Kehre
I.
Der Friseur sagte: Darf ich
Ihnen das anreichen? Und hielt
ihm, nach dem Haarewaschen, ein kleines Handtüchlein hin,
womit er sich die Augen auswischen konnte, falls Shampoo
hineingekommen sein sollte. Gottlieb sprang nicht auf, erhob
sich aber doch sehr plötzlich,
legte das Geld auf den
Kassentisch und ging. Gerade, daß er noch die umgehängten
Tücher loswerden konnte. Was es zur Zeit kostete, wußte er.
Seit fünfundzwanzig Jahren kam er in dieses Geschäft. Aber
jetzt nicht mehr. Nie mehr.
Darf ich Ihnen das anreichen.
Hatte der das fünfundzwanzig Jahre
lang gesagt, und
Gottlieb war dieser Satz fünfundzwanzig Jahre lang nicht auf
die Nerven gegangen? Dann war
es höchste Zeit, daß er
reagierte.
Sobald er draußen war, rannte er. Er hatte Angst, er könne umkehren und sich bei seinem Friseur, der ja wahrhaft sein Friseur war, entschuldigen. Anna sagte er nichts von dem plötzlichen Aufbruch im Friseurgeschäft. Was der Friseur über ihn dachte, durfte ihn nicht kümmern. In ihm breitete sich eine Art Zufriedenheit aus: Er hatte getan, was er wollte. Er hatte sich einmal nicht mehr ganz beherrscht. Er fühlte sich fast wie in der Badewanne. In der er nie lag, weil er von Anfang an nicht baden, sondern nur duschen gelernt hatte. Alles falsch sehen, das wollte er. Das wollte er dürfen. Keiner Erwartung entsprechen.
Schluß mit entsprechen. Don¹t rise to the occasion. Und gestand sich jetzt doch ein, daß der cholerische Anfall nicht vom Friseur provoziert worden war und nicht dem Friseur gegolten hatte. Sein Spiegelbild war es. Er hielt sein Spiegel bild nicht mehr aus. Eine halbe Stunde dieser Fratze ausgesetzt zu sein −, das war unzumutbar. Was die Jahre in seinem Gesicht angerichtet hatten, das mußte er nicht auch noch anschauen. Dreißig Minuten, achtzehnhundert Sekun den lang, präsentiert von einem kristallscharfen, alles entblößenden Friseurspiegel. Er mußte einen Friseur finden, der ihm die Haare vor einem verhängten Spiegel schnitt. Basta.
Als er noch fünfzig Meter von zu Hause entfernt war, überholte ihn Anna. Sie fuhr winkend vorbei, ließ das Ga ragentor offen, war glücklich, weil der Rechtsanwalt aus Göppingen jetzt endlich den Vorvertrag für das Bauernhaus in Wintersulgen unterschrieben hatte. Und das vielleicht nur, weil sie ihm für seine Analthrombose zu einer Blutegelsalbe geraten hatte, und die hatte inzwischen gewirkt, der Kunde ist geheilt.
Gottlieb schaute zu, wie sie Pflänzchen auspackte, die sie für ihren Kräutergarten gekauft hatte. Wollte er gesund sein? Solange er gesund war, bezweifelte er das. Er langte an die Warze, die er im Nacken am Haaransatz hatte, besah seine Fingerspitze, sie war blutig. Er langte noch einmal hin. Seine Warze blutete. Zum Glück war Anna mit ihren Kräutern beschäftigt. Dr. Matusaka hatte gesagt, für die Lähmung könne ein Bronchialkrebs in Frage kommen. Aber seine Stimme war vollkommen gesund. Der Doktor hatte Gottlieb geraten, einen halben Ton tiefer zu sprechen, als er es gewohnt war. Es sei am Anfang ein bißchen beschwerlich, tiefer zu sprechen, als man es gewohnt sei, aber man könne das zur Natur werden lassen. Gottlieb hatte den einzigen Rat des japanischen Arztes, den er befolgen wollte, vergessen gehabt. Und es tat sofort gut, tiefer zu sprechen. Es ent spannte, verlangsamte. Anna merkte es gleich. Er klärte sie auf. Ihr leuchtete diese Umstellung sofort ein. Jetzt konnte Gottlieb den japanischen Arzt ausführlich loben. Sie werde Gottlieb kontrollieren und ihn sofort darauf hinweisen, wenn er wieder einen halben Ton in die Höhe rutsche. Gar nicht genug wundern konnte sie sich darüber, daß ihr bisher noch nie in den Sinn gekommen sei, Stimmbandprobleme durch Tiefersprechen zu behandeln. Und führte ihn auf die Terrasse. Zur Sonnenblume. Die hält sich, sagte Anna. Anna wollte also über die Sonnenblume auf die Spenderin kommen. Gottlieb sagte: Unglaublich. Anna sagte: Ein Blu menwunder. Und Gottlieb: Deine Pflege.
Anna sagte, die Blume stehe noch genau da, wo sie am Tag des Besuches hingestellt worden sei. Anna habe das Wasser nicht gewechselt. Vielleicht sei die Blume mit einem Gift behandelt worden, das jede Art von Biologie verhindere.
Du hast sie ersetzt. Das ist nicht die Sonnenblume, die die Besucherin gebracht hat. Er habe sich im ersten Augenblick verblüffen lassen, jetzt sehe er, daß es gar nicht die selbe Sonnenblume sei.
Und Anna: Es ist die selbe, ich schwör¹s.Und Gottlieb: Aber sie
hat jetzt ein anderes Gesicht,
eine andere Stimmung.
Das habe sie auch bemerkt,
sagte Anna. Sie führe das auf
das zurück, was die Spenderin erlebt habe oder jetzt erlebe.
Wie, findet Gottlieb, sieht die Sonnenblume jetzt aus?
Vorher war es, sagte Gottlieb,
eine runde dunkle Uner
gründlichkeit, vollkommen beschirmt von einem makellosen
gelben Blätterkreis. Sie sah aus,
als wisse sie, daß man, sie
anschauend, nichts mehr wollen könne, als sie anzuschauen.
Sie hatte sozusagen alles Selbstbewußtsein der Welt.
Und jetzt, fragte Anna.
Sie ist verstört, zerstört. Die Blätter stehen so, als wolle kein
Blatt mit dem nächsten Blatt noch irgendetwas zu tun haben.
Jedes sträubt sich gegen jedes.
Das dunkle Rund, löchrig, verwüstet.
Er wundere sich nur noch
darüber, daß er das
nicht sofort gesehen habe.
Das Sehen braucht mehr Zeit als
das Hören, sagte Anna. Durch
das Hinschauen verändert sich das
Angeschaute
andauernd. Der Sehende produziert das Gesehene. Mehr als
der Hörer das Gehörte.
Gottlieb sagte: Unglaublich.
Und Anna: Was?
Und Gottlieb: Du.
Anna nahm den Krug mit der
Sonnenblume und trug ihn
hinaus. In den Garten. Als sie zurückkam, machte sie durch
eine Geste deutlich, daß Gottlieb
nicht fragen sollte. Man
nennt das Entsorgung, sagte sie.
Als sie beide im Haus waren,
läutete das Telephon. Anna
machte pantomimisch klar, daß Gottlieb den Telephondienst
wieder zu übernehmen habe. Gottlieb
meldete sich. Es war
der vom Kamingeschäft. Als erstes sagte er: Sind Sie krank?
Gottlieb sagte: Nicht daß ich wüßte. Der mußte zuerst noch
bemerken, daß Herrn Dr. Zürns
Stimme zuerst geklungen habe, als
sei Herr Dr. Zürn krank. Ja,
also, ob sich Zürns
entschieden hätten, welches Kamingitter sie nehmen wollten.
Ja, sie haben. Sie nehmen das höhere. Das freute den. Er läßt
es noch heute nachmittag einbauen.
Anna schüttelte den Kopf so
schwer und so langsam, wie man
ihn schüttelt, wenn man etwas
überhaupt nicht mehr versteht.
Gottlieb fragte nach. Aber Anna
sagte: Laß nur. Gottlieb fragte,
was er lassen solle. Anna war
deutlich bemüht, jetzt nichts
Trennendes entstehen zu lassen. Sie
seien doch endlich wieder eines
Sinnes, was sollen da die
Bagatellen. Und kam zu ihm hin
und legte ihm die Hände um
den Hals. Und weil er spürte,
dass sie sich anstrengen mußte,
freundlich zu sein, mußte er
fragen. Da brach es förmlich
aus ihr heraus: Du hättest nach
dem Preis fragen
sollen. Kein Mensch bestellt eine Ware, ohne nach dem Preis
zu fragen. Jetzt kann er verlangen, was er will. Sie war laut
geworden, er erinnerte sie daran, daß sie einmal gesagt hatte,
ihr mache es nichts aus,
angeschrieen zu werden, aber so
angeschrieen zu werden, daß es die Nachbarn hörten, ertrage
sie nicht. Darauf sie: So laut sei sie nicht gewesen. Einen so
laut anschreien, daß die Nachbarn es hörten, das schaffe nur
er.
Als sie abends auf der Terrasse
saßen und Gottlieb einen
Karton ins Kaminfeuer warf, protestierte sie. Warum? Karton
gibt eine andere Asche. Na und? Sie: Die fliegt herum beim
leisesten Windhauch. Gottlieb mußte
sagen, daß aber kein
Windhauch zu spüren sei. Dann beherrschten sich beide.
