Zusammenfinden 

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

I.  
 
 
 
Zuviel  auf  einmal  sagen  wollen,  das  ist  ihre  ihr  bewußte,  aber deswegen nicht weniger unbehebbare Schwäche. 

Ihre   Schulaufsätze  waren  oft  genug  mißraten,  weil  sie  ihr  Allesaufeinmal  keiner  Komposition  unterwerfen  konnte.  Jetzt soll sie La Mettrie und ihn auseinanderhalten. Sie hatte  ihm schon zwei Briefe, Dankesbriefe, geschrieben. Hatte ihn  weder  mit  seinem  Namen  angeredet,  noch  am  Ende  mit  ihrem  Namen  gegrüßt.  So  waren  es  eher  Arbeitszeugnisse  geworden  als  Briefe.  Aber  sie  hatte  die  Vermeidung  der  Namen  doch  mit  ihrer  Namensscheu  begründet  und  die  entstanden  sein  lassen  aus  dem,  was  sie  ihr  BeateTrauma  nannte.  Und  wo,  wenn  nicht  in  Amerika,  könnte  man  den  bedenkenlosen  Vornamengebrauch  lernen!  Aber  es  ging  ja,  bitte, nur um La Mettrie, nicht wahr, Herr Krall! Und Herrn  ZürnKrall  war  es  doch  gelungen,  sie  zu  öffnen.  La  Mettrie  betreffend,  war  es  ihm  gelungen,  sie  zu  öffnen!  Wie  La  Mettrie  in  Deutschland  ankam,  nicht  ankam  ...  Wie  sie  das  nicht interessierte! Wie sie allein interessierte, wie La Mettrie  bei  ihr  ankam!  Und  alle  schreiben  sie  nur  darüber,  wie  andere ihn verstanden oder nicht verstanden haben. Sie war  eben  keine  Historikerin,  wahrscheinlich  überhaupt  keine  Wissenschaftlerin. 

Ceux  que la Nature aura favoris és, schaut man lieber an als  die,  die  zu  kurz  gekommen  sind.  Er  hatte  ihr  auf  seiner  Terrasse  das  Gefühl  gegeben,  sie  sei  gar  nicht  zu  kurz  ge kommen. Die Briefe an den Mann mit zwei Namen trug sie,  bevor  sie  sie  einwerfen  konnte,  tagelang  mit  sich  herum.  Jedesmal  mußte  sie  sich  mit  Martini  Extra  Dry  eine  Art  Bedenkenlosigkeit  antrinken.  Er  hat  die  Briefe  beantwortet.  Ganz  ungeniert  ließ  er  jeden  seiner  Briefe  mit  Liebe  Beate  beginnen.  Und  das,  obwohl  sie  sich  gleich  im  ersten  Brief  einen  krassen  Vergleich  abgerungen  hatte,  daß  nämlich,  ihren Vornamen serviert zu bekommen, für sie sei, als biete  man ihr an einem heißen Tag ein Glas Eau de Cologne zum  Trinken an. Würde er sie weiterhin so wenig ernst nehmen,  mußte  dieses  heftige  Aufkeimen  einer  eher  abenteuerlich  anmutenden Beziehung im Gedankensand der Selbstbeherr schung erstickt werden. So! 

Nachdem  Madelon und sie im vergangenen Winter ihre Er fahrungen  mit  Vornamen  ausgetauscht  hatten,  hatte  Made lon im Sommersemester einen Kurs über Vornamen angebo ten.  Bei  Charles  Bernheimer  stehe,  sagte  Madelon,  strange  first names were symptomatic of latent family degeneracy. 

Ihr   BeateTrauma  kam  vom  Gegenteil,  kam  von  der  furchtbaren  Gewöhnlichkeit,  die  ihr  aus  diesem  Vornamen  entgegenschlug.  Triefend  vor  Gutgemeintheit,  das  war  für  sie  Beate.  Ihm  hatte  sie  das  alles  gleich  im  ersten  Brief  gestanden.  Hatte  mit  ihrem  Vornamensproblem  begründet,  daß  sie  auch  seinen  oder  seine  Vornamen  nicht  aufs  Papier  bringe.  Und  kokett  hinzugefügt:  Oder  heißt  es  zu  Papier  bringe.  Nach  sieben  Jahren  Englisch  begännen  ihr  die  deutschen  Präpositionen  zu  verschwimmen.  Sie  schlug  vor,  daß  sie  in  Zukunft  mit  Julien  oder  Offray  beginne,  und  schließe mit Juliette. Warum sollten sie einander mit Namen  nennen,  die  andere  ihnen  verpaßt  hatten?  Warum  konnten  sie  einander  nicht  etwas  anderes  sein  als  anderen?  Das  schrieb  sie  nicht,  aber  sie  dachte  es.  Und  ihr  Denken  wucherte  so,  daß  sie  in  den  Briefen  streng  darauf  achten  mußte, ihre Fortgeschrittenheit nicht auf seine Zurückgeblie benheit  prallen  zu  lassen.  Falls  er  wirklich  zurückgeblieben  war  und  nicht  nur  so  tat,  als  ginge  es  um  nichts  als  La  Mettrie. 

Cher   Julien,  cordialement  Juliette.  Sie  sollten  einander  einfach taufen! So übermütig gab sie sich dann doch. Und er?  Er habe, was in ihrem Vornamen zu singen sei, zur Melodie  gemacht:  beade.  Für  den  tdAustausch  bitte  er  um  Verzeihung. Diese Töne seien inzwischen mächtig geworden  in ihm. Und fuhr fort, Briefe mit Beate zu eröffnen und mit  Gottlieb Zürn zu schließen. Also fuhr sie fort, in Anrede und  Schlußgruß  namenlos  zu  bleiben.  Jetzt  wollen  wir  doch  einmal  sehen,  wer  nachgibt.  Oder  sollte  sie  hoffen,  Gottlieb  Zürn  könne  sie,  so  wie  er  sie  auf  seiner  Terrasse  einen  Augenblick  lang  in  ihrem  Körper  hatte  heimisch  werden  lassen, auch noch mit Beate versöhnen? Als Vierzehnjährige  hatte sie ihrer zwölfjährigen Schwester Bettina einen Vorna menstausch  angeboten,  war  aber  von  dem  frühreifen  Gör  nur ausgelacht worden. Und jetzt einem Mann konfrontiert,  der offenbar ein Vornamensvirtuose war! Rosa, Magda, Julia,  Regina.  Lauter  Volltreffer.  Oder  wirkten  die  vier  Töchter namen nur so geglückt, weil der Kerl auf seiner Terrasse die  Namen präsentierte, wie man im Zirkus prächtige Tiere, eins  nach dem anderen, in der Arena auftreten läßt? 

 

Dr.  Douglas hatte von Anfang an gesagt, sie solle sich um  ihren Vornamen nicht kümmern. Vorerst. Der löse sich eines  schönen  Tages  von  selber  auf.  Aber  Madelon  hatte  keinen  Sinn  für  Umwege.  Sie  nannte  Beate  inzwischen  nur  noch  Juliette.  Und  die  hatte  das  Gefühl,  in  diesen  Namen  könne  sie hineinwachsen. Vielleicht lief sie schon bald mit dem hier  üblichen  VornamenDoppelpack  herum.  Beate  J.  Gutbrod.  Also mit J. − das J. englisch − klang das schon einmal nicht so  schlecht.  Sie  beschloß,  Briefe  probeweise  mit  Beate  J.  zu  unterschreiben.  Wenn  der  Flugplatz  DurhamRaleigh  nach  ihr benannt werden würde, B. J. G., das klang noch besser als  J. F. K.! Hoffentlich begriff Herr Zürn ihren Ernst bei diesem  Spiel.  Aber  auch  das,  was  Spiel  war  in  ihrem  Ernst.  Auf  seiner Terrasse hatte sie La Mettrie gehabt als Text für alles,  was sie hatte sagen wollen. Gottliebs zögerliche Art hatte sie  ermutigt.  Seine  Manier,  Sätze  nicht  zu  beenden.  Es  lohnte  sich doch nicht, Sätze zu beenden! Sie hatte sich wohlgefühlt  bei  diesen  hängengebliebenen  Sätzen.  Dieser  Mann  sprach,  wie er war! Kam bei ihr so gut wie nie vor. Von La Mettrie  schwärmend,  hatte  sie  wenigstens  eine  Art  Sehnsucht  ausdrücken  wollen.  Nichts  gelten  lassen  als  die  eigene  Erfahrung  und  die  davon  lebende  imagination.  Warum  sollte  man sich  nicht selbst  zum Thema machen? Ob Herr ZürnKrall  den  Satz  kannte?  Den  würde  sie  ihm  schreiben.  Mit  Quellenangabe:  Systéme  d¹Épicure.  Und  die,  die  über  La  Mettrie  schreiben,  sollen  jetzt  ihn,  ausschließlich  ihn  zum  Thema machen?! Und  ausschließlich  ihn,  das  ginge  ja  noch,  sie  aber  soll  erforschen,  darstellen,  wie  er  von  Lessing  und  Friedrich  II.  bis  Bernd  A.  Laska  und  Ursula  Pia  Jauch  in  Deutschland  verstanden  wurde.  Er  selbst  beruft  sich,  wenn  er sein Thema sein will, auf Montaigne. Also beruft sie sich  auf  ihn!  Sie  will  auch  ihr  Thema  sein  (dürfen).  Und  wird  nicht  wagen,  es  zu  sein!  Und  das  wird  alles  verderben!  Natur,  sonst  nichts.  Das  Leben.  Es  hat  nie  etwas  anderes  gegeben.  Zugeschmiert  von  Lüge,  Tünche,  Kulturtapete.  Wendelin  Kraus  erster  Aufsatz:  La  Mettrie  war  vor  Rousseau.  Die  Befreiung  der  Natur  aus  ihrer  Stromerzeugungs sklaverei.  Vom  Verwandlungszwang.  Sie  ist  doch  in  ihrer  kleinen  Zehe  ganz  enthalten!  Sie  liebt  ihre  kleine  Zehe!  Die  linke  und  die  rechte!  Ihre  kleinen  Zehen  sind  ihr  wichtiger  als  Descartes,  Kant,  Hegel  und  Konsorten.  Daß  die  Schön heit ... ach, die Schönheit ... Und er hatte nicht bemerkt, daß  er sie schöner gemacht hatte als sie ist. Er hat sie ein bißchen  angebetet.  La  Mettrie  war  Zeuge.  Sie  ist  durch  ihn  in  ihren  Körper  hineingewachsen.  Sie  hatte  das  Gefühl,  sie  könnte  nackt  auf  seiner  Terrasse  stolzieren.  Als  die  Frau  gegangen  war. Nach Pfullendorf. 

Dieser  Anfall von Lust auf Sichzeigen war ihr neu gewesen.  Sie hat an die Geschlechtsgenossen ihres Gastgebers gedacht,  die sich darin gefallen hatten, ihr zu sagen, sie rundete sich  in der und der Partie zu sehr. Und dann ihre Brüste! Brüste  waren nicht mehr gefragt! Sie hat im letzten Semester sechs  Kilo  abgenommen.  Er  hatte  sie  dort  auf  der  Terrasse,  nachdem  die  Frau  aufgebrochen  war  nach  Pfullendorf,  so  angeschaut, daß sie ihm das mit den sechs Kilo am liebsten  gesagt  hätte.  Durch  ihn,  nur  durch  seine  Art,  sie  anzu schauen,  war  sie  von  einem  unmißverständlichen  Übermut  durchströmt  worden.  Sechs  Kilo  abgenommen,  was  sagen  Sie dazu!  Aber so  etwas  kann man nicht sagen.  Genau das,   was  man  am  allerliebsten  sagen  möchte,  kann  man  am  allerwenigsten sagen. 

Ach,   Herr  La  Mettrie.  Nancy  Fridays  Jealousy.  Gerade  gelesen.  Sich  von  Büchern  entdecken  lassen.  Tut  am  we nigsten  weh.  Sie  ist  doch  immer  unglücklich  verliebt  ge wesen. Weil sie anders geliebt hat, als sie geliebt worden ist.  Sie  ist  eine  Liebende.  Eine  Art  Midasfluch.  Sie  will  nicht  einmal sich selber klar machen, wie sie das meint. Seine Tarte  Tatin war eine Kulturleistung. Die zweieinhalb Stunden mit  ihm  auf  der  Terrasse  waren  Stress.  Ihn  beeindrucken  zu  wollen,  das  war  Stress.  Er  ist  nicht  zu  beeindrucken.  Nicht  mehr.  Das  kann  auch  nur  ihr  passieren,  jemanden  beein drucken zu wollen, der nicht oder nicht mehr beeindruckbar  ist.  Und  sie  meint  nicht  sein  Alter,  sondern  sein  ...  seine  Fassung,  seine  Haltung,  seine  ganze,  von  ihr  auf  nichts  zurückführbare Unbeeindruckbarkeit. Bei La Mettrie gelernt:  Etwas, was man durch keine Erfahrung belegen kann, nicht  durch  Einfälle  ersetzen.  Er  hat  sie  einen  Augenblick  lang,  mehrere Augenblicke lang ein bißchen angebetet. Aber dann  war  er  wieder  gefaßt  gewesen.  Dann  wieder  nicht.  Aber  dann  doch  wieder.  Vor  lauter  Unterrichtenmüssen  wird  sie  zu  keinem  eigenen  Gedanken  kommen.  Gedankenflucht.  Ihre  Lieblingsbeschäftigung.  Sich  treiben  lassen!  Ferien!  Fünfzehn  Studenten  sollten  in  fünf  Ferienwochen  das  Pensum  eines  ganzen  Semesters  schaffen.  Deutsch  als  Philo sophensprache.  Daß  sie  dann  in  Professor  Glen  O.  Rosennes  NietzscheKurs  mitkämen.  Sie  hatte  jedem  Studenten  so  helfen wollen, wie ihr dort auf der Terrasse geholfen worden  war.  Angeblich  zweieinhalb  Stunden  lang.  Zusammenge schnurrt  auf  einen  Augenblick.  Das  Terrassenwunder.  So  wollte sie von jetzt an auf ihre Studenten wirken. Hegel geht  ohne Aufhebung nicht, und aufheben ist süddeutsch, da heißt  es, etwas bewahren, wozu ist sie bei Hegel daheim geboren,  aber es heißt auch, etwas nicht liegen lassen, wo es bis jetzt  lag, also sublate kann nur ein abstrakter Hauch sein von dem,  was Hegel aufhebt, wenn er von Aufhebung spricht. Und wer  nicht  weiß,  daß  reification  eigentlich  Verdinglichung  heißt,  ist  arm  dran.  Oder  Nietzsches  Gebrauch  von  Bosheit,  Mitleiden,  Weib,  Aufklärung,  Vornehmheit,  Tugend  und  Höhe  und  Tiefe.     Ferien!  Als  sie  kurz  vor  Semesterende  eher  frivol  durchs                     Ph.  D.   Qualifying  Exam  gestolpert  war,  hatte  Professor  Glen O. Rosenne die Dissertation angemahnt: Ende Septem ber die Gliederung, im Januar die Rohfassung der ersten drei  Kapitel.  Sie  hatte,  ohne  triftigen  Anlaß,  hingeplaudert,  die  Arbeit  werde  acht  Kapitel  enthalten.  Das  hatte  seinen  Appetit  gereizt.  Und  Rick  Hardy,  von  allen  Rosenne Assistenten der dünnlippigste, hatte gegrinst und gesagt, er  kenne  Beate −  wie  die  Beate  herausquälten,  weil  sie  vermeiden mußten, daß es nach beauty klang −, Beate werde  im Januar nicht drei, sondern sechs Kapitel liefern. Vielleicht  suchte Rosenne Assistenten, die so wenig Lippen hatten wie  er  selbst.  Er  wurde  als  lizard  gehandelt.  Rick  Hardy  war  nach der Prüfung mit ihr essen gegangen und hatte ihr seine  Dissertation  überreicht.  Gedruckt.  Revolt  as  Part  of  Socia lization.  Mit  Widmung.  You  are  of  my  kin.  Ein  anmaßendes,  besitzergreifendes  Kompliment.  Und  ever  yours.  Bei  dem  Händedruck,  mit  dem  er  ihr  gratuliert  hatte,  hatte  sie  leise  aufgeschrieen.  Obwohl  man  wußte,  daß  er  immer  seine  ganze  Kraft  in  den  Händedruck  legte,  war  man  dann  doch  jedes  Mal  wieder  unvorbereitet.  Herr  ZürnKrall  hatte  ihre  Hand auch ein bißchen fester gedrückt, als zu erwarten war,  aber  sein  fester  war  ein  Seligkeitsblitz,  verglichen  mit  der  Quetschung, die einem Rick Hardy antat. Daß Ricks Frau ihn  wieder  betrogen  hatte,  erwähnte  er  nebenbei,  wie  er  das  jedesmal  erwähnte,  wenn  man  mit  ihm  allein  war.  Er  habe  Elaine  jetzt  hinausgeworfen,  sagte  er  diesmal  so  dazu,  als  habe er damit zum letzten Mal von dieser Frau gesprochen.  Revolte als Unterwerfung, das wäre ihr Titel, wenn sie eine  Dissertation über Rick Hardy zu schreiben hätte. Der Rebell  als  Anwanze.  Aber  bei  diesem  Mittagessen  hatte  er  ihr  leid  getan.  Sie  hatte  ihm  einen  Augenblick  eine  Hand  auf  sein  haariges Handgelenk gelegt. Auf dem Kopf nichts, aber sonst  quollen  bei  dem  die  Haare  aus  allen  Öffnungen.  Sie  mußte  ihn besser behandeln. Nahm sie sich vor. Sie hatte ihn immer  Verachtung spüren lassen wollen, weil er so erfolgreich war  und  weil  sie  glaubte,  er  befördere  seinen  Erfolg  durch  jene  als  Revolte  verkaufte  Unterwerfung.  So  was  kam  an.  Sie  würde ihn von jetzt an anders behandeln. Er sollte glauben,  daß  er  auch  bei  ihr  angekommen  sei.  Schaden  konnte  es  nichts. Rick würde Karriere machen. 

I ¹ve not yet organized myself today. Wieder einmal. Dieses  unsolide  Durcheinander  zog  natürlich  Madelon  an.  Wenn  deren eigenes Leben an einem Tag zu wenig Organisations bedarf bot, bei Beate J. Gutbrod geisterte immer ein Dilemma  herum,  das  nur  von  Madelon  Pierpoints  Südstaatentem perament  in  das  Nichts  verjagt  werden  konnte,  in  das  es  gehörte.  Life  goes  to  the  movies.  So  einfach  war  das  heute.  Madelon  genoß  es,  wenn  ihr  gehorcht  wurde.  Und  Beate  J.  genoß  es,  Madelon  zu  gehorchen.  Madelon  stammte  aus  einer  jener  Familien,  die  ihre  Einwanderererfahrungen  wie  einen  Schmuck  tragen.  Da  wurde  bewahrt  und  vollfarbig  erzählt,  was,  wenn  die  Familie  zu  Hause  geblieben  wäre,  kaum die Saison, in der es passierte, überlebt hätte. Beate J.  konnte  von  dieser  Art  Amerikanistik  gar  nicht  genug  kriegen.  Die  erste  Frau  von  Madelons  Großvater  war  eine  Freundin  der  Frau  Sacher  in  Wien.  Die  zweite  Frau  ihres  Großvaters  kriegte  von  der  ersten  das  Rezept  für  die  Torte.  Sie mußte versprechen, das Rezept nur innerhalb der Familie  weiterzugeben.  Als  ihre  Köchin  es  einmal  einer  Schwester  weitergegeben  hatte,  wurde  sie  entlassen.  Diese  Köchin Schwester  hat  aber  nachweisen  können,  daß  sie  das  Rezept  vom Enkel eines ungarischen Kochs hat, der in Wien bei der  Konkurrenz von Sacher gelernt hatte. Also wurde die Köchin  wieder eingestellt. 

Madelon   arbeitete  an  ihrer  Beate.  Sie  konkurrierte  mit  Dr.  Douglas. Kürzlich hatte sie eine Notiz in Beates Fach gelegt:  The  doctor¹s  familiarity  with  the  patient¹s  history  is  contrasted with the doctor¹s anonymity to the patient. There  is  a  power  structure  expressed  in  the  unmasking  of  the  patient¹s  inner  life  vs  the  consistent  masking  of  the  doctor¹s  private sphere. The dilemma of transference. Oneway traffic.  The  patient¹s  illusion  of  intimacy  in  a  Professional  relation ship. And once more the well known pattern: the unapproa chable  paternal  figure.  You  know  less  about  the  person  Dr.  Rufus Douglas than about any other man. 

Madelon   kämpfte  um  ihre  Freundin  und  verband  diesen  Kampf mit ihrer Doktorarbeit. 
Freud, as Novelist of the Victorian Age. Untertitel: The Pseudo Illness of the Feminine Other. 
 
