  müsse  sie  erinnern,  den  nebenher  Bilder  malenden  Immobilienkönig  immer  verteidigt,  auch  wie  er  mit seinem Geld sich als Künstler inszenierte, ihr war¹s egal,  aber  in  diesen  Zeichnungen  habe  er  sich  zum  Schluß  end gültig  entlarvt.  Seine  überregional  demonstrierte  Vielweibe rei  sei  ihr  zwar  zuweilen  auf  die  Nerven  gegangen,  gesagt  habe  sie  nichts.  Aber  diese  Ausstellung!  Zeichnungen  über  ein  einziges  Motiv!  Das  weibliche  Geschlecht!  Und  zwar  jedesmal in einer Ausführlichkeit, als handle es sich nicht um  einen  Körperteil,  sondern  jedes  Mal  um  Landschaften,  und  zwar um diluvische. 
Jetzt gelang Anna der erste Einwurf. Ich finde, sagte sie, er  denunziert  uns  nicht.  Er  feiert  unsere  Vielfalt.  Sie  sei  er staunt,  daß  Lissi  den  Witz  nicht  bemerkt  habe,  den  Meister  Schatz  in  diese  Körperlandschaften  hineingezeichnet  habe.  Ihr,  Anna,  habe  am  besten  gefallen  das  Männlein  deutlich  Paul  Schatz  persönlich,  das  da  im  weiblichen  Portal  stehe  und  dabei  die  weichen  Partien  wie  eine  Kapuze  über  sich  hereinziehe.  Das  fand  Lissi  überhaupt  ganz  fürchterlich.  In  Zeichnungen  witzig  sein  zu  wollen,  das  sei  eine  ästhetische  Katastrophe. Dürer und Rembrandt und Beckmann zeichnen  nicht  witzig.  Wer  die  Grenze  zur  Karikatur  überschreitet,  sagt,  er  sei  nicht  ernst  zu  nehmen.  Aber  bitte,  diese  Spezialisierung auf unser vielfältiges Häutewerk, das sei die  reine  Altersgeilheit.  Und  brach  richtig  aus.  Fand  große  Namen  und  Bezeichungen  für  ihn:  Chauvinistische  Sau,  Schmierenpascha,  altersgeiler  Bock  ...  Bei  mindestens  drei  Prägungen kam altersgeil vor. Das konnte Anna dem von ihr  nun  einmal  verteidigten  Paul  Schatz  nicht  antun  lassen.  Erstens, sein Berufsethos − und davon verstehe sie etwas − :  tadellos.  Sein  soziales  Engagement:  musterhaft.  Bitte,  in  der  die ganze Seite füllenden Bekanntmachung seines Todes hieß  es  unten:  Statt  Kränze  und  Blumen  eine  Spende  für  Germanaid. Mein Gott, rief sie, erinnert euch, das letzte Mal,  hier,  und  wir  waren,  bitte,  alle  gleichermaßen  hin,  als  er  seine FilmNummer aufführte, die jeder von uns schon vom  Hörensagen  kannte.  Wie  er  Filme  durch  Wiederanschauen  kaputtmacht,  aber  auch  die,  die  schon  beim  ersten  An schauen erledigt sind, schaut er noch einmal an und windet  sich  vor  Ekel,  Verachtung  und  Langeweile.  Und  stieß  hier  vor uns noch einmal die Laute aus, die er ausstieß, um einen  miesen  Film  durch  Wiederanschauen  hinzurichten.  Er  habe  das Gefühl, der Film verblute dann vor ihm, er höre den Film  stöhnen, um Gnade betteln. Geh doch weg, keuche der Film,  mach  die  Augen  zu,  bitte,  bitte.  Und  genau  das  wolle  er  hören,  rief  Paul  Schatz,  das  würde  dir  so  passen,  rufe  er  dann,  angeschaut  wirst  du,  angeschaut  bis  zur  letzten  Sekunde, du kleiner, billiger, schmieriger Drecksfilm, du, du  bist nämlich das Geilste überhaupt! Lissi Reinhold schrie das  so  heraus,  daß  eine  Sekunde  lang  die  Sopranistin  wieder  hörbar  wurde:  Das  Altersgeilste,  ja!  Aber  Anna  ging  sofort  zum  Gegenangriff  über.  Wenn  einer  altersgeil  geschimpft  werden könne oder gar müsse, dann Jarl F. Kaltammer, der  immer  schon,  schon  mit  vierzig  und  fünfzig,  deutlich  altersgeil gewesen sei. Lissi Reinhold und Anna lieferten jetzt  eine Debatte über Altersgeilheit. Gottlieb tat, als sei ihm alles,  was  da  gesagt  wurde,  neu.  Eine  Zeit  lang  fürchtete  er,  zur  Stellungnahme genötigt zu werden. Dante wälzte sich inzwi schen  auf  dem  Teppich  und  stieß  Geschlechtsverkehrsbe wegungen  in  den  Raum.  Und  Althotelier  Hugo  hatte  den  Mut,  nicht  nur  hinzuschauen,  sondern  in  eine  winzige  Gesprächspause  der  Damen  hinein  und  zu  Dante  hin  zu  sagen:  Ja,  das  Leben  ist  schwer.  Lissi  und  Anna  ließen  sich  nicht  ablenken.  Sie  waren  ja  in  der  Hauptsache  einig.  Beide  fanden  Altersgeilheit  gleich  widerlich.  Weil  jede  darauf  bestand,  nur  ihr  negativer  Favorit  sei  altersgeil,  einigten  sie  sich  schließlich  lachend  darauf,  daß  jede  den  Favoriten  der  anderen  altersgeil  finden  dürfe.  Anna  merkte  an,  sie  habe  den  so  gut  wie  verschwundenen  Kaltammer  neulich  ge sehen,  in  der  Bar  des  InselHotels  in  Konstanz.  Er  sei  noch  immer  der  Säuglingsgreis,  der  er  immer  gewesen  sei,  ge spenstisch  jung.  Und  immer  noch  der  wimpernlose  Blick  dieser  sich  nur  ruckartig  bewegen  könnenden  Augen.  Lizard,  dachte  Gottlieb,  Glen  O.  Rosenne.  Und  die  gelben  Haare noch genau so gelb wie früher und keines fehle. 
Zum Glück kam dann Dr. Reinhold vom SchachComputer  und  meldete  wie  immer,  der  Computer  habe  gesagt:  I  lose.  Aber  Dr.  Reinhold  meldete  nicht  mehr  wie  früher,  in  welchem Schwierigkeitsgrad er den Computer besiegt hatte.  Dr.  Reinhold  war  fleischiger  geworden.  Sein  Gesicht  war  sozusagen über die Ufer getreten, weiche milchweiße Backen  flössen links und rechts vom zart gebliebenen Kinn abwärts.  Die  Augen  schwammen  auf  tiefhängenden  Säcken.  Aber  er  war immer noch der stille hebe Mensch, der alle durch seine  Zurückhaltung  beschämte.  So  hatte  es  Gottlieb  immer  empfunden.  Besonders  in  den  Jahren,  in  denen  sich  Lissi  noch  von  ihrem  bernhardinerhaften  Soziologen  Giselher  hatte bedienen lassen. Der war längst Professor in Frankfurt.  Dr. Reinhold nahm sich Häppchen von den Platten und aß,  wie  er  immer  gegessen  hatte,  nämlich  nur  mit  vier  Zähnen,  oben zwei und unten zwei, mit diesen Frontzähnen zerklei nerte er alles, was er in den Mund schob, ganz schnell. Lissi  war  inzwischen  beim  Thema  Scheidung.  Die  Scheidungen  nähmen,  sagte  sie,  so  zu,  daß  man  von  einer  Scheidungs epidemie sprechen könne. Wohin du kommst, überall lassen  sich  die  Leute  scheiden,  rief  sie.  Und  nicht  nur  in  Stuttgart  und Karlsruhe, nein, auch in den kleinsten Dörfern, und mit  sechsundzwanzig  genau  so  so  wie  mit  zweiundsechzig.  Sie  geriet richtig ins Schwärmen. Gottlieb nickte so nachdenklich  wie möglich. Anna machte ein kritisch zweifelndes Gesicht. 