Im Bett lud er Anna ein,
mit ihm die Annehmlichkeit des
Erlaubten zu feiern, die Wärme
der Legitimität, die Unver schämtheit
des Aufeinanderangewiesenseins, die Erweck
barkeit alles gemeinsam Gehabten, die Fülle der Erinnerung
als ein Schutz und Schirm gegen
alle Gemeinheiten der Gegenwart. Ein
nichts auslassendes Gefühl. Wie
immer, wenn mehr als Wiederholung
gefragt ist, spielte Wieder holung
eine große Rolle. Anna würzte
mit Details. Ihre Paradegeschichte,
der Herr der fünf Ausschüttungen,
zwei davon schon in der
Annäherung. Das sagte sie so
neu, als
habe sie es noch nie gesagt. Das war die Paradeseite aus der
vergilbenden Ehechronik. Unvorstellbar, daß
sie solche Kontakte nie gehabt
hatte. Er hatte sie zurückzuholen
aus den Fängen wild auftrumpfender
Erinnerungsschweine reien. Das war ihm
immer eine ihn ganz und gar
aufpeitschende Beschäftigung. Annas
unbestreitbare Gegen wart und Anwesenheit.
So wurde es doch noch ein
Fest.
Niemand weiß so genau wie Anna, was für ihn schön ist. Mit
Kunst erzeugt sie Natur. Und sie weiß selber nicht mehr, daß
sie ihm etwas zuliebe tut. Die Freude, ihm etwas zuliebe zu
tun, reißt sie so hin, daß
sie, was sie tut, nur noch
um ihretwillen tut. Mehr kann
zwischen zwei Menschen nicht
sein. Ihn steckte sie an. Er wollte sie übertreffen. Ihn eroberte
die Begierde, zu ihr noch lieber zu sein als sie zu ihm. Und
alles ohne
Calvados. Eines Tages oder eines Nachts wird er
herausbringen, ob Anna sich das
Trinken angewöhnt hatte, weil ihr
dann die Auftritte als Maklerin
leichter fielen oder damit ihr
das Miteeinanderschlafen besser gelang.
Sie war keine Alkoholikerin. Sie
selber sagte, im Calvados lebe
der Geist der Äpfel. Für sie
sei es eine Kommunion. Beates
Kommunion war ihr sicher fremd. Auch wenn er ihr einmal
alles, was ihm je passiert war, zu erzählen vermochte −, das
nicht. Äpfel waren, auch ungebrannt,
Annas Früchte. Sie könnte, sagte
sie, von Brot und Äpfeln leben.
Damit, daß Gottlieb und sie es
zu keinem Obstgarten gebracht hatten,
hatte sie sich noch nicht
abgefunden. Gottlieb wußte, eines
Tages würde sie ihn auf eine
sanft ansteigende, baumbe
standene Wiese führen und sagen: Gekauft.
Bis drei Uhr nachts hatten sie
einander hineingeredet, hineingerissen in
eine Festlichkeit, hatten, was sie
einander
taten, Feiern genannt. Er hatte alles, was er sagte, aus Annas
Augen bezogen. Er hatte ihr
gesagt, daß er es in Amerika
nicht mehr ausgehalten habe, weil
ihn ihre Augen verfolgt hätten.
Ihr Blick, der bloße Blick. Bei
anderen sei der Blick immer
gefärbt von einer augenblicklichen
Stimmung oder Absicht. Und hatte
an Beates Augenausdruck gedacht.
Traurig oder trotzig oder
träumerisch. Annas Blick aber sei
der bloße Blick. Ein dunkles
Meer. Ohne bestimmte Bedeutung. Jede
Bedeutung verweigernd. Wie das Meer
eben. Und dann hatte er ganz direkt werden und hatte sagen
müssen: Aller Brennstoff stammt aus
deinen Augen. Verführungsgerede natürlich.
Anna muß man verführen. Man muß
sie herumkriegen. Aber noch nie
hatte sie sich
selber als die prinzipiell Unbereite so theatralisch produziert
wie in dieser Nacht. Sie
herumzukriegen als märchenhafte
Aufgabe. Man kann viel falsch machen, aber man kann noch
mehr richtig machen. Jetzt auch
noch das Ältersein, das er
nicht Altsein nennen läßt. Anna hat sich eine abschließende
Tonart angewöhnt, sie nimmt vorweg, was noch gar nicht da
ist, eigentlich sieht sie aus,
wie sie immer ausgesehen hat.
Offenbar ist sie innerlich älter als äußerlich. Er weigert sich,
Alter zu gestehen. Für sich fühlt er sich älter als alt, aber er
kann sein Altsein mit niemandem
teilen. Auch nicht mit Anna.
Soll sie ihr Altsein haben und
er seins. Weil es keine
verständigungsintensivere Situation geben
kann als die des
Paars im Bett, wird eben dadurch auch die Verständigungs
armut deutlich: Die eigene Schwere
wird durch nichts so
erlebbar wie durch den Versuch, in die Luft zu springen. Wie
hätte er denn bei dem, was
Anna im Bett erlebte oder
produzierte, nicht zum Beobachter
werden können! Ihr Gesicht war
ein Film, der in dieser Nacht
uraufgeführt wurde. Das Gesicht
durchlief ein ganzes Leben. Zuerst
mädchenhaft, die Lippen schälen sich
nur zögernd von den Zähnen. Sie
scheint dagegen zu sein, daß
sie schon lächle. Aber sie will
zugewendet sein. Gunstvoll. Dann doch
teilnehmend. Dann mehr als teilnehmend. Selber tätig. Mehr
als nur mitmachend. Einerseits
hingerissen, andererseits hinreißend. Der
schönste Ehrgeiz der Welt. Siegen
wollend,
ohne es zu wissen. Dann schon frech. Lustbewußt. Scharf auf
Schamlosigkeit. Genußgierig. Und zeigend,
daß sie es sei. Dann nur
noch mitgenommen. Leidend. Mundoffen.
Die Augen rein schwarz. Sich zu
zwei Spalten verengend. Endlich eine
Konzentration aller Kraftlinien auf
der
Nasenwurzel. So entgleist hat sie noch nie ausgesehen. Sagt
sich Gottlieb. Dem Tod näher
als dem Leben. Die Zunge
zwischen den halboffenen Lippen wie
ein erlegtes Wild. Speichel trieft.
Sie ist hinüber. Und hat ihn
mitgenommen. Sie schafften es,
einander zu verfallen. Und so
lagen sie
dann. Länger. Wahrscheinlich war er vor ihr eingeschlafen.
Am nächsten Morgen eroberte sie
seine Aufmerksamkeit, bevor er recht
wach oder zu einer Besinnung
gekommen war. Er saß auf der
Terrasse, frühstückte dumpf, auf
jeden
Fall bewußtseinsfern, vor sich hin, da stand Anna, schon aus
der Stadt zurück, unter der Tür
und sagte übermütig: Du
könntest heute abend meinen Mann darstellen. Und Gottlieb
mühelos: Nichts lieber als das.
Auf welcher Bühne? Anna schwenkte
den Blumenstrauß, den sie in
der Hand hatte. Rosen, aber von
allen Farben, die bei Rosen
überhaupt vorkommen. Lissi Reinhold,
sagte Gottlieb. Bravo, sagte Anna,
Sträuße nur aus einer Sorte
Blumen, aber da in allen
Farben, das ist immer noch
Lissi Reinhold. Und was wird
gespielt, fragte Gottlieb. Sie will
mir wieder einmal etwas zuschanzen,
sagte Anna, ein Hotel, in
Konstanz. Gottlieb
sagte: Toll. Anna korrigierte streng: Lieber Mann, das war in
deiner Zeit, als ein Hotel noch
toll war. Gottlieb sagte: Daß
sie mein Schwanenhaus damals
schmählich an Kaltammer
verraten hat, kann sie ohnehin nicht mehr gutmachen.
In Lissi Reinholds Immernochsalon saß
dann tatsächlich kein tolles, sondern
eher ein kümmerliches Hotelierpaar.
Kläglich und klagend. Vorgestellt:
Hugo und Jacqueline.
Nachname unverständlich. Hugo und Jacqueline haben sich
das Hotel ein Leben lang
erarbeitet, sind jetzt schuldenfrei,
sind alt, müssen verkaufen, um davon leben zu können. Der
Mann nickte, sobald seine Frau
sprach, ununterbrochen. Vielleicht hörte
er nur zu, wenn seine Frau
sprach. Die dünne Jacqueline trug
eine gewaltige, eine steil hinaufra
gende Perücke, die ihrerseits auch
zu allem, was die Frau
sagte, nickte. Gottlieb dachte: Vor zwanzig Jahren hätte Lissi
Reinhold, die damals noch
schwarzweiße Luxusjeeps fuhr,
die Monteverdi Safari hießen, ein so verkümmertes Paar nicht
eingeladen. Lissi Reinhold sang nicht
mehr. Sie hatte nicht nur ihre
Stimme verloren. Gottlieb konnte
nicht mehr wie früher den Abend
lang an Frau Reinholds
grünspangrüner,
durchsichtiger Seide auf und niederschauen und das Gefühl
haben, eingeladen zu sein, Frau
Reinholds Wölbungen und Rundungen
ganz direkt mit den Augen
nachzubeten. Von Lissi Reinhold war
nichts übrig geblieben als ein
kleider
behängtes Gebein. Braungebrannt war sie noch immer, aber
jetzt sah sie aus wie geröstet.
Anna hat alles, was Lissi
Reinhold durchlitten hat, und das
waren nicht nur Krank heiten, immer
gemeldet. Anna hat bei allen
Kontakten das Menschliche verwaltet.
Ihre Fähigkeit, teilzunehmen, war das
Ursprünglichste überhaupt. Zu Hause
in der Herde
wahrscheinlich. Auf der Herfahrt hatte Anna ihn, wie es die
Routine befahl, auf den neuesten Stand gebracht: Judith, die
ihrer Mutter nachgesungen und als Siebzehnjährige Konzerte
gegeben hatte, die in Magdas Klasse immer die Klassenbeste
gewesen war, die sei jetzt glücklich, hieß es, verheiratet mit
einem Ofensetzer, der sie und
drei Kinder sorgenfrei ernähre. Und
Benjamin, Primus in Julias Klasse
und schon früh Landesfechtmeister,
war jetzt Bademeister in Saulgau.