The sociosexual atmosphere im bürgerlichen Wien um 1900  machte  sie  verantwortlich  für  alles,  was  Freud  je  gedacht  und  geschrieben  habe.  Das,  potenziert  durch  die  Energie zufuhr des jüdischen Glaubens an die Erlösbarkeit. Und daß  für  Erlösung  nicht  dies  und  das  gut  sein  kann,  sondern  immer  nur  eins.  Die  Psychoanalyse  als  der  säkularisierte  Monotheismus.  Und  Beate  ist  Madelons  aktuelles  Studien objekt.  Dr.  Douglas  lachte  zwar,  aber  sie  spürte,  daß  er  Madelon Pierpoint als Kampfansage verstand. Da kämpften  zwei um sie. Und sie? Wartete darauf, von Herrn ZürnKrall  zu hören, daß er auch ein bißchen um sie kämpfte. 
Sie  beneidete  Madelon.  Die  forschte,  wühlte,  formulierte,  schrieb,  es  ging  immer  um  ihr  Leben.  Madelon,  Geliebte  eines Ingenieurs. Ein Environmental Analyst, einer der Stars  des  carolinischen  Scientific  Triangle,  das  das  Silicon  Valley  übertreffen wollte. Er entwickelte Methoden und Maschinen,  mit  denen  man  das  Wasser  unvorstellbar  sauber  machen  konnte.  Für  die  ChipProduktion  bei  Texas  Instruments.  Sie,  als  Madelons  engste  Freundin,  durfte  den  Eindruck  haben,  Madelon  schreibe  ihre  Doktorarbeit  gegen  diesen  Brian  Dewey,  der,  nebenan  in  Durham,  Weib  und  Kind  hat  und              11  Angestellte,  3  Häuser,  3  Autos,  1  Cessna,  zweimotorig,  und in Chapel Hill 1 Geliebte, die er zweimal im Monat von  Louis, seinem farbigen Fahrer, irgendwohin holen läßt, und  sei¹s  zum  Flugplatz,  daß  sie  mit  einander  auf  die  Virgin  Islands  flögen  und  Madelon  dann  zurückkäme,  von  St.  Thomas  schwärmend,  einer  mit  dichtgrünem  Pelz  bewach senen  Insel,  die  in  sanften  Küstenlinien  den  schmalweißen  Strand  bietet,  gehörend  zu  den  sieben  schönsten  Stränden  der  Welt.  Oder  einfach  mal  schnell  nach  Tangier  Island  rüber, ChesapeakeBayCrabs essen und zurück, nur um eine  erregende  Beweglichkeit  zu  erleben.  Ans  Verrückte  gren zende  Unternehmungen,  das  ist  Brians  Spezialität.  In  der  ersten Stunde sind Brians Haare immer total elektrisch gela den, weil er gerade noch vier Stunden lang telephoniert hat.  Er fährt sich quer durch die weichreichen Haare, dann knis tert  das,  Madelon  geht¹s  durch  und  durch.  Am  erstaun lichsten:  daß  Madelon  immer  noch  hoffte,  Brian  werde  sie  eines  Tages  heiraten.  Inzwischen  hatten  beide  BrianSöhne  den  Pilotenschein.  Madelon  wird  das  dargeboten,  als  solle  oder könne sie teilnehmen am Vaterstolz. Und sie tut¹s. Ob er  sie nach Surf City schleppt oder über¹s Meer hinaus, er bringt  es  ihr  dar.  Und  sie  nimmt¹s.  Nur  wenn  er  seinen  Hund  Jonathan  mitbringt  und  mit  ihr  und  Jonathan  nackt  in  den  Whirlpool  will,  streikt  sie.  Oh  Madelon!  Wie  soll  man  ihr  sagen, daß diese Affäre aussichtslos ist?! Eine Affäre ist eine  Affäre,  auch  wenn  sie  zehn  Jahre  dauert.  Beate  hatten  drei  Jahre  gereicht.  Allerdings  hatte  Gert  Laubenthal  ihr  zwei  Jahre lang erfolgreich verschwiegen und verheimlicht, daß er  seit  Jahren  verlobt  war.  Es  war  tatsächlich  Rick  Hardy  ge wesen, der immer über alle alles erkundete und sein Wissen  karrierefördernd  verwendete,  er  hatte  ihr  den  sogenannten  reinen  Wein  eingeschenkt  über  ihren  Liebsten.  Aber  weder  Gert noch sie konnten auf einander verzichten, nur weil jetzt  eine  Verlobte  mitverkraftet  werden  mußte.  Im  Gegenteil.  Ihre Liebe, oder das, was sie dafür hielten, flammte auf, Gert  versprach,  sich  baldigst  zu  entloben,  sie  wurde  sogar  schwanger,  aber  damit  wäre  sie  für  das  Ph.D.Programm  ausgefallen,  also  Abtreibung,  und  ist  als  Schwangere  noch  mitmarschiert  beim  AntiAbortionClinicMarch,  aber  Gert,  der Deutschland nachts verlassen hat, nachdem er mitten in  Köln  einen  Unfall  verschuldet  hatte  und  unter  Schock  über  die Grenze floh und sich dann nie mehr zurücktraute, dieser  Erfahrungsgesättigte  und  inzwischen  Assistant  Professor  Gewordene hat ihr zur Einsicht verholfen, wie unreparierbar  der Karriereknick durch ein Kind werden müßte, also hinein  in  den  Warteraum  der  Illusionen,  danach  war  Gert  so  lieb  wie  noch  nie,  Häuser  angeschaut,  Möbel  beguckt  für  den  Livingroom, dann teilt ihr der immer aufmerksame Rick mit,  daß Gert seine Verlobte inzwischen geheiratet hat. Immerhin  konnte sie jetzt nichts mehr essen. Eine Zeit lang. Acht Tage  vor  Gerts  Hochzeit  waren  sie  noch  mit  einander  im  Bett  gewesen. Und sechs Wochen nach der Hochzeit auch wieder.  Es  war  das  Telephon,  das  sie  wieder  zusammenbrachte.  Dann  gebar  Gerts  Frau.  Das  war¹s.  Jetzt  ging  nichts  mehr.  Auch  das  Essen  ging  nicht  mehr.  Anorexie.  Behandlung.  Also Dr. Douglas. Ihm verdankt sie mehr als jedem anderen  Menschen.  Gert  Laubenthal  hat  sich  nach  Philadelphia  beworben.  Das  fand  sie  dankenswert.  Dort  ist  er  angenom men  worden.  Tenure.  Telephoniert  wird  nicht  mehr.  Das  alles hat Madelon noch vor sich. Madelon kennt jede Drecks sekunde,  die  ihre  Freundin  durchzustehen  hatte.  Aber  sie  weiß natürlich, daß ihr so etwas nicht passieren kann. 
Zuerst  hielt  Beate  das  Überseerauschen  für  die  Ankün digung  eines  BettinaAnrufs.  Bettinas  ostwestfälischer  Samenhändler  war  dabei,  sich  umzuschulen  auf  Program mierer.  Aber  es  war  der  Terrassenmensch  mit  den  unbe nutzbaren  Namen.  Und  der  rutschte  einmal  sogar  ins  Du.  Einen Freudian slip konnte sie das nicht nennen. Ihr blieb die  Spucke  weg.  Wie  anders  sollte  sie  sich  denn  diese  jähe  Mundtrockenheit  erklären!  Der  Herr  dort  an  der  Strippe  kriegte  sich  auch  gleich  wieder  ein −  so  würde  sich  ihre  deutlich  flottere  Schwester  ausdrücken −  und  brachte  einen  Selbstverhinderungstext  zustande,  der  ihr  durch  und  durch  ging. Er sagte ihr, daß er ihr nichts sagen könne. Aber daß er  ihr  nichts  sagen  könne,  müsse  er  ihr  doch  sagen.  Und  legte  auf  und  ließ  das  Überseerauschen  über  ihr  zusammen schlagen. 
Die  Sinne  sind  seine  Philosophen,  heißt  es  bei  ihrem  Patron. Sie malte sich die zwei Buchstaben auf ein Blatt. DU.  Und ließ diese Buchstaben auf ihre Sinne wirken. Spielte sich  das gehörte DU zu, während sie das gemalte  DU ansah und  überließ sich der Flut; wie sonst sollte sie die Wucht nennen,  die  jetzt  am  Zunehmen  war.  Am  liebsten  hätte  sie  jetzt  Bettina angerufen und sich in diesem Zustand ihr ausgesetzt,  nein, präsentiert. Als Frischgeduzte! Krieg dich ein, Schwes terchen,  würde  Bettina  sagen.  Beate  dachte  bei  manchen  BettinaSätzen, daß es die, als sie noch drüben gewesen war,  noch nicht gegeben hatte. Ihm, dem Herrn auf der Terrasse,  müßte sie sagen können, daß sie Erkenntnis schöpfe aus dem  puren  DU.  Aber  sie  konnte  dort  nicht  anrufen.  Die  ganz  gewöhnliche  Machtstruktur.  Sie  müßte,  wenn  Frau  Anna  oder gar, gerade hereingeschneit, Regina, Julia, Magda oder  Rosa  am  Apparat  wäre,  schlicht  vergehen vor  Verlegenheit.  Ihm  sagen  und  Herrn  Rosenne  sagen  und  dem  eifersprü henden  Rick  Hardy  sagen,  daß  man  mehr,  als  La  Mettrie  erkannt hat, nicht erkennen kann, jetzt und immerdar. Leider  müßte  sie  das  nicht  sagen,  sondern  beweisen.  Die  Äußer lichkeit  der  Buchstaben  und  die  Erfahrung,  die  sie  in  ihr  bewirkten. 
Alles  eins  hat  schon  vor  fünfzehn  Jahren  ihr  Terrassen mensch  geschrieben.  Wer  einmal  das  Richtige  berührt  hat,  kann  nicht mehr überholt werden. Als der  Patron erkannte,  wie  l¹imagination  von  l¹expérience  bestimmt  ist,  hat  er  die  Durchgängigkeit  des  Bewußtseins,  des  Denkens,  des  Daseins,  die  Unteilbarkeit  überhaupt  erfahren.  Dieses  DU  macht vor nichts halt, reicht überall hin, ist eine Quelle uner schöpflicher  Erfahrung.  Sie  sieht  das  Buchstabenpaar  DU  und  weiß,  daß  sie  gemeint  ist,  und  es  bewegt  sie,  wie  noch  nie  etwas  sie  bewegt  hat.  Zwei  Buchstaben,  eine  optische  Figur,  und  sie  flutet,  schwillt,  blüht,  kippt  ...  Das  hat  viel  mehr mit ihr zu tun als mit diesem Herrn ZürnKrall. Julien  Offray  de  La  Mettrie  kennt  sie  besser  als  dieser  deutsche  Geheimrat. Statt nachzuzählen, wie und wie oft La Mettrie in  Deutschland  verstanden  und  mißverstanden  worden  ist,  möchte  sie  jetzt  nachweisen  können,  daß  man  mehr,  als  er  erkannte  (per  l¹expérience  und  l¹imagination),  auch  in  der  Zwischenzeit  nicht  erkannt  hat.  Höchstens  weniger.  Es  gibt  (zum  Glück)  auch  Rückschritte.  Sonst  gäbe  es  ja  keinen  Fortschritt. 
... pourquoi diviser le Principe sensitif qui pense dans l¹Homme?  Denn  etwas,  was  man  geteilt  hat,  kann  nie  mehr  ohne  Krampf  als  unteilbar  erlebt  werden.  Sagt  der  Patron.  Und  trotzdem  reden  auch  die  Gescheitesten  von  Materie,  Geist,  Stoff,  Seele  usw.,  als  gäbe  es  zweierlei.  Der  KrallAufsatz  Alles  eins  wurde  nicht  gelesen.  Alles  geht  immer  so  weiter.  Aber, sagt Julien, es sprechen die Wälder, die Echos seufzen, die  Steine  weinen,  der  Marmor  atmet,  ja,  tout  prend  vie  parmi  les  corps  inanimés.  Unterschiede  gibt  es  nur  durch  den  Organisationsgrad.  Stimmt¹s?  Der  Organisationsgrad  (der  Materie)  ist  der  einzige  Unterschied  zwischen  Wurm  und  Hund und Mensch und so weiter. Der schimpfende Lessing.  Porneutik  will  er  La  Mettries  Lebenskunst  genannt  wissen.  Vielleicht das erste Mal, daß ein Sittenbeobachter eine seriöse  Schrift Porno schimpft. Weiß der Geier, was der gerade mal  einundzwanzigjährige,  anakreontisch  vertändelte  Lessing  in  seiner Bundhose beherbergt hat, daß er hat so böse reagieren  müssen  auf  den  naturbegnadeten  Mann  aus  dem  Heiligen  Malo. Wie konnte er nur am 2. November 1750 seinem hoch zuehrenden  Herrn  Vater  schreiben,  das  La  MettrieBuch  über  das Glück, sein Discours sur le Bonheur, sei nur zwölfmal ge druckt worden, und die Abscheulichkeit dieses Buches habe  dazu  geführt,  daß  der  König,  der  Große  Friedrich  also,  daß  der  höchstselbst  zehn  Exemplare  davon  ins  Feuer  geworfen  hat.  Da das mit dem, was sie über das Verhältnis des Königs zu  seinem  Leibmedikus  La  Mettrie  weiß,  nicht  übereinstimmt,  muß sie das in ihrer Dissertation klären. 
Der  Post  ist  ein  Streich  gelungen.  Sein  Brief  war  vierzehn  Tage unterwegs. Living in suspense. War sie zu weit gegan gen? Pangs of conscience. Wurde ihr Brief dort am Familien tisch auseinandergenommen? Belächelt? Beschimpft? Zerris sen? Schon war sie drauf und dran, einen Kommentar hinter herzuschicken:  Alles  nur  Wissenschaft,  Ichexperiment,  hat  La  Mettrie  recht,  wenn  er  usw.  Allerdings,  der  deutsche  Briefstilist turnt ganz schön im Vorsichtigen herum. Gerade,  als  könnten  seine  Briefe  auch  bei  ihr  noch  jemandem  in  die  Hände  fallen,  der  nichts  merken  darf.  Und  dann  wacht  sie  auf  mit  der,  nein,  in  der,  nein,  an  der  Gewißheit,  daß  ein  Brief  von  ihm  da  sein  werde.  Und  sofort  begreift  sie  nicht  mehr,  wie  man  sich  überhaupt  täuschen  kann.  Sie  lebt,  allerdings nur augenblicksweise, im Zustand solcher Gewiß heit.  Als  sie  dann  in  der  Abteilung  Glen  O.  Rosenne  begegnete, spürte sie sofort, daß die Daseinsfülle, die sie im  Augenblick  ausstrahlte,  seine  Dünnlippigkeit  drastisch  verschärfte. Dabei hatte sie den heutigen Brief noch gar nicht  gelesen.  Sie  las  die  Briefe  aus  Deutschland  immer  erst  abends. Sie mußte dieses Briefelesen zelebrieren. Kerze und  Komik inklusive. Rosenne, sofort alles erfassend, fand sofort  die  richtigen  Wörter  zur  Beendigung  ihres  Zustands.  Sie  dürfe  sich  nicht  an  die  einzelnen  Stationen  des  La  Mettrie Wegs in Deutschland verlieren, etwa dadurch, daß sie jeder  Station  dieses  Wegs  von  Lessing  bis  Laska  ihr  Recht  oder  Unrecht nachwiese, sie solle sich möglichst nicht einmischen,  sondern  nur  darstellen,  berichten,  alles  andere  müsse,  bei  ihrer psychischen Verfassung, wegen notorischer Selbstüber forderung  in  Panik  enden.  Nachdem  er  dieses  Wort  (panic stricken) eingeführt hat in den Dialog zwischen ihr und ihm,  will  die  Panik  in  ihr  wachsen  und  gedeihen.  Seitdem  ist  sie  on the edge. 
Als  sie  siebzehn  war,  hat  sie  sich  mit  der  Schere  aus  dem  Familienbild  herausgeschnitten.  Mit  neunzehn  ab  nach  Amerika.  Inzwischen  gibt  es  nichts,  was  sie  so  froh  stimmt  wie  die  Gewißheit,  nie  mehr  siebzehn,  achtzehn,  neunzehn  sein  zu  müssen.  Daß  der  Vater  zwei  Jahre  später  von  Untertürkheim  nach  Manhattan  überwechselte,  weil  Mer cedes  ihn  an  der  Front  brauchte,  kann  einen  Zufall  nennen,  wer  keinen  Durchblick  hat.  Schwester  Bettina  (die  hat  einfach  den  besseren  Namen  erwischt!)  war  da  schon  so  verliebt und fast verheiratet, blieb also in Stuttgart. Statt der  Töchter  hat  die  Mutter  zwei  Wellensittiche  (einen  gelben,  einen  blauen),  im  Scarsdale  Home.  Mit  denen  unterhält  sie  sich, wenn der Vater im Whently Hill Club seine Pflicht tut.  Wenn  er  abends  nicht  heimkommt,  ruft  die  Mutter  die  Tochter  an  und  sagt,  der  Erzeuger  sei  wieder  ins  19.  Loch  gefallen.  So  nennen  die  Golfer  dort  die  Country  Club  Bar.  Seinen Job in New York malt er immer so aus: In dieser Stadt  deutsche  Autos  verkaufen,  das  ist  wie  barfuß  durch  die  Wüste. Und nie vergißt er den Witzsatz eines Kunden, eines  jüdischen  Kunden,  bitteschön: In  den  USA  leben  5½  Millio nen  Juden,  davon  6  Millionen  in  New  York.  Dieser  Vater  kommt  aus  Deutschland  nicht  heraus.  Dabei  trägt  er,  be richtet  die  Mutter  am  Telephon,  in  seiner  Freizeit  unsäglich  gesprenkelte Shorts. Vater unser. 
Daß man von Briefen, die noch nicht eingetroffen sind, am  Telephon  erfährt,  sogar  Inhaltliches,  Temperaturhaftes,  das  zeigt,  wie  in  unserer  Kommunikationszivilisation  das  eine  Medium  das  andere  überholt.  Sie  hoffte,  es  finde  keine  darwinistische  Auslese  statt.  Sie  konnte  inzwischen  ohne  Briefe  so  wenig  leben  wie  ohne  Anrufe.  Dem  Briefschreiber  dort  empfahl  die  Empfängerin  (schon  das  ginge,  bliebe  es  beim Telephonieren, verloren: Empfängerin), ihr nach Hause  zu  schreiben,  die  UNC  ist  berüchtigt  wegen  ihrer  lahmen  Postverteilung. Auf das Angerufenwerden konnte die Ange rufene  nicht  verzichten,  weil  sie  da  die  Gewählte  war.  Der  Dortige  aber  hat  in  beiden  Medien  die  gleichen  Hemmun gen. Die Empfängerin hat im vergangenen Jahr drei Heirats anträge  empfangen.  Könnten  Mitteilungen  dieser  Art  den  Sender drüben ermutigen, sich in der Selbstzensur mäßigen  zu  wollen?  The  ball  is  in  your  court  now.  You  have  to  determine  the  limits.  Die  kindliche  Anhänglichkeit  des  letzten Bewerbers hatte in ihr Weißglut produziert. So etwas  erlebt  zu  haben  heißt,  es  bei  einem  anderen  vermeiden.  L¹expérience  und  L¹imagination.  Andererseits  pfeift  sie  auf  Kontakt,  wenn  sie  sich  nicht  eingestehen  darf,  daß  sie  bei  Wendelin Krall Bestätigung suche (reassurance). Gegen Glen  O.  Rosenne.  Bei  dem  gibt  es  Anerkennung  nur  in  homöo pathischen Dosen. Zum Glück hat sie Patricia Best. Zu einem  Doktorvater  gehört  eben  auch  eine  Doktormutter.  Ohne  Patricia  Best  wäre  sie  längst  nicht  mehr  hier.  Wo  sie  dann  wäre?  Wo  der  Pfeffer  wächst.  Sagt  man  das  noch?  Patricia  Bests  Mutter  ist  1937  an  einem  Freitag  in  New  York  angekommen,  sechzehnjährig,  mit  zehn  Mark,  das  waren  zwei  Dollar  fünfzehn,  und  einer  Leica,  für  die  sie  fünfunddreißig  Dollar  kriegte.  Ihre  Mutter  hatte  ihr  die  mitgegeben,  hatte  gesagt,  dafür  kriegst  du  hundert  Dollar.  Alle  Emigranten  haben  Leicas  mitgebracht.  Patricias  Mutter  hat  dann,  sechzehnjährig,  in  einem  Cheese  Wholesale  and  Grocery  angefangen,  Juli  37,  das  sei  der  heißeste  Sommer  überhaupt gewesen, Patricias Mutter sollte die Bestellungen  am  Telephon  entgegennehmen.  Aber  die  kamen  alle  auf  Jiddisch.  Nach  drei  Wochen  kapitulierte  sie.  Wegen  der  Zahlen.  Sie  konnte  einfach  die  Zahlen  nicht  lernen.  Patricia  Best  sagt,  es  gebe  niemanden,  der  so  zuhören  könne  wie  Beate. Und ihre Mutter ist ja auch in Stuttgart geboren. Wie  Beate. Obwohl Patricia Best nur einmal in Stuttgart gewesen  ist,  1986,  und  dann  beschlossen  hat:  Nie  wieder!  nennt  sie  Beate  manchmal  fast  zärtlich:  Meine  Stuttgarterin.  Auf  Deutsch!  Sie  kann  noch  viel  mehr  Deutsch,  als  sie  zugibt.  Außer  Beate  hört kein  Mensch  ein deutsches Wort von  ihr.    
Auch  Leo  nicht,  ihr  Mann.  Das  hat  sie  Beate  gestanden.  Ja,  das war ein Geständnis. Fast eine Liebeserklärung. 
Aber beide, Patricia Best und Glen O. Rosenne, warnen sie:  Das  sei  Beates  Schwäche,  die  Neigung,  im  Wissenschaft lichen  in  einen  allzu  persönlichen,  gar  privaten  Ton  zu  verfallen. Aber Madelon, der Beate das hinweinte: 
Freuds  Fallbeispiele  sind  bei  weitem  nicht  bloß  medizini sche  Befunde,  sondern  höchst  persönliche  Geschichten,  ihm  dienend  zur  Selbstbeleuchtung.  Aber  dann,  sagte  Madelon,  dann bricht er ab, wenn es brenzlig wird (when it hits home). 
Natürlich  kann  man,  redet  es  in  ihr,  die  Geschichte  von  Lessing  bis  Ursula  Pia  Jauch  nachturnen  und  mit  heute  im  historischen  Kaufhaus  billig  zu  erstehenden  Farben  nach malen;  nichts  ist  risikoloser  als  das:  Heute  nachbeten  den  Eifer  der  Fundamentalisten,  die  Aufklärer  waren  und  Les sing  und  Diderot  und  so  weiter  hießen;  nachbeten  die  Ent wicklungen, die eher auf Wanderwegen und in den Toiletten  feinerer Internate, eher in Salons und Kaschemmen als in den  Hallräumen der Wissenschaft, gar der Philosophie, erbracht  wurden;  nachbeten,  wie  dieser  Eifer  feindseliger  Toleranz prediger inzwischen eher komisch wirkt und La Mettrie jetzt  doch jedermanns (wenn auch noch nicht jeder Frau) Darling  ist! 