Auf der Heimfahrt dachte Gottlieb, Anna erwarte von ihm  jetzt eine Stellungnahme entweder zum Thema Altersgeilheit  oder  zum  Thema  Scheidung.  Für  ihn  war  geil  eines  jener  Wörter, die in der Zeit, als er allmählich von Wörtern besetzt  wurde,  bei  ihm  nicht  vorgekommen  waren.  Bis  es  bei  ihm  auftauchte,  hatte  er  für  das,  was  geil  sagen  sollte,  längst  andere, halbwegs brauchbare Wörter. Also wirkte geil auf ihn  eher wie ein Fremdwort. Man weiß genau, was gemeint ist,  aber  man  spürt  nichts.  Eines  der  Kunststoffwörter.  Ähnlich  wie  Fan.  Keinesfalls  konnte  er  Anna  oder  irgendeinem  Menschen sonst sagen, was er, wenn er dieses Wort jetzt auf  sich anwendete, empfand. Geil, das war doch in jedem Alter  die Stimmung, die nicht heraus durfte. Das war doch immer  nur  unter  besonders  gesegneten  Umständen  erlaubt  gewe sen. Er hätte die Damen wirklich fragen müssen, warum ein  Älterer,  wenn  er  denn  das  war,  was  sie  geil  nannten,  nicht  einfach  geil,  sondern  altersgeil  war.  Die  haben  da  eine  Ahndung parat. Du sollst nicht mehr, darfst nicht mehr. Die  haben  eine  Moral,  die  sie  ästhetischsittlich  drapieren.  Es  schickt  sich  nicht  nur  nicht,  es  ist  ekelhaft,  alt  und  geil  zu  sein,  das  haben  die  Damen  in  ihrem  SchatzKaltammer Disput  verkündet.  Gründe  haben  sie  nicht  genannt.  Das  ist  einfach  so.  Inter  omnes  constat.  Basta.  Und  weil  das  so  ist,  weiß Gottlieb, daß er, was bei ihm altersgeil genannt werden  konnte  oder  mußte,  zu  verbergen  hatte,  so  wie  er  als  Fünf zehnjähriger seine Jugendgeilheit zu verbergen hatte. Es gab  Damen und Herren im Ächtungsdienst für jedes Alter. Dabei  war  das  Wort  bei  ihm  nie  vorgekommen.  Ja,  eine  jetzt  offenbar  als  verworfen  zu  bezeichnende  Kundin  hatte  das  Wort einmal in der dafür günstigen Situation gebraucht. Laß  uns  geil  sein  wie  die  Inder,  hatte  sie,  rheinisch  gefärbt,  gesagt.  Und  Gottlieb,  der  in  dieser  Situation  ohnehin  nicht  wirklich  dabei  gewesen  war,  hatte  in  einem  Anflug  von  Ebenfallsrheinisch gesagt: Wenn du dat so willst. 
Als sie dann im Dunkel neben einander lagen, sagte Anna,  Gottlieb  habe  einmal  gesagt,  wenn  Kaltammers  wimpern loser,  sich  nur  ruckartig  bewegender  Blick  auf  etwas  treffe,  mache  es  jedes  Mal  ding  oder  sogar  dingding.  Mein  Gott,  und was war dagegen Paul Schatz für ein seelenvollpracht voller  Mann.  Gottlieb  unterbrach  sie  nicht.  Also  redete  sie,  wie sie nie über den Konkurrenten, als er noch lebte, geredet  hatte.  Wenn  mit  einem  anderen  Mann,  sagte  sie,  dann  mit  dem.  Gottlieb  dachte  an  seine  Zwangsvorstellung:  Paul  Schatz  und  dessen  steil  ragendes  Geschlechtsteil.  Diese  Vorstellung hatte er zumindest als Vorwand genommen, den  ungeliebten Handel zu quittieren. Ein einziges Mal war Paul  Schatz  bei  ihnen  zu  Besuch  gewesen.  Wochen  später  hatte  Anna  ihm  gestanden,  Paul  Schatz  habe,  als  er  auf  dem  Klo  gewesen  war,  von  seinem  Urin  ein  paar  Tropfen  auf  dem  Boden  vor  der  Kloschüssel  zurückgelassen,  da  habe  es  im  Klo  gerochen  wie  in  einem  Pferdestall,  eindeutig  nach  Hengst  habe  es  gerochen.  Ach  Anna.  Auch  jetzt  schwärmte  sie  wieder  von  Paul  Schatz.  Wahrscheinlich  um  Gottlieb  zu  beleben.  Er  sollte  beweisen,  daß  er  auch  jemand  sei,  möglichst  ein  Mann.  Und  obwohl  er  diese  Animation  per  Paul  Schatz  als  einigermaßen  grotesk  empfand,  sie  wirkte.  Aber er hütete sich, durch irgend eine Benehmensart an jenes  abendlang  durchgekaute  Eigenschaftswort  zu  erinnern.  Leider fiel ihm dazu ein, wie die Besucherin auf der Terrasse  scharf ausgesprochen hatte, nämlich mit drei f. 
Zum  Glück  ist  man  für  das,  was  einem  einfällt,  nicht  verantwortlich zu machen. 
 
 
2. 
 
Wenn  das  Unangenehmste  beim  Aufwachen  sofort  be wußtseinsfüllend  war,  glaubte  Gottlieb,  er  sei  eben  daran  aufgewacht.  Tatsächlich  fühlte  er  sich,  wenn  er  nicht  mit  Unangenehmem  aufwachte,  leer.  Die  Abwesenheit  des  Unangenehmen ist als Leere spürbar. Das ist wahrscheinlich  das, was die Leute, denen das Unangenehme unbekannt ist,  Glück  nennen.  Das  begriff  Gottlieb.  Genau  so  ging  es  ihm  auch.  Es  fühlte  sich  selig  an,  diese  Leere  wirken  zu  lassen.  Etwas wie Leichtigkeit. 
Heute  nicht.  Er  war  heute  aufgewacht  mit  dem  Wunsch,  Chapel Hill anzurufen. Es war mehr als ein Wunsch. Einfach  aufspringen,  ans  Telephon  rennen,  anrufen.  Anna  war  wahrscheinlich schon unterwegs. Was auch immer er dachte,  er  spürte  durch  alles  hindurch  diesen  Wunsch,  Beate  anzurufen.  Er  mußte  sich,  um  sich  beherrschen  zu  können,  etwas  vormachen.  Etwa  so:  Nicht  heute,  und  morgen  auch  nicht,  aber  in  einer  Woche.  Nein,  verlange  von  dir:  in  zwei  Wochen.  Vorher  nicht.  Vorher  auf  keinen  Fall.  Und  hoffe,  daß  dieser  Wunsch  in  zwei  Wochen  in  dir  nur  noch  herumgeistert wie etwas Halbvergessenes oder wie etwas so  Komisches,  daß  du  nicht  mehr  begreifst,  wie  du  je  einen  solchen  Wunsch  haben  konntest.  Aufgewacht  mit  dem  Gedanken,  an  dem  Gedanken,  er  müsse  Beate  anrufen.  Er  begriff  sich  nicht.  Ihm  war  offenbar  nicht  mehr  zu  trauen.  Was in der Nacht abgelaufen war, empfand er jetzt als reine,  hochkonzentrierte,  durch  nichts  zu  mildernde  Aussichts losigkeit. Gab es etwas Aussichtsloseres als den Geschlechts verkehr?  Als  diesen  Geschlechtsverkehr?  Vor  der  Amerika reise  waren  die  Verkehre,  wenn  sie  glückten,  und  sie  glückten öfter als sie mißglückten, waren sie doch immer mit  schlichten  Zuständen  schlichter  Enge  und  Gemeinsamkeit  gesegnet gewesen. Fast eine Problemlosigkeitsgarantie. Mehr  als  einmal  hat  Anna  im  Aushauch  geflüstert:  So  mit  einan der.  Kein  trübes  Danach.  Jedesmal  so  jung,  wie  sie  davor  nicht gewesen waren. An der Grenze zum Übermut. Und er  hat  geträumt,  nachdem  er  in  der  vergangenen  Nacht  wahr scheinlich  vor  Anna  eingeschlafen  war,  er habe  einen  Mord  begangen.  Schon  vor  längerer  Zeit.  Er  hat  alle  Spuren  beseitigt.  Könnte  sich  sicher  fühlen.  Aber  der  Inspektor  kommt  ins  Haus.  Unter  fadenscheinigen  Vorwänden.  Man  steht in der Halle. Unterm Boden die Leiche. Anna sagt einen  Satz,  in  dem  das  Wort  Schweinegalle  vorkommt.  Das  ist  für  den  Inspektor  der  Schlüssel.  Er  schaut  Anna  an  und  sagt:  Erlebnisgestützt.  Anna  nickt.  Jetzt  weiß  der  Inspektor  und  kann es beweisen, daß Gottlieb es war. Anna hatte von allem  keine  Ahnung.  Von  Beate  hatte  er  erfahren,  daß  ihr  Vater  Frauen  gern  tough  broads  nenne.  Überhaupt  liebe  er  das  Amerikanische nur, weil er da deftig bis dreckig daherreden  könne, ohne sich genieren zu müssen. Sobald Gottlieb nicht  aufpaßte, dachte er an Beate. Und wenn er aufpaßte, dachte  er  erst  recht  an  sie.  Ihre  hymnische  Stimmung.  Anders  war  das  doch  gar  nicht  zu  nennen.  Sie  hatte  gelitten,  solange  er  nicht  da  gewesen  war,  und  als  er  da  war,  war  sie  ununterbrochen  hymnisch.  Er  ist  ihr  nie  auf  ihrem  Niveau  begegnet. Er hat sie versäumt. Er hat das Leben versäumt. Er  muß hin. Zu ihr. Er kann sich nicht abhalten lassen, das spürt  er.  Um  sich  schlagen.  Rücksichtslos  sein.  Endlich  einmal  rücksichtslos sein. Er will nicht mehr nicht in Frage kommen. 