Aber die Zeit, in der man sich nach den Kindern erkundigen
mußte, war ohnehin vorbei. Es herrschte eine unverabredete
Übereinkunft, daß man die Kinder
am besten nicht mehr erwähne.
Daß die zärtlichkeitssüchtige
Labradorhündin
Wunni hatte eingeschläfert werden müssen und durch einen
einschüchternden Dobermannrüden ersetzt
worden war,
hatte Anna zum Glück mitgeteilt. Der werde Dante gerufen.
Dante räkelte sich dann auch
zentral im Zimmer. Er war
offenbar durchdrungen von der Gewißheit, daß alle nur ihm
zuschauten. Dem Hotelierspaar versprach
Anna, sie werde sicher bald
einen Käufer finden. Da sagte
Hugo dann doch
noch einen Satz: Das habe Paul Schatz auch versprochen und
dann sei er gestorben. Das
klang, als sei Paul Schatz
gestorben, weil er versprochen hatte,
diesem dahinküm
mernden Paar zu helfen. Das hieß: Wer uns helfen will, dem
passiert etwas Schlimmes, ich warne
Sie. Gottlieb empfand
es als eine der im Handel üblichen Demütigungen. Man war
zweite Wahl. Lissi Reinhold rief:
Bitte, Hugo, nichts von, nichts
über Paul Schatz. Schone uns!
Und erklärte ihre Lautstärke: Paul
Schatz sei der erste Mensch,
dem sie, auch nach seinem Tod,
nichts Gutes nachsagen könne. Wäre
sie simpel religiös, würde sie
sagen, sein jäher Tod sei eine
Strafe für die fürchterliche
Ausstellung seiner Zeichnungen im
Mauracher Schloß. Genialer Amateur,
steht dann in der
Zeitung. Professionelles Schwein hätte drin stehen sollen. Sie
habe, daran müsse sie erinnern,
den nebenher Bilder malenden
Immobilienkönig immer verteidigt, auch
wie er
mit seinem Geld sich als Künstler inszenierte, ihr war¹s egal,
aber in diesen Zeichnungen habe
er sich zum Schluß end gültig
entlarvt. Seine überregional demonstrierte
Vielweibe rei sei ihr zwar zuweilen
auf die Nerven gegangen, gesagt
habe sie nichts. Aber diese
Ausstellung! Zeichnungen über ein
einziges Motiv! Das weibliche
Geschlecht! Und zwar
jedesmal in einer Ausführlichkeit, als handle es sich nicht um
einen Körperteil, sondern jedes Mal
um Landschaften, und
zwar um diluvische.
Jetzt gelang Anna der erste Einwurf. Ich finde, sagte sie, er
denunziert uns nicht. Er feiert
unsere Vielfalt. Sie sei er staunt,
daß Lissi den Witz nicht
bemerkt habe, den Meister Schatz
in diese Körperlandschaften
hineingezeichnet habe. Ihr, Anna,
habe am besten gefallen das
Männlein deutlich Paul Schatz
persönlich, das da im weiblichen
Portal stehe und dabei die
weichen Partien wie eine Kapuze
über sich hereinziehe. Das fand
Lissi überhaupt ganz fürchterlich. In
Zeichnungen witzig sein zu wollen,
das sei eine ästhetische
Katastrophe. Dürer und Rembrandt und Beckmann zeichnen
nicht witzig. Wer die Grenze
zur Karikatur überschreitet, sagt, er
sei nicht ernst zu nehmen. Aber
bitte, diese
Spezialisierung auf unser vielfältiges Häutewerk, das sei die
reine Altersgeilheit. Und brach
richtig aus. Fand große Namen
und Bezeichungen für ihn:
Chauvinistische Sau, Schmierenpascha,
altersgeiler Bock ... Bei mindestens
drei Prägungen kam altersgeil vor. Das konnte Anna dem von ihr
nun einmal verteidigten Paul Schatz
nicht antun lassen.
Erstens, sein Berufsethos − und davon verstehe sie etwas − :
tadellos. Sein soziales Engagement:
musterhaft. Bitte, in der
die ganze Seite füllenden Bekanntmachung seines Todes hieß
es unten: Statt Kränze und
Blumen eine Spende für
Germanaid. Mein Gott, rief sie, erinnert euch, das letzte Mal,
hier, und wir waren, bitte,
alle gleichermaßen hin, als er
seine FilmNummer aufführte, die jeder von uns schon vom
Hörensagen kannte. Wie er Filme
durch Wiederanschauen kaputtmacht, aber
auch die, die schon beim ersten
An
schauen erledigt sind, schaut er noch einmal an und windet
sich vor Ekel, Verachtung und
Langeweile. Und stieß hier
vor uns noch einmal die Laute aus, die er ausstieß, um einen
miesen Film durch Wiederanschauen
hinzurichten. Er habe
das Gefühl, der Film verblute dann vor ihm, er höre den Film
stöhnen, um Gnade betteln. Geh doch weg, keuche der Film,
mach die Augen zu, bitte,
bitte. Und genau das wolle er
hören, rief Paul Schatz, das
würde dir so passen, rufe er
dann, angeschaut wirst du, angeschaut
bis zur letzten
Sekunde, du kleiner, billiger, schmieriger Drecksfilm, du, du
bist nämlich das Geilste überhaupt! Lissi Reinhold schrie das
so heraus, daß eine Sekunde
lang die Sopranistin wieder hörbar
wurde: Das Altersgeilste, ja! Aber
Anna ging sofort zum Gegenangriff
über. Wenn einer altersgeil
geschimpft
werden könne oder gar müsse, dann Jarl F. Kaltammer, der
immer schon, schon mit vierzig
und fünfzig, deutlich
altersgeil gewesen sei. Lissi Reinhold und Anna lieferten jetzt
eine Debatte über Altersgeilheit. Gottlieb tat, als sei ihm alles,
was da gesagt wurde, neu. Eine
Zeit lang fürchtete er, zur
Stellungnahme genötigt zu werden. Dante wälzte sich inzwi
schen auf dem Teppich und stieß
Geschlechtsverkehrsbe wegungen in den Raum.
Und Althotelier Hugo hatte den
Mut, nicht nur hinzuschauen, sondern
in eine winzige Gesprächspause der
Damen hinein und zu Dante hin
zu sagen: Ja, das Leben ist
schwer. Lissi und Anna ließen
sich nicht ablenken. Sie waren
ja in der Hauptsache einig.
Beide fanden Altersgeilheit gleich
widerlich. Weil jede darauf bestand,
nur ihr negativer Favorit sei
altersgeil, einigten sie sich
schließlich lachend darauf, daß jede
den Favoriten der anderen altersgeil
finden dürfe. Anna merkte an,
sie habe den so gut wie
verschwundenen Kaltammer neulich ge sehen,
in der Bar des InselHotels in
Konstanz. Er sei noch immer der
Säuglingsgreis, der er immer gewesen
sei, ge spenstisch jung. Und immer
noch der wimpernlose Blick dieser
sich nur ruckartig bewegen könnenden
Augen. Lizard, dachte Gottlieb, Glen
O. Rosenne. Und die gelben
Haare noch genau so gelb wie früher und keines fehle.
Zum Glück kam dann Dr. Reinhold vom SchachComputer
und meldete wie immer, der
Computer habe gesagt: I lose.
Aber Dr. Reinhold meldete nicht
mehr wie früher, in
welchem Schwierigkeitsgrad er den Computer besiegt hatte.
Dr. Reinhold war fleischiger
geworden. Sein Gesicht war
sozusagen über die Ufer getreten, weiche milchweiße Backen
flössen links und rechts vom zart gebliebenen Kinn abwärts.
Die Augen schwammen auf tiefhängenden
Säcken. Aber er
war immer noch der stille hebe Mensch, der alle durch seine
Zurückhaltung beschämte. So hatte es
Gottlieb immer empfunden. Besonders
in den Jahren, in denen sich
Lissi noch von ihrem
bernhardinerhaften Soziologen Giselher
hatte bedienen lassen. Der war längst Professor in Frankfurt.
Dr. Reinhold nahm sich Häppchen von den Platten und aß,
wie er immer gegessen hatte,
nämlich nur mit vier Zähnen,
oben zwei und unten zwei, mit diesen Frontzähnen zerklei
nerte er alles, was er in den Mund schob, ganz schnell. Lissi
war inzwischen beim Thema Scheidung.
Die Scheidungen nähmen, sagte sie,
so zu, daß man von einer
Scheidungs
epidemie sprechen könne. Wohin du kommst, überall lassen
sich die Leute scheiden, rief
sie. Und nicht nur in Stuttgart
und Karlsruhe, nein, auch in den kleinsten Dörfern, und mit
sechsundzwanzig genau so so wie
mit zweiundsechzig. Sie
geriet richtig ins Schwärmen. Gottlieb nickte so nachdenklich
wie möglich. Anna machte ein kritisch zweifelndes Gesicht.
Auf der Heimfahrt dachte Gottlieb, Anna erwarte von ihm
jetzt eine Stellungnahme entweder zum Thema Altersgeilheit
oder zum Thema Scheidung. Für
ihn war geil
eines jener
Wörter, die in der Zeit, als er allmählich von Wörtern besetzt
wurde, bei ihm nicht vorgekommen
waren. Bis es bei ihm
auftauchte, hatte er für das,
was geil sagen
sollte, längst
andere, halbwegs brauchbare Wörter. Also wirkte geil auf ihn
eher wie ein Fremdwort. Man weiß genau, was gemeint ist,
aber man spürt nichts. Eines
der Kunststoffwörter. Ähnlich wie
Fan. Keinesfalls
konnte er Anna oder irgendeinem
Menschen sonst sagen, was er, wenn er dieses Wort jetzt auf
sich anwendete, empfand. Geil, das war doch in jedem Alter
die Stimmung, die nicht heraus durfte. Das war doch immer
nur unter besonders gesegneten
Umständen erlaubt gewe
sen. Er hätte die Damen wirklich fragen müssen, warum ein
Älterer, wenn er denn das war,
was sie geil nannten, nicht
einfach geil, sondern altersgeil war.