Wut. Soweit sie sieht, kommt Wut nicht vor bei La Mettrie.  Ihr Leben besteht aber aus Wut und aus den Versuchen, sich  davon  abzulenken. Die  Wut  ist  die  Mauer  gegen  Angst.  Sie  weiß, sie ahnt mehr, als sie weiß, daß in ihr die Angst lauert.  Die tut so, als sei sie die Wahrheit. Alles andere sind Masken.  Nur die Angst wäre das, was ihr entspricht. Die Angst und  sie.  Allein.  Das  wäre  Wahrheit.  La  Mettrie  hatte  als  der  wahre Kolumbus genug zu tun mit der Entdeckung unserer  unteilbaren Existenz. Dann folgt Freud mit Dora beziehungs weise  Beate  J.  Gutbrod  mit  Wendelin  Krall.  Natürlich  ist  es  ein  Rückschritt,  nach  der  Entdeckung  unserer  Unteilbarkeit  wieder  auf  Unterbewußtsein  und  ÜberIch  zurückzufallen.  Aber  Hysterie  beziehungsweise  Wut  sind,  je  näher  wir  sie  bei ihrer Herkunft lassen, um so treuere Zeugen. Mad woman  in the Attic. Das las sie mit Reingewinn! Also unterschlug sie  nicht  mehr,  wie  sie  jetzt  hier  saß:  hellrosa  Jogginghosen  (in  denen noch nicht ein einziges Mal gejoggt wurde) und hell grünes Sweatshirt. Glen O. Rosenne, der ihr letzte Woche La  Mettrie  in  der  FayardAusgabe  vorbeibrachte,  sagte  ganz  munter,  in  diesem  Schlafanzug  müsse  sie  von  himmlischen  Limonaden träumen.  Aber 27 Aufsätze ihrer Literaturklasse  warten  auf  ihrem  Schreibtisch  darauf,  von  ihr  gelesen  UND  benotet  zu  werden.  Schreibtisch!  Um  überhaupt  transat lantisch  vorstellbar  zu  werden, muß  sie  doch  mitteilen,  daß  ihr  Schreibtisch  eine  alte  Tür  ist  (von  ihr  im  Trödelmarkt  gekauft, dann, von ihr, blau gestrichen), auf zwei Holzböcke  gelegt, wie sie in Malerwerkstätten vorkommen. Schrecklich,  wie  wichtig  es  einem  ist,  daß  der  andere  (the  other)  sich  vorstellen kann, wie man leibt und lebt. (Mehr leibt als lebt).  Am  schwersten  waren  tatsächlich  Anfang  und  Ende.  Bei  Briefen!  Oder  überhaupt.  Im  Augenblick  ganz  und  gar  der  Unwirklichkeit  hörig,  schrieb  ihr  German  Other  seelenruhig  hin. Schriebe das die Empfängerin, versagte ihr bei hörig die  Hand. Auch hätte sie vielleicht das Gefühl, sie habe sich mit  so einem Satz bei Nacht in einen Urwald gestoßen. In einen  tropischen dazu. Gemalt aber vom Zöllner Rousseau. Von ih rer  gemalten  Nacktheit  sieht  man  hauptsächlich  die  Füße.  Die  streckt  sie  dem  Beobachter  entgegen.  Sie  ist  überhaupt  stolz  auf  ihre  Füße.  Sie  kann  sich  nicht  sattsehen  an  ihren  Nägelhalbmonden.  Die  hat  sie  angepinselt.  Rubinrot.  Rot röteramrotesten. Ach, Deutsch, diese Sprache, in der mehr  verboten als erlaubt ist! 
Daß  die  Mutter  ihre  zwei  Sittiche  immer  noch  bei  der  Tochter  deponieren  muß,  wenn  sie  mit  ihrem  Mann  in  Fort  Lauderdale,  Florida,  Urlaub  verleben  will,  zeigte  der  Tochter, wie wenig die Eltern in Amerika angekommen sind.  In diesem Land, in dem alles Menschliche sich zuerst einmal  als  Nachbarschaft  auslebt!  Wenn  sie  die  zwei  Schnäbel  in  Pflege nahm, mußte sie einerseits so tun, als sei sie glücklich,  Hansel  und  Gretel  endlich  wieder  beherbergen  zu  dürfen,  andererseits durfte aus ihrem Glück nicht zu schließen sein,  sie sei einsam und deshalb sittichfroh. Eine einsame Tochter  in  Chapel  Hill,  das  würde  dem  Sittichpaar  in  Fort  Lauderdale  die  Urlaubsmelodie  verstimmen.  Es  ist  doch  schön,  wenn  zwischen  Eltern  und  Kindern  alles  bis  ins  Feinstkleinste geregelt ist, ohne daß das je formuliert werden  muß.  Das  sind  die  zwingendsten  Verträge,  die  gelten,  ohne  geschlossen werden zu müssen. Zuerst streiften Mutter und  Tochter durch Antiquariate. Für fünfzig Dollar sechs Bücher:  Lessing  (1824),  König  Ödipus  (1785),  Cicero  über  die  Pflichten  (1784),  Diderot  (1774),  Rousseau  (1789),  Holbach  (1776).  Dafür  mußte  die  Tochter  mit  in  die  Antique  Stores.  Die Mutter ist nicht mehr scharf auf Meißen, sondern auf die  schüsselartigen  Teller  aus  der  Mingdynastie.  Die  Entzük kenslaute  der  Mutter!  Nirgends  sei  soviel  aus  der  Ming dynastie  hängen  geblieben  wie  in  North  Carolina,  zwitscherte  sie,  wenn  wieder  eine  Schale  erobert  war.  Daß  antique  heißt,  was  es  heißt,  weiß  die  Mutter,  daß  aber  antic  soviel wie grotesk heißt, weiß die Mutter nicht. Daß Beate J.  ihrer  Madelon  die  Eltern  vorenthielt,  nahm  sie  sich  übel.  Über ihr German Other wußte Madelon inzwischen mehr als  Beate J. selber. Madelon arbeitete alles, was sie erfuhr, in ein  Kolossalgemälde  ein.  Beate  J.  war,  was  den  Terrassen              menschen anging, jähen Wettern − ist gleich Lichtwechseln −  ausgesetzt.  Mal  hatte  sie  alles  übernah  und  scharf  und  wie  unverlierbar,  dann  war  gleich  wieder  nichts  mehr  greifbar,  alles  ganz  ungewiß.  Madelon  illustrierte  Beate  J.  und  Gottlieb Wendelin inzwischen als Freud und Dora. Sie malte,  wenn  sie  mit  Beate  unter  Chapel  Hills  gewaltigen  Bäumen  promenierte,  eine  historische  Szene  mit  acht  Figuren,  nur  geschaffen  zur  gegenseitigen  Beleuchtung  im  Dienste  der  Erkenntnis.  Da  sind  dann:  der  Freud  der  HysterieSchrift  und  der  wirkliche  Freud  (den  Madelon  aus  allen  biogra phischen  Schlupfwinkeln,  in  die  er  sich  verkrochen  hat,  herausholt);  Gottlieb  Zürn,  Germany,  ein  leidenschaftlicher  Verundeutlicher, der an allem, was er verundeutlicht, keinen  Zweifel läßt, und Wendelin Krall, der leidenschaftlich darauf  besteht, ein rückhaltloser La Mettrist, also ein Verdeutlicher  zu sein; Beate J., Chapel Hill, auf der Suche nach einer Rolle,  die  weniger  anstrengend  ist  als  ihre  bisherigen  Rollen,  und  Juliette,  die  sich  zutraut,  sie  selbst  zu  sein.  Dazu  noch  zwei  Madelons:  die  unnachgiebige  Freudforscherin  und  die  vor  der ganzen Welt, außer vor Beate verheimlichte Geliebte des  großen  Erfinders  Brian  Dewey.  Beate  muß  Madelon  noch  melden,  daß  sie  inzwischen  nicht  mehr  Juliette,  sondern  Themire  heißen  möchte  (siehe  die  Schriften  Volupté  und  Épicure).  Am  liebsten  würde  Beate  nur  noch  über  einen  einzigen  Satz  ihres  Patrons  schreiben:  Ich  habe  die  Stärke  gehabt zu vergessen, was ich aus Schwache gelernt hatte (Épicure,  S.  64).  Madelon  eröffnete  sie,  nicht  als  Krieg,  sondern  als  Spiel,  daß  in  diesem  Satz  ein  AntiFreudProgramm  glühe.  Hätte dieser Satz von 1750 bis 1900 Folgen gehabt in Europa,  hätte  sich  Freud,  den  sie,  belehrtbekehrt  von  Madelon  Pierpoint,  jetzt  auch  einen  großen  wienviktorianischen  Romancier  nannte,  hätte  der  sich,  entspannt  für  immer,  selber auf seine BerggassenCouch legen können. 
When  she  left  Dr.  Douglas¹  office  last  time,  she  felt  like  a  jerk. She had rambled, talked in circles. It becomes apparent  that  their  relationship  caters  exclusively  to  her  need  for  confidence,  reassurance,  emotional  stability,  and  yet,  at  the  same time, distance, the freedom to keep her private space all  to  herself.  She¹s  courting  fathers  and,  at  the  same  time,  she  withholds herself. She misses HIM. 
Wenn sie dann mit angetrunkenem Mut wieder einen Brief  in den Kasten geschubst hat, so geschubst, als müsse dieser  Schubs den Brief über den Ozean befördern, fing der Brief an  zu  schreien.  Das  war  eine  Erfahrung,  Jesus!  Und  der  vorletzte  Brief,  der  eigentlich  schon  längst  drüben  sein  müßte,  schreit  auch  noch  einmal  mit.  Wir  genieren  uns,  schreien  die  Briefe.  Soviel  gibt  man  nicht  zu,  schreien  sie.  Nimm  uns  zurück.  Briefe  zur  Gründung  von  Unwirklichkeit,  hatte  er  geschrieben.  Andererseits  hatte  sie  beim  letzten  Telephongespräch  zum  ersten  Mal  auch  ein  DU  platziert.  Alles  ist  möglich.  Auch  das  Unmögliche.  Vor  allem  das.  Hoffte sie. Ihr satzlos hingesagtes, also ziemlich blankes DU,  das sich nicht, wie sein erstes, als Versprecher tarnte, ihr DU  war  eine  Uraufführung.  Dem  entsprechend  ihre  first  night  nerves.  Ist  das  DUSchreiben  doch  einfacher  als  das  DU Sagen?  Hochgerechnet  hieße  das:  Schriftlich  wächst  du  leichter über dich hinaus als mündlich. Danach empfand sie  einen aus allen Partien ihres Körpers gespeisten Widerwillen  gegen Äußerung. Keine Lust mehr, sich mitzuteilen. Er war,  weil  er  sich  zierte  und  genierte  und  ministrantenhaft  aufführte,  er  war  schuld,  daß  sie  sich  entblößt  vorkam.  Der  kriegte keinen Traum mehr von  ihr. Nicht  den Fetzen eines  Traums. Zu seiner Aufführung paßte, daß er sie immerzu als  Verheiratete adressierte. Mrs. Gutbrod! Her mother¹s dreams  come true. Hier ist man, unberingt, Ms.! Topic closed. 
Ihr  Widerwille  gegen  Äußerung  war  zwar  durch  ihn  ge speist,  aber  auch  durch  die  Vorstellung,  daß  alles,  was  sie  über La Mettrie schrieb, nicht nur Glen O. Rosenne gefallen  mußte, sondern auch Patricia Best. Beate ahnt, nein, sie weiß:  So,  wie  sie  das  erzählen  will,  will  es  Patricia  Best  nicht  wissen.  Les  grandes  pensées  viennent  du  cœeur.  Vauvenargue.  Solche Zitate schleppt sie an, damit Patricia Best der Wissen schaft  Gefühl  erlaube.  Aber  da  zündet  die  Kettenraucherin  mit ihrem Zigarettenrest die nächste an und kneift die Augen  zusammen,  als  schmerze  sie  Beates  Anblick.  Beate  kann  Patricia  Best,  wenn  die  von  einer  Sekunde  auf  die  andere  plötzlich  ganz  kühl  wird,  nicht  gestehen,  daß  sie  Denken  ohne imagination nicht mag. 
Weiß er, daß er eine Stimme hat, die nur mit dem Adjektiv  warm  zu  bezeichnen  ist?  Sie  hofft,  er  wisse  das  nicht.  Sie  wünscht, sie könnte sich genau so zusammennehmen wie er.  In  den  Stimmungen,  in  die  sie  (wie  sie  glaubt)  durch  ihn  gerät, ist sie sich selbst nicht sympathisch. Erst wenn sie mit  ihm  telephoniert  hat  und  er  ihr  augenblicksweise  hörbar spürbar  verfällt  und  sich  dann  umständlich  wieder  zurück ruft  in  seine  feineren  Wälle,  den  Schmerz  aber,  den  das  bereitet,  nicht  verbirgt,  sondern  geradezu  angeberisch  gesteht,  erst  dann  kann  sie  sich  wieder  erträglich  werden.  Wer  am  Telephon  nicht  unzurechnungsfähig  wird,  der  kommt  nicht  in  Frage.  Zum  Glück  stolpertstammelt  er  am  Telephon  regelmäßig  in  eine  nicht  mehr  gewollt  wirkende  Unzurechnungsfähigkeit.  Schreibend  ruft  er  sich  zurück.  Selbst  da  signalisiert  er  zwar,  daß  er  sich  lieber  nicht  zurückriefe, aber er müsse sich doch usw. Feiger Hund, der  er  ist.  Zum  Glück.  Zu  beider  Glück.  Wäre  er  nicht  so  feige,  würde sie sich des öfteren ganz verlieren. Gestehen darf sie  doch  wohl,  daß  sie  ihn  immer  im  Cordhemd  sieht.  So,  als  habe  er  nur  ein  einziges  Hemd.  Dabei  wäre  es  ihr  am  liebsten,  er  trüge  das  seit  jenem  Juninachmittag  nicht  mehr,  weil er es nur tragen wollen sollte, wenn sie komme. Oder er  komme.  Oder  beide!  Das  Hemd  wurde  in  ihrer  Erinnerung  immer  blauer,  immer  heller,  also  immer  hellblauer.  Aber  seine  Hände?  Die  waren  weg.  Er  hat  doch  seine  ganze  Zögerlichkeit  mit  den  Händen  demonstriert.  Und  die  sieht  sie nicht mehr. Merde! Durfte sie es komisch finden, daß sie  einem,  der  ihr  sechs  Stunden  voraus  war,  der  den  Augen blick,  in  dem  sie  jetzt  lebte,  schon  seit  sechs  Stunden  hinter  sich  hatte,  daß  sie  so  einem  augenblicksweise  nahe  zu  sein  glaubte?  Das  hieß:  alles  Imagination,  sonst  nichts.  Wirklich  nichts.  Sollte  sie  ihm  das  Photo  schicken,  das  sie  mit  ihrem  Doktorvater zeigt? Er drückt ihr die Hand, nachdem sie ihm  zu  seinem  Sechzigsten  den  Olms  Reprint  der  Œuvres  Philosophiques  von  1774  geschenkt  hat.  Sie  wird  es  ihm  schicken. Dann sieht er einmal Mister Lizard in Aktion. Der  drückt ihr nämlich die Hand mit einer Geste, als hole er zu  einem  Handkuß  aus.  Entsprechend  lasch  ist  sein  Hände druck.  Und  neben  dem  lippenlosen  Abteilungssouverain  ist  zu  besichtigen  seine  hübsche,  geradezu  schöne,  vor  allem  aber  fast  dralle  Blondine  SueAnn,  der  die  Haare  über  die  nackten  Schultern  bis  zu  den  fast  nackten  Brüsten  wallen.  Also  seine  Studentin  war  die  nie.  Ja,  das  soll  ihr  German  Other ruhig sehen, wie seine Beate in Gegenwart einer Gattin  zur  belächelten  Maus  wird,  obwohl  sie  doch  gerade  die  Œuvres Philosophiques von 1774 abliefert. Aber was nach der  Geburtstagsfeier  passierte,  muß  sie  verschweigen.  Vorerst.  Das  geht  nur  mündlich.  Zuerst  die  große  Feier,  vor  lauter  Weihrauchwolken  kein  Gefeierter  mehr  wahrnehmbar,  gegen  fünf  kam  sie,  benebelt,  heim,  um  sieben  tritt,  wie  verabredet,  Rick  Hardy  auf.  Hat  im  letzten  Jahr  mehr  als  einmal  den  Heiratsantrag  angedeutet.  Von  ihr  heiter  abgewehrt. Von seiner Frau Elaine betrogen, dann verlassen.  Wer,  bitte,  will  schon  Ersatz  sein.  Sie:  Freundschaft,  ja,  Weitergehendes,  nein.  Begründung  (um  ihn  nicht  zu  verletzen): Sie könne ihre mühsam erkämpfte Position in der  Abteilung  nicht  durch  eine  solche  Beziehung  gefährden.  Schließlich  ist  er  für  ihre  finanzielle  Unterstützung  mitver antwortlich.  Er  hat  darauf  immer  nobel  reagiert.  Sehr  südstaatlerisch. Sie machte also Drinks, es war noch zu früh  fürs  Kino,  für  das  sie  verabredet  waren.  Life  goes  to  the  movies. Plötzlich wurde sie geküßt. Sie wehrte ab, er drückte  sie auf den Boden und sagte, er sei much more powerful als  sie.  Sie  bat  ihn,  sie  loszulassen.  Er  ließ  ihre  Hände  los,  sie  wollte sich aufrichten, da umfaßte er ihren Hals und drückte  zu,  sie  schrie  auf.  Diesen  Griff  spürt  sie  noch  immer.  Sein  berühmter  Händedruck.  Den  jetzt  am  Hals.  Auf  jeden  Versuch,  von  ihm  loszukommen,  reagierte  er  mit  mehr  Druck. Sie redete und redete. Um nicht zu heulen. She could  talk  him  out  of  it.  He  left.  Sie  hatte  noch  nie  eine  solche  Besessenheit  erlebt.  Er  hatte  sie  ja  nicht  vergewaltigt.  Er  sprach, bevor er ging, von date rape. Das sei hier etwas ganz  Alltägliches.  Und  produzierte  seine  Lachtöne  durch  die  Nase. Und: Er sollte sie eigentlich umbringen for being such  a  bitch.  Wieder  seine  Lachtöne.  Nichts  Irritierenderes  als  dieses tonlose Gelache. Erzählen konnte sie das niemandem.  In  der  Abteilung  schon  gar  nicht.  Aussage  gegen  Aussage.  Kein Beweis. Sie würde sich selber unabsehbar schaden. Sie  hat  Drinks  gemacht.  Sich  verabredet,  mit  ihm  auszugehen.  Sie kannten sich seit drei Jahren. Sie hatte nicht geahnt, wie  er Frauen haßte, die ihm nicht zu Willen sind. Sollte sie jetzt  glücklich sein, daß sie so davongekommen ist? Der Griff um  den  Hals.  Die  Ohnmacht.  Die  Angst.  Aber  gesiegt.  Was  für  ein Sieg! 
Selbst der kleinste Brief, den sie aus dem Postfach angelte,  cheered  her  up  or  on.  Morgens,  wenn  sie  ihr  Lehrerinnen gesicht  präparierte,  legte  sie  Diana  Ross  mit  den  Supremes  auf. Warum hatte sie beim letzten Telephonat dieses Gefühl,  in ein Vakuum hineinzusprechen? Sie ließ alles, was dort auf  der  Terrasse  abgelaufen  war,  noch  einmal  ablaufen,  durch suchte  es  nach  Beweisen  und  Gegenbeweisen.  War  über haupt etwas? Oder war überhaupt alles nichts? Sein Türöff nen,  Tarte  Tatm,  sein  Cordhemd,  hellblau,  ihr  allzu  mäd chenhaft  geblümtes  Kleid,  die  pünktlichen,  nur  zu  zweit  möglichen  Schwäne,  die  souverän  gütige  Frau  in  dunkelst  blauer  Bluse  und  ebenso  dunklen  Hosen,  die  allerdings  mit  strichhaft  dünnen  weißen  Streifen  auf  den  Seiten,  seine  letzten  Endes  gekonnt  wirkende  Verlegenheit,  diese  trick reiche  Verabschiedung  am  schrill  kreischenden  Tor,  sein  an  ihr  Auf  und  Abblicken,  dieser  sicher  nicht  zum  ersten  Mal  diensttuende  Schmerz  im  Gesicht,  ihr  seinem  Blick  Nicht Standhalten  ...  Diana  Ross  war  inzwischen  bei  You  keep  me  hanging on. Set me free, why don¹t you, babe. 
Dann  hatte  sie  endlich  etwas  zu  melden,  das  dem  von  Routine bedrohten Hin und Her zu neuem Schein verhelfen  konnte.  Der  Professor  beruft  einen  La  MettrieKongreß  ein.  Und  weil  er  so  gute  Beziehungen  hat  zu  Berkeley  und  weil  die  noch  etwas  zu  seinem  Sechzigsten  tun  wollen,  soll  der  Kongreß  dort  stattfinden.  Themire  Beate  J.  Gutbrod  wurde  sogar die Liste der Einzuladenden vorgelegt, daß sie sie mit  europäischen  Namen  füttere.  Hat  sie  getan.  Für  März  nächsten  Jahres  sollen  sich  bereithalten  Timo  Kaitaro,  Helsinki,  Mariana  Saad,  Paris,  Eckhard  Höfner,  Frank furt/Oder,  Ursula  Pia  Jauch,  Zürich,  und  Wendelin  Krall,  falls  er  will.  Der  Professor:  Dann  muß  er  aber  etwas  Neues  bringen,  die  zwei  Altessays  tun¹s  nicht.  Die  Diensttuende,  unterwürfig: Klar. Und dazu dann hochstaplerisch: Das wird  er,  er  hat  nicht  aufgehört,  La  Mettrie  ist,  wie  sie  bei  ihrem  Kurzbesuch  bemerkt  hat,  immer  noch  ein  Tag  und  Nacht thema. Der Professor: Und Bernd A. Laska und Sandra Pott?  Der Professor mußte immer beweisen, daß er der Belesenste  war. Sie würde also weiterwühlen. Daß sie Bernd A. Laska,  falls er erreichbar war, nicht selber auf die Liste gesetzt hatte,  nahm  sie  sich  übel.  Und  wenn  jetzt  dieser  Wendelin  Krall  auch  noch  schnöde  ablehnend  reagierte,  dann  stand  sie  da,  vorlaut,  unsolide,  uneffektiv,  blamiert.  Mr.  Rosenne  konnte  auf vernichtende Art freundlich sein. Und  Patricia Best war  im  Abteilungsalltag  nur  halb  so  präsent  wie  Rosenne.  Pa tricia  Best  fährt  jeden  zweiten  Tag  nach  York  hinunter,  Leo  versorgen,  Gebrauchsgrafiker,  dreimal  operiert,  Grafik  geht  nicht  mehr,  legt  jetzt  eine  musikologische  Bibliothek  an  am  Computer und webt am Webstuhl Teppiche, alte indianische  Muster,  die  er  vor  dem  Verschwinden  retten  will;  ein  Lun genemphysem hat er auch; bei ihm raucht sie nicht; wenn sie  melden  kann,  daß  Leo  die  Gehhilfe  schrittweise  entbehren  kann, umarmt sie Beate so heftig, wie es ihr Busen zuläßt. 
Seit  dieser  Märztermin  aufgetaucht  ist,  fühlt  sie,  wie  sie  zunimmt,  überhaupt  nicht  an  Gewicht,  sondern  an  Kraft,  Bestimmtheit,  Zukunft,  ja,  sie  spürt,  wie  sie  förmlich  hin einragt in die Zukunft. Noch nie hat sie so deutlich gespürt,  daß  ihr  doch  etwas  bevorsteht.  Bisher  hat  sie  alle  Zeitbe nennungen  zu  vermeiden  versucht.  Ins  Vage  hineingehofft  auf ein unfaßbares Irgendwann. Und jetzt, konkret: März. Sie  wird  dem  Kalender  die  Tage  und  Wochen  abluchsen.  Gottlieb  und  sie  werden  einen  Brief  und  Telephonwinter  veranstalten,  der  durch  seine  genaue  Berichtetheit  und  Bemessenheit  zum  spannendschönsten  Vorspiel  der  Welt  werden wird. 
Sie eilte den Möglichkeiten voraus. Sie konnte sich (wieder  einmal)  nicht  vernünftig  fassen.  Jetzt  schrieb  sie¹s  zuerst  einmal  nach  Germany.  Deutete  eine  Art  Erwartungsvibrato  an. Schön wär¹s ja. Nicht wahr! Aber wenn¹s nicht geht, bitte.  Sie überlebt¹s. Wenn auch ungern. 