Schon  am  Morgen  nach  der  ersten  Nacht  hatte  sie  ihn  gefragt, warum er die Schuhe immer im Stehen anziehe. Auf  dem rechten Fuß stehend, um den linken Schuh anzuziehen  und  so  weiter.  Und  er  hatte  geprahlt,  daß  es  ein  Rabbi  so  gemacht  habe  und,  gefragt,  warum,  habe  er  gesagt,  solange  jemand auf einem Fuß stehend seine Schuhe anziehen könne,  sei er jung. Und eine belebende Nachricht war doch, daß sie  sich vom ersten Terrassenaugenblick an zu ihm hingezogen  gefühlt  habe,  weil  er  nicht  siegessicher  aufgetreten  sei.  So  hatte  sie  in  ihm  ein  altes  Leiden  beendet.  Er  hatte  ein  Erwachsenenleben  lang  darunter  zu  leiden  gehabt,  daß  er  kein  toller  Mann  war.  Sein  Erzkonkurrent  Paul  Schatz  war  ein toller  Mann  gewesen, das hat auch Anna immer gesagt.  Und Gottlieb hat es nie bestritten. Wo er hingekommen war,  hatte er Paul Schatz als tollen Mann gerühmt. Immer so sehr,  daß  er  hoffen  konnte,  jemand  in  der  Runde  werde  jetzt  sagen:  Sie  übertreiben.  Das  war  so  gut  wie  nie  vorgekom men.  Und  dann  kommt  dieses  übermäßige  Mädchen  und  fühlt  sich  hingezogen  zu  ihm,  weil  er  kein  toller  Mann  ist!  Und er, der Lebensidiot schlechthin, will ihr vom dritten Tag  an  im  Flughafenhotel,  als  sie  nichts  als  lieben  wollte,  beibringen,  weniger  zu  empfinden,  fängt  an,  umzudeuteln,  jede  Angewiesenheit  auf  einen  anderen  Menschen  sei  eine  Form  der  Freiheitsberaubung.  So  leblos  hat  er  sein  können.  Um nicht wieder etwas falsch zu machen, ließ er jetzt Anna Situationen  ablaufen.  Ziel:  AnnaEntwirklichung.  Eine  Mache, daß er hier ohne remords wegkommt? Ist Anna nicht  wirklich lebensabgewandt? Wie oft hat er sich ihr genähert,  weil  er  eine  Handbewegung  mißverstanden  hatte,  und  war  dann  durch  und  durch  erbittert,  weil  er  zu  spät  gemerkt  hatte, daß diese Handbewegung überhaupt keine Einladung,  kein  Wunsch,  kein  Sehnsuchtssignal  gewesen  war,  sondern  Geste  irgend  eines  Routinerepertoires.  Und  wenn  er  sie  dann, fehlgeleitet von Anfang an, verführte, wurde peinlich  deutlich,  daß  sie  eine  Freundlichkeitsleistung  ihm  zuliebe  erbrachte.  Sie  hatte  geglaubt,  er  brauche  sie  dringend,  da  wollte  sie  nicht  so  sein,  nicht  so  verschränkt  oder  gar  abweisend,  sondern  durchaus  mitmachend.  Eine  Frau  eben,  die ihren Mann, den sie kennt, bedient wie der Friseur einen  alten  Kunden.  Anna  will  es  doch  überhaupt  nicht,  sie  will  nur,  daß  du  es  willst.  Das  Eheverhältnis  schlechthin.  Anna  noch  die  bestmögliche  Frau.  Aber  auch  die  Bestmögliche  lahmt  dann.  Die  Währung,  in  der  bezahlt  wird,  heißt  dann  Lüge.  Gottlieb  spürte  eine  alles  ergreifende  Erbitterung  wachsen.  Geschlechtsverkehr!  Ein  solches  Wort  serviert  einem diese sogenannte Kultur. Für das Höchste, wozu man  im Stande ist, für die Handlung, die einen so zu sich selber  kommen  läßt  wie  keine  andere,  dienen  sie  einem  ein  Wort  an, das in einer Behörde konstruiert worden sein muß. Den  Beamten  ist  kein  Vorwurf  zu  machen.  Die  konnten  ja  nicht  wissen, daß das Wort über den Gesetztext hinaus verwendet  werden  würde,  weil  die  Menschen,  sittlich  eingeschüchtert,  zu  keinem  Ausdruck,  zu  keinem  Wort  finden  würden,  das  von  dem  Vorgang  zu  zeugen  vermöchte.  Funktionäre  der  Fortpflanzung  a.  D.  So  sah  er  sich  und  Anna  alltäglich.  Er  selber  ein  kleiner  braver  Beamter  im  Geschlechtsdienst,  immer  gründlich  in  Vorbereitung  und  Ausführung.  Einmal  hat  er  denken  müssen,  daß  Anna  plötzlich  lachen  könnte  und  daß  er  sie  dann  töten  müßte.  Gottlieb  war  bereit,  allen  Trübsinn,  alle  Weltverneinung,  überhaupt  alles  Ungute,  zurückzuführen  auf  den  Mangel  an  freier  Freude  am  Geschlechtlichen. 
Das  Telephon  läutete.  Verwählt.  Gottlieb  fluchte  laut.  Es  hätte Beate sein können. Dann: Verwählt! Sich zu verwählen  gehörte  verboten.  Was  fiel  den  Leuten  ein,  sich  zu  verwählen.  Das  hätte  doch  wirklich  Beate  sein  können!  Sie  hätte,  wie  vor  Monaten,  gesagt:  98  Grad  und  eine  Luft  aus  feuchten  Schwaden.  Dann  hätte  er  gefragt:  Was  trägt  man?  Und  sie:  Ein  blaues  Laken.  Er  hätte  geseufzt,  also  hätte  sie  gesagt:  Das  Laken  ist  erfunden.  Sie  sei  nackt  und  einiger maßen bedürftig, schamlos nackt zu sein. Er darauf: Und das  in einem Zeitalter ohne Bildtelephon. Spätere Zeiten wüßten  überhaupt nicht, was das für ein Askesemurks gewesen sei,  leben,  lieben,  ohne  Bildtelephon.  Sie:  Andererseits  könnte  ihn  das  doch  sprachlich  beflügeln.  Er  gab  ihr  recht  und  beflügelte sich. Und durfte nicht anrufen. Vierzehn Tage und  Nächte lang. In der Hoffnung, sie rufe an oder seine Bedürf tigkeit lasse nach. Am meisten leide sie, hatte sie einmal am  Telephon  gesagt,  an  der  Ungleichzeitigkeit.  Bei  ihm  ist  es  Nacht, bei ihr überhaupt nicht. Das tat ihr weh. Stell dir vor,  unsere  Sinne,  unser  La  Mettrie,  und  dann  sechs  Stunden  Differenz!  Er  hätte  sie  am  liebsten  aus  dem  Hörer  gesogen.  Jetzt  spürte  er,  daß  er  jeden  Halt  verlieren  würde,  wenn  er  nicht bald gegensteuerte. Aber wo und wann war der letzte  feste  Punkt  gewesen,  von  dem  aus  er  noch  hätte  gegen steuern  können?  Es  war  ein  Daraufzutreiben,  keine  Gegen steuerung  möglich.  Der  Grad  der  Unbeeinflußbarkeit  ist  erreicht.  Das  Alter  ist  das  Gegenteil  der  Verfeinerung,  die  einem abverlangt wird. Ruchlos. So fühlt er sich. Endlich. Er  wird  den  Anruf  des  Lebens  nicht  ein  zweites  Mal  versäumen. In Amerika muß er taub gewesen sein. Er hatte  den  letzten  Zug  versäumt.  Wo  sollte  er  jetzt  die  Nacht  verbringen. Je weniger Leben dir zusteht, desto heftiger reißt  du es an dich. Das ist das Gesetz. Des Lebens. 