Die haben da eine
Ahndung parat. Du sollst nicht mehr, darfst nicht mehr. Die
haben eine Moral, die sie
ästhetischsittlich drapieren. Es schickt
sich nicht nur nicht, es ist
ekelhaft, alt und geil zu sein,
das haben die Damen in ihrem
SchatzKaltammer Disput verkündet. Gründe
haben sie nicht genannt. Das
ist einfach so. Inter omnes
constat. Basta. Und weil das so
ist,
weiß Gottlieb, daß er, was bei ihm altersgeil genannt werden
konnte oder mußte, zu verbergen
hatte, so wie er als Fünf
zehnjähriger seine Jugendgeilheit zu verbergen hatte. Es gab
Damen und Herren im Ächtungsdienst für jedes Alter. Dabei
war das Wort bei ihm nie
vorgekommen. Ja, eine jetzt offenbar
als verworfen zu bezeichnende Kundin
hatte das
Wort einmal in der dafür günstigen Situation gebraucht. Laß
uns geil sein wie die Inder,
hatte sie, rheinisch gefärbt, gesagt.
Und Gottlieb, der in dieser
Situation ohnehin nicht wirklich
dabei gewesen war, hatte in
einem Anflug von
Ebenfallsrheinisch gesagt: Wenn du dat so willst.
Als sie dann im Dunkel neben einander lagen, sagte Anna,
Gottlieb habe einmal gesagt, wenn
Kaltammers wimpern loser, sich nur
ruckartig bewegender Blick auf etwas
treffe, mache es jedes Mal ding
oder sogar dingding. Mein Gott,
und was war dagegen Paul Schatz für ein seelenvollpracht
voller Mann. Gottlieb unterbrach sie
nicht. Also redete sie,
wie sie nie über den Konkurrenten, als er noch lebte, geredet
hatte. Wenn mit einem anderen
Mann, sagte sie, dann mit dem.
Gottlieb dachte an seine
Zwangsvorstellung: Paul Schatz und
dessen steil ragendes Geschlechtsteil.
Diese
Vorstellung hatte er zumindest als Vorwand genommen, den
ungeliebten Handel zu quittieren. Ein einziges Mal war Paul
Schatz bei ihnen zu Besuch
gewesen. Wochen später hatte Anna
ihm gestanden, Paul Schatz habe,
als er auf dem Klo gewesen
war, von seinem Urin ein paar
Tropfen auf dem Boden vor der
Kloschüssel zurückgelassen, da habe
es im Klo gerochen wie in
einem Pferdestall, eindeutig nach
Hengst habe es gerochen. Ach
Anna. Auch jetzt schwärmte sie
wieder von Paul Schatz.
Wahrscheinlich um Gottlieb zu
beleben. Er sollte beweisen, daß
er auch jemand sei, möglichst
ein Mann. Und obwohl er diese
Animation per Paul Schatz als
einigermaßen grotesk empfand, sie
wirkte.
Aber er hütete sich, durch irgend eine Benehmensart an jenes
abendlang durchgekaute Eigenschaftswort zu
erinnern.
Leider fiel ihm dazu ein, wie die Besucherin auf der Terrasse
scharf ausgesprochen hatte, nämlich mit drei f.
Zum Glück ist man für das,
was einem einfällt, nicht
verantwortlich zu machen.
2.
Wenn das Unangenehmste beim Aufwachen
sofort be wußtseinsfüllend war, glaubte
Gottlieb, er sei eben daran
aufgewacht. Tatsächlich fühlte er
sich, wenn er nicht mit
Unangenehmem aufwachte, leer. Die
Abwesenheit des
Unangenehmen ist als Leere spürbar. Das ist wahrscheinlich
das, was die Leute, denen das Unangenehme unbekannt ist,
Glück nennen. Das begriff Gottlieb.
Genau so ging es ihm auch.
Es fühlte sich selig an, diese
Leere wirken zu lassen.
Etwas wie Leichtigkeit.
Heute nicht. Er war heute
aufgewacht mit dem Wunsch,
Chapel Hill anzurufen. Es war mehr als ein Wunsch. Einfach
aufspringen, ans Telephon rennen,
anrufen. Anna war
wahrscheinlich schon unterwegs. Was auch immer er dachte,
er spürte durch alles hindurch
diesen Wunsch, Beate anzurufen. Er
mußte sich, um sich beherrschen
zu können, etwas vormachen. Etwa
so: Nicht heute, und morgen
auch nicht, aber in einer
Woche. Nein, verlange von dir:
in zwei Wochen. Vorher nicht.
Vorher auf keinen Fall. Und
hoffe, daß dieser Wunsch in
zwei Wochen in dir nur noch
herumgeistert wie etwas Halbvergessenes oder wie etwas so
Komisches, daß du nicht mehr
begreifst, wie du je einen
solchen Wunsch haben konntest.
Aufgewacht mit dem Gedanken, an
dem Gedanken, er müsse Beate
anrufen. Er begriff sich nicht.
Ihm war offenbar nicht mehr zu
trauen.
Was in der Nacht abgelaufen war, empfand er jetzt als reine,
hochkonzentrierte, durch nichts zu
mildernde Aussichts
losigkeit. Gab es etwas Aussichtsloseres als den Geschlechts
verkehr? Als diesen Geschlechtsverkehr?
Vor der Amerika reise waren die
Verkehre, wenn sie glückten, und
sie
glückten öfter als sie mißglückten, waren sie doch immer mit
schlichten Zuständen schlichter Enge
und Gemeinsamkeit
gesegnet gewesen. Fast eine Problemlosigkeitsgarantie. Mehr
als einmal hat Anna im Aushauch
geflüstert: So mit einan der. Kein
trübes Danach. Jedesmal so jung,
wie sie davor
nicht gewesen waren. An der Grenze zum Übermut. Und er
hat geträumt, nachdem er in der
vergangenen Nacht wahr scheinlich vor
Anna eingeschlafen war, er habe
einen Mord begangen. Schon vor
längerer Zeit. Er hat alle
Spuren beseitigt. Könnte sich sicher
fühlen. Aber der Inspektor kommt
ins Haus. Unter fadenscheinigen
Vorwänden. Man
steht in der Halle. Unterm Boden die Leiche. Anna sagt einen
Satz, in dem das Wort Schweinegalle vorkommt. Das
ist für den Inspektor der
Schlüssel. Er schaut Anna an
und sagt: Erlebnisgestützt. Anna
nickt. Jetzt weiß der Inspektor
und
kann es beweisen, daß Gottlieb es war. Anna hatte von allem
keine Ahnung. Von Beate hatte
er erfahren, daß ihr Vater
Frauen gern tough broads nenne.
Überhaupt liebe er das
Amerikanische nur, weil er da deftig bis dreckig daherreden
könne, ohne sich genieren zu müssen. Sobald Gottlieb nicht
aufpaßte, dachte er an Beate. Und wenn er aufpaßte, dachte
er erst recht an sie. Ihre
hymnische Stimmung. Anders war das
doch gar nicht zu nennen. Sie
hatte gelitten, solange er nicht
da gewesen war, und als er
da war, war sie ununterbrochen
hymnisch. Er ist ihr nie auf
ihrem Niveau
begegnet. Er hat sie versäumt. Er hat das Leben versäumt. Er
muß hin. Zu ihr. Er kann sich nicht abhalten lassen, das spürt
er. Um sich schlagen. Rücksichtslos
sein. Endlich einmal
rücksichtslos sein. Er will nicht mehr nicht in Frage kommen.
Schon am Morgen nach der ersten
Nacht hatte sie ihn
gefragt, warum er die Schuhe immer im Stehen anziehe. Auf
dem rechten Fuß stehend, um den linken Schuh anzuziehen
und so weiter. Und er hatte
geprahlt, daß es ein Rabbi so
gemacht habe und, gefragt, warum,
habe er gesagt, solange
jemand auf einem Fuß stehend seine Schuhe anziehen könne,
sei er jung. Und eine belebende Nachricht war doch, daß sie
sich vom ersten Terrassenaugenblick an zu ihm hingezogen
gefühlt habe, weil er nicht
siegessicher aufgetreten sei. So
hatte sie in ihm ein altes
Leiden beendet. Er hatte ein
Erwachsenenleben lang darunter zu
leiden gehabt, daß er kein
toller Mann war. Sein Erzkonkurrent
Paul Schatz war ein toller Mann
gewesen, das hat auch Anna immer gesagt.
Und Gottlieb hat es nie bestritten. Wo er hingekommen war,
hatte er Paul Schatz als tollen Mann gerühmt. Immer so sehr,
daß er hoffen konnte, jemand in
der Runde werde jetzt sagen:
Sie übertreiben. Das war so gut
wie nie vorgekom men. Und dann
kommt dieses übermäßige Mädchen und
fühlt sich hingezogen zu ihm,
weil er kein toller Mann ist!
Und er, der Lebensidiot schlechthin, will ihr vom dritten Tag
an im Flughafenhotel, als sie
nichts als lieben wollte, beibringen,
weniger zu empfinden, fängt an,
umzudeuteln, jede Angewiesenheit auf
einen anderen Menschen sei eine
Form der Freiheitsberaubung. So
leblos hat er sein können.