Und  täglich  pfuschte  ihr  die  Angst  vor  der  nächsten  Be gegnung  mit  Rick  Hardy  in  ihre  Vormärzstimmung.  Dabei  spürte sie, daß der Mensch in Deutschland ihr jetzt als Stärke  diente. So oft sie sich gegen Hardyerscheinungen behaupten  mußte,  spürte  sie,  daß  sie  in  jeder  Sekunde  hinüberdenken  konnte,  auf  die  Terrasse,  zum  hellsten  Blau  der  Welt.  Sie  konnte  sich  sogar  hinsetzen,  den  RickVorfall  aufschreiben,  das  Aufgeschriebene  Glen  O.  Rosenne  überreichen,  ihn  bitten zu entscheiden, wie zu verfahren sei. Für sie sei durch  das  Aufschreiben  und  Überreichen  des  Aufgeschriebenen  das  getan,  was  sie  habe  tun  müssen.  Von  ihr  aus  müsse  weiter  nichts  geschehen.  Aber  das  zu  entscheiden,  sei  sie  nicht fähig. Deshalb komme sie zu ihm. Dr. Douglas hatte sie  noch nicht sagen können, was passiert war. Sie würde es ihm  sagen,  klar.  Aber  wie?  Sie  wollte  die  Bewertbarkeit  des  Gesagten bestimmen, vorherbestimmen. 
Der  neueste  Traum:  Unterwegs  zu  Wendelin  Krall.  Zuerst  auf einem Boot, dann über eine Brücke, mit ihr Magda und  Julia,  sie  gehen  zu  einer,  auf  (?)  eine  (verflucht  seien  die  deutschen  Präpositionen)  Party.  Auf  der  Brücke  blieb  sie  stehen. Sie wollte hinunterschauen ins Wasser. War froh, daß  Magda und Julia ohne sie weitergingen. Sie hatte beide, von  denen  sie  nicht  viel  mehr  als  die  Vornamen  wußte,  von  Anfang an als Konkurrentinnen, ja, als Gegnerinnen empfun den.  Natürlich  die  artemishafte  Julia  mehr  als  die  sophro synische Magda. Julia wollte von ihr (im Traum) bewundert  werden, sie aber weigerte sich. Im Wasser schwammen viele  gewaltige Holzstämme. Ein mächtiger Stamm stieß so gegen  ein  Boot, daß  es  kenterte.  Das  Ufer  war  ein  einziges  Bauge lände. Dann Wald. Sie mußte weiter. Sie wußte nicht  mehr,  wo  Wendelin  Krall  war.  Die  Douglasgeschulte  Deuterin  wurde von Deutungen heimgesucht: Angst, auch im Traum,  nicht  kreativ  genug  zu  sein.  Die  Holzstämme  erinnern  an  Bleistifte/ pen(cils). Wissend, daß die Kreativität männlicher  Autoren,  ihr  Griff  zum  pen  als  phallische  Geste  gilt  ...  Ach  nein.  Sie  ist  es  müde,  Bedeutungen  zu  träumen.  Wehe  ihr,  wenn Dr. Douglas das entdeckte. Is she weird? 
Glen  O.  Rosenne,  im  Büro  der  Abteilung,  also  in  Janes  Gegenwart,  daß  er  den  Bericht  über  Rick  Hardy  noch  nicht  an den Sexual Harassment Officer weitergeleitet habe. Mehr  sagte  er  nicht.  Würde  sie  ihn  um  das  Weiterleiten  bitten,  würde  er  weiterleiten.  Also  hing  es  doch  von  ihr  ab.  Und  Jane  wußte  offenbar  Bescheid.  Sie  nickte  nicht,  schüttelte  auch  nicht  den  Kopf.  Sie  hob  ein  wenig  die  Schultern  und  tippte weiter. 
Tatsächlich  konnte  Beate  an  nichts  anderes  mehr  denken  als  an  die  ausbleibende  Antwort  aus  Deutschland.  Weder  Brief noch Telephon. Das konnte nur heißen, daß Herr Zürn Krall  durch  die  Aussicht,  in  sechs  Monaten  das  hochlie gende Hin und Her einer Wirklichkeit aussetzen zu müssen,  verstört  worden  war.  Er  hatte  wahrscheinlich  mit  nichts  gerechnet beziehungsweise mit nichts als Wolken und Kulis senschieberei.  Briefe  zur  Gründung  von  Unwirklichkeit.  Und  das  in  alle  Ewigkeit!  Sie  hatte  ja  auch  nicht  anders  gedacht  oder empfunden, auch wenn sie die Ziellosigkeit, die sie sich  verordnete,  nicht  so  gewählt  ausdrückte  wie  ihr  Briefstilist  jenseits  des  Wassers.  Und  jetzt  dieser  Knaller!  März.  Entweder oder! Oh boy, c¹mon. 
Die  Angst,  ihn  zum  Nochwenigersagen  zu  treiben,  war  federführend  gewesen.  Der  Vortrag  natürlich  auf  Englisch.  Da  dürfte  sie  sich  endlich  für  unentbehrlich   halten.  Und   Mitte März, kalifornischer Frühling! Was that not tempting?  Und 500 Dollar, Sir. 
Dann machte er es ihr so schwer wie möglich. Er stellte ihr  eine Aufgabe, eine richtige Hausaufgabe, eine Gleichung mit  zwei Unbekannten: Er und Sie. Und sie sollte sie lösen. Nur  wenn  sie  die  Gleichung  lösen  könne,  könne  er  kommen.  Also,  führte  er  wahrhaft  aus,  nehmen  wir  einmal  an,  zwischen ihnen sei etwas entstanden, wofür es ehrwürdige,  aber  auch  weniger  ehrwürdige  Namen  gibt.  Ihm  ist,  gibt  er  zu, egal, welche Bezeichnung er einheimst. Jeder Zeuge − bis  jetzt haben sie noch keine − (von Madelon hatte sie ihm noch  nichts  geschrieben),  jeder  Zeuge  würde  Themire  und  Sylvandre  (wenn  er  sich  auch  mal  kostümiere)  beurteilen,  wie  es  ihm  beliebt,  wie  er  es  (für  sich)  braucht.  Was  er,  Sylvandre − er gibt zu, daß ihm dieser Rollenname jetzt sehr  gelegen  kommt −,  was  er  aber  selber  wissen  muß,  ist:  Egal,  wie man, was zwischen ihnen ist, nennen muß, warum ist es  entstanden! Noch genauer − er kann das ihr und sich selber  nicht ersparen −: Er weiß nicht, warum sie ihn mag. Sie hat  zwar  Sympathie,  Zugetansein,  ja  Verliebtsein,  vielleicht  sogar gelegentlich heftiges, sie hat es gestanden, hat es durch  Verbergen gesteigert, hat es durch sommernachtstraumhafte  Regieeinfälle immer reizender werden lassen, aber nicht ein  einziges  Mal  hat  sie  sich  gefragt, WARUM.  Nun  kann  man  natürlich  auch  antworten,  ohne  daß  gefragt  worden  sein  muß. Er aber muß fragen: Warum. Er begreift nämlich nicht,  warum. Er ist nicht gewinnend, nicht gut aussehend, nicht reich,  nicht einmal geistreich. Er ist furchtbar normal. Erschütternd  durchschnittlich. Dank der Plastizität, also Anpassungs, also  Entwicklungsfähigkeit  seiner  Frau  hat  er  es  sich  leisten  können beziehungsweise einfach geleistet, seine Mitwirkung  im  Immobiliengeschäft  aufs  Schriftliche  einzuschränken.  Er  ist  ein  Lyriker,  der  schweigt.  Als  Denker  Amateur.  Selbst  unter hiesigen Immobilienhändlern gibt es zwei (Schatz und  Kaltammer  heißen  sie),  die  sie,  das  Mädchen  aus  North  Carolina,  viel  anziehender  finden  müßte  als  ihn.  Gut,  die  kennt  sie  nicht.  Er  nennt  seine  beiden  ihm  in  jeder  gesell schaftlichen,  überhaupt  in  jeder  irdischen  Schätzbarkeit  überlegenen  Konkurrenten,  um  sich  selber  für  sie,  das  Mädchen  aus  dem  Westen,  richtig  einzustufen.  Er  ist  der  lehrbuchreife  Mittelstand  in  Gewicht,  Geld,  Ansichten,  Aussichten.  In  ihm,  an  ihm  ist  nichts  Mitreißendes,  und  Spektakuläres schon gar nicht. Und er klassifiziert sich so im  Vergleich zu seinen beiden Konkurrenten − wohlgemerkt, er  hat, Anna sei Dank, aus dieser ihn andauernd verstörenden  Konkurrenz  aussteigen  können −  nicht  etwa,  um  von  ihr  oder von irgend jemandem sonst das Gegenteil zu hören. Er  − das immerhin hat seine auf sich selbst, also auf wenig bis  nichts gestellte Existenz erbracht − er ist versöhnt, überhaupt  versöhnt, aber auch versöhnt mit sich selbst. Er gibt zu, das  ist die erste Aussage in dieser Selbstpreisgabe, die nicht ganz  und gar wahr ist. Und alles, was nicht ganz und gar wahr ist,  ist  komplett  erlogen.  Es  gibt  keine  Halbwahrheit.  Aber  erlogen,  das  heißt  nicht,  daß  etwas  vorwerfbar  sei.  Erlogen,  das  heißt  nur,  daß  es  sich  um  Nochnichtverwirklichtes  handelt.  Man  muß,  was  man  noch  nicht  schafft  und  ist,  zu  erlügen  versuchen  (im  Sinn  von  erreichen,  erfühlen  usw.)  Also,  was  er  alles  nicht  ist!  Nicht  einmal  ein  Blender  ist  er.  Ihm  fehlt  die  überall  verlangte,  erwartete  und  akzeptierte  Hochstaplerbegabung  fast  ganz.  Soll  sie  doch,  bitte,  einmal,  flüchtigst,  von  seinen  beiden  Konkurrenten,  ehemaligen  Konkurrenten  Kenntnis  nehmen.  Da  ist  zuallererst  Jarl                     F.  Kaltammer,  der,  ganz  früh,  seinen  Namen  dressiert  hat  zur  Produktion  von  KennedyInitialen.  Dann  radikal  links,  Anführer bei Häuserbesetzungen, Verfasser des Aufrufs, den  Immobilienhandel  als  obsolet  und  politisch  unsittlich  abzu haffen, inzwischen läßt er sich in Privatflugzeugen zu seinen  Objekten  fliegen,  ist  ausschließlich  Schlössermakler,  er scheint  vor  dem  Notar  entweder  in  flaschengrünen  oder  in  bordeauxroten  Seidenanzügen,  seine  Firma  residiert  auf  Little Cayman, zahlt also dem deutschen Staat keine Steuern,  aber  nicht  aus  Geiz,  sondern  aus  Verachtung,  er  ist  Anar chist,  und  als  Staatsverächter  gilt  er  als  Intellektueller.  Auf  dem Kopf hat dieser Kaltammer eine platinhelle Haartracht,  die  man,  solange  man  nicht  versucht  hat,  sie  herun terzureißen,  für  naturwüchsig  halten  muß.  Zweitens,  das  prachtvoll  heimischdemokratische  Gegenstück  und  Su permannsbild  Paul  Schatz,  die  Beliebtheit  schlechthin.  Also,  jetzt  das  Geständnis  aller  Geständnisse,  dessen  außer  ihr  noch  kein  Mensch  teilhaftig  werden  durfte:  Gottlieb  mußte  den  Handel  quittieren,  weil  es  diesen  Paul  Schatz  gibt.  Irgendwann einmal, es war an einem Abend im Juni, das ist  hier  der  eigentliche  Lebensmonat,  da  mußte  er  sich  Paul  Schatz mit stehendem Geschlechtsteil vorstellen. Von diesem  Abend an konnte er sich gegen diese Vorstellung nicht mehr  wehren. Wenn er auch nur an Paul Schatz dachte oder wenn  dessen  Namen  erwähnt  wurde,  und  das  war  sozusagen  andauernd der Fall, sah er den verhältnismäßig kleinen Paul  Schatz  hinter  seinem  hochstehenden  Geschlechtsteil  stehen.  Er  fing  an,  sich  zu  wehren,  stellte  sich  Paul  Schatz  als  Bankbeamten hinter dem Schalter vor, auf dem Tennisplatz,  im Konzert, in Situationen, die ein stehendes Geschlechtsteil  einfach  unwahrscheinlich  machten,  es  nützte  nichts.  Also  gut, wenn er sich Paul Schatz nur noch so denken konnte, so  würde er sich eben daran gewöhnen, sich Paul Schatz so zu  denken.  Was  soll¹s.  Soll  der  eben  mit  ewig  stehendem  Geschlechtsteil  herumlaufen.  Das  mußte  Paul  Schatz  mehr  stören  als  ihn.  Aber  zu  einer  wirklichen  Entspannung  führten  solche  Übungen  nicht.  Es  blieb  quälend,  sich  Paul  Schatz so vorstellen zu müssen. 
Brennen  sich  ihm  nur  Vorstellungen  ein,  die  ihn  quälen?  Neigt  er  zu  ihn  Quälendem?  Auf  jeden  Fall  konnte  er  froh  sein, daß Anna den Handel übernahm. Bei Rousseau und La  Mettrie  fühlte  er  sich  fast  geschützt  vor  Schatz  und  KaltammerHeimsuchungen.  Ihr,  dem  Mädchen  aus  North  Carolina, gestehe er, was er sonst in sich hineinschließe: den  Nachhall  des  Lärms  verlorener  Schlachten.  Er  ist  geflohen.  Nicht  weit  genug.  Er  würde  jetzt  gern  weiterfliehen.  Aus  allen  diesen  Gefangenschaften.  Er  hat  sich  ihr  gegenüber  sofort zu wenig beherrschen können. So wenig, daß er selber  erschrak. Das ist ihm keine dreimal passiert in seinem Leben.  Zweimal vielleicht. Aber dreimal nicht. Jetzt fragt er aber sie.  Jetzt  wendet  er  sich  an  sie.  In  was  ist  er  (bei  ihr)  hineingeraten?  War  sie  in  einer  Lage,  daß  er  auf  sie  anders  wirkte,  als  er  war.  Einem  Ertrinkenden −  um  es  krass  zu  illustrieren − kommt ein mittelmäßiger Schwimmer, der ihn  zu  retten  versucht,  stärker  vor,  als  er  ist.  Er,  Sylvandre GottliebWendelin,  muß  ihr  vor  ihre  begabten  Augen  gekommen sein in einem Augenblick, in dem sie gerade von  einer  übermäßigen  Verklärungskraft  durchströmt  war.  Wie  im  Märchen.  Den  Nächsten,  dem  du  begegnest,  wirst  du  vergolden!  Und  das  ist  nun  zufällig  er  gewesen.  Zufälliger  kann  nichts  sein.  Andererseits  gehört  es  zu  seinen  Unver brüchlichkeiten: Zufälle gibt es nicht. Also muß weiter nach geforscht  werden: WARUM.  Deshalb  muß  er  im  März  nach  Amerika reisen. Bis dahin aber Tag und Nacht forschen, um  seine  Themire  und  sich  zu  durchschauen.  Das  tut  er  um  so  lieber, als seine Themireforschung bis jetzt nur Schönes und  Schönstes zutage gefördert hat. Und daß sie den Namen der  Frau aus La Mettries LustBuch mit sich besetzt hat, hat ihn  vorwärts,  also  mitgerissen.  Sylvandre!  Er,  Sylvandre!  Nur  um ihr zu entsprechen. Er hat keine andere Wahl. Er muß ihr  entsprechen.  Oder  sterben.  Das  aber  gern.  So  ganz  und  gar  schlicht  ist  ihm  zumute.  Daß  er  sich  im  Augenblick,  in  diesem  Augenblick,  fühlt  wie  der  ausgestattetste  Liebhaber  aller  Zeiten,  erwähnt  er  nur  nebenbei.  Sie  hat  ihm  mehr  als  den Kopf verdreht. Sie hat ihn um seinen Verstand gebracht.  Also  wird  er  abstürzen.  Ikarushaft.  Er  hat  die  Jahrgänge  vergessen.  Ihren  und  seinen.  Verdrängt?  Ach  nein,  nicht  Freud!  Die  fürchterliche  Bedingung  bleibt  allgegenwärtig.  Sylvandre!  Es  ist  schlicht  lächerlich.  Aber  was  spricht  da gegen,  lächerlich  zu  sein?  Liebe  Themire!  Sie  soll  ihn,  bitte,  lächerlich  sein  lassen.  Erst  wenn  sie  ihn  als  ganz  und  gar  Lächerlichen  erträgt,  haben  sie  und  er  (vielleicht)  eine  Chance. Vielleicht nicht. Aber er kann seinen Empfindungen  nicht  beibringen,  sich  nach  Chancen  oder  Nichtchancen  zu  richten. Wie schreibt doch der Patron im LustBuch: Welch ein  bezaubernder  Kampf  tobte  da  zwischen  den  Kräften  der  Tugend,  der  Schicklichkeit  und  der  Liebe.  Dem  März  entgegenlebend,  grüßt seine Themire deren Sylvandre. PS 1: Aber es bleibt ihr  aufgebürdet:  Warum  glaubt  sie,  ihn  brauchen  zu  können.                         PS 2: Es ist dieses ganz und gar konkrete Datum, das ihn so  geschmissen hat. Aber er bleibt nicht liegen. Er fliegt. Hoch.  Und zu ihr. 
Jetzt erlebte sie, daß es nicht darauf ankommt, mit welchem  Innen  oder  Außenmaterial  jemand  seine  Liebe  erklärt;  es  kommt nur auf den erlebbaren Heftigkeitsgrad an. Und den  erlebte  sie  jetzt.  Die  Verklausuliertheit,  in  der  er  sich  verstrickte, war doch eine einzige Kapitulation: Er ergab sich  ihr.  Diese  Fragerei  nach  dem  WARUM  war  nichts  als  ein  Wortkostüm, mit dem er auftrat, um sie herauszufordern. Sie  sollte ihn übertreffen. Sie sollte noch lauter als er sagen, daß  sie hin sei und wie hin sie sei. Das einzig Lernbare in diesem  Verklausulierungsdickicht: Er war bedürftig. Er war unterer nährt.  Was  ihm  fehlte,  war  weniger  wichtig,  als  daß  ihm  etwas fehlte. Aber er hielt es für möglich, daß sie ihm fehle.  Und das war¹s dann doch. Sie fehlte ihm genau so wie er ihr.  Und die Gründe in ihren beiden Lebensläufen lassen wir erst  mal  außen  vor.  Sie  wollte  jetzt  zuerst  einmal  schwelgen.  Gebraucht  zu  werden  ist  doch  das  Höchsteliebstebeste.  Lieber  GottliebWendelinSylvandre!  Und  zur  neuen  Dring lichkeit paßte sein nächster Vorschlag, der eintraf, bevor sie  auf seine WARUM Epistel reagieren konnte. Sein Vorschlag,  daß sie, statt einander Briefe zu schreiben, einander nur noch  ihre  Träume  mitteilen  sollten.  Das  klang  zuerst  einmal  ein ladend, befreiend, anheimelnd, verführerisch. Vor allem die  Begründung:  Um  unsere  Träume  zu  retten!  Dann  aber  der  Hammer: Die Träume − und damit waren natürlich nur ihre  gemeint −  nicht  übersetzen.  Übersetzen  nannte  der  deutsche  Keuschkopf und Geheimrat die vorsichtige Herüberführung  eines  hochverletzlichen  Trauminhalts  ins  mildeste  biogra phische  Tageslicht.  Das  kam  ihr  gerade  recht.  Sie  servierte  ihm  sofort  den  Traum  der  letzten  Nacht.  Die  Douglas mäßigen  free  associations  konnte  sie  sich  diesmal  (oder  für  immer)  ersparen.  Also:  Sie  war  auf  einem  Bahnhof,  Typ  Central  Station  N.Y.,  sie  verabschiedete  sich  zärtlich  von  einem Mann, stieg ein, ihr folgte ein anderer Mann, der die  Verabschiedung  beobachtet  hatte,  er  trug  ihre  zwei  grell roten Taschen hinter ihr in den Zug, er war der Typ Priester,  er  sei,  sagt  er,  nur  für  das  Gepäck  in  den  Zug  gestiegen,  er  muß  den  Zug  wieder  verlassen,  aber  dann  küßt  er  sie,  sie  küßt  ihn,  er  sagt,  er  werde  mitfahren,  sie  erschrickt,  darauf  er:  Wenigstens  ein  paar  Stationen.  Dazu  teilt  die  Traum lieferantin  mit:  Die  Abwehr  einer  an  Freud  geschulten  Traumauslegung  empfinde  sie  als  eine  Ablehnung  ihrer  wissenschaftlichen  Arbeit  überhaupt.  Sie  soll  pur  daher kommen,  ja!  In  ihr  rege  sich  eine  ursprüngliche  Wut.  Auf  den  Priester.  Aus  Deutschland.  Sie  hatte  nämlich  gedacht,  sie,  sie  beide,  könnten  das  Persönliche  und  das  Berufliche  auseinanderhalten. Andererseits würde sie gern, gesteht sie,  für  ihr  Berufliches  (La  Mettrie  in  Deutschland)  von  ihm  persönlich  Energien  empfangen.  Schon  wieder  empfangen.  Demnächst wird sie, um sich La Mettrie unverstellt widmen  (hingeben!) zu können, ihren Eisprungtag mitteilen. Und: ob  diesmal  links  oder  rechts.  Aber  daß  sie  (er  und  sie)  ihr  Laienspiel  auch  als  Traumspiel  betreiben  können  (eine  Zeit  lang!), glaubt sie schon. Hat doch der Körperpatron Julien sie  wissen lassen, daß die Träume die treuen Überbringer der Ideen  vom Tage seien. Nun kauen Sie mal! Ohne FreudZähne! 
Bei  der  GraduateParty  kamen  auch  die  Telephonkosten  dran.  Die  Neulinge  wollten  die  hiesigen  Billigtarife  wissen.  Von  Deutschland  aus  10  Minuten  30  Euro.  Sie  erschrak.  Soviel  Geld  für  eine  Frau,  die  er  noch  gar  nicht  kennt.  Sie  wird,  sollte  er  je  neben  ihr  liegen,  nie  einschlafen.  Sie  muß  Augenblicke sammeln. Für immer. Sie hat gestern Alles Eins  wieder gelesen. Das hat keiner so ansprechend, einnehmend  gesagt  wie  er:  Worin  La  Mettrie  nicht  übertroffen  werden  kann. In der Instinktsicherheit. Nicht mehr zu sagen, als man  erfahren  kann.  Etwas,  was  man  nicht,  noch  nicht  wissen  kann,  nicht  mit  Wörtern  zuschmieren,  die  so  tun,  als  wisse  man das, was man nicht, noch nicht wissen kann. Beleg und  Beweis: Leibniz. Über den sagt der Patron: Er hat die Materie  spiritualisiert, statt die Seele zu materialisieren. Aber Gottlieb W.  hat es erlebt und berichtet, wie Bewegung und Empfindung  einander  hervorbringen.  Sie  liest  und  liest.  Ist  hochbewegt.  Also empfindlich. Sie hört die Grillen und macht eine Erfah rung und weiß, daß diese Erfahrung niemanden interessiert.  Zur Zikadenmusik möchte sie jetzt ihn anrufen, nur um auch  noch  das  Überseerauschen  zu  hören,  zum  Zikadenschwall.  Sie weiß, daß alles, was sie jetzt denkt und tut, nichts ist als  die Feier seiner Nichtanwesenheit. 
Der Sexual Harassment Officer rief an. Rick Hardy hat alles  als  joke  erklärt.  Sollte,  was  er  als  Witz  und  Parodie  und  Unterhaltungsbeitrag gedacht hat, falsch verstanden, also für  ernst  gemeint  gehalten  worden  sein,  tut  ihm  das  awfully  leid. Er ist bereit, für die Stiftung eines solchen Mißverständ nisses jede Buße zu tun, die die Mißverstehende billigerweise  von ihm fordern könne. Sie rief den Officer an und sagte, sie  ziehe  ihr  Schreiben  zurück,  da  sie  sich  für  eine  Auseinan dersetzung  nicht  stark  genug  fühle.  Das  kam  ihr  diplo matisch vor. 
 