So  lag  er  dann  wieder  neben  Anna  im  vertrauten  Dunkel  und  fühlte  das  geträumte  Unding  wachsen,  spürte  eine  offenbar  nicht  enden  wollende  Festigung  und  rührte  sich  nicht.  Welchen  Heiligen  ruft  man  an,  daß  er  Anna  hindere,  herüberzulangen! Er durfte mit Anna nichts zu tun haben. Er  hatte das Gefühl, ihm werde ein Streich gespielt. Von seinem  geträumten  Unding.  Und  Beate  hatte  in  der  ersten  Stunde  auf der Terrasse Anna gefragt: Wie ist das, mit diesem Mann  verheiratet zu sein. Und Anna, künstlich munter: Es geht. 
Drüben  hatte  er,  als  sie  beide  den  armseligen  Wortschatz  schmähten,  der  ihnen  vererbt  worden  war,  gefragt,  ob  sie¹s  joggen  nennen  sollten.  Dadurch  waren  sie  immerhin  auf  ficken  gekommen.  Eines  wußte  er  jetzt  von  Tag  zu  Tag  sicherer:  Er  würde  sich  in  dem,  was  er  selber  als  seine  Unzurechnungsfähigkeit  zu  begreifen  begann,  nicht  irri tieren lassen. Wenn er alles falsch sah, dann war es sein gutes  Recht,  alles  falsch  zu  sehen;  wenn  er  verloren  war,  dann  wollte  er  verloren  sein.  Dürfen.  Es  wird  keine  abschwä chende  Überlegung  mehr  zugelassen.  Er  machte  sich  nichts  vor.  Er  fühlte,  er  war  lebenswütig,  aufbruchstoll.  Er  mußte  Anna  ein  weiteres  Mal  entwirklichen.  Read  my  mind,  dear  Anna. Sagen konnte er nichts von dem, was jetzt in ihm tobte  und schwoll. Anna hatte ihm beigebracht, daß er nackt keine  Rolle mehr spielte, außer bei ihr. Aber Themire hatte ihn am  Telephon  Du  genannt  und  hatte  das  Du  sofort  zweisilbig  gemacht.  Und  hatte  das  in  den  drei  Zimmern,  in  denen  sie  waren,  beibehalten,  obwohl  sie  sah,  wie  er  aussah.  In  der  dritten  Nacht  hatte  sie  die  gemeinsame  Zukunft  entworfen.  Wir  können  nicht  warten,  dazu  bist  du  nicht  jung  genug.  Wenn du jünger wärst, könnten wir Zeit vertun. 
Daß  er  jetzt  nicht  dort  war,  tat  weher  als  alles,  was  der  Körper  leiden  kann.  Aber  es  ist  ein  Schmerz,  dem  man,  im  Gegensatz zum Körperschmerz, nicht so schnell wie möglich  entfliehen  will.  Man  will  ihn  hegen,  wachsen  lassen,  daß  man durch ihn zu Handlungen fähig werde, zu Handlungen  sich berechtigt fühle, die man ohne diesen Schmerz sich nicht  zutrauen  dürfte.  Er  würde  anrufen,  sagen,  daß  sein  Davon rennen  sich  verheerend  ausgewirkt  habe,  er  müsse  zurück.  Sich  nichts  mehr  befehlen,  das  war¹s.  Endlich  Schluß  mit  dieser  Hinkrümmung  an  das  Verlangbare.  Du  kannst  nicht  erwarten,  daß  irgend  jemand  der  Stimmung  entspricht,  in  der  du  leben  mußt.  Wenn  du  aufwachst,  und  es  tut  dir  überhaupt  nichts  weh,  wie  sollst  du  dich  dann  damit  abfinden,  daß  du  nicht  dreißig,  nicht  vierzig,  nicht  fünfzig,  sondern mehr, mehr, mehr als sechzig bist! Da muß man sich  doch  falsch  benehmen.  Das  heißt,  du  wirst  mit  siebzig  so  ungern  sterben,  als  wärst  du  dreißig.  Morgen  weg.  So  ausgefüllt  zu  sein,  unanfechtbar.  Er  war  doch  nicht  Herr  PöhlmannGschrey.  Auf  der  Beuerlinshalde.  Mit  Seeblick,  Weitblick,  Alpenblick,  hinauf  ins  Gipfelgewell.  In  die  letzte  Ecke  des  tannenreichen  Grundstücks  hatte  Herr  Pöhlmann Gschrey  Gottlieb  gezogen  und  fiebrig  dahingeredet,  er  müsse  weg,  die  Frau  wisse  noch  nichts,  auf  ihn  warte,  weit  weg,  das  Neue  Leben.  Die  Frau  glaube,  man  ziehe  gemein sam  auf  die  Kanaren.  Er  hat  dieses  Haus  gebaut  für  seine  Frau. Er hat berechnet, um wieviel Uhr die Sonne die Nasen spitze  der  Frau  trifft  und  sie  weckt.  Das  ganze  Jahr  ist  die  Sonne  im  Dienst  dieses  Hauses,  also  der  Frau.  Dachwinkel,  Firsthöhe,  Tannen,  die  Sonne,  alles  dient  der  Frau  des  Hauses.  Die  zum  Sofa  gewordene  Klosterbadewanne,  der  gewaltige,  unter  der  Decke  schwebende  Engel  mit  blutrot  geblähtem  Mantelfallschirm,  Krippen,  Dome,  aus  Streich hölzern  gebaut,  Schachtelhalme,  Moschusochsen,  Saurier                skelette,  der  Palmenwald  im  Glashaus,  die  Frau  wollte  Einmaligkeit, jetzt muß er weg, ins Neue Leben. Als Gottlieb  endlich  einen  gefunden  gehabt  hatte,  dessen  Frau  wild  darauf  war,  das  alles  zu  besitzen,  hatte  Herr  Pöhlmann Gschrey  nicht  verkaufen  können.  Nichts  mehr  gesagt,  nur  noch  den  Kopf  geschüttelt  und  den  lästigen  Immobilien händler  samt  Interessentenpaar  hinausgewinkt.  Wäre  Herr  PöhlmannGschrey  nicht  leichenblaß  gewesen,  hätte  seine  zerbissene  Unterlippe  nicht  gezeigt,  daß  sie  gerade  noch  geblutet  hatte,  hätte  man  den  Vorvertrag  durch  die  Luft  schwenken  können.  Das  Neue  Leben  war  aus  Herrn  PöhlmannGschrey entflohen, vertrieben. Und bevor Gottlieb  und  das  Interessentenpaar  sich  fassen  konnten,  erschienen  aus  verschiedenen  Partien  des  dämmrigen  Wohnzimmers  drei,  vier,  fünf  Katzen  und  posierten  sich  um  Herrn  PöhlmannGschrey. Er hob die Arme wie ein Soldat, der sich  ergibt. Seine Hände berührten fast den roten Mantel des über  ihm  schwebenden  Engels.  Jetzt  bemerkte  Gottlieb,  daß  der  riesige Engel ein goldenes Schwert in der Rechten hatte. Kein  riesiges,  aber  durch  seinen  Goldglanz  Eindruck  machendes  Schwert.  Also  drehte  sich  Gottlieb  schroff  um.  Das  Interes sentenpaar folgte. Vom Interessentenpaar nachher kein Vor wurf.  Keine  Diskussion  über  das  Gesehene.  Gottlieb  hatte  sich  in  einer  an  Herrn  PöhlmannGschrey  anschließenden  Wortlosigkeit  verabschiedet.  Auf  der  Heimfahrt  hatte  er  gedacht,  daß  die  Katzen  das  Ausschlaggebende  gewesen  waren:  Die  hatten  Herrn  PöhlmannGschrey  den  Verkauf  verboten. Das konnte ihm nicht passieren. Er würde fahren.  Morgen.  Er  erlebte  ein  Gesetz:  Je  heftiger  du  dich  heim sehnst,  desto  größer  ist,  wenn  du  heimkommst,  die  Enttäu schung.  Nichts  entspricht  einander  so  innig  wie  Sehnsucht  und Enttäuschung. 