Um nicht wieder etwas falsch zu machen, ließ er jetzt Anna
Situationen ablaufen. Ziel:
AnnaEntwirklichung. Eine
Mache, daß er hier ohne remords wegkommt? Ist Anna nicht
wirklich lebensabgewandt? Wie oft hat er sich ihr genähert,
weil er eine Handbewegung
mißverstanden hatte, und war dann
durch und durch erbittert, weil
er zu spät gemerkt
hatte, daß diese Handbewegung überhaupt keine Einladung,
kein Wunsch, kein Sehnsuchtssignal
gewesen war, sondern Geste irgend
eines Routinerepertoires. Und wenn er
sie
dann, fehlgeleitet von Anfang an, verführte, wurde peinlich
deutlich, daß sie eine
Freundlichkeitsleistung ihm zuliebe
erbrachte. Sie hatte geglaubt, er
brauche sie dringend, da wollte
sie nicht so sein, nicht so
verschränkt oder gar abweisend,
sondern durchaus mitmachend. Eine
Frau eben,
die ihren Mann, den sie kennt, bedient wie der Friseur einen
alten Kunden. Anna will es doch
überhaupt nicht, sie will nur,
daß du es willst. Das
Eheverhältnis schlechthin. Anna noch
die bestmögliche Frau. Aber auch
die Bestmögliche lahmt dann. Die
Währung, in der bezahlt wird,
heißt dann Lüge. Gottlieb spürte
eine alles ergreifende Erbitterung
wachsen. Geschlechtsverkehr! Ein solches
Wort serviert
einem diese sogenannte Kultur. Für das Höchste, wozu man
im Stande ist, für die Handlung, die einen so zu sich selber
kommen läßt wie keine andere,
dienen sie einem ein Wort
an, das in einer Behörde konstruiert worden sein muß. Den
Beamten ist kein Vorwurf zu
machen. Die konnten ja nicht
wissen, daß das Wort über den Gesetztext hinaus verwendet
werden würde, weil die Menschen,
sittlich eingeschüchtert, zu keinem
Ausdruck, zu keinem Wort finden
würden, das von dem Vorgang zu
zeugen vermöchte. Funktionäre der
Fortpflanzung a. D. So sah er
sich und Anna alltäglich. Er
selber ein kleiner braver Beamter
im Geschlechtsdienst, immer gründlich
in Vorbereitung und Ausführung.
Einmal hat er denken müssen,
daß Anna plötzlich lachen könnte
und daß er sie dann töten
müßte. Gottlieb war bereit, allen
Trübsinn, alle Weltverneinung, überhaupt
alles Ungute, zurückzuführen auf den
Mangel an freier Freude am
Geschlechtlichen.
Das Telephon läutete. Verwählt.
Gottlieb fluchte laut. Es
hätte Beate sein können. Dann: Verwählt! Sich zu verwählen
gehörte verboten. Was fiel den
Leuten ein, sich zu verwählen.
Das hätte doch wirklich Beate
sein können! Sie hätte, wie vor
Monaten, gesagt: 98 Grad und
eine Luft aus feuchten Schwaden.
Dann hätte er gefragt: Was
trägt man? Und sie: Ein blaues
Laken. Er hätte geseufzt, also
hätte sie gesagt: Das Laken ist
erfunden. Sie sei nackt und einiger
maßen bedürftig, schamlos nackt zu sein. Er darauf: Und das
in einem Zeitalter ohne Bildtelephon. Spätere Zeiten wüßten
überhaupt nicht, was das für ein Askesemurks gewesen sei,
leben, lieben, ohne Bildtelephon.
Sie: Andererseits könnte ihn das
doch sprachlich beflügeln. Er gab
ihr recht und
beflügelte sich. Und durfte nicht anrufen. Vierzehn Tage und
Nächte lang. In der Hoffnung, sie rufe an oder seine Bedürf
tigkeit lasse nach. Am meisten leide sie, hatte sie einmal am
Telephon gesagt, an der
Ungleichzeitigkeit. Bei ihm ist es
Nacht, bei ihr überhaupt nicht. Das tat ihr weh. Stell dir vor,
unsere Sinne, unser La Mettrie,
und dann sechs Stunden Differenz!
Er hätte sie am liebsten aus
dem Hörer gesogen. Jetzt spürte
er, daß er jeden Halt verlieren
würde, wenn er
nicht bald gegensteuerte. Aber wo und wann war der letzte
feste Punkt gewesen, von dem
aus er noch hätte gegen steuern
können? Es war ein Daraufzutreiben,
keine Gegen steuerung möglich. Der
Grad der Unbeeinflußbarkeit ist
erreicht. Das Alter ist das
Gegenteil der Verfeinerung, die
einem abverlangt wird. Ruchlos. So fühlt er sich. Endlich. Er
wird den Anruf des Lebens nicht
ein zweites Mal
versäumen. In Amerika muß er taub gewesen sein. Er hatte
den letzten Zug versäumt. Wo
sollte er jetzt die Nacht
verbringen. Je weniger Leben dir zusteht, desto heftiger reißt
du es an dich. Das ist das Gesetz. Des Lebens.
So lag er dann wieder neben
Anna im vertrauten Dunkel und
fühlte das geträumte Unding wachsen,
spürte eine offenbar nicht enden
wollende Festigung und rührte sich
nicht. Welchen Heiligen ruft man
an, daß er Anna hindere,
herüberzulangen! Er durfte mit Anna nichts zu tun haben. Er
hatte das Gefühl, ihm werde ein Streich gespielt. Von seinem
geträumten Unding. Und Beate hatte
in der ersten Stunde
auf der Terrasse Anna gefragt: Wie ist das, mit diesem Mann
verheiratet zu sein. Und Anna, künstlich munter: Es geht.
Drüben hatte er, als sie beide
den armseligen Wortschatz schmähten,
der ihnen vererbt worden war,
gefragt, ob sie¹s joggen nennen
sollten. Dadurch waren sie immerhin
auf ficken gekommen. Eines wußte
er jetzt von Tag zu Tag
sicherer: Er würde sich in dem,
was er selber als seine
Unzurechnungsfähigkeit zu begreifen begann,
nicht irri
tieren lassen. Wenn er alles falsch sah, dann war es sein gutes
Recht, alles falsch zu sehen;
wenn er verloren war, dann
wollte er verloren sein. Dürfen.
Es wird keine abschwä chende
Überlegung mehr zugelassen. Er machte
sich nichts vor. Er fühlte, er
war lebenswütig, aufbruchstoll. Er
mußte Anna ein weiteres Mal
entwirklichen. Read my mind, dear
Anna. Sagen konnte er nichts von dem, was jetzt in ihm tobte
und schwoll. Anna hatte ihm beigebracht, daß er nackt keine
Rolle mehr spielte, außer bei ihr. Aber Themire hatte ihn am
Telephon Du genannt und hatte
das Du sofort zweisilbig gemacht.
Und hatte das in den drei
Zimmern, in denen sie waren,
beibehalten, obwohl sie sah, wie
er aussah. In der dritten Nacht
hatte sie die gemeinsame Zukunft
entworfen. Wir können nicht warten,
dazu bist du nicht jung genug.
Wenn du jünger wärst, könnten wir Zeit vertun.
Daß er jetzt nicht dort war,
tat weher als alles, was der
Körper leiden kann. Aber es ist
ein Schmerz, dem man, im
Gegensatz zum Körperschmerz, nicht so schnell wie möglich
entfliehen will. Man will ihn
hegen, wachsen lassen, daß
man durch ihn zu Handlungen fähig werde, zu Handlungen
sich berechtigt fühle, die man ohne diesen Schmerz sich nicht
zutrauen dürfte. Er würde anrufen,
sagen, daß sein Davon rennen sich
verheerend ausgewirkt habe, er müsse
zurück. Sich nichts mehr befehlen,
das war¹s. Endlich Schluß mit
dieser Hinkrümmung an das
Verlangbare. Du kannst nicht
erwarten, daß irgend jemand der
Stimmung entspricht, in der du
leben mußt. Wenn du aufwachst,
und es tut dir überhaupt nichts
weh, wie sollst du dich dann
damit abfinden, daß du nicht
dreißig, nicht vierzig, nicht
fünfzig,
sondern mehr, mehr, mehr als sechzig bist! Da muß man sich
doch falsch benehmen. Das heißt,
du wirst mit siebzig so ungern
sterben, als wärst du dreißig.
Morgen weg. So ausgefüllt zu
sein, unanfechtbar. Er war doch
nicht Herr PöhlmannGschrey. Auf der
Beuerlinshalde. Mit Seeblick, Weitblick,
Alpenblick, hinauf ins Gipfelgewell.
In die letzte Ecke des
tannenreichen Grundstücks hatte Herr
Pöhlmann Gschrey Gottlieb gezogen und
fiebrig dahingeredet, er müsse weg,
die Frau wisse noch nichts, auf
ihn warte, weit weg, das Neue
Leben. Die Frau glaube, man
ziehe gemein sam auf die Kanaren.
Er hat dieses Haus gebaut für
seine
Frau. Er hat berechnet, um wieviel Uhr die Sonne die Nasen
spitze der Frau trifft und sie
weckt. Das ganze Jahr ist die
Sonne im Dienst dieses Hauses,
also der Frau. Dachwinkel, Firsthöhe,
Tannen, die Sonne, alles dient
der Frau des Hauses. Die zum
Sofa gewordene Klosterbadewanne, der
gewaltige, unter der Decke schwebende
Engel mit blutrot geblähtem
Mantelfallschirm, Krippen, Dome, aus
Streich hölzern gebaut, Schachtelhalme,
Moschusochsen,
Saurier
skelette, der Palmenwald im Glashaus,
die Frau wollte
Einmaligkeit, jetzt muß er weg, ins Neue Leben. Als Gottlieb
endlich einen gefunden gehabt hatte,
dessen Frau wild darauf war,
das alles zu besitzen, hatte
Herr Pöhlmann Gschrey nicht verkaufen
können. Nichts mehr gesagt, nur
noch den Kopf geschüttelt und
den lästigen Immobilien händler samt
Interessentenpaar hinausgewinkt. Wäre Herr
PöhlmannGschrey nicht leichenblaß gewesen,
hätte seine zerbissene Unterlippe
nicht gezeigt, daß sie gerade
noch geblutet hatte, hätte man
den Vorvertrag durch die Luft
schwenken können. Das Neue Leben
war aus Herrn
PöhlmannGschrey entflohen, vertrieben. Und bevor Gottlieb
und das Interessentenpaar sich fassen
konnten, erschienen aus verschiedenen
Partien des dämmrigen Wohnzimmers
drei, vier, fünf Katzen und
posierten sich um Herrn
PöhlmannGschrey. Er hob die Arme wie ein Soldat, der sich
ergibt. Seine Hände berührten fast den roten Mantel des über
ihm schwebenden Engels. Jetzt
bemerkte Gottlieb, daß der
riesige Engel ein goldenes Schwert in der Rechten hatte. Kein
riesiges, aber durch seinen Goldglanz
Eindruck machendes Schwert. Also
drehte sich Gottlieb schroff um.