Von  Dr.  Douglas  geträumt.  Sie  fühlte  seinen  muskulösen  Nacken. Seine Wohnung, ein Antiquitätengeschäft. Die Um armung, leidenschaftlich. Er führte sie zur Couch. Weiterhin  leidenschaftlicher  Verlauf.  Er,  tätowiert,  amputiert,  Stumpf  hier,  Stumpf  da,  VietnamVeteran.  Sie  hat  einfach  keinen  Bock,  die  counter  transferenceBildchen  in  Deutschlands  Süden  zu  mailen.  Aber  daß  sie  sich  im  Traum  bewies,  sie  könne  Ekelerregendes  deftig  lieben −  was  beweist  das  dem  German  Other?  Viel!  Alles  nur  Kastrationskomplex,  wa!  Nicht:  Penis  weg!  Sondern:  Phallus  runter!  Welch  eine  Sklaverei.  Unter  Wörtern  gehen  wie  unterm  Joch.  Jede  Bewegung schmerzt, weil die Vokabularketten scheuern. Da  soll  jemand  zu  sich  kommen!  Und  wo  kommt  er  hm?  Zu  Vokabeln!  Das,  was  man  außen  trägt,  kann  dadurch,  daß  man¹s  wählt,  zusammenstellt  und  dann  trägt,  zu  etwas  erträglich Eigenem werden. Aber wieviel Fremdwörter kann  man sich einverleiben (!), ohne sich innen fremd zu werden? 
Sie  will  undankbar  sein.  Das  importierte  InnenDress  verbindet sich nicht mit ihr selbst. Seelische Immunreaktion.  Es wird ihr abverlangt, sich zu unterwerfen, das ist der Preis  für Schutz und Halt, nur um diesen Preis können die Herren  väterlich werden und wirken. Seit die von Glen O. angeregte  Panik  in  ihr  so  grassiert,  daß  sie  jede  Nacht  auflodern  und  schlafvernichtend  weiterlodern  kann  bis  in  den  Morgen,  sucht  sie  im  Gedankengespräch  mit  ihrem  German  Other  Schutz, Zuflucht, Bleibe. Das sollte sie nicht. Und wenn sie¹s  tut,  sollte  sie¹s  ihm  nicht  auch  noch  hinreiben.  Ihm  zu  gestehen,  wie  schwer  es  ihr  fällt,  ihm  etwas  nicht  zu  gestehen!  Neben  ihrem  Bett  steht,  gerahmt  hinter  Glas,  das  Photo von  ihrer Graduation. Vassar College. Siebzig Meilen  nördlich von N.Y. Sie zwischen den Fakultätsroben und den  B.A.¹s.  Sie  direkt  neben  der  Vassarpräsidentin  Virginia  B.  Smith.  Tröstlich  dick.  Der  Zigarettenreklamespruch  Virginia  slims  war  immer  präsent.  650  B.A.¹s.  Sie,  die  einzige  Magis terin. In schwarzer Robe. Unterm Magisterhut mit schwarzer  Quaste. Nach der Zeremonie bemerkte sie, an sich hinunter schauend,  daß  sie  links  einen  dunkelblauen  Schuh  anhatte  und rechts einen schwarzen. Eigentlich ist das so geblieben.  Panik vor der nächsten Hürde. Springreiterei forever. Dieses  Murksen  und  Placken  in  der  ersehnten  sommerlichen  Einsamkeit.  Neid  auf  die  Verreisten.  Auf  dem  Balkon,  das  Blumenmeer  als  Ersatz.  Madelon  redet  (beim  Essen,  im  Restaurant)  ununterbrochen  und  laut.  Der  totale  southern  drawl,  alle  schauen  her,  ihr  egal.  Sushi  samplers  und  California  rolls  nimmt  sie  nicht  wahr.  Zuletzt  ging¹s  gegen  Freud,  weil  er  den  Frauen  weniger  ÜberIch  zugesteht  als  den Männern. Themire dachte natürlich sofort daran, daß ihr  German Other sie des öfteren gern älter hätte. Warum, fragt  sich  Themire.  Schreibt  sie  ihm  zu  unreifgirliehaft  und  unintellektuell,  oder  was?!  Warum  soll  sie  älter  sein?  Nur  daß sie älter wäre? Ja?! Näher dran an ihm? Oder geht¹s doch  um  ihre  Unentwickeltheit  überhaupt?  Oder  Freudisch:  Ihre  Unentwickelbarkeit  überhaupt.  Denn:  Wieso  soll  sich  eine  überhaupt  entwickeln  ohne  ein  sie  andauernd  hochpeit schendes ÜberIch?! Nicht wahr! 
980  F.  70%  Feuchtigkeit.  Der  Ventilator  rauscht.  Sie  wird  sich jetzt doch noch in die Sonne legen. Gestern auch schon.  Jaaa!  Die  allzu  bleiche  Haut  ist  getönt.  Bronze.  Die  Haare  heller. Honigblond, sagte einmal Glen O., aber er ist, wie alle  wissen,  farbenblind.  Allwissend,  aber  farbenblind.  Und  vernichtend  freundlich.  Dabei  bleibt  sie.  Panicstricken.  Sie  nennt  ihre  Haarfarbe  puddle  blond.  So  sind  hier  Pfützen  nach jähem Regen, alles, was zwischen braun und beigegrün  möglich  ist.  Morgen,  Termin  bei  Dr.  Douglas.  Morgen  ist  inzwischen  heute.  Um  8  Uhr  30  auf  die  Couch.  Nicht  ein schlafen. Der Kopf nie so leer wie dienstags 8 Uhr 30. Nichts sagenkönnen  ist  gleich  Schweigen  ist  gleich  Widerstand.  Und abends ins Bistro mit Jeffrey. Ach, er kennt Jeffrey noch  nicht.  Der  hat  gelegentlich  keuschen  Unterschlupf  gesucht  bei ihr, obwohl er, verglichen mit ihr, feudal wohnt. Er hatte  monatelang  die  Asche  seines  Vaters  bei  sich  im  Apartment,  er  sollte  sie,  im  Auftrag  der  Familie,  nachts  auf  dem  Green  ausstreuen;  der  Vater  hat  hier  studiert  und  lebenslang  vom  Campus  geschwärmt;  sie  hat  Jeffrey,  der  ängstlich  ist,  geholfen, praktisch hat sie in mondloser Nacht die Alumnus Asche  gestreut;  daß  ihr  German  Other  weiß,  was  ein  Alumnus  ist,  unterstellt  sie,  und  mit  Jeffrey,  dem  Ängst lichen, ißt sie heute. 
Musik  und  Mordgedanken.  Die  Musik  (Supremes)  extra  laut,  daß  die  Sittiche,  die  sie  gerade  wieder  in  Vollpension  hat, nicht zu hören sind. Geträumt: Sie beide in einem großen  Raum,  übervoll  von  Menschen.  Sie  entfernen  sich  immer  mehr  von  einander,  aber  sie  verständigen  sich  wortlos,  mit  den  Augen.  Jeder  weiß  genau,  was  der  andere  denkt.  Kann  etwas schöner sein. Jeder denkt das Wort: liebestoll. Geweckt  von  den  lärmenden  Sittichen.  Vergessen  gehabt,  die  Decke  über den Käfig zu legen, daß das Dunkel die noch eine Zeit  lang getäuscht hätte. Das hat ihr natürlich, als sie bei ihm im  Gang über den Morgenlärm der Sittiche gejammert hat, Rick  Hardy  geraten.  Er  ist  nicht  wie  Glen  O.  ein  Allwissender,  sondern  ein  Alleswisser.  Gottliebs  Hände!  Nicht  ums  Verrecken  liefert  l¹imagination  seine  Hände.  Sein  Mund    wird  ...  ihre  Haut  wird  ...  sie  will  ihn  so  ...  Vorsicht.  Die  Vorfreude  ist  die  Falle.  Fast  100°  F.  80  %  Luftfeuchtigkeit.  Keine Lust, das Schwarzseidene anzuziehen. Daß er so kurz  hinter  einander  dreimal  angerufen  hat.  Paß  doch  auf,  Mensch. Bitte, paß ja nicht auf. 
Wer sollte ihr helfen. Sie durfte, konnte nicht mehr schrei ben. Sobald sie sich hinsetzte und schrieb, stand nachher auf  dem Papier: Kommmm. Gerade blitzte es. Lautlos. Ach nein,  der Donner kam zögerlich hinterher. Kein Regen, aber doch  Entladung. Immerhin. 
Von  Wut  übermannt  (!).  Gestern.  Sie,  im  Abteilungsbüro,  schnell  mal  am  Schreibtisch  der  Sekretärin,  was  tippen,  da  kam  ihr  leibhaftiges  ÜberIch  namens  Glen  O.  Rosenne  he rein, sah sie und sagte: Oh, do we have a new ... Sie fuhr auf  und  ihm  dazwischen:  Don¹t  even  think  of  it.  Und  er:  If  you  don¹t want to be the new secretary, I take lt you¹re there for  purely  decorative  purposes.  Und  sie,  tollkühn:  Boy,  that¹s  a  sexist  remark.  Und  er:  Some  women  would  take  it  as  a  compliment.  Und  ließ  sein  lippenloses  Lächeln  lieblich  ge frieren. Die Wut: Säße Steve oder Tom oder Rick auf diesem  Stuhl,  würde  er  sie  fragen,  woran  sie  gerade  so  eifrig  ar beiteten! 
Sie vermißt Gottlieb. Jemanden vermissen, der noch nie da  war. Geht das? 
Sich  der  NichtZensur  hingeben.  She  indulges  herself  in  that feeling. Aber sobald sie dort anrief, tat die Distanz mehr  weh, als wenn sie nicht anrief. Nach jedem Gespräch erwies  sich,  was  sie  gesagt  hat,  als  das  Falscheste,  Schlimmste,  Lächerlichste. Nie war es das, was sie hatte sagen wollen. Ihr  fehlte ein innerer Air Conditioner, den sie auf high und low  stellen  könnte.  Dr.  Douglas  über  ihre  Angst  vor  dem  Schreiben:  Ob  sie  insgeheim  befürchte,  dafür  nicht  richtig  ausgestattet zu sein! Sie widerspricht, aber  so schwach, daß  der  Widerspruch  nichts  heißt.  Pen  as  a  metaphorical  penis.  Jahrelang hat sie sich vor der Vaterfigur Rosenne vor Bewun derung  gekrümmt,  jetzt,  da  sie  selber  ein  bißchen  Bewun derung brauchte, tut er so eisig wie freundlich wie  bösartig:  You  don¹t  have  to  worry  about  not  getting  a  job.  You¹re  attractive and will probably get married in no time. Hat das  jemand je zu einem männlichen Doktoranden gesagt? Diese  zu nichts führende Wut ist alles, was ihr bleibt. 
Geträumt:  In  einem  gewaltigen  Gebäude,  Kirche  plus  Turnhalle, Rick und sie beobachteten seinen Sohn beim Ker zenanzünden.  Sie  fühlte  sich  bedroht.  Beider  Kleider  waren  auf der Empore. Dort sollten sie die Nacht verbringen. Sie zu  Rick: Er solle die Sachen herunterholen, dort oben wären sie  ja  gefangen.  Rick  ging  hinauf,  ging  ihr  zu  langsam  hinauf.  Und  wie  er  die  Sachen  zusammensammelte,  gefiel  ihr  auch  nicht.  Vergiß  meine  Jeans  nicht, rief  sie.  Er  warf  sie  ihr  von  oben  zu.  Dr.  Douglas  fand  das  Wort  Jeans  interessant.  Er  hörte darin genes. Und to drop one¹s pants ... Oh je. 
Wünschen muß nicht entsprochen werden. Das wollen wir  doch  mal  klar  sagen.  Sonst  würde  man  sich  ja  nicht  trauen,  überhaupt  noch  etwas  zu  wünschen.  Seine  Stimme  ist  zärtlich, egal was er sagt. Daß  Wörter so  streicheln  können.  Das  kommt  von  der  Stimme.  Eine  solche  Nähe,  bei  soviel  Distanz.  Sie  wünschte  sich,  daß  er  das  auch  empfände.  Zugeben müßte er das nicht. Vor allem wünschte sie sich ein  langes Gespräch, direkt, ohne die Einheiten klicken zu hören;  ein Gespräch, das so lang wäre, daß es nicht auf das ankäme,  was da gesagt wurde. Ihr neues Buntgeblümtes, das sie ihm  per  Photo  vorgestellt  hat,  sollte  endlos  besprochen  werden.  Without  any  thought  about  the  other¹s  telephone  bill.  Trotzdem: Nichts gegen das Telephon. Wenn zwischen ihm  und  ihr  etwas  entstanden  ist,  dann  fernmündlich.  Fernmündlich.  Falls  dieses  Wort  für  das  Telephonische  je  aussterben  sollte,  muß  man  ihm  ein  Denkmal  setzen,  auf  dem steht: 
 