Aber  weil,  wenn  man  in  eine  Richtung  denkt,  die  Ge genrichtung  immer  auch  noch  existiert,  war  Gottlieb  am  nächsten Vormittag auf dem Weg in die Stadt, auf dem Weg  zur  Bank  und  hatte  die  vielen  Dollars,  die  unverbrauchten,  dabei. Umtauschen. Er würde umtauschen, als bliebe er hier.  Er  wird  nicht  hier  bleiben.  Aber  umtauschen  wird  er.  Wieviele  Personen  war  er  eigentlich!  Er  funktionierte.  Er  würde umtauschen. Und hier nicht bleiben. Niemals. Schon  auf  dem  Weg  zum  Bus  servierte  ihm  der  Zufall,  der  nichts  ausdrückt  als  das  wirkliche  Gesetz,  ein  Mädchen,  das  sechs  oder  sieben  Altgewordene  ausführte.  Ein  ungeheuer  langsamer Trupp. Lauter finster zerstörte, vom bösesten Leid  gezeichnete  Gesichter  und  wie  zur  Drohung  verschobene  Körper.  Weil  es  ein  wenig  aufwärts  ging,  mußte  das  Mäd chen  den  Trupp  halten  lassen,  zurückgehen  und  eine  win zige  Greisin  nachholen,  die  inzwischen  nicht  mehr  als  eins zwanzig  groß  war,  aber  eine  Tasche  umgehängt  hatte,  die  fast  genau  so  groß  war.  Gottlieb  hatte  schon  viel  zu  lange  hingesehen. 
Im Bus sah er, um sicher zu sein, nur noch auf seine Knie.  Kurz  bevor  er  sich  von  der  großen  Drehtür  in  die  Bank  hineinholen ließ, der Notarztwagen. Zwei Männer in greller  Berufskleidung schoben eine Tragbahre in den Wagen. Man  sah  nur  noch  die  Schuhe  des  auf  der  Bahre  Liegenden;  sie  starrten  komisch  in  die  Höhe.  Gottlieb  ging,  so  schnell  er,  ohne  als  rennend  aufzufallen −  hier  rannte  doch  längst  niemand  mehr −,  gehen  konnte,  zurück  zur  Bushaltestelle.  Zwanzig  Minuten  warten.  Was  ihm  da  alles  vorgeführt  werden würde! Er ging und, als er die Innenstadt hinter sich  hatte, rannte eher als er ging nach Hause. 
Sein Schreibtischstuhl war sein Asyl. Saß und blieb sitzen.  Die  tägliche  Versuchung,  sitzen  zu  bleiben,  in  die  Ecke  zu  starren,  sich  nicht  mehr  zu  rühren.  Darauf  reagierte  er  gewöhnlich, eingeübt, mit der abstrakten Anstrengung, noch  einmal,  noch  ein  einziges  Mal  aufzustehen,  ohne  Grund.  Dafür,  sitzen  zu  bleiben  und  zu  starren,  gab  es  eine  Wucht  von  Gründen,  die  in  eine  einzige  Schwere  münden.  Die  Schwere  will  den  Ausschlag  geben.  Es  tut  weh,  ihr  Gebot  zurückzuweisen.  Heute  keine  abstrakte,  grundlose  Aufstehbewegung.  Heute  blieb  er  sitzen.  Er  hatte  nicht  umgetauscht. Die Dollars waren gerettet. Vor ihm das Tele phon.  Er  konnte  in  jeder  Sekunde  Chapel  Hill  anrufen.  Vierzehn Tage Wartefrist. Sich so etwas zu befehlen! Er sollte  sich  lieber  befehlen,  sofort  aufzustehen,  in  die  Stadt  zu  rennen, und mitten in der Stadt sollte er zum Erstaunen der  Leute anfangen zu reden. Laut. Überlaut. Je lauter er redete,  desto  glaubhafter  würde  er  sein.  Schreien  mußte  er,  dann  war  er  glaubhaft.  Glaubwürdig.  Aber  bitte,  das  Wichtigste,  Dr. Matusaka: Einen Ton tiefer! Vielleicht würden ihn in den  ersten Sekunden ein paar für übergeschnappt halten. Stehen  bleiben würden ein paar. Die Leute bleiben ja überall stehen,  wo  etwas  ihren  Alltag  ritzt.  Leute,  würde  er  rufen,  glaubt  keinem, der aus Erfahrung über das Altwerden und über das  Altsein spricht. Er lügt. Keiner kann über das Altwerden und  über  das  Altsein  die  Wahrheit  sagen.  Jeder  würde  sich  genieren, etwas so Ekelhaftes, Erbärmliches in den Mund zu  nehmen.  Glaubt  keinem!  Auch  ihm  nicht!  Und  würde  an  seine  Kopfwarze  am  Haaransatz  greifen,  und  die  würde  bluten,  und  er  würde  den  Leuten  seine  blutigen  Finger  hinhalten.  Dann  würde  er  sich umdrehen  und  unaufhaltbar  gehen.  Und  würde  an  Gottes  Kapitän  mit  der  schief  sitzen den Mütze denken, der bis zum nächsten Mittwoch 780 000  Dollar  gebraucht  und  gekriegt  hatte.  In  Gottes  eigenem  Land. Dahin wollte er. Und Paul Schatz wartet, erwartet, daß  die  vierte  Frau  stirbt,  steht  auf,  fällt  um,  ist  tot.  Na  ja.  Da  mußte  man  doch  an  den  Allerweltsspruch  des  begnadeten  Maklers  denken,  mit  dem  er  jedem  Interessenten  den  Hauskauf  förmlich  befohlen  hatte:  Man  lebt  bloß  einmal.  Echt Schatz, stirbt nicht im Bett, will nicht, darf nicht im Bett  gestorben sein, steht noch ganz schnell auf, daß er dann tot  umfallen  kann.  Am  liebsten  hätte  sich  Gottlieb  über  die  Todesnachricht gefreut. Aber das darf man ja nicht. Du bist  durch  und  durch  zahm.  Gesteh  dir  doch  endlich,  daß  dich  Schlimmes  freut.  Negatives.  Nur  noch  Negatives,  Belei digendes,  Herabsetzendes,  Bösartiges,  Vernichtendes.  Dein  Kreislauf, die Säfte, sobald du dich etwas Wüstem hingibst,  löst  sich  in  dir  etwas  Verkrampftes,  Hartes.  Endlich  begriff  er,  warum  Bösartiges  so  beliebt  ist:  Sobald  er  auf  etwas  Lobendes,  gar  Preisendes  stieß,  konnte  er  nicht  weiterlesen,  sein Magen drehte sich um, wenn er las, daß jemand noch et was  gut  fand.  Und  konnte  das  lobende  Zeug  doch  nicht  einfach weit von sich werfen. Er mußte weiterlesen, obwohl  es  ihm  von  Satz  zu  Satz  schlechter  ging,  aber  aufhören  konnte er erst, wenn er sich dem Ersticken nahe fühlte, dann  erst  konnte  er  die  Lobhudelei  fallen  lassen,  zum  Fenster  rennen,  das  Fenster  aufreißen,  eine  ungemessene  Zeit  lang  am offenen Fenster stehen, fähig nur noch zu einem einzigen  Gedanken: Ich bin froh, in einer Zeit zu leben, in der es noch  Fenster gibt, die man öffnen kann. Da er aber so positiv nicht  enden konnte, mußte er weiterdenken: Bald wird es nur noch  Fenster geben, die man nicht mehr öffnen kann. Und warum  freute  ihn  das  nicht,  daß  alles  immer  schlimmer  wird?  Er  müßte  sich  doch  wohlfühlen,  wenn  alles  immer  schlimmer  würde. Fühlte er sich wohl? Jetzt verhör dich doch nicht so,  bloß, weil der Schatz tot umgefallen ist. Mensch, Gottlieb. 