Das Interes
sentenpaar folgte. Vom Interessentenpaar nachher kein Vor
wurf. Keine Diskussion über das
Gesehene. Gottlieb hatte sich in
einer an Herrn PöhlmannGschrey
anschließenden Wortlosigkeit verabschiedet.
Auf der Heimfahrt hatte er
gedacht, daß die Katzen das
Ausschlaggebende gewesen waren: Die
hatten Herrn PöhlmannGschrey den
Verkauf
verboten. Das konnte ihm nicht passieren. Er würde fahren.
Morgen. Er erlebte ein Gesetz:
Je heftiger du dich heim sehnst,
desto größer ist, wenn du
heimkommst, die Enttäu schung. Nichts
entspricht einander so innig wie
Sehnsucht und Enttäuschung.
Aber weil, wenn man in eine
Richtung denkt, die Ge genrichtung
immer auch noch existiert, war
Gottlieb am
nächsten Vormittag auf dem Weg in die Stadt, auf dem Weg
zur Bank und hatte die vielen
Dollars, die unverbrauchten,
dabei. Umtauschen. Er würde umtauschen, als bliebe er hier.
Er wird nicht hier bleiben.
Aber umtauschen wird er. Wieviele
Personen war er eigentlich! Er
funktionierte. Er
würde umtauschen. Und hier nicht bleiben. Niemals. Schon
auf dem Weg zum Bus servierte
ihm der Zufall, der nichts
ausdrückt als das wirkliche Gesetz,
ein Mädchen, das sechs oder
sieben Altgewordene ausführte. Ein
ungeheuer
langsamer Trupp. Lauter finster zerstörte, vom bösesten Leid
gezeichnete Gesichter und wie zur
Drohung verschobene Körper. Weil es
ein wenig aufwärts ging, mußte
das Mäd chen den Trupp halten
lassen, zurückgehen und eine win zige
Greisin nachholen, die inzwischen
nicht mehr als eins zwanzig groß
war, aber eine Tasche umgehängt
hatte, die fast genau so groß
war. Gottlieb hatte schon viel
zu lange hingesehen.
Im Bus sah er, um sicher zu sein, nur noch auf seine Knie.
Kurz bevor er sich von der
großen Drehtür in die Bank
hineinholen ließ, der Notarztwagen. Zwei Männer in greller
Berufskleidung schoben eine Tragbahre in den Wagen. Man
sah nur noch die Schuhe des
auf der Bahre Liegenden; sie
starrten komisch in die Höhe.
Gottlieb ging, so schnell er,
ohne als rennend aufzufallen −
hier rannte doch längst niemand
mehr −, gehen konnte, zurück zur
Bushaltestelle. Zwanzig Minuten warten.
Was ihm da alles vorgeführt
werden würde! Er ging und, als er die Innenstadt hinter sich
hatte, rannte eher als er ging nach Hause.
Sein Schreibtischstuhl war sein Asyl. Saß und blieb sitzen.
Die tägliche Versuchung, sitzen zu
bleiben, in die Ecke zu
starren, sich nicht mehr zu
rühren. Darauf reagierte er
gewöhnlich, eingeübt, mit der abstrakten Anstrengung, noch
einmal, noch ein einziges Mal
aufzustehen, ohne Grund. Dafür,
sitzen zu bleiben und zu
starren, gab es eine Wucht von
Gründen, die in eine einzige
Schwere münden. Die Schwere will
den Ausschlag geben. Es tut
weh, ihr Gebot zurückzuweisen. Heute
keine abstrakte, grundlose Aufstehbewegung.
Heute blieb er sitzen. Er hatte
nicht
umgetauscht. Die Dollars waren gerettet. Vor ihm das Tele
phon. Er konnte in jeder
Sekunde Chapel Hill anrufen.
Vierzehn Tage Wartefrist. Sich so etwas zu befehlen! Er sollte
sich lieber befehlen, sofort
aufzustehen, in die Stadt zu
rennen, und mitten in der Stadt sollte er zum Erstaunen der
Leute anfangen zu reden. Laut. Überlaut. Je lauter er redete,
desto glaubhafter würde er sein.
Schreien mußte er, dann war er
glaubhaft. Glaubwürdig. Aber bitte,
das Wichtigste,
Dr. Matusaka: Einen Ton tiefer! Vielleicht würden ihn in den
ersten Sekunden ein paar für übergeschnappt halten. Stehen
bleiben würden ein paar. Die Leute bleiben ja überall stehen,
wo etwas ihren Alltag ritzt.
Leute, würde er rufen, glaubt
keinem, der aus Erfahrung über das Altwerden und über das
Altsein spricht. Er lügt. Keiner kann über das Altwerden und
über das Altsein die Wahrheit
sagen. Jeder würde sich
genieren, etwas so Ekelhaftes, Erbärmliches in den Mund zu
nehmen. Glaubt keinem! Auch ihm
nicht! Und würde an seine
Kopfwarze am Haaransatz greifen, und
die würde bluten, und er würde
den Leuten seine blutigen Finger
hinhalten. Dann würde er
sich umdrehen und unaufhaltbar gehen.
Und würde an Gottes Kapitän mit
der schief sitzen
den Mütze denken, der bis zum nächsten Mittwoch 780 000
Dollar gebraucht und gekriegt hatte.
In Gottes eigenem
Land. Dahin wollte er. Und Paul Schatz wartet, erwartet, daß
die vierte Frau stirbt, steht
auf, fällt um, ist tot. Na
ja. Da mußte man doch an
den Allerweltsspruch des begnadeten
Maklers denken, mit dem er
jedem Interessenten den Hauskauf
förmlich befohlen hatte: Man lebt
bloß einmal.
Echt Schatz, stirbt nicht im Bett, will nicht, darf nicht im Bett
gestorben sein, steht noch ganz schnell auf, daß er dann tot
umfallen kann. Am liebsten hätte
sich Gottlieb über die
Todesnachricht gefreut. Aber das darf man ja nicht. Du bist
durch und durch zahm. Gesteh
dir doch endlich, daß dich
Schlimmes freut. Negatives. Nur noch
Negatives, Belei digendes, Herabsetzendes,
Bösartiges, Vernichtendes. Dein
Kreislauf, die Säfte, sobald du dich etwas Wüstem hingibst,
löst sich in dir etwas
Verkrampftes, Hartes. Endlich begriff
er, warum Bösartiges so beliebt
ist: Sobald er auf etwas
Lobendes, gar Preisendes stieß,
konnte er nicht weiterlesen,
sein Magen drehte sich um, wenn er las, daß jemand noch et
was gut fand. Und konnte das
lobende Zeug doch nicht
einfach weit von sich werfen. Er mußte weiterlesen, obwohl
es ihm von Satz zu Satz
schlechter ging, aber aufhören
konnte er erst, wenn er sich dem Ersticken nahe fühlte, dann
erst konnte er die Lobhudelei
fallen lassen, zum Fenster rennen,
das Fenster aufreißen, eine
ungemessene Zeit lang
am offenen Fenster stehen, fähig nur noch zu einem einzigen
Gedanken: Ich bin froh, in einer Zeit zu leben, in der es noch
Fenster gibt, die man öffnen kann. Da er aber so positiv nicht
enden konnte, mußte er weiterdenken: Bald wird es nur noch
Fenster geben, die man nicht mehr öffnen kann. Und warum
freute ihn das nicht, daß alles
immer schlimmer wird? Er müßte
sich doch wohlfühlen, wenn alles
immer schlimmer
würde. Fühlte er sich wohl? Jetzt verhör dich doch nicht so,
bloß, weil der Schatz tot umgefallen ist. Mensch, Gottlieb.
3.
Sieben solche Tage und Nächte hatte Gottlieb hinter sich. Am
achten seiner vierzehn Tage konnte
Gottlieb, als er auf
wachte, die Augen nicht öffnen. Alles, was er sehen würde,
würde weh tun. Das wußte er. Nichts mehr sehen, bitte. Nie
mehr. Das Leben ist eine offene Wunde. Gerade hatte er noch
geträumt, er liege auf einem Platz mitten
in der Stadt, habe die Finger
beider Hände in einander verschränkt,
versuche, die in einander verhakten
Finger zu lösen, er würde keine
Luft mehr kriegen, wenn es ihm nicht gelänge, die Finger zu
lösen, die Leute gingen links und rechts an ihm vorbei, sahen
nicht, daß er am Ersticken war,
daß sie zugreifen sollten,
seine Hände auseinanderreißen, sie taten¹s nicht, er erstickte
beziehungsweise erwachte. An Atemnot. Irgendwann zwang
er sich, die Augen zu öffnen, und stand sogar auf. Anna war
schon wieder auf Tour. Sie hatte ein Blatt hinterlassen: Jetzt
lies doch endlich einmal den MagdaBrief. Der lag daneben.
Die Überschrift: Meinen Eltern.
Ich möchte euch besuchen. Ich
habe per Internet gebucht.
Da ich das Häkchen schnelle Verbindungen nicht rechtzeitig
entfernte, tauchten die billigeren Angebote auf. RE (Eilzug).