FERNMÜNDLICH 

Von allen behördlich gezeugten Wörtern das schönste.   
Solang sie  keinen Brief von ihm  bekam, konnte sie ihm nur  ihre  Träume  schicken.  Aber  das  will  er  ja.  Sein  Wille  ge schehe.  Wie  im  Traum,  so  am  Tage.  Und  so  ging¹s  letzte  Nacht zu: Man stülpt ihr Plastik, eine Tüte, einen Ballon, ein  Kondom  über  den  Kopf.  Sie  wußte,  sie  würde  ersticken.  Beiße  ein  Loch  in  die  Hülle!  Dann  schuldbewußt.  Sie  hat  etwas zerstört. Dr. Douglas: If you are in a condom, what are  you then? Sie: A writer, a penis. Oh je. 
Daß er doch wieder angerufen hat. Against all odds! Dem  schrillen Wecker zuvorkommend. So aufzuwachen! Sie sollte  seinen Gefühlen vertrauen. Seine letzten Briefe waren doch,  trotz  des  alles  beherrschenden  Konjunktivs,  Liebesbriefe.  Und  gerade  das  bezweifelte  sie.  Die  ganze  Briefschreiberei  nur  ein  Spiel.  Wenn  nicht,  dann  wäre  doch  dieses  Hin  und  Her längst hinaus über einfaches Verliebtsein. Der Ventilator  summte.  Die  Nächte  kühlten  nicht  mehr  ab.  Er  hat  ihre  Selbstzensur  zersetzt.  Thanks  for  lending  yourself  to  my  fiction. In zehn Tagen begann der normale Unterricht. Jeden  Morgen  von  8  bis  10  Uhr  30.  Nur  noch  leise  Wut  auf  sich  selbst.  Weil  sie  sich  nicht  rechtzeitig  abgefangen  hat.  Wann  wäre  das  gewesen,  rechtzeitig?  Und  schon  vermißte  sie  morgens  sein  Wecken.  So  schnell  entsteht  eine  Erwartung.  Alberta Hunter. Ihre Trösterin.  Und bügeln. Drei Ladungen  Wäsche. Und Haare waschen. In der Hitze jetzt: abschneiden  lassen. Nein. Durchhalten. Seinetwegen. Bis März. Bis ... 
Immer noch fehlten ihr seine Hände. Auf der Terrasse hatte  sie − es dauerte ja, alles in allem, nur zweieinhalb Stunden −  nichts als sein Gesicht mitgekriegt. Mund und Augen, sonst  nichts.  Wahrscheinlich  hat  das  Cordhemd  mit  seinem  verzehrenden  Lichtblau  die  Hände  praktisch  verschwinden  lassen.  Vielleicht  hat  sie  deswegen  von  einem  Dr.  Douglas  mit  amputierten  Händen  geträumt.  Schlicht  beängstigend:  daß sie sich nicht mehr am Ausmalen seiner Anwesenheit zu  hindern  vermag.  Und  jedesmal  läuft  der  selbe  Film  ab.  Sie  wird auf ihn warten, er kommt auf sie zu, und blitzartig wird  klar  sein:  was  sie  einen  Sommer  lang  gesponnen,  geredet,  geschrieben  haben,  hat  mit  dem  jetzt  Wirklichen  nichts  gemein. Irgendwann wird dann doch einer von beiden etwas  sagen. Sie weiß: nur jetzt kein falsches Wort. Vor allem: kein  Wort  zuviel.  Und  hört  sich  reden  wie  einen  Sturzbach.  Sie  war  doch dort  auf  der  Terrasse  mit  Tarte Tatin,  Frau  Anna,  dunkelstblau  gewandet,  und  mit  einer  dicken  glatten  rein  runden  Goldkette  bewehrt,  mit  Calvados  und  den  pünkt lichen Schwänen und der Orgel La Mettrie, da war sie doch  zu  selfconscious −  deutsch  sagt  man  wohl,  eher  rätselhaft,  befangen  dazu −,  um  von  ihm  mehr  als  die  Augen  und  den  Mund für spätere Abrufbarkeit zu speichern. Der Mund, der  sich  selber  andauernd  zurücknehmende  und  eben  dadurch  auf  sich  aufmerksam  machende.  Die  meisten  Männer  hier  sind,  darf  man  sagen,  dünnlippig.  Oberlizard:  Glen  O.  Rosenne.  Zuzugeben  ist,  daß  sie,  bevor  er  wirklich  hier  eintreffen  wird,  gern  ein  Photo  hätte,  eins  ganz  von  vorn,  vielleicht  MIT  Händen,  einfach  daß  sie,  was  sich  in  ihr  zusammengebraut  hat,  ein  bißchen  der  Wirklichkeit  anglei chen  kann.  Diese  Angleichung  etwa  zu  verschieben,  bis  er  auf  ihrem  Sofa  sitzt,  hält  sie  für  riskant.  Ihr  Sofa,  das  sie  übrigens  aus  dem  Hinterlaß  einer  Mörderin  gekauft  hat −  MörderinnenHausrat  ist  der  billigste −,  ihr  hellbeiges  und  trotzdem  fleckenloses  Sofa  eignet  sich  nicht  zu  solchen  Maßnahmen. Sobald er und sie bei ihr sind, verliert sie den  Verstand.  Sie  hält  es  für  fair,  ihm  das  schon  vorher  mitzuteilen.  Heiliger  Julien  Offray,  steh  uns  bei.  Sie  können  sich doch, wenn er da ist, kalifornischen Rotwein einflößen,  vorsätzlich,  mildernder  Umstände  wegen.  Und  wie  kommt  sie überhaupt dazu, sich ihn hier vorzustellen! Hierher wird  er  nie  kommen.  Vier  Tage  Kalifornien.  Oder  fliegt  er  dann  noch  mit  nach  NC?  Schlüpft  hier  herein  und  unter.  Schlüpfen! Deutsch ist toll! 
In genau 6 ½ Stunden ist es eine Woche her, daß er sie ge weckt  hat.  Sie  wünscht  sich,  die  Zeit  zurückdrehen  zu  können,  daß  sie  die  letzten  drei  Telephonate  noch  vor  sich  hätte.  Daß  er  telephonisch  die  sogenannte  Fassung  leichter  verliert  als  auf  dem  Papier,  erfüllt  sie  mit  den  rosigsten  Hoffnungen! Daß er beim gestrigen Morgengespräch fragte,  was  sie  denn  heute  anziehe,  hat  sie  sozusagen  bezaubert.  Noch keinen Mann hat das bisher interessiert. Da war immer  sie  diejenige,  die  sich  dem  Jeweiligen  ausmalen  mußte.  Denen  schien  ihre  aktuelle  Erscheinung  immer  nicht  der  Rede wert. Könnte es sein, glutet sie sich jetzt vor, daß er der  zartestaufmerksamstegefühlvollste  Mensch  ist,  den  sie  bis  jetzt  getroffen  hat?  Ach  nein.  Bitte,  keine  ungebührliche  Er wartung, gar Forderung. Er soll das schurkischste Nullund nichts  sein.  Ihr  ist  es  (er)  recht.  Daß  sein  schriftliches  Immerallesgesagtewiederzurücknehmen  eine  Art  Ehrlich keitstalent  verrät,  weiß  sie.  Aber  als  geschulte  Textauslege rin  weiß  sie  auch,  daß  sein  rührender  Eifer  im  Zurückneh men alles jeweils Gesagten auch eine stürmische Zärtlichkeit  bedeutet.  Glaubtsiehofftsie.  Hopelessly  hopeful.  Themire  wird im März in ihrer Kleidung, um nicht noch ungesünder  auszusehen,  jede  leuchtende  Farbe  vermeiden.  Sie  war  ja  auch  noch  nie  in  Kalifornien.  Das  Licht  dort  soll  ziemlich  stark  sein.  Entblößend.  Aber  daß  er  und  sie  sich  deshalb  ausschließlich  in  der  Lichtlosigkeit  der  chinesischen  Restaurants  treffen −  wie  er  sarkastisch  oder  wirklich  vor schlägt −,  wird  sie  nicht  zulassen.  Sie  will  ihn  sehenhaben begreifen, so grell wie möglich. 
Sein  Sichdurchsielebendigfühlen.  Zwei  verschiedene  Arten  zu  fühlen.  In  Rosennes  PhänomenologieVorlesung  war  zu  lernen  der  Unterschied  zwischen  otherdirectedness  und intentionality. Sie möchte das genau so praktizieren, wie  sie es braucht. Alles.  Nur sie und er sollen das Thema sein.  Wie  Patron  Julien  Offray  es  vorgemacht  hat.  Allerdings  brauchte  sie  schon  lang  keinen  Patron  mehr.  Der  war  ein  Vorwand, ein ebenso liebens wie schätzenswerter. Aber im  März,  wenn  die  Papier  und  Telephonierepoche  vorbei  ist,  dürfen sie allein und sich alles sein. 
Als sie aus dem Klassenzimmer trat, regnete es, goß es. Ein  tropisches  Gewitter.  Sie  ging  durch  den  Regen  nach  Hause.  Zehn  Minuten.  Sie  lächelte.  Triumphierend.  Sie  hatte  aus  ihrem Fach einen Brief geangelt. Den trocken heimgebracht.  Geöffnet. Gelesen. Enttäuscht. Ernüchtert. Niedergeschlagen.  Fernmündlich  sind  sie  soviel  weiter  als  in  dieser  perfekten  AllesbedenkenStilistik.  AlibiStilistik  ist  das.  Feigheits Syntax.  Fernmündlich  hatte  er  den  Ventilator  beneidet,  und  sie hatte gewünscht, er wäre der Wasserfall ihrer Dusche. In  seiner  Briefstilistik  bringt  er  sich  praktisch  wieder  zum  Verschwinden.  Sie  dagegen  sagt  ihm  einfach,  sie  liebe  ihn  und täte nichts lieber als sich ganz in ihm auflösen, das heißt,  sie verschwindet nicht ihm, sondern in ihm. Wissend, daß sie  danach (was für ein Unwort) weiterleben MUSS. 
Den Wetterbericht, hot, hazy and humid, findet sie in sich,  an  sich,  durch  sich  bestätigt.  Ihm  muß  sie  gestehen,  daß  sie  sich nicht mehr daran erinnern kann, wie das war, ein Leben  ohne ihn. Er sei, sagt sie, nicht mehr wegzudenken. Also eine  Gottliebe  Eigenschaft  sei  schon  seine  Allgegenwart.  Wo  sie  ist, ist er bei ihr, im  Bett, im Bad, in der Bibliothek.  Wie sie  sich  fühlt −,  das  muß  ein  schwerer  Koffeinschock  sein.  So  verrückt  war  sie  noch  nie.  Vielleicht  ist  sie  zum  ersten  Mal  normal. Und das hält sie nicht aus. Also zwischen Ulrike von  Levetzow und ihrem Anbeter lagen 55 Jahre. Sie hat nachge schaut. Von Jahrgängen will sie nichts mehr hören. Ain¹t mis behavin¹ läuft bei ihr. Fats Waller, I¹ve got my fingers crossed /  not  that  I¹m  superstitious  /  I¹m  afraid  /  it¹s  too  good  to  be  true.  Andererseits  hat  seine  Stimme,  die  fernmündliche,  zuge nommen  an  Zudringlichkeit  und  Nichtanderskönnen  und  eben doch auch an Häufigkeit. Dreimal täglich. Das ist doch  nicht  nichts,  oder.  Täglich  dreimal.  Und  sie  gesteht¹s  ihm  inzwischen: Sie hat ihn einfach unterschätzt. Und er: Er sich  auch. Und sie: Aber sie sich nicht. Butterflies in the stomach.  Wenn  er  sie  irgendwo  abholt,  wird  sie  ihr  Kosmetik köfferchen  in  der  Hand  haben.  In  der  linken.  Sie  hat  in  Gedanken schon alles hinter sich, was je zwischen ihnen sein  wird  oder  sein  kann  oder  sein  könnte.  Also,  wenn  er  das  übertreffen  will,  muß  er  sich  einiges  einfallen  lassen.  Keine  Angst. Sie kann sich auch in himmelblaues Schweigen hüllen  und  so  weiter.  Jetzt  soll  sie  unterrichten  und  drei  Kapitel  Rohfassung  liefern  und  will  doch  nur  seine  Briefe  bis  zum  Auswendigkönnen  lesen  und  die  Telephongespräche  vom  innersten  Tonband  noch  einmal  und  noch  einmal  ablaufen  lassen. Es wird vorstellbar, daß er, falls sie einander je sehen,  über Altersunterschiedszahlen nichts mehr zu jammern hat,  sie  wird  nämlich  durch  dieses  irrsinnige  IhnnichtHaben,  durch  den  Wahnsinn  des  IhnVermissens, durch  den  Ohne ihnSeinsSchmerz  wird  sie  so  gefoltert,  so  bis  zur  Erschöpfung  verzehrt,  daß  von  ihr  nur  noch  eine  Alte  Frau  übrig  sein  wird.  Und  hat  sich,  diese  vor  Sehnsucht  Hin kende, die feinsteverruchteste Unterwäsche gekauft. Und sie  strickt  wieder!  Total  regressiv.  Die  Mutter  übernimmt  das  Kommando.  Tiefviolett,  ein  Seidenpullover  soll¹s  werden.  They¹re  setting  themselves  up  for  major  trouble,  does  he  know  that.  Im  Krieg  wie  in  der  Liebe,  sagt  der  Patron,  gilt  der Satz: Die Pflicht ist alles, die Gefahr ist nichts. Nach dem  Pullover, der sozusagen im Handumdrehen fertig sein wird,  kommt sofort eine schmutziggelbe Strickjacke dran. Sie muß  sich die Finger wundstricken. Weil sie nicht schreiben kann.  La Mettrie ist der einzige, der das versteht, das weiß sie. Ach,  Sylvandre,  seufzt  Themire.  Ja,  soll  sie  denn  dem  Herrn  Rosenne  beschreiben,  daß  Sylvandre  es  dreimal  hinterein ander  mit  Themire  tat,  weil  sie,  die  Schlampe  Themire,  erst  beim dritten Mal so weit war? Das war schon im Jahre 1745  den Herrschaften zuviel. Und das richtig, das heißt, nach der  Erfahrung  dargestellt,  das  heißt:  nicht  nur  moralisch  klimatisiert davon geredet, wie es üblich war von Lessing bis  Lange  (du  weißt,  Geschichte  des  Materialismus),  der  viel  versteht,  aber  die  LustSchrift  doch  cynisch  findet.  Na  ja,  Marburg 1873, dafür war er doch auch mutig. Wenn sie ihren  La Mettrie darstellen würde, das heißt, die La MettrieSätze  messen  an  ihren  eigenen  Erfahrungen  und  Beobachtungen,  dann würde das entweder niemanden interessieren oder sie  wäre  ihren  Job  los.  Wahrscheinlich  beides.  Aber  da  sie  im  Januar von den erwarteten drei Kapiteln Rohfassung so gut  wie nichts liefern wird, wird man sie entweder für faul oder  für  unfähig  halten.  Wahrscheinlich  für  beides.  Womit  sie  dann  endlich  als  die,  die  sie  ist,  erkannt  sein  wird.  Daß  er  heute  am  Telephon  alles,  was  ihn  dort  hält,  als  ehrenwerte  Gesellschaft  bezeichnete,  hat  ihr  gut  getan.  Daß  sie  ihn  nicht  befreien  kann,  selbst  wenn  sie  alle  Kaltblütigkeit  der  Welt  aufbrächte − und das wird sie definitely not −, ist sicher. Also  ist  ihr  aufbrandendes  Geseire,  seins  und  ihrs,  Gischt  und  nochmal  Gischt.  Oder  Geflunker.  Oder  Funkenflug  in  einer  eisigen  Winternacht.  Oder  sie  sind  eben  eine  stinknormale  Affäre.  Wie  Madelon  und  ihr  Brian,  undundund.  Sie  hat  doch gemerkt, daß er zu heftiggroßen Sätzen flieht, um sich  und  sie  nicht  der  nächstbesten  Affärenlächerlichkeit  auszu liefern. Könnte es sein, daß sie, er und sie, nur so lächerlich  sind,  weil  sie  einander  so  ernst  nehmen?  Kann  etwas  komischer  sein  als  der  Anspruch,  unvergleichlich  zu  sein?  Und das mußte noch geträumt werden: Statt der gelbgrünen  Gretel  saß  ein  ganz  kleiner  tiefvioletter  Vogel  beim  blauen  Hansel. Dieser Kleine biß dem Hansel das Bein ab. Sie schrie  nach  ihrem  Vater.  Der  nahm  das  nicht  weiter  wichtig.  Sie  stand,  konnte  nicht  wegschauen  von  Hansel,  der  versuchte,  auf  dem  dünnen  Bein  die  Balance  zu  halten.  Als  sie  aufwachte, rannte sie gleich zum Käfig. Die waren ja wieder  zu Gast. Und beide gesund, der Blaue und die Gelbgrüne. 
Im  letzten  Brief  hatte  er  beschrieben,  wie  er  unter  ihrem  blauen Laken erwachte und sie darauf aufmerksam machte,  daß  er  tot  sei.  Das  hat  sie  schaudernd  genossen.  Heute  fernmündlich  seine  Bemerkung,  daß  die  horrenden  Tele phonrechnungen erst nach seinem Tod ins Haus kämen, hat  sie aber doch erschreckt. Sie weiß schon, es war, es sollte ein  Witz sein. Warum sagte er so etwas? Sagte es einfach so hin. 
Jesus,  sie −  er  und  sie −  haben  doch  nicht  einmal  eine  normale  Affaire.  Madelon  wird  zweimal  pro  Monat  vom  farbigen  Fahrer  Louis,  einem  hübschen  Fahrer  sogar,  ab geholt  und  zu  Brian  Dewey,  dem  genialen  Erfinder  der  feinsten  Wasserreinigungsmaschinen  der  Welt,  nach  Wil mington  oder  Charleston  chauffiert,  um  dann  verwöhnt  zu  werden  und  so  weiter,  und  dann  wieder  zurückchauffiert  vom  dunkelschönen  Louis  und  so  weiter.  Soll  doch  ihr  Wendelin  Gottlieb  ...  Jetzt  hat  sie¹s,  sie  wird  ihn  jetzt,  ganz  ernüchtert,  mit  dem  hier  üblichen  VornamenZweierpack  nennen,  á  la  John  F.!  Soll  doch  ihr  Wendelin  G.  einmal  pro  Woche  vor  Anna  hintreten,  zum  Kegeln  müssen,  jeden  Donnerstag, zum Beispiel, immer in Turnschuhen, soll seine  Anna  doch  zugeben,  es  tue  ihm  gut,  auch  wenn  er  danach  ziemlich  erschöpft  sei,  bis  eben  die  Kegelbahn  eines  Tages  schließt  oder  er  einfach  nicht  mehr  kegeln,  sondern  die  Donnerstagabende  wieder  daheim  verbringen  will.  Ihre  blütenweiße  Spitzenunterwäsche  aber  liegt  sorgfältig  im  Schrank  und  wartet  auf  einen  März,  der,  je  heftiger  sie  ihn  ersehnt, um so weniger vorstellbar wird. Heiliger Julien, wo  bleibt  l¹imagination!  Aber  der  Pullover  ist  fertig.  Inklusive  Ärmel.  Ob  er  ihr  gefällt,  könnte  von  Gottlieb  W.  (so  herum  ist  es  besser)  abhängen.  Lila.  Erikafarbener  SchalKragen.  Der, wie grobe Spitze. Das Lila durchlocht. Das ganze seidig.  What now, my love? 
Könnte  sein,  daß  sie  in  seiner  Art  Zärtlichkeit  unerfahren  ist. Dachte sie heute, nach seinem zweiten Anruf. Als sie auf  den dritten, der nicht kam, gewartet hat. Zum Glück gibt es  die Hits. 
You make me feel  like a natural woman. 
Das mußte sie summen und singen gegen die entnervende  Angst,  alles  könne  nur  ein  Sprachspiel  sein  und  bleiben,  fernmündlich  wie  schriftlich,  folgenlos.  Schnell  wieder  mit  Madelon ins Kino. 
Falling  in  Love.  Mit  Meryl  Streep.  Auch  eine  VassarFrau.  Sie hatte den selben Schauspiellehrer wie Meryl Streep. War  aber unentdeckt geblieben. Madelon und sie nach dem Film,  stumm.  Dieses  Sichfinden,  Sichtrennen,  Sichwiederfinden  und  Wiedertrennen  bis  zum  Gehtnichtmehr  beziehungs weise  Dochnochhappyend.  Eine  freche  Spekulation  mit  der  menschlichen Bedürftigkeit. Und das Beleidigendste: die Ge nauigkeit,  mit  der  sie  da  berechnet  werden.  Aber  daß  sie  dem  StreepDeNiroGetrapse  lechzlechz  hinterhertrapsen,  gibt  Hollywood  recht.  Die  ähnlich  operierenden  Religionen  versprechen  ihren  Opfern  wenigstens  eine  Belohnung  im  Jenseits.  Hollywood  kassiert  unser  Geld  und  unsere  Seelen  und liefert dafür neunzig Minuten. 
Weil  sie  von  ihrer  Mutter  geweckt  wurde,  fernmündlich,  fing  sie  sofort  an,  mit  ihr  zu  streiten,  weil  sie  nur  noch von  ihm geweckt werden will. Die Schmutziggelbe ist fertig. Die  schönste, die sie je gestrickt hat. Und das in neun Tagen. Und  es  hat  eine  Zeit  gegeben,  und  die  hat  sie  überlebt,  da  kam  nur alle drei Wochen ein Brief von ihm. Und überhaupt kein  Anruf. Steinzeit. Nein, Eiszeit. Und jetzt. Hier heißt es It¹s not  over till the fat lady sings (Opernspruch). Sein Hegel nennt¹s  Begierde,  Freud  versteckt  sich  hinter  Libido,  Lacan veredelt  es  als  Begehren,  sie  sagt  Sehnsucht,  mehr −  sucht  als  Sehn.  Jetzt  wird  sie  ihm  in  jedem  Brief  mindestens  drei  Polaroids  schicken, in gerade noch gebremster Obszönität. Aber wenn  man  diese roids  vergrößerte  auf  2  x  3  Meter,  dann  wären  das Rembrandts. To be sure. Und er hat gesagt, er trage die  Polaroids  jetzt  immer  bei  sich.  Auf  seinem  Körper,  hat  er  gesagt. Und das nicht aus Sicherheitsgründen! Und: Er fühle  sich so gesund wie noch nie! 
Am Telephon, seine Stimme! Sie möchte am ganzen Körper  Ohren haben! 
Die Naturgeschichte der Seele. Und löst sich auf in ihm. Ver gißt,  daß  er  von  der  ehrenwerten  Gesellschaft  umgeben,  um ringt,  bewacht  ist.  Er  muß  seiner  Themire  schwören,   nie  mehr anzurufen, wenn er gezwungen sein kann, einfach auf zulegen. 
Gestern sein schönster Brief, so far. Zum ersten Mal ist sie  «Liebste», zum ersten Mal gibt er sich ausführlich mit ihren  Küssen  ab.  Es  hilft  tatsächlich,  das  Wort  Sehnsucht  auszu sprechen.  Hilft  ist  falsch.  Es  heizt.  Reizt.  Die  Sehnsucht  erwacht  eben,  wenn  man  sie  nennt.  Die  Jahre,  die  er  zwischen  ihr  und  ihm  aufbaut  wie  ein  unpassierbares  Ge birge, putzt sie weg wie nichts. Dazu paßt, daß er dann auch  in  jedem  zweiten  Brief  vorschlägt,  nur  in  chinesischen  Restaurants zu essen, weil es in denen so schummrig ist. Sie  wird  ihn  in  die  Helle  führen.  Tag  und  Nacht.  Unter  eine  Operationslampe  wird  sie  ihn  legen  zum  Küssen  und  so  weiter. Sie ist nämlich S & M. Das sagt man hier für pervers.  Er weiß eben nicht, daß sie als Kind gefährdet war, weil sie  alles in den Mund genommen hat. Nach dem Regen hat sie  aus  Pfützen  getrunken.  Ihre  Mutter,  Weltmeisterin  in  Reinlichkeit und Peinlichkeit, verzweifelte schier. Es gab jetzt  Träume, die sie Dr. Douglas nicht hinplaudern konnte. Ihm  auch  nicht.  Nein,  ihm  auch  nicht.  Noch  nicht.  Vielleicht  im  März.  Ins  Ohr.  Sie  saß  an  einem  Kindertisch  und  hatte  den  Mund  voller  Kot.  Um  sie  herum  mehrere  Gleichaltrige,  die,  obwohl  sie  den  Kot  verbergen  wollte,  merkten,  was  sie  im  Mund  hatte.  Sie  versuchte,  den  Kot  hinter  vorgehaltener  Hand  auszuspucken.  Er  fiel  unter  den  Tisch  und  war  jetzt  erst  recht  sichtbar.  Dann  spuckte  sie  den  Rest  noch  in  eine  Serviette,  mit  der  sie  dann  auch  noch  den  Boden  säuberte.  Dann sagte Patricia Best, sagte es aber wie zum Spaß, daß sie  mit  ihr  intim  werden  wolle.  Das  sei  ihr  Traum,  von  einer  jungen  Frau  zum  Auto  gebracht  zu  werden.  Sie  aber  rief  nach  Glen  O.  Rosenne.  Aber  der  kam  nicht.  Patricia  bot  ihr  den kurzen Arm und sagte: Komm, Kind. Und zeigte auf den  Kot, der wieder unter dem Tisch lag, sichtbarer als je zuvor.  Aus der Traum. 
Im  Fußballstadion  läuft  gerade  die  Nationalhymne.  Sie  hört¹s  durchs  offene  Fenster.  Sie  erträgt  kein  geschlossenes  Fenster  mehr.  Weder  bei  Tag  noch  bei  Nacht.  Sie  war  jetzt  stundenlang mit ihren Finger und Zehennägeln beschäftigt.  Wie eine Künstlerin. Vielleicht. Davor, in der Wanne liegend,  hat  sie  Beine  und  Achselhöhlen  ab  und  ausgeschabt.  Da  fühlt sie sich amerikanisiert. Aber, bitte, keine falschen Vor stellungen:  Rot  auf  Nägeln  kann  sie  jetzt  nicht  mehr  aus stehen.  Nur  noch  Naturtöne.  Vielleicht  La  Mettries  Einfluß.  Natur ist alles. Alles ist nichts als Natur. 