 
 
 
3. 
 
 
Sieben solche Tage und Nächte hatte Gottlieb hinter sich. Am  achten  seiner  vierzehn  Tage  konnte  Gottlieb,  als  er  auf wachte, die Augen nicht öffnen. Alles, was er sehen würde,  würde weh tun. Das wußte er. Nichts mehr sehen, bitte. Nie  mehr. Das Leben ist eine offene Wunde. Gerade hatte er noch  geträumt, er liege auf einem Platz mitten  in der Stadt, habe  die  Finger  beider  Hände  in  einander  verschränkt,  versuche,  die  in  einander  verhakten  Finger  zu  lösen,  er  würde  keine  Luft mehr kriegen, wenn es ihm nicht gelänge, die Finger zu  lösen, die Leute gingen links und rechts an ihm vorbei, sahen  nicht,  daß  er  am  Ersticken  war,  daß  sie  zugreifen  sollten,  seine Hände auseinanderreißen, sie taten¹s nicht, er erstickte  beziehungsweise erwachte. An Atemnot. Irgendwann zwang  er sich, die Augen zu öffnen, und stand sogar auf. Anna war  schon wieder auf Tour. Sie hatte ein Blatt hinterlassen: Jetzt  lies doch endlich einmal den MagdaBrief. Der lag daneben. 
Die Überschrift: Meinen Eltern. 
Ich  möchte  euch  besuchen.  Ich  habe  per  Internet  gebucht.  Da ich das Häkchen schnelle Verbindungen nicht rechtzeitig  entfernte, tauchten die billigeren Angebote auf. RE (Eilzug).  Das heißt: statt 47 € nur 38 €. Und es dauert nur eine Stunde  länger.  6½  Stunden.  4mal  umsteigen  (Nürnberg,  Augsburg,  Buchloe,  Lindau).  Mit  Kreditkarte  gebucht.  Für  das  Online Ticket  brauchte  ich  noch  eine  Zusatzzahl  zur  Kreditkarten nummer. Dann hatte ich das Ticket in meinen Händen, eine  Seite  voller  Daten  und  Nummern.  Bei  der  Fahrt  muß  die  Kreditkarte  mitgeführt  werden,  sonst  gilt  das  Ticket  nicht.  Der Schaffner muß alle Zahlen in sein Lesegerät scannen, zur  Kontrolle.  Aber  im  Chor  hat  doch  eine  von  einem  Bayern Ticket  geredet.  Bis  Lindau  müßte  das  gehen.  Und  es  ging.  Nur  die  Abreise  eine  Stunde  später.  Das  BayernTicket  gilt  erst  ab  9.  Das  OnlineTicket  stornierte  ich.  Am  nächsten  Morgen per email: die 38 € sind wieder auf meinem Konto.  Jetzt also das BayernTicket für 21 €. Und LindauÜberlingen  dann noch für ein paar Euro mehr. Das BayernTicket gibt es  nur  per  Post.  Wenn  es  am  Donnerstag  eintrifft,  bin  ich  am  Freitag  bei  euch.  Mit  zweimal  Bus  werden  es  7  öffentliche  Verkehrsmittel, dauert 7½ Stunden und kostet keine 30 Euro.  Darauf freut sich eure Magda. 
Als Gottlieb das gelesen hatte, wußte er wieder, daß Magda  ihn  unter  allen  Umständen  verstehen  würde.  Nur  Magda  würde  ihn  verstehen.  Es  ging  nicht  um  Billigung  oder  gar  Zustimmung, sondern um Verständnis. Magda würde nicht  urteilen.  Sie  ließ  einen  andauernd  spüren,  daß  man  es  ihr  nicht  recht  machen  müsse.  Nicht  recht  machen  dürfe.  Sie  begegnete  einem  in  einer  feierlichen  Anspruchslosigkeit.  Nicht nur ihm, allen. Aller Welt wahrscheinlich. 
Er  wußte,  er  konnte  gehen.  Die  kamen  ohne  ihn  aus.  Die  hatten ihren Halt. Gut, Anna, die ungern rechnete, hatte ihm  noch  als  Hausaufgabe  hingelegt,  daß  er  umrechnen  sollte,  wieviel 190 qm bei Dachschräge auf DIN ergäben. Er schrieb¹s  dazu:  154  qm.  Und  rief  noch  am  selben  Tag  in  Chapel  Hill  an.  Und  hörte  zu:  All  international  circuits  to  the  country  you  are  calling  are  busy  now,  will  you  please  try  your  call  later. Wie oft würde er das noch schaffen, sich aufzuraffen zu  diesem Anruf? 
Schon  am  nächsten  Tag  konnte  er  sich  so  konzentrieren,  daß  der  Anruf  noch  einmal  möglich  wurde.  Und  er  kam  hinüber,  kam  nach  Chapel  Hill,  aber  Chapel  Hill  meldete:  We are sorry, you have reached a number that IS no longer in  Service. Gleich noch einmal. The number you are calling ist  not in Service at this time... Das war atemraubend. Das war,  als  wäre  er  viel  zu  schnell  bergauf  gerannt.  Es  dauerte  längere  Zeit,  bis  er  aus  dem  Japsen  herauskam  und  ihm  wieder ein Atmen gelang, ein Durchatmen. Daß ihm das so  den Kreislauf zerschlug, erschütterte ihn. Er hatte gedacht, er  sei  Herr  des  Verfahrens,  er  könne  planen,  entscheiden  und  auf alles mögliche halbwegs klug und gefaßt reagieren. Und  jetzt  erlebte  er  sich  in  reiner  Atemnot!  The  number  you  are  calling is not in Service at this time ... 
Er mußte an diesem Abend trinken. Calvados. Mehr Calva dos  als  Anna  trank  er.  Zusammen  tranken  sie  eine  Flasche  Calvados. Anna sagte: Unglaublich. Er sagte: Ich weiß. Aber,  sagte  er,  er  sei  in  einer  Not,  die  er  Anna  nicht  enthüllen  könne. Er bat sie heftig, nicht nachzufragen, um welche Art  Not  es  sich  handle.  Eine  Gesundheitsnot  sei  es  keinesfalls.  Bitte,  Anna,  verschieb  alle  Fragen  auf  später.  Er  wird¹s  überleben. Dann ... nicht wahr. Annas Augen waren wieder  das  Meer.  Es  war  in  diesen  Augen  keine  Willensäußerung  sichtbar oder spürbar. Der reine Blick. Annas reiner Blick. Er  sagte:  Anna,  ich  bin  dir  dankbar,  wie  ich  dir  noch  nie  dankbar  war.  Sie  sagte  eben  nicht:  Warum  dankbar,  sie  sah  ihn nur an. Empfing ihn, wie einen nur das Meer empfangen  kann. Du spielst keine Rolle. Das tut gut. Es gibt dich nicht.  Das hilft. 