Das heißt: statt 47 € nur 38 €. Und es dauert nur eine Stunde
länger. 6½ Stunden.
4mal umsteigen (Nürnberg, Augsburg,
Buchloe, Lindau). Mit Kreditkarte
gebucht. Für das Online Ticket
brauchte ich noch eine Zusatzzahl
zur Kreditkarten
nummer. Dann hatte ich das Ticket in meinen Händen, eine
Seite voller Daten und Nummern.
Bei der Fahrt muß die
Kreditkarte mitgeführt werden, sonst
gilt das Ticket nicht.
Der Schaffner muß alle Zahlen in sein Lesegerät scannen, zur
Kontrolle. Aber im Chor hat
doch eine von einem Bayern Ticket
geredet. Bis Lindau müßte das
gehen. Und es ging. Nur die
Abreise eine Stunde später. Das
BayernTicket gilt erst ab 9.
Das OnlineTicket stornierte ich. Am
nächsten
Morgen per email: die 38 € sind wieder auf meinem Konto.
Jetzt also das BayernTicket für 21 €. Und LindauÜberlingen
dann noch für ein paar Euro mehr. Das BayernTicket gibt es
nur per Post. Wenn es am
Donnerstag eintrifft, bin ich am
Freitag bei euch. Mit zweimal
Bus werden es 7 öffentliche
Verkehrsmittel, dauert 7½ Stunden und kostet keine 30 Euro.
Darauf freut sich eure Magda.
Als Gottlieb das gelesen hatte, wußte er wieder, daß Magda
ihn unter allen Umständen verstehen
würde. Nur Magda würde ihn
verstehen. Es ging nicht um
Billigung oder gar
Zustimmung, sondern um Verständnis. Magda würde nicht
urteilen. Sie ließ einen andauernd
spüren, daß man es ihr nicht
recht machen müsse. Nicht recht
machen dürfe. Sie begegnete einem
in einer feierlichen Anspruchslosigkeit.
Nicht nur ihm, allen. Aller Welt wahrscheinlich.
Er wußte, er konnte gehen. Die
kamen ohne ihn aus. Die
hatten ihren Halt. Gut, Anna, die ungern rechnete, hatte ihm
noch als Hausaufgabe hingelegt, daß
er umrechnen sollte,
wieviel 190 qm bei Dachschräge auf DIN ergäben. Er schrieb¹s
dazu: 154 qm. Und rief noch
am selben Tag in Chapel Hill
an. Und hörte zu: All
international circuits to the country
you are calling are busy now,
will you please try your call
later. Wie oft würde er das noch schaffen, sich aufzuraffen zu
diesem Anruf?
Schon am nächsten Tag konnte er
sich so konzentrieren, daß der
Anruf noch einmal möglich wurde.
Und er kam hinüber, kam nach
Chapel Hill, aber Chapel Hill
meldete:
We are sorry, you have reached a number that IS no longer in
Service. Gleich noch einmal. The number you are calling ist
not in Service at this time... Das war atemraubend. Das war,
als wäre er viel zu schnell
bergauf gerannt. Es dauerte längere
Zeit, bis er aus dem Japsen
herauskam und ihm
wieder ein Atmen gelang, ein Durchatmen. Daß ihm das so
den Kreislauf zerschlug, erschütterte ihn. Er hatte gedacht, er
sei Herr des Verfahrens, er
könne planen, entscheiden und
auf alles mögliche halbwegs klug und gefaßt reagieren. Und
jetzt erlebte er sich in reiner
Atemnot! The number you are
calling is not in Service at this time ...
Er mußte an diesem Abend trinken. Calvados. Mehr Calva
dos als Anna trank er. Zusammen
tranken sie eine Flasche
Calvados. Anna sagte: Unglaublich. Er sagte: Ich weiß. Aber,
sagte er, er sei in einer
Not, die er Anna nicht
enthüllen
könne. Er bat sie heftig, nicht nachzufragen, um welche Art
Not es sich handle. Eine
Gesundheitsnot sei es keinesfalls.
Bitte, Anna, verschieb alle Fragen
auf später. Er wird¹s
überleben. Dann ... nicht wahr. Annas Augen waren wieder
das Meer. Es war in diesen
Augen keine Willensäußerung
sichtbar oder spürbar. Der reine Blick. Annas reiner Blick. Er
sagte: Anna, ich bin dir
dankbar, wie ich dir noch nie
dankbar war. Sie sagte eben
nicht: Warum dankbar, sie sah
ihn nur an. Empfing ihn, wie einen nur das Meer empfangen
kann. Du spielst keine Rolle. Das tut gut. Es gibt dich nicht.
Das hilft.
Den Anruf am nächsten Tag zu
wiederholen wagte er
nicht. Aber es gelang ihm, in Port of Spain das Tourist Office
anzurufen. Madelon Pierpoint? Nein.
Jemand, der so heißt, arbeitet
hier nicht. Danke. Wieder die
Atemknappheit. Plus
Schweißausbruch diesmal. Er mußte aus dem Haus. Er ging,
rannte fast, nur weg von Anna. Er konnte sich ihr jetzt nicht
mehr aussetzen. In ihm stürmten
SanFranciscoBerkeley
und ChapelHillBilder durcheinander. Er konnte sich dieses
Ende nicht gefallen lassen.
Vielleicht war er drüben sogar
nötig. BeateJulietteThemire! Er könnte
jetzt zusagen für
immer. Es war durchgespielt. Eine bestimmtere Bestimmtheit
gab es nie. Sie, einmal am
Telephon: Sie habe die ganze
Nacht nicht geschlafen vor Wollen
und Nichtdürfen. Er mußte hinüber.
Die Dollars waren noch nicht zurückge
wechselt. Bravo! Bravo! Bravo! Anna brachte sich durch. Die
Töchter brachten sich beziehungsweise
ihre Männer durch.
Er wird sich durchbringen zusammen mit ihr. Sie wird ihre
Diss schreiben. Er kann helfen.
Mach mich zu deiner Frau, dann
schürft mich Lizard¹s Lächeln nicht
mehr. Hatte sie gesagt. In
einem der drei Zimmer, in denen
sie waren.
Sobald die Diss durch ist, beginnt das Leben, von dem sie in
ihren drei Zimmern geredet haben.
Nächtelang haben sie geredet. Die
Diss geschmissen, auf die Diss
geschissen. Das wird widerrufen. Was
kann sie getan haben? Wo kann
sie
sein? Nie mehr. Hat sie gesagt. Hat es sich versprochen. Das
heißt, er kann sich ihr in den Weg werfen. Wohin kann sie in
aller Panik geflohen sein? Mr.
Hardy anrufen? Niemals. Professor
Rosenne? Niemals. Er muß hinüber.
In der Ab teilung wird sie
hinterlassen haben, wo sie ist.
Sie hat doch
noch ihre Klasse. Er muß hin. Sie ist zu einer Freundin. Nein,
sie ist bei diesem Jeffrey, dem Ängstlichen, der feudal wohnt,
dem sie die Asche seines Vaters auf dem Green ausgestreut
hat. Der hat sie aufgenommen. Wahrscheinlich sogar keusch.
Aber einen Nachnamen hat sie nie gesagt.
So rannte Gottlieb durch die
Wälder. Saß dann vor Anna.
Verfluchte die Evolution, die aus
jedem einen Geheimnis
träger macht. Dieser Menschenpfusch. Da hockt man vor ein
ander und keiner sieht in den
anderen hinein. Read my
mind, please. Anna, siehst du nicht, daß ich ununterbrochen,
so gut wie ununterbrochen, nur
an Beate denken kann. Sie
beherrscht mich. Anna.
Aber da er ihr nicht sagen
konnte, wie es in ihm zuging,
und da sie nicht in ihn
hineinsehen konnte, saßen sie ein
ander gegenüber, stumm, leidend.
Allein jeder, aber zu sammen für
immer. War das das Gesetz? Oder
das Leben? Ihr Leben? Kein Tier
würde sich mit einer so miesen
Kom munikation abfinden. Ein Tier
würde aussterben oder sich
entwickeln. Annas Augen zeigten weder Geduld noch Unge
duld. Annas Augen sind das
Höchstmögliche. Aber diese Augen
sahen nichts, das waren Augen
zum Angeschaut
werden, nicht zum Schauen. Oder wußte, fühlte, merkte, sah
sie alles und wartete auf eine
alles überschwemmende Wörterflut?
Menschenpfusch, Oder war nur er
verpfuscht und alle anderen waren
fein heraus, lebten mit einander
in vollkommener Offenheit und
erledigten jede allenfalls auf
tauchende, sich bilden wollende Störung durch glimpfliches
Verbalisieren? Die Bibel, Denn der Mensch sieht auf
das, was vor Augen ist,
beutet diesen Evolutionspfusch schamlos
aus.
1. Samuel 16: Der HERR sieht auf das Herz.
Seit er wußte, daß er wieder
hinüber mußte, seit sich die
ThemireTagundNachtbilder in ihm schärften
und ihm seine Lebensversäumnisse
vorexerzierten, wollte er Anna etwas
melden, was er in Amerika in
der Zeitung gelesen hatte. Eine
Liebesgeschichte. Die reinste
Liebesgeschichte überhaupt. Eine
Begebenheit, die alle erfundenen und
pas
sierten Liebesbegebenheiten übertraf. Übertraf an Liebe. Eine
May Hyatt lag seit sechs Jahren
bewußtlos im Pflegeheim. Der
Verwaltungsangestellte Mr. Hyatt besuchte
seine Frau
zweimal in der Woche. Bei einem solchen Besuch erschoß er
seine Frau mit einer Pistole, danach tötete er sich durch einen
Kopfschuß. Was würde Anna dazu
sagen? Könnte sie das,
wie er, für die reine Liebe halten? Und wo ist das Denkmal
für John und May Hyatt? Es
müßte das höchsteschönste innigste Denkmal
der Welt sein. Das Denkmal für
den
einzigen Menschen, der je geliebt hat.