Sie  wird  das  Grüngeblümte  anziehen,  weil  er  sich  das  schon zweimal genau beschreiben ließ. Daß sie die einzige in  der Abteilung ist, die so gut wie nie Hosen trägt, gesteht sie.  Gestern  abend  Women¹s  Study  Group.  Dreißig  Frauen.  Sie  die  einzige  nicht  in  Hosen.  Findet  alle  drei  Wochen  statt.  Feministische  Filmtheorie.  Bei  Einstellungsinterviews  wird  nach Filmkursen gefragt. Unter Frauen, unter diesen Frauen,  ist  sie  weniger  selfconscious  als  in  der  Gesellschaft  von  Männern.  Selfconscious  übersetzt  sie  sich  so:  sich  selbst  peinlich sein. Sie hat Männern gestattet zu sagen oder sie gar  eingeladen zu sagen, ihre Hüften könnten schmaler sein, ihre  Brüste bescheidener. Dann hat sie sich mit den Augen dieser  Männer  angeschaut.  Daß  er  immer  wieder  ihre  Brüste  erwähnt,  sich  nach  ihren  Brüsten  erkundigt,  als  wären  das  Lebewesen, mit diesen Brüsten alles mögliche anstellen will,  ist für sie Zauber pur. 
Sie  hat  Dr.  Douglas  den  neuesten  Traum  hingeplaudert,  hingerotzt,  gekotzt,  zumindest  hingetrotzt.  Es  hat  ihr  gut getan,  ihm  mit  diesem  Traum  seine  Grenzen  zu  zeigen.  So  wird sie nie von ihm träumen. So träumt sie nur von Gottlieb  W.,  Herr  Doktor.  Nämlich:  Wieder  im  Kinderzimmer,  Schwester  Bettina  spielt  Karten  mit  ihrem  Mann,  dem  ost westfälischen  Samenhändler,  inzwischen  umgeschult  auf  Programmierer.  Beide  sitzen  an  einem  kleinen  Fenster.  Der  Schwager fragt, ob sie nicht mitspielen wolle. Ihr Gottlieb W.  lag schon oben, auf dem oberen Bett eines bunk bed, ihr fällt  jetzt  der  deutsche  Ausdruck  nicht  ein,  zwei  Betten  überein ander, wie man¹s für Kinder hat. Sie legte sich zu ihm. Aber  abgewandt.  Sie  spürte  seine  Erregung.  Griff  nach  ihm.  Sie  hatte  Angst,  daß  die  Schwester  und  deren  Mann  durch  das  jetzt  entstehende  Geräusch  alles  mitkriegten.  Sie  fühlte  sich  unfähig  zu  allem.  Schwester  und  Schwager  sangen  Brüder lein, Brüderlein und Schwesterlein. Fledermaus. Gottlieb W. kam  völlig ungeniert. Und zwar in ihren Mund. Für Dr. Douglas  repräsentierten die Schwester und ihr Mann die ehrenwerte  Gesellschaft  jenseits  des  Atlantik.  Als  TraumNachgeburt  lieferte  sie  Dr.  Douglas  ihre  Stimmung  beim  Erwachen:  März, Gottlieb W. KrallZürn will bleiben, bis er und sie ihre  La  MettrieDissertation  durchgesprochen  haben.  Sie  weiß,  daß sie zuviel erwartet. Und erwartet trotzdem weiterhin zu  viel.  In  dem  Samenerguß  in  ihren  Mund  sieht  Dr.  Douglas  diese übermäßige Erwartung ausgedrückt. Influence. Sie: Er  hat ihr etwas in den Mund gelegt. Die Einladung des Samen händlerProgrammiererSchwagers  bezeugt  ihre  Angst,  der  sexuelle  Kontakt  mit  dem  ersehnten  Mann  könne  sie  voll ends  um  ihre  professionelle  Zurechnungsfähigkeit  bringen.  Also das Ersehnteste als das Gefährlichste. Er müßte, ehe er  hierherkommt, noch Madwoman in the Attic lesen. Manchmal  kommt  es  ihr  vor,  als  gebe  es  nichts  von  dem,  was  sie  sich  einbildet.  Alles nur ein verzweifeltes Schließen aus diffusen  Daten, die auch ganz anders zu deuten wären. Aber gestern  hat  er  fernmündlich  ihre  Brüste  geküßt,  das  sagt  ihr  auch  jetzt  noch,  daß  es  ihn  gibt,  daß,  was  sie  redeten,  im  land läufigen  Bezeichnungswesen  für  Erotisches  eingestuft  werden kann als oral sex. 
Ihr  Kurs  muß  wegen  zu  großem  Andrang  geteilt  werden.  Also  täglich  zweimal.  Heute  das  Formular  Employment  Eligibility Verification. Sie hat kein Arbeitsvisum, aber Lehren  gehört  zum  Ph.D.Programm.  Nach  drei  Stunden  Telepho nieren  die  Auskunft:  Die  Visumsübertragung  von NATO2  zu F1 dauert vier bis sechs Wochen. Ohne dieses Visum kein  Gehalt mehr. Neue Formulare geholt und ausgefüllt. Sie soll  unterschreiben,  in  diesem  Land  nie  Arbeit  zu  suchen.  Jane  zeigt  Mitgefühl.  Dann  geht  die  Tür  auf,  Frederick  fragt,  ob  für seine Frau Evelyn, die genau so weit ist wie Beate, heute  die Green Card, die endgültige Arbeitserlaubnis, gekommen  sei.  Jane:  Evelyn  habe  die  doch  schon  am  Vormittag  abgeholt.  Jane  zu  ihr:  Das  hat  er  gewußt.  Der  hat  das  nur  gefragt,  um  Beate  zu  ärgern.  Jetzt  mußte  geweint  werden.  Mit  verheultem  Gesicht  zum  Graduate  Student  Meeting.  Und  gleich  wieder  raus.  Zu  Rosenne.  Bevor  sie  etwas  von  sich  sagen  kann,  muß  er  mitteilen,  daß  er  in  seinem  NietzscheKurs mehr als hundert Studenten hat. Sie hat zum  Glück die Sonnenbrille vor ihren verquollenen Augen. Aber  Rosenne  sagt  dann,  er  werde  helfen.  Im  FakultätsCasino  zwei  Martini  Extra  Dry.  Ein  Cheeseburger.  Rick  Hardy  kommt  samt  Tablett  an  ihren  Tisch,  benimmt  sich  demütig,  wanzt  sich  richtig  an,  sie  spürt,  daß  sie  das  brauchen  kann.  Bietet ihm an, ihn heimzufahren. Er hat ja, weil immer Elaine  fuhr,  nie  einen  Führerschein  gemacht.  Vor  seinem  Quartier  reden  sie  weiter.  Das  heißt,  Rick  redet.  Er  redet  und  heult.  Daß  sie  ihn  nicht  angezeigt  hat  wegen  seiner  Attacke,  die  keine war, aber ein Unsinn war es, eine Schwäche, ein totaler  Ausrutscher,  eine  Jämmerlichkeit,  die  man  sich  nicht,  die  man  sich  niemals  verzeihen  kann,  daß  sie  ihn  aber  nicht  denunziert  hat,  daß  sie  sofort  diesen  Rückzieher  gemacht  hat,  sie  hätte  ihn  doch  vernichten  können,  und  hat¹s  nicht  getan, eine kann einen vernichten, und tut¹s nicht, wo gibt¹s  denn  so  was,  also  wirklich,  das  sitzt  bei  ihm  so  tief  oder  traumatisch,  tut  auf  jeden  Fall  weh,  er  hat  das  Gefühl,  er  müsse ihr irgendwann einmal die Hände um den Hals legen,  um  ihr  zu  beweisen,  daß  er  diesen  Griff  eher  zärtlich  als  drohend  meine,  ein  bißchen  Drohung  gehört  zu  jeder  Zärtlichkeit,  ob  sie  das  anders  sehe?  Jetzt  protestierte  die  Nachbarin.  Der  Motor  lief  noch.  Wurde  abgestellt.  Richard  redete  weiter.  In  dieser  schürfenden  Art.  Bis  kurz  vor  Mitternacht.  Auch  als  er  nichts  mehr  hatte  in  dieser  schürfenden Art. Aber er hat immer etwas, das man nur von  ihm  erfahren  kann.  Wahrscheinlich  wäre  er,  wenn  er  nicht  andauernd  die  gesamte  UNC  ausspionieren  müßte,  längst  HarvardProfessor.  Wenn  er  dann  aber  ein  paar  Bytes  aus  seinen  Nachrichtendateien  aufmarschieren  läßt,  ahnt  man,  daß  man  eine  Karriere  genau  so  gut  auf  Nachrichten beschaffung  wie  auf  Wissenschaft  gründen  kann.  Und  er  weiß, was er wem zu servieren hat. Glen O. Rosenne ist also  seit  drei  Jahren  Klient  von  Dr.  Douglas.  So  etwas  läßt  Rick  Hardy verlauten unter der Rubrik: Wie du ja weißt. Und er  weiß  genau,  wie  sensationell  diese  Mitteilung  wirkt.  Und  macht  so  weiter.  Zwischen  SueAnn  Rosenne  und  dem  Gatten  Glen  reime  sich  nichts  mehr.  Dr.  Douglas  habe  erklärt,  er  sei  mit  seinem  Latein  bald  am  Ende.  Natürlich  wollte  Beate  jetzt  mehr  wissen.  Wenn  möglich,  alles.  Aber  Rick  war  auch  darin  Meister.  Für  heute  reicht¹s.  Vielleicht  schon bald mehr. Dann vielleicht sogar ALLES. Und drückte  ihr  die  Hand,  als  wolle  er  nur  den  Unterschied  zum  Professor  demonstrieren.  Und  ging.  Als  er  verschwunden  war,  wollte  sie  den  Pontiac  starten.  Aber  der  reagierte  nur  mit einem erbärmlichen Gurgeln. Die Batterie leer. Sie rannte  hinter  Rick  her,  der  war  schon  im  Haus  verschwunden.  Sie  rannte zurück zum Auto. Der Schlüssel drin. Die Türen auf  Schließen gedrückt. Zu Fuß heim. Morgen AAA anrufen. Mit  Ersatzschlüssel hin. Warten bis die Batterie geladen ist. 
Die  Stelle  in  Vassar,  die  ihr  in  Aussicht  gestellt  worden  war,  wird  nicht  frei.  Die  Frau,  die  man  dort  loswerden  wollte, hat durchgesetzt, daß sie bleiben kann. 
Das Ticket nach San Francisco liegt vor ihr auf dem Tisch.  Billigflug. Daß er jetzt vorsorglich sein Alter grell beleuchtet,  findet  sie  sowohl  lustig  wie  auch  lieb.  Männer  stehen  doch  zu ihrem Äußeren, egal, wie alt sie sind. Sie war zwei Jahre  mit  einem  Mann  zusammen,  dem  es  bei  einem  Autounfall  die Kopfhaut verbrannt hatte, der ein dezentes Haarteil trug,  das sie erst als solches erkannte, als sie von anderen  darauf  aufmerksam gemacht wurde. Genügt ihm das? 
Ob  er  ahnt,  daß  es  Wörter  gibt,  mit  denen  sie  noch  nie  bedacht wurde. Liebes nennt er sie. So hat sie noch niemand  genannt. Und sie mußte nicht lachen. Daß seine Wörter einen  Oberton haben, der aufs zarteste komisch ist, muß er ahnen.  Daß  er  solche  Wörter  trotzdem  benützt,  offenbar  nicht  anders  kann,  als  sie  zu  benützen,  das  geht  ihr  durch  und  durch.  Daß  er  gefürchtet  hat,  die  durch  Magdas  unerklär liches  Verschwinden  entstandene  achttägige  Unterbrechung  des  Telephonierens  und  des  Briefeschreibens  werde  sie  benützen, sich von ihm zu trennen, hat sie eher belustigt als  gerührt.  Danebenen  kann  man  (wenn  er  ihr  diesen  Kom parativ gestattet) nicht treffen. Sie hofft, Magda melde bald,  daß  sie  wohlbehalten  ist.  Vielleicht  hat  sie  sogar  jemanden  getroffen,  der  sie  vergessen  ließ,  wo  sie  zu  Hause  ist  oder  daß es wißbegierige Eltern gibt. Das wünscht ihr die ameri kanische  Geistesschwester.  Tatsächlich  glaubt  sie,  Magda  näher  zu  sein  als  Julia.  Julia  siegt  zu  sehr.  Ach,  nichts  ist  weniger  gefragt  als  ihre  Nähe  oder  Nichtnähe  zu  den  Erztöchtern  Regina  und  Magda  und  Julia  und  Rosa.  Sonntagmorgen.  Bald  auch  im  März.  Um  nicht  über  den  März  hinausdenken  zu  müssen,  weidet  sie  den  März  aus,  fieselt  ihn  ab,  nagt  an  jeder  Minute  herum,  bis  nichts  mehr  dran ist. Zuerst einmal das nicht enden könnende Frühstück.  Sie, ER und SIE,  mit  der  New  York  Times.  Das  all  American  couple.  Donnerstag,  Freitag,  Samstag,  Sonntag  in  San  Francisco und Berkeley. Nur noch für einander. Geliebtester  Mann.  Aber  wie  lange  kann  er  überhaupt  bleiben?  Solche  illusionsschädigenden  Fragen  werden  nicht  gestellt.  Am  besten,  er  ist  eines  Morgens  abgereist,  sie  sieht¹s,  fällt  in  Ohnmacht  und  erwacht  erst  Jahre  später  aus  ihrem  Koma,  das  allem  Gedächtnis  den  Garaus  gemacht  hat.  Rosig  erwacht sie, im Bergwerk von Chapel Hill. Allen Zeugen ein  Augen  und  Seelenschmaus.  Ihr  erstes  Wort:  La  Mettrie.  Worauf sie für eine Französin gehalten wird. Zweites Wort:  L¹Homme  Machine.  Worauf  sofort  ein  paar  Roboter  herge rufen  werden.  Die  sollen  sich  mit  ihr  beschäftigen.  Und  so  kommt es, daß sich einer der Roboter in sie verliebt, daß sie  heiraten,  Kinder  zeugen,  so  schöne,  wie  sie  nur  in  Misch ehen  gezeugt  werden.  Amen.  Den  ersten  Gewinn  aus  der  MärzTagung: Der Professor wird einsehen, daß sie, um aus  der Tagung noch Nutzen zu ziehen, nicht im Januar, sondern  erst im April drei Kapitel Rohfassung abliefern wird. 
Eine Art count down setzte ein. Sie wehrte sich. Erfolglos.  Sie  hätte  es  lieber  als  Weihnachtskalender  gehabt.  Oder  als  Kalender eines Gefangenen. Jeder Tag ein durchgestrichener  Strich an der Zellenwand. Dieses Panikgefühl, weil sie ihrem  Ersehnten so gut wie nichts verraten hat von sich. Alles, was  sie ihm geschrieben hat hoch zehn, das käme hin. Das würde  er aber nicht ertragen. Das hält kein Mensch aus, daß sich ein  anderer  so  abhängig  fühlt  von  ihm.  Und  das  nach  zweieinhalb  Stunden  Terrasse  und  ein  paar  Monaten  Brief wechsel  und  Telephon.  Vor  San  Francisco,  im  Pacific,  wurden gestern zweihundert Blauwale gesichtet. Das hat sie  sofort  als  Signal  empfunden.  Hoffnungsignal.  Also  sind  sie  doch nicht ausgestorben, die Blauwale. Das Wunder von San  Francisco!  Das  heißt,  es  geschehen  noch  Wunder!  Wenn  es  nur  so  wäre:  Er  dürfe  sich,  sagt  er,  um  sich  vor  der  drohenden Zukunft zu schützen, nicht eingestehen, wie sehr  auch er sie braucht, liebt, ersehnt, begehrt. Das heißt, er sei so  schlimmschön dran wie sie. Es darf nur nicht ganz heraus. 
Fernmündlich  kam  manchmal  doch  ganz  schön  was  heraus. Manchmal blutete er doch geradezu. Und sie dachte  und konnte es nicht sagen, daß er Hand an sich legen sollte  und  denken,  es  sei  ihr  Mund.  Und  wie  sie  es,  ihn  her beschwörend,  sich  selber  machte,  konnte  sie  auch  nicht  sa gen. Nichts konnte sie sagen. Was für eine Welt oder Kultur,  in der einem der Mund verschlossen und die Seele vernagelt  ist. Heiliger La Mettrie, du bist nicht schuld daran! Du hast  es  anders  gewollt  und  gesagt.  Aber  gesiegt  haben  die  Vor schriftenmacher!  Die  Quälgeister.  Die  großen  Quälgeister.  Die beherrschen noch immer die Welt. 
Frühlingfrühlingfrühling. So nah war Deutsch ihr noch nie  gegangen.  Wenn  sie  nicht  aufpaßte,  war  sie  gleich  stolz  auf  diese  Sprache;  weil,  glaubte  sie,  Frühling  nirgendwo  offen barender,  und  doch  nicht  flach  werdend,  ausgedrückt  sein  kann. Frühling, ein schöneres Wort dafür konnte es nirgend wo geben. Sie liebte Wörter, die etwas eindeutig offenbarten,  ohne  daß  sie  das,  was  sie  offenbarten,  aussagten.  Eine  Zeit  lang muß es Dichter gegeben haben wie Sand am Meer. Ganz  genau  wie  Sand  am  Meer.  Selbst  als  das  Wort  Behörde  geschaffen wurde, waren noch Dichter am Werk. Nicht mehr  bei  Beschuldigung,  Charakterlosigkeit,  Sittenverfall,  Pflichtver letzung,  Selbstmord  und  dergleichen.  Wohl  aber  bei  Frühling.  Und  bei  fernmündlich  natürlich.  Nur  halb  geglückt  kam  ihr  allerdings  Muttersprache  vor.  Chapel  Hill  flaggte  grün  mit  gewaltigen Bäumen. Und ließ pflichtgemäß die Staatsblume  blühen.  Dogwood.  Sie  wird  ihm  erklären,  was  ihr  der  geborene  South  Caroliner  Rick  erklärt  hatte,  daß  der  Gast  erführe,  wie  man  sich  in  einem  aufgeklärten  Land  etwas  erklärt:  Dogwood  heißt  die  Blüte,  weil  sie  nicht  genug  getrauert hat, als am GolgathaFreitag Trauer angesagt war,  und bis in alle Erdenklichkeit muß jedes ihrer weißen Blätter  das  Profil  der  Nägel  zeigen,  mit  denen  Christus  gekreuzigt  worden ist. Das hat Linné noch nicht gewußt. 
Sie  sei  zu  seiner  Zuflucht  geworden:  Diese  Art  Mitteilung  war  die  Verführung  schlechthin.  Daß  er  sie  brauchte,  wie  sollte sie denn das ertragen, in Ruhe, oder gleichmütig, oder  sonstwie gefaßt? Wie oft würde sie noch, bevor er käme, die  Haare waschen, wie oft noch that time of the month durch stehen,  wie  oft  noch  tanken,  wie  oft  noch  vor  die  Klasse  treten mit dem IchliebeeuchalleGesicht, wie oft noch Glen  O.  Rosennes  NichtLippen  nach  einem  Lächeln  absuchen  und sich in Patricias kurze Arme flüchten? Wie oft noch sich  die Hand von Rick zerquetschen lassen, wie oft noch das und  das,  bevor  er  kommt?  Madelon  gibt¹s  nicht  mehr.  Madelon  hat  sich  verabschiedet.  Plötzlich.  Keine  Dissertation  mehr,  Freud  adieu,  fast  triumphal,  wie  sie  sich  verabschiedet  hat.  Von  der  Abteilung.  Von  ihrer  Freundin  hat  sie  sich  zärtlich  verabschiedet.  Sie  hat  geheiratet.  Ohne  es  wissen  zu  lassen.  Der  Mann  ist  Louis,  der  sie  so  lange  hin  und  herchauffiert  hat, bis es ihm und ihr klar wurde, daß es längst unzumutbar  war,  sich  weiterhin  dem  uninterruptible  power  system  des  Erfinders  hinzugeben,  weil  Louis¹  Augen  ein  Versprechen  signalisierten, das ihr einfach lebendiger vorkam als die fein  kalkulierte  UntreueÖkonomie  des  genialen  Erfinders.  Glückliche  Madelon.  Kein  Neid.  Tränen  schon.  Beim  Ab schied  hatten  dann  beide  geweint.  Und  sie  hatte  herzhaft  gesagt, sie komme bald nach. Und Madelon hatte gesagt, daß  sie Beate J. erwarte. Auf der Insel Trinidad nämlich. 
Daß  sie  dann,  vier  Wochen  vor  dem  Tag  X,  der  Nacht  Y,  auch  noch  schwarze  Unterwäsche  gekauft  hatte,  nahm  sich  Beate  übel.  Ihn  glücklich  machen,  wie  er  noch  nie  war.  Solches  Zeug  mußte  sie  andauernd  niederringen,  wissend,  daß  jede  niedergerungene  Schummervision  dieser  Art  die  nächste  produzierte.  Seine  Erregung  spüren.  Sie  fühlte  sich  umstellt  von  Giergespenstern.  Halbwegs  erträglich  fand  sie  sich  erst  wieder,  wenn  sie  solche  Sätze  an  sich  selbst  adressieren  konnte:  So  darf  man  sich  einfach  keinem  Men schen  ausliefern.  Wahrscheinlich  war  es  zu  spät.  Er  hatte  sicher  alles  schon  erfaßt,  bewertet,  abgelegt.  Seine  neuer dings  spürbare  Angst  vor  dem  22.  März  war  eine  kluge  Angst.  Die  Wut  wachsen  lassen!  Ihre  einzige  Rettung  war  immer ihre Wut gewesen. Wenn die Grenze des Zumutbaren  deutlich  überschritten  war  ...  Am  besten  wäre  es,  eine  objektive  Katastrophe  verhinderte  alles.  Natur,  Politik,  Technik  ...  Aber  statt  einer  Katastrophe,  jeden  Tag  neue  Jubelmeldungen  über  die  Blauwale.  Daß  sie  niemanden  hatte,  mit  dem  sie  darüber  reden  konnte,  wie  sie  nach  dem  Soundsovielten weiterleben sollte! Daß Madelon jetzt fehlte,  tat  weh.  Dafür  einmal  pro  Woche  eine  Karte  aus  Port  of  Spain. Louis hat schon einen Job in einer Fabrik, in der eine  USGesellschaft  Fernsehgeräte  zusammensetzen  läßt.  Sein  Brian  G.  Dewey  hat ihm  nobel  bescheinigt,  daß  er  in  einem  TechnologieUnternehmen  der  feineren  Art  einen  erfah rungsreichen Job gehabt hat. Also machten sie ihn dort sofort  zum Vorarbeiter. Und Madelon am Independence Square im  Tourist  Board  aussichtsreich,  die USTouristen  strömen.  Und  du?  Wenn  sie  so  weitervegetierte,  würde  sie  ihm  am  zwei undzwanzigsten  mit  verquollenen  Augen  entgegengehen.  Dann  konnte  sie  das  Kosmetikköfferchen  gleich  daheim  lassen. Und die Wäsche auch. Und erst recht sich selbst. Sie  hat noch einen Kimono gekauft. In seinem letzten Brief kam,  zum ersten Mal, das Wort sehnen vor. Daraus wollte sie sich  nicht vertreiben lassen. Sie war doch nicht ihr eigener Feind.  Amourpropre, bitteschön. Sie war jetzt gierig auf Anzeichen  der  Bedürftigkeit,  der  Schwäche  seinerseits.  Sie  sollte  ihn  bergen,  schützen,  wärmen,  retten  müssen.  Die  ganze  Welt  eine  Feindseligkeit,  und  sie,  der  nackte  Engel  ...  Ach  nein,  bitte ... Sie nahm sich vor, ab sofort keine Telephonate mehr.  Stimmungsabbau  jeder  Art.  Zur  Ermöglichung  eines  glimpflichen  Übergangs  vom  hemmungslosen  Gieren  und  Schwärmen  in  ein  erträgliches  reales  Visavis.  Vielleicht  sollten  sie  von  jetzt  an  nur  noch  La  Mettrie  behandeln.  Ein  jäher  Briefwechsel  über  La  Mettrie.  Das  fiel  ja  zusammen:  Sobald  er  wieder  abgereist  sein  wird,  hatte  sie  ihre  drei  Kapitel  Rohfassung  zu  liefern.  Bei  dem  Wort  Rohfassung  konnte  sie  verweilen.  Tatsächlich  konnte  sie  sich  von  Gottlieb  W.  durchaus  Brauchbares  versprechen.  Er  arbeitete  seit Wochen an dem Vortrag für die Konferenz in Berkeley.  Jetzt,  zwei  Wochen  vor  ihm,  war  der  Text  bei  ihr  eingetroffen,  daß  sie  ihn  übersetzen  konnte.  Entsprechen  ist  alles. So sein Titel. Klang da Shakespeare durch? Entsprechen  würde  im  Englischen  abstrakter  daherkommen  als  im  Deutschen.  Im  letzten  Kapitel  ihrer  Dissertation  würde  Wendelin  Krall  dominieren.  Daß  sie  so,  wie  sie  jetzt  fühlte,  noch nie gefühlt hatte, mußte sie sagen dürfen. Es ging nicht  darum, ihn glücklich zu machen. Gelogen, eben darum ging  es  doch  überhaupt.  Wenn  ihr  das  gelänge,  würde  er  sie  genau so glücklich machen wie sie ihn. Trotzdem, egal, wie  er  ankommen  würde,  wie  er  sich  dann  fühlen  würde,  sie  mußte  schlicht  loswerden,  daß  sie  so,  wie  sie  jetzt  fühlte,  noch nie gefühlt hatte, daß sie sich also so nicht kannte, also  unsicher  war  hinsichtlich  ihres  Benehmens  ihm  gegenüber,  aber daß ihr das auch egal sein würde, sollte er sie doch am  Arsch lecken oder auch nicht, es muß ein Menschenrecht sein  zu  sagen,  wie  man  im  Augenblick  fühlt.  Basta.  Zuerst  jetzt  der Text. Her mit dem Text. Entsprechen ist alles. Ihr schwebte  sofort vor: Rise to the Occasion. Und las. 
 