Den  Anruf  am  nächsten  Tag  zu  wiederholen  wagte  er  nicht. Aber es gelang ihm, in Port of Spain das Tourist Office  anzurufen.  Madelon  Pierpoint?  Nein.  Jemand,  der  so  heißt,  arbeitet  hier  nicht.  Danke.  Wieder  die  Atemknappheit.  Plus  Schweißausbruch diesmal. Er mußte aus dem Haus. Er ging,  rannte fast, nur weg von Anna. Er konnte sich ihr jetzt nicht  mehr  aussetzen.  In  ihm  stürmten  SanFranciscoBerkeley  und ChapelHillBilder durcheinander. Er konnte sich dieses  Ende  nicht  gefallen  lassen.  Vielleicht  war  er  drüben  sogar  nötig.  BeateJulietteThemire!  Er  könnte  jetzt  zusagen  für  immer. Es war durchgespielt. Eine bestimmtere Bestimmtheit  gab  es  nie.  Sie,  einmal  am  Telephon:  Sie  habe  die  ganze  Nacht  nicht  geschlafen  vor  Wollen  und  Nichtdürfen.  Er  mußte  hinüber.  Die  Dollars  waren  noch  nicht  zurückge wechselt. Bravo! Bravo! Bravo! Anna brachte sich durch. Die  Töchter  brachten  sich  beziehungsweise  ihre  Männer  durch.  Er wird sich durchbringen zusammen mit ihr. Sie wird ihre  Diss  schreiben.  Er  kann  helfen.  Mach  mich  zu  deiner  Frau,  dann  schürft  mich  Lizard¹s  Lächeln  nicht  mehr.  Hatte  sie  gesagt.  In  einem  der  drei  Zimmer,  in  denen  sie  waren.  Sobald die Diss durch ist, beginnt das Leben, von dem sie in  ihren  drei  Zimmern  geredet  haben.  Nächtelang  haben  sie  geredet.  Die  Diss  geschmissen,  auf  die  Diss  geschissen.  Das  wird  widerrufen.  Was  kann  sie  getan  haben?  Wo  kann  sie  sein? Nie mehr. Hat sie gesagt. Hat es sich versprochen. Das  heißt, er kann sich ihr in den Weg werfen. Wohin kann sie in  aller  Panik  geflohen  sein?  Mr.  Hardy  anrufen?  Niemals.  Professor  Rosenne?  Niemals.  Er  muß  hinüber.  In  der  Ab teilung wird  sie  hinterlassen  haben,  wo  sie  ist.  Sie  hat  doch  noch ihre Klasse. Er muß hin. Sie ist zu einer Freundin. Nein,  sie ist bei diesem Jeffrey, dem Ängstlichen, der feudal wohnt,  dem sie die Asche seines Vaters auf dem Green ausgestreut  hat. Der hat sie aufgenommen. Wahrscheinlich sogar keusch.  Aber einen Nachnamen hat sie nie gesagt. 
So  rannte  Gottlieb  durch  die  Wälder.  Saß  dann  vor  Anna.  Verfluchte  die  Evolution,  die  aus  jedem  einen  Geheimnis träger macht. Dieser Menschenpfusch. Da hockt man vor ein ander  und  keiner  sieht  in  den  anderen  hinein.  Read  my  mind, please. Anna, siehst du nicht, daß ich ununterbrochen,  so  gut  wie  ununterbrochen,  nur  an  Beate  denken  kann.  Sie  beherrscht mich. Anna. 
Aber  da  er  ihr  nicht  sagen  konnte,  wie  es  in  ihm  zuging,  und  da  sie  nicht  in  ihn  hineinsehen  konnte,  saßen  sie  ein ander  gegenüber,  stumm,  leidend.  Allein  jeder,  aber  zu sammen  für  immer.  War  das  das  Gesetz?  Oder  das  Leben?  Ihr  Leben?  Kein  Tier  würde  sich  mit  einer  so  miesen  Kom munikation  abfinden.  Ein  Tier  würde  aussterben  oder  sich  entwickeln. Annas Augen zeigten weder Geduld noch Unge duld.  Annas  Augen  sind  das  Höchstmögliche.  Aber  diese  Augen  sahen  nichts,  das  waren  Augen  zum  Angeschaut werden, nicht zum Schauen. Oder wußte, fühlte, merkte, sah  sie  alles  und  wartete  auf  eine  alles  überschwemmende  Wörterflut?  Menschenpfusch,  Oder  war  nur  er  verpfuscht  und  alle  anderen  waren  fein  heraus,  lebten  mit  einander  in  vollkommener  Offenheit  und  erledigten  jede  allenfalls  auf tauchende, sich bilden wollende Störung durch glimpfliches  Verbalisieren?  Die  Bibel,  Denn  der  Mensch  sieht  auf  das,  was  vor  Augen  ist,  beutet  diesen  Evolutionspfusch  schamlos  aus.      1. Samuel 16: Der HERR sieht auf das Herz. 
Seit  er  wußte,  daß  er  wieder  hinüber  mußte,  seit  sich  die  ThemireTagundNachtbilder  in  ihm  schärften  und  ihm  seine  Lebensversäumnisse  vorexerzierten,  wollte  er  Anna  etwas  melden,  was  er  in  Amerika  in  der  Zeitung  gelesen  hatte.  Eine  Liebesgeschichte.  Die  reinste  Liebesgeschichte  überhaupt.  Eine  Begebenheit,  die  alle  erfundenen  und  pas sierten Liebesbegebenheiten übertraf. Übertraf an Liebe. Eine  May  Hyatt  lag  seit  sechs  Jahren  bewußtlos  im  Pflegeheim.  Der  Verwaltungsangestellte  Mr.  Hyatt  besuchte  seine  Frau  zweimal in der Woche. Bei einem solchen Besuch erschoß er  seine Frau mit einer Pistole, danach tötete er sich durch einen  Kopfschuß.  Was  würde  Anna  dazu  sagen?  Könnte  sie  das,  wie er, für die reine Liebe halten? Und wo ist das Denkmal  für  John  und  May  Hyatt?  Es  müßte  das  höchsteschönste innigste  Denkmal  der  Welt  sein.  Das  Denkmal  für  den  einzigen Menschen, der je geliebt hat. 
Gottlieb hatte Angst. Nachts fühlte sich seine Angst an wie  eine große Geschwindigkeit, die einem den Atem verschlägt.  Möglich, daß Anna nichts wußte von dem, was in ihm tobte.  Ja,  tobte.  Selbst  wenn  Anna  alles  wüßte,  wüßte  sie  nichts.  Aber gestern kam sie, blieb in der Türöffnung stehen, bis er  zugab, daß er sie bemerkt hatte, hielt ihm beide Hände hin,  in jeder Hand eine Kammhälfte. Er mußte ergänzen: Ihr war  beim  Kämmen  der  Kamm  gebrochen.  Aber  weil  er  nichts  sagte,  mußte  sie  sagen,  was  er  hätte  sagen  sollen.  Was  bedeutet  das?  Sagte  sie.  Und  er  hatte  nur  das  Gesicht  verziehen  können,  eine  Schmerzgrimasse  produzieren.  Er  konnte  einfach  nicht  sagen,  was  sie,  ohne  daß  er  es  sagte,  wissen  mußte.  Und  das,  was  er  nicht  sagen  konnte,  wuchs  und wurde je länger um so unaussprechbarer. 
Aber  auch  wenn  er  Mr.  Hyatt  wäre,  Anna  war  nicht  be wußtlos.  Er  hatte  Angst.  Und  es  ewig  auf  den  Evolutions pfusch schieben, half auch nichts. Er hatte Angst. Innen und  außen,  so  unvereinbar  wie  noch  nie.  Er  konnte  nicht  mehr  liegen.  Wie  er  sich  auch  zu  legen  versuchte,  es  gelang  kein  Liegenbleiben. Also stand er nachts auf, ging hinunter, setzte  sich  in  seinen  Schreibtischstuhl  und  starrte.  Wenn  die  Unmöglichkeiten  zu  grell  wurden,  flüchtete  er  aufs  Papier.  Das tat er auch jetzt. So schrieb er sich hin: 
 
Morgen geh ich, fahr ich, 
morgen bin ich nicht mehr,                      wenn gefragt wird, ob ich,                        bin ich nicht mehr,                                  falls gefragt wird, hier.                              
Dann  kam  der  Brief.  Es  gibt  noch  schöne  deutsche  Wörter,  auch  neuere.  Luftpost.  Und  wenn  sie  dann  auch  noch  aus  Chapel Hill kommt. Einen schöneren Ortsnamen als Chapel  Hill kann es nicht geben. Er flog dem Luftpostbrief entgegen,  riß das Kuvert auf, spürte schon den Inhalt, kein Briefpapier,  ein festlicher goldgeränderter Karton: 
 
We were married
 
on April 23, 2001. 
 
Beate J. Gutbrod
 
and                                                                                        Dr. Rick W. Hardy 
 
 
4. 