Gottlieb hatte Angst. Nachts fühlte sich seine Angst an wie
eine große Geschwindigkeit, die einem den Atem verschlägt.
Möglich, daß Anna nichts wußte von dem, was in ihm tobte.
Ja, tobte. Selbst wenn Anna
alles wüßte, wüßte sie nichts.
Aber gestern kam sie, blieb in der Türöffnung stehen, bis er
zugab, daß er sie bemerkt hatte, hielt ihm beide Hände hin,
in jeder Hand eine Kammhälfte. Er mußte ergänzen: Ihr war
beim Kämmen der Kamm gebrochen.
Aber weil er nichts sagte,
mußte sie sagen, was er hätte
sagen sollen. Was bedeutet das?
Sagte sie. Und er hatte nur
das Gesicht verziehen können, eine
Schmerzgrimasse produzieren. Er konnte
einfach nicht sagen, was sie,
ohne daß er es sagte, wissen
mußte. Und das, was er nicht
sagen konnte, wuchs
und wurde je länger um so unaussprechbarer.
Aber auch wenn er Mr. Hyatt
wäre, Anna war nicht be wußtlos.
Er hatte Angst. Und es ewig
auf den Evolutions
pfusch schieben, half auch nichts. Er hatte Angst. Innen und
außen, so unvereinbar wie noch
nie. Er konnte nicht mehr
liegen. Wie er sich auch zu
legen versuchte, es gelang kein
Liegenbleiben. Also stand er nachts auf, ging hinunter, setzte
sich in seinen Schreibtischstuhl und
starrte. Wenn die Unmöglichkeiten zu
grell wurden, flüchtete er aufs
Papier.
Das tat er auch jetzt. So schrieb er sich hin:
Morgen geh ich, fahr ich,
morgen bin ich nicht mehr,
wenn gefragt wird, ob ich,
bin ich nicht mehr,
falls gefragt wird, hier.
Dann kam der Brief. Es gibt
noch schöne deutsche Wörter, auch
neuere. Luftpost. Und wenn sie
dann auch noch aus
Chapel Hill kommt. Einen schöneren Ortsnamen als Chapel
Hill kann es nicht geben. Er flog dem Luftpostbrief entgegen,
riß das Kuvert auf, spürte schon den Inhalt, kein Briefpapier,
ein festlicher goldgeränderter Karton:
We were married
on April 23, 2001.
Beate J. Gutbrod
and
Dr. Rick W. Hardy
4.
Der See machte auf sich
aufmerksam. Er rauschte. Zu dringlich
laut, als wolle er unüberhörbar
sein. Man schaut
hinunter und sieht ihn, wie er heftig vorbeischiebt, als wäre
er ein Fluß. Von Westen nach
Osten schob er heute seine
grellgrünen Massen. Seine in der
Sonne gleißenden Wellen.
Grüngold gleißend. Und immer wieder weiß brechend. Das
sagte dem Segler, daß der Wind auf Stärke fünf zuging.
Gottlieb schaute von der Terrasse aus zu. Er hatte sich auf
den Platz der Besucherin gesetzt.
Dolphins mating, dachte Gottlieb. Und
rannte hinunter. Von weit draußen
hörte er
Segel knattern, bevor sie beim Wenden Wind faßten und in
die neue Richtung schlugen. Ohne
diese Signale der brau senden Bäume
und des im Aprilsturm rauschenden
Sees
wäre er wahrscheinlich nicht hinuntergerannt.
Der Wind hat für Bläue gesorgt, die Sonne prahlt, als habe
sie das geschafft. Und jagt den Mond vom Himmel.
Gottlieb hörte dem nichtssagenden
Rauschen zu. Und fühlte sich
informiert. Brausender, gleißender
Apriltag. Weder warm noch kalt.
Nur brausend. NIOBE
steckte noch in ihren Winterhüllen.
Er befreite sie, räumte das ange
schwemmte Holz vom Schienenweg, dann
ging er hinauf,
zog sich um, kochte, Zucchini indisch, wartete auf Anna. Sie
aßen so stumm, wie das üblich war. Seine Zucchini lobte sie.
Zum Kaffee servierte er ihr
Calvados, aber sich auch. Anna
staunte und sagte: Unglaublich. Was? Fragte er. Was dir alles
einfällt. Sie wies auf seine
Segelkleidung. Wenn du dich
beeilst, darfst du mit, sagte er. Schau doch, und wies hin auf
Wind, Wellen, Glanz und Brausen.
Oder ob sie heute nachmittag
nicht frei nehmen könne? Dann
müsse er allein
starten. Wäre aber schade. Das Wetter reicht für zwei, sagte
er. Also, sagte er, höchste Zeit. Komm oder komm nicht. Daß
er, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat, hastig wurde,
war sie gewohnt. Das rechnete
sie zu seinen unbehebbaren
Kindlichkeiten. Er will etwas, dann aber gleich.
Auf der NIOBE begrüßte er sie dann wie immer, das heißt,
so wie der Kapitän eines
Transatlantikkurses die an Bord
gekommenen Gäste begrüßt.
Da fiel ihm ein: Er hatte
die Schwimmwesten vergessen.
Also hinauf ins Haus und in den Keller und zurück. Er warf
die Westen Anna zu, daß sie sie verstaue. Er löste die Leinen,
mit denen der Bootswagen vertäut
war, ließ die NIOBE auf dem Wagen
ins Wasser gleiten, bis sie
sich vom Wagen abhob und
schwamm. Wie beim Stapellauf. Anna
hatte immer noch die Schwimmwesten
in den Händen, als habe
sie vergessen, wo die zu verstauen seien. Er rief ihr zu: In der
Kajüte! Sie rief zurück: Sie könne erst in die Kajüte, wenn sie
draußen seien. Er rief zurück:
Platzangst, ja! Da er schon
dabei war, das Großsegel hochzuziehen und der Wind sofort
in das noch nicht belegte Segel schlug, hatte Anna wohl nicht
verstanden, was er gesagt hatte.
Aber bei den Sätzen, die
gewöhnlich zwischen Eheleuten hin und
hergehen, fragt man, wenn man
einmal einen Satz nicht verstanden
hat, nicht nach. Es wird sich
schon nicht um etwas Wichtiges
gehandelt haben.
NIOBE war
luvgierig. Gottlieb auch. Diese
Seglerillusion,
daß du nicht nur hin und her geworfen wirst, sondern durch
kundige Vermittlung zwischen Wind,
Segel und Ruder selber bestimmen
kannst, wohin du mit diesem und
jenem
Wind zu kommen gedenkst. Sie schossen hinaus.
Anna sah, daß sie
gebraucht wurde. Gottlieb warf ihr
die Vorschot zu. Dann aber ließ
der gerade noch zupackende Wind
plötzlich nach, als habe er es
sich anders überlegt. Weithin
schlafften die geblähten Segel ab,
die Boote tau
melten in die Windstille. Gottlieb hatte in der Tasche, die er
mit aufs Boot nahm, immer ein Buch. Mit plötzlichen Flauten
war hier zu rechnen. Gottlieb nannte dieses Aufbrausen und
dann gleich wieder Abflauen die pubertäre Macke des Sees.
Er gehörte nicht zu den Seglern, die dann auf dem Vordeck
liegen und dösen. In L¹Homme Machine gab es eine Stelle über
Pascal. An die hatte er
gedacht, als er den Luftpostbrief
geöffnet gehabt hatte. Die hatte
er herausgesucht, um sie vorerst
immer dabei zu haben. Auch an
Bord. Gerade an Bord. Die
brauchte er jetzt. La Mettrie
hatte, was Gottlieb brauchte, in
einer Fußnote untergebracht. Er fand
die Stelle
beim Durchblättern sehr schnell. Anna lag auf dem Vordeck
und döste. Gottlieb las, was La Mettrie über Pascal meldete:
Wenn
man redend herumsaß oder beim Essen, mußte er links von
sich immer einen Schutzwall aus
Stühlen oder einen Nachbarn
haben, nur daß er nicht in die entsetzlichen Abgründe sehe, in die
zu stürzen er immer wieder befürchten mußte, wohl wissend, daß
das Einbildungen waren. Gottlieb fühlte, wie Pascal ihn anzog.
Er war La Mettrie dankbar für diese Mitteilung. Und merkte,
daß Pascal ihn in
diesem Augenblick ganz und gar
wegzog von La Mettrie. Daß
Pascal Stühle oder Menschen oder
Stühle und Menschen brauchte, du côté gauche brauchte
er die, pour
l¹empêcher de voir des Abîmes
épouvantables dans lesquels il
craignoit quelque fois de
tomber! Gottlieb fühlte sich
entdeckt. Von Pascal.
Das Wetter wollte seine souveräne
Launenhaftigkeit de monstrieren, schickte
eine Mütze voll Wind, mit der
heim zukommen war. Als sie auf
der schattigen Terrasse ihren Kaffee
tranken, und zwar ohne Calvados,
sagte Gottlieb, er möchte Anna
jetzt gern das SIE anbieten. Und sagte
gleich
dazu, daß Anna jetzt, bitte, nicht mit Unbelievable reagieren
sollte. Sie sollte, sagte er, so tun, als könne sie sein Angebot
ernst nehmen. Vielleicht könnten sie
einander ja kennen
lernen. Anna bot ihren unergründlichen Blick an und sagte:
Herr Zürn oder Herr Krall, wie
hätten Sie¹s gern? Gottlieb sagte:
In welche Sauce wir den Daumen,
den wir lutschen müssen, vorher
tunken, ist egal. Oder nicht?
Und Anna: Es gibt nichts, wofür
man nicht bestraft werden kann.
Und Gottlieb: Aber die Möglichkeiten
klirren. Und Anna: Wenn
Sie so wollen. Und Gottlieb: Ich will.