 
 
Der  See  machte  auf  sich  aufmerksam.  Er  rauschte.  Zu dringlich  laut,  als  wolle  er  unüberhörbar  sein.  Man  schaut  hinunter und sieht ihn, wie er heftig vorbeischiebt, als wäre  er  ein  Fluß.  Von  Westen  nach  Osten  schob  er  heute  seine  grellgrünen  Massen.  Seine  in  der  Sonne  gleißenden  Wellen.  Grüngold gleißend. Und immer wieder weiß brechend. Das  sagte dem Segler, daß der Wind auf Stärke fünf zuging. 
Gottlieb schaute von der Terrasse aus zu. Er hatte sich auf  den  Platz  der  Besucherin  gesetzt.  Dolphins  mating,  dachte  Gottlieb.  Und  rannte  hinunter.  Von  weit  draußen  hörte  er  Segel knattern, bevor sie beim Wenden Wind faßten und in  die  neue  Richtung  schlugen.  Ohne  diese  Signale  der  brau senden  Bäume  und  des  im  Aprilsturm  rauschenden  Sees  wäre er wahrscheinlich nicht hinuntergerannt. 
Der Wind hat für Bläue gesorgt, die Sonne prahlt, als habe  sie das geschafft. Und jagt den Mond vom Himmel. 
Gottlieb  hörte  dem  nichtssagenden  Rauschen  zu.  Und  fühlte  sich  informiert.  Brausender,  gleißender  Apriltag.  Weder  warm  noch  kalt.  Nur  brausend. NIOBE  steckte  noch  in  ihren  Winterhüllen.  Er  befreite  sie,  räumte  das  ange schwemmte  Holz  vom  Schienenweg,  dann  ging  er  hinauf,  zog sich um, kochte, Zucchini indisch, wartete auf Anna. Sie  aßen so stumm, wie das üblich war. Seine Zucchini lobte sie.  Zum  Kaffee  servierte  er  ihr  Calvados,  aber  sich  auch.  Anna  staunte und sagte: Unglaublich. Was? Fragte er. Was dir alles  einfällt.  Sie  wies  auf  seine  Segelkleidung.  Wenn  du  dich  beeilst, darfst du mit, sagte er. Schau doch, und wies hin auf  Wind,  Wellen,  Glanz  und  Brausen.  Oder  ob  sie  heute  nachmittag  nicht  frei  nehmen  könne?  Dann  müsse  er  allein  starten. Wäre aber schade. Das Wetter reicht für zwei, sagte  er. Also, sagte er, höchste Zeit. Komm oder komm nicht. Daß  er, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat, hastig wurde,  war  sie  gewohnt.  Das  rechnete  sie  zu  seinen  unbehebbaren  Kindlichkeiten. Er will etwas, dann aber gleich. 
Auf der NIOBE begrüßte er sie dann wie immer, das heißt,  so  wie  der  Kapitän  eines  Transatlantikkurses  die  an  Bord  gekommenen Gäste begrüßt. 
Da  fiel  ihm  ein:  Er  hatte  die  Schwimmwesten  vergessen.  Also hinauf ins Haus und in den Keller und zurück. Er warf  die Westen Anna zu, daß sie sie verstaue. Er löste die Leinen,  mit  denen  der  Bootswagen  vertäut  war,  ließ  die NIOBE  auf  dem  Wagen  ins  Wasser  gleiten,  bis  sie  sich  vom  Wagen  abhob  und  schwamm.  Wie  beim  Stapellauf.  Anna  hatte  immer  noch  die  Schwimmwesten  in  den  Händen,  als  habe  sie vergessen, wo die zu verstauen seien. Er rief ihr zu: In der  Kajüte! Sie rief zurück: Sie könne erst in die Kajüte, wenn sie  draußen  seien.  Er  rief  zurück:  Platzangst,  ja!  Da  er  schon  dabei war, das Großsegel hochzuziehen und der Wind sofort  in das noch nicht belegte Segel schlug, hatte Anna wohl nicht  verstanden,  was  er  gesagt  hatte.  Aber  bei  den  Sätzen,  die  gewöhnlich  zwischen  Eheleuten  hin  und  hergehen,  fragt  man,  wenn  man  einmal  einen  Satz  nicht  verstanden  hat,  nicht  nach.  Es  wird  sich  schon  nicht  um  etwas  Wichtiges  gehandelt haben. 
  NIOBE  war  luvgierig.  Gottlieb  auch.  Diese  Seglerillusion,  daß du nicht nur hin und her geworfen wirst, sondern durch  kundige  Vermittlung  zwischen  Wind,  Segel  und  Ruder  selber  bestimmen  kannst,  wohin  du  mit  diesem  und  jenem  Wind zu kommen gedenkst. Sie schossen hinaus. 
   Anna  sah,  daß  sie  gebraucht  wurde.  Gottlieb  warf  ihr  die  Vorschot  zu.  Dann  aber  ließ  der  gerade  noch  zupackende  Wind  plötzlich  nach,  als  habe  er  es  sich  anders  überlegt.  Weithin  schlafften  die  geblähten  Segel  ab,  die  Boote  tau melten in die Windstille. Gottlieb hatte in der Tasche, die er  mit aufs Boot nahm, immer ein Buch. Mit plötzlichen Flauten  war hier zu rechnen. Gottlieb nannte dieses Aufbrausen und  dann gleich wieder Abflauen die pubertäre Macke des Sees.  Er gehörte nicht zu den Seglern, die dann auf dem Vordeck  liegen und dösen. In L¹Homme Machine gab es eine Stelle über  Pascal.  An  die  hatte  er  gedacht,  als  er  den  Luftpostbrief  geöffnet  gehabt  hatte.  Die  hatte  er  herausgesucht,  um  sie  vorerst  immer  dabei  zu  haben.  Auch  an  Bord.  Gerade  an  Bord.  Die  brauchte  er  jetzt.  La  Mettrie  hatte,  was  Gottlieb  brauchte,  in  einer  Fußnote  untergebracht.  Er  fand  die  Stelle  beim Durchblättern sehr schnell. Anna lag auf dem Vordeck  und döste. Gottlieb las, was La Mettrie über Pascal meldete: 

Wenn  man redend herumsaß oder beim Essen, mußte er links von  sich  immer  einen  Schutzwall  aus  Stühlen  oder  einen  Nachbarn  haben, nur daß er nicht in die entsetzlichen Abgründe sehe, in die  zu stürzen er immer wieder befürchten mußte, wohl wissend, daß  das Einbildungen waren. Gottlieb fühlte, wie Pascal ihn anzog.  Er war La Mettrie dankbar für diese Mitteilung. Und merkte,  daß Pascal ihn in  diesem Augenblick ganz und gar  wegzog  von  La  Mettrie.  Daß  Pascal  Stühle  oder  Menschen  oder  Stühle  und  Menschen  brauchte,  du  côté  gauche  brauchte  er  die,  pour  l¹empêcher  de  voir  des  Abîmes  épouvantables  dans  lesquels  il  craignoit  quelque  fois  de  tomber!  Gottlieb  fühlte  sich  entdeckt. Von Pascal. 
 
Das  Wetter  wollte  seine  souveräne  Launenhaftigkeit  de monstrieren,  schickte  eine  Mütze  voll  Wind,  mit  der  heim zukommen  war.  Als  sie  auf  der  schattigen  Terrasse  ihren  Kaffee  tranken,  und  zwar  ohne  Calvados,  sagte  Gottlieb,  er  möchte  Anna  jetzt  gern  das SIE  anbieten.  Und  sagte  gleich  dazu, daß Anna jetzt, bitte, nicht mit Unbelievable reagieren  sollte. Sie sollte, sagte er, so tun, als könne sie sein Angebot  ernst  nehmen.  Vielleicht  könnten  sie  einander  ja  kennen lernen. Anna bot ihren unergründlichen Blick an und sagte:  Herr  Zürn  oder  Herr  Krall,  wie  hätten  Sie¹s  gern?  Gottlieb  sagte:  In  welche  Sauce  wir  den  Daumen,  den  wir  lutschen  müssen,  vorher  tunken,  ist  egal.  Oder  nicht?  Und  Anna:  Es  gibt  nichts,  wofür  man  nicht  bestraft  werden  kann.  Und  Gottlieb:  Aber  die  Möglichkeiten  klirren.  Und  Anna:  Wenn  Sie so wollen. Und Gottlieb: Ich will.