I.  Es  war  einmal  ein  Verbrechen  zu  sagen,  es  gebe  keinen  Gott. Und die, die das sagten, meinten nur, es gebe den Gott  nicht,  der  verkündet  wurde,  gelehrt  wurde,  an  den  zu  glauben Pflicht war, höchste Pflicht. Und wenn es den nicht  gab, gab es überhaupt keinen. Das war die furchtbare Folge  der  Einschränkung  des  Gottlieben  auf  diesen  kirchlich  verschriebenen  Mastergott.  Und  die  Philosophie  war  die  Magd der Theologie. Primus motor immobilis. So durfte man  ihn  schon  nennen.  Dann  kam  La  Mettrie,  der  alles,  was  bisher Gott zugeschrieben worden war, der Natur zuschrieb.  Der  entscheidende  Unterschied  zwischen  Gott  und  der  Natur:  Die  Natur  war  mit  den  Sinnen  erfahrbar,  studierbar,  prüfbar. Und soweit sie nicht erkennbar war, durfte sie nicht  in  den  Dienst  der  Erkenntnis  genommen  werden.  Das  war  die  Leistung  La  Mettries:  nicht  zu  spekulieren.  Er  sagte,  welche  Vorstellungen  von  welchen  Erfahrungen  kommen.  Religion, Moral und Politik müssen nützen, Philosophie muß  die  Wahrheit  sagen.  Man  hat  sich  geeinigt.  Man  hat  die  Sprachgebräuche  jahrhundertelang  kultiviert  zu  dem  einen  Ziel:  wie  kann  das,  was  uns  als  Religion  wichtig  geworden  ist,  so  formuliert  werden,  daß  die  Vernunft  damit  leben  kann. Der studierte Arzt La Mettrie entzieht die Philosophie  diesem Dienst. Die Philosophie hat es nur mit der Natur zu  tun.  Ihr  muß  sie  entsprechen.  Dem,  was  die  Sinne  erfahren  können, muß sie entsprechen. Dann wird sie, hat er zumin dest angedeutet, den Segen, den Religion und Moral stiften,  nicht  nur  nicht  mindern,  sondern  vermehren.  Er  wollte  keinen  Streit.  Es  liegt  in  der  Sanftmut  meines  Charakters  (la  douceur  de  mon  caractére),  jeden  Streit  zu  vermeiden,  solange  es  nicht darum geht, eine Unterhaltung zuzuspitzen. Aber als Arzt,  der die Natur erforschte, und als Philosoph, der sich verbot,  über  die  Erfahrung  hinauszugehen,  mußte  er  formulieren,  daß  es  im  ganzen  Universum  nur  eine  einzige  Substanz −  in  unterschiedlicher  Gestalt −  gibt.  Und  diese  Substanz,  die  Materie  nämlich,  kann  empfinden,  und  das  nicht  nur  im  Menschen,  sondern  auch  schon  im  Tier,  ja,  die  Materie  ist  sogar gewissensfähig. 
Das  hat  ihm  nichts  als  Hohn  und  Zorn  eingebracht.  Friedrich II. hat ihn aufgenommen und beschützt, als er zum  zweiten  Mal −  diesmal  aus  Holland −  emigrieren  mußte.  Salomon  des  Nordens  hat  er  seinen  Potsdamer  Philoso phenkönig  genannt.  Er  lebe  an  Friedrichs  Hof,  hat  er  bezeugt,  in  einem  Paradies  für  Philosophen.  Er  hat,  so  sanft mütig und lebenslustig er sich fühlte, seine Einsichten immer  auch mit fröhlicher Schärfe formuliert. Nicht streit, sondern  wahrheitssüchtig.  Daß  die  Materie  empfindungs  und  gewissensfähig beziehungsweise daß auch der empfindungs  und  gewissensfähige  Mensch  rein  stofflicher  Natur  sei,  das  verzieh ihm weder die Kirche noch die Universität. 
Inzwischen  haben  die  Naturwissenschaften  das  Sagen,  wenn  unterschieden  werden  soll  zwischen  unbelebter  Ma terie und Lebewesen. Zirka zwei Milliarden Jahre lang seien  sich,  heißt  es  jetzt,  Nukleinsäuren  und  Proteine  begegnet,  ohne  daß  eine  Zelle  entstanden  wäre,  die  lebend  genannt  werden  könne,  also  eine  Zelle,  die  aus  ihrer  Umwelt  die  Energie  entnimmt,  die  sie  zu  ihrer  Reduplikation  bezie hungsweise  Fortpflanzung  braucht.  Also  zwei  Milliarden jahre  lang  keine  Evolution,  kein  Kampf  ums  Dasein.  Vom  ersten Einzeller bis zum heutigen Menschen dauerte es dann  nur noch eine Milliarde Jahre. Und dieser Mensch wird jetzt  erklärt  mit  einem  genetischen  Code.  Das  ist  ein  Über setzungsschlüssel,  der  angibt,  welche  Nukleinsäureschrift  welcher  Proteinschrift  jeweils  entspricht.  Die  Sprache  der  Naturwissenschaft  kann  uns  Nichtnaturwissenschaftlern  diese  Vorgänge  nicht  ohne  Vergleiche  näherbringen,  die  nicht  mehr  rein  wissenschaftlich  sind.  Leben  habe  nur  ent stehen  können  aus  einer  Arbeitsteilung  zwischen  Proteinen  und Nukleinsäuren, die Zufälle zuließ; die Zufälle heißen in  der für uns bestimmten Sprache Ablesefehler, entstanden bei  der Codierung der Proteinbausteine durch die Nukleinsäure sequenzen.  Und,  heißt  es,  es  bedurfte  ungeheuerlicher  Zufälligkeiten,  daß  sich  der  genetische  Code  durchsetzen  konnte,  der  jetzt  auf  diesem  Planet  bei  allen  Lebewesen  maßgebend  ist.  Und  das  ist  das,  was  La  Mettrie  l¹organisation genannt hat. Manfred Eigen hat es genannt das  Problem  der  Selbstorganisation  von  Makromolekülen  zu  autoka talytischen  Hyperzyklen.  Das  ist  die  neueste  Sprache  für  die  Erfahrung,  daß  die  Natur  alles  enthält,  was  wir  sind.  Zwei  Milliarden  Jahre  lang  folgenlose  Begegnung  zwischen  Nukleinsäuresequenzen  und  Proteinbausteinen,  dann  kommt  es  zu  einer  Kombination,  zu  kombinierten  Kreisen  aus  DNAMolekülen  und  Proteinmolekülen,  diese  Kreise  werden  als  höhere  Gebilde  geführt.  Reine  DNAGebilde  konnten  nur  stagnieren.  Hyperzyklen  nennt  Manfred  Eigen  diese  kombinierten  Kreise;  die  Nukleinsäuren  seien  sozu sagen die Legislative, die Proteine die Exekutive bei diesem  Prozess, der jetzt einsetzte und der eben durch weitere Zufäl le  Mutanten  hervorbrachte,  die  mit  einander  um  das  Über leben  konkurrierten.  Der  Zufall,  der  letzten  Endes  zum  einzelligen Lebewesen geführt habe, sei so ungeheuerlich, so  ganz und  gar nicht erwartbar gewesen − dieser Zufall, dem  wir  letzten  Endes  entstammen −,  daß  auch  unter  Natur wissenschaftlern  wieder  eine  Art  Gottliebe  Mitwirkung  gedacht  werden  konnte.  Gott  als  der  geduldigste  Experi mentalphysiker, dem es nach drei Milliarden Jahren gelingt,  ein  Wesen  zu  produzieren,  dem  er  beibringen  kann  (durch  Offenbarung),  ihn  anzubeten.  Aber  auch  diese  frömmeren  Physiker  können  den  universellen  genetischen  Code  nicht  mehr  außer  Kraft  setzen.  Und  wie  hat  es  La  Mettrie  gesagt:  Man sieht, daß es im Universum nur eine Substanz gibt und daß  der Mensch die vollkommenste ist. Daß alles aus Nukleinsäure sequenzen  und  Proteinketten  entstanden  ist,  hat  La  Mettrie  in  der  auf  Bilder  angewiesenen  Sprache  so  sagen  müssen:  Der Mensch ist aus keinem wertvolleren Lehm geknetet; die Natur  hat nur ein und denselben Teig verwendet, bei dem sie lediglich die  Hefezusätze verändert hat. 
Jeder  Satz  über  La  Mettrie,  der  im  Allgemeinen  endet,  verfehlt  ihn.  Er  beschreibt  die  Wohlgefühle,  die  der  Geist  dem  Körper  bereiten  kann  und  begründet:  ...  denn  ohne  Zweifel  zirkulieren  dessen  Säfte  besser,  wenn  die  Seele  in  ausge zeichneter  Verfassung  ist.  Das  ist  Psychosomatisches,  1748.  Wäre  es  nicht  ...  eine  Art  Unmenschlichkeit,  eine  Rose  verwelken  zu  lassen,  ohne  ihr  die  geringste  Aufmerksamkeit  geschenkt  zu  haben?  Das  ist  La  Mettrie.  Ein  Frühlingsausbruch  sonder gleichen.  Empfindung  als  Erkenntnisquelle.  Genuß  als  Denkbedingung.  Lust  als  Seinserfahrung.  Und  Glück  als  Sinn des Daseins. Ganz schnell und ein für alle Mal: Absurd,  diesen Mann für jemanden zu halten, der den Menschen zur  Maschine  machte,  ihn  also  der  Kybernetik,  der  Roboterei  auslieferte.  Verfehlter  als  die  Verladung  dieses  Lebens philosophen ins Technologische konnte nichts sein. Maschine  war  für  ihn  das  Wort,  mit  dem  er  den  höchsten  damals  vorstellbaren  Organisationsgrad  ausdrücken  wollte.  Die  sinnliche Empfindlichkeit, eben die Natur, war das schlecht hin  Unabdingbare.  Von  heute  aus  gesehen,  gibt  es  für  die  Schrift  L¹Homme  Machine  keinen  irreführenderen  Titel.  Man  vergesse doch nicht, daß La Mettrie danach noch verfaßt hat  L¹Homme Plante und Les Animaux plus que Machines. Letzteres  versehen mit einem Motto von Moliere: Les Bêtes ne sont pas si  bêtes que l¹on pense. 
Es lohnt nicht, die vom Vorurteil lebenden Verfälschungen  ins Sciencefictionhafte zu widerlegen. Aber vielleicht hilft es,  sich vorzustellen, was alles machine im Französischen in der  ersten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  bedeutet haben  kann.  Im  Dictionnaire Universel aus dem Jahr 1752 ist alles aufgeführt,  was La Mettrie bei der Arbeit an diesem Buch in den Jahren  bis 1747 wissen konnte, welche Vorstellungen, auch Empfin dungen, dieses Wort in ihm weckte. Außer den Maschinen Bedeutungen,  die  sich  bis  heute  gehalten  haben,  ist  damals  der deus ex machina mehr als ein Theatertrick. Der Diction naire von 1752 versteht unter deus ex machina jede Art von  dichterischen  Einfällen  oder  Handlungen,  mit  deren  Hilfe  unlösbar  gewordene  Schwierigkeiten  überwunden  werden.  Und  es  ist  eben  die  Mitwirkung  von  etwas  Göttlichem  (de  quelque  Divinité),  die  dann  als  machine  übernatürliche  Wirkungen  erbringt.  Gottliebes  und  Maschinelles  in  einer  uns  nicht  mehr  vorstellbaren  IntimKooperation.  Die  Ma schine  ist  da  alles  andere  als  ein  seelenloses  Gefüge.  La  Mettrie  hat,  zum  Beispiel,  die  MaschinenVorstellung  benutzt, um zu beweisen, daß die Willensfreiheit ein Irrtum  ist.  Wie  kann  ein  Mensch  eine  Maschine,  die  er  nicht  selber  gebaut  hat,  die  er  aber  ist,  nach  seinem  Willen  lenken?  Maschinell  muß  für  ihn  ein  Wort  gewesen  sein  wie  für  uns  automatisch.  Da  denken  wir  auch  nicht  mehr  an  einen  Automaten, sondern an von selbst. Aber daß er mit Maschine  das Gegenteil von allem KybernetischRoboterhaften gedacht  und  beschrieben  hat,  sollte  zweihundertfünfzig  Jahre  nach  seinem  Tod  auch  in  der  deutschen  Sprache  denkmöglich  werden.  Seine  esprits  animaux  sind  keine  Mega  und  Giga bytes. Les Poétes apellent le monde la machine ronde. So offerier te  es  der  Dictionnaire  von  Trévoux  im  Jahr  1752.  Erwähnens wert  ist  die  historisch  bedingte  Unfähigkeit  der  deutschen  Sprache,  auf  dieses  französische  Denkangebot,  vernünftig,  das heißt: nicht ideologisch zu reagieren. 
L¹Organisation est le premier mérite de l¹Homme heißt es in Die  Maschine Mensch. Das wird so übersetzt: Dieser organische Bau  ist  das  erste  Verdienst  des  Menschen.  Etwa  zu  sagen:  Der  Mensch ist vor allen anderen Lebewesen ausgezeichnet durch seine  Organisation  ging  nicht,  weil  in  der  deutschen  Sprache  in  Organisation nichts Organisches mehr mitklingt, während im  Dictionnaire Universel von Furetiére, 1725, steht: Organisation.  Terme d¹Anatomie, und:  Il signifie ainsi, la figure de l¹organe de  la  génération.  Also  das  Geschlechtsteil  selbst  heißt  l¹Organi sation.  Mehr  Körper  kann  man  dem  Wort  kaum  mitgeben.  Und zum Seelischen steht da, daß also die Seele sich bildet,  wie  der  Körper  sich  organisiert.  Also:  daß  die  Seele  jeweils  dem  Körperlichen  entspricht.  Und  deshalb  sah  eben  ein  La  Mettrie  das  Organische  als  das,  von  dem  die  Entwicklung  der Seele bestimmt wird. 
Ein  solches  Angebot  war  keinem  deutschen  Denker  je  beschieden.  Unsere  Sprache  lebte,  wie  es  La  Mettrie  einmal  aus der deutschen Philosophie zitierte, von der symbolischen  Erkenntnis. Er aber lebte von der durch die Sinne, durch die  Erfahrung,  durch  das  medizinische  Studium  genährten  Erkenntnis, was eben heißt: wenn die Philosophie noch eine  Magd war, dann nicht mehr die der Theologie, sondern die  der  Natur.  Alle  Fähigkeiten  der  Seele  seien  abhängig  de  la  propre  Organisation  du  Cerveau  et  de  Wut  le  Corps,  qu¹elles  ne  sont visiblement que cette Organisation même. Voilá une Machine  bien  éclairée!  Übersetzt  wird:  Da  aber  alle  Fähigkeiten  der  Seele  so sehr von dem eigentümlichen Bau des Gehirns und des ganzen  Körpers abhängen, daß sie offensichtlich nur dieser organische Bau  selbst sind, so haben wir es mit einer gut erleuchteten Maschine zu  tun. Daß die Seele nichts ist als die Organisation selbst, diese  Seinsintimität  ist  der  deutschen  Sprache  offensichtlich  nicht  zumutbar. Wenn La Mettrie Materie des Höchsten für fähig  hält,  nämlich  der  Gewissensregung,  ruft  er  geradezu  aus:  L¹Organisation  suffiroitelle  donc  á  tout?  Oui,  encore  une  fois.  Und wieder kann das Deutsche nur hinkend folgen. Sollte der  organische Bau allem genügen? Noch einmal Ja. 
Der Übersetzer und Herausgeber Bernd A. Laska ist, soweit  ich sehe, der einzige, der gewagt hat, l¹Organisation Organi sation  sein  zu  lassen.  Mit  eindeutschender  Umständlichkeit  wäre  La  Mettries  letzte  große  Schrift,  der  AntiSeneca,  nicht  zu  übersetzen  gewesen.  Das  Glück,  das  aus  unserer  Organisa tion  stammt,  ist  das  beständigste  und  am  schwersten  zu  erschüt ternde.  Oder  über  die  Erziehung:  Alte  Prägungen  sind  schnell  einmal  vergessen.  «Maschinenmäßig»  gewinnt  dann  die  Organi sation zurück, was die Erziehung  ihr geraubt  zu haben schien,  so  als  ob  die  Formung  nach  einem  Ideal  eine  Verformung  gewesen  wäre.  Hier  denkt  man  bei  maschinenmäßig  automatisch  an  automatisch  beziehungsweise  von  selbst.  Wenn  es  einem  Übersetzer  erlaubt  wäre,  ein  Wort  nur  auf  seine  Bedeutung  hin  zu  übersetzen,  dann  wäre  L¹Organisation  am  vollstän digsten mit Natur zu übersetzen. 
Manfred  Eigen,  der  gedankenreiche  und  sprachbewußte  Physiker,  hat,  als  er  die  Zusammenwirkung  von  Nuklein säuremolekülen  mit  Proteinmolekülen  bei  der  Entstehung  des  Lebens  beschrieb,  formuliert,  daß  die  Selbstorganisa tionsfähigkeit der Materie bisher eher unter als überschätzt wurde.  La  Mettrie  war  nicht  der  erste  und  nicht  der  letzte,  der  das  Organische  beziehungsweise  die  Natur  zur  Bedingung  für  alles  machte.  Es  gab  vor  ihm  Spinoza,  der  alles,  was  La  Mettrie erlebte und beschrieb, schon systematisch entwickelt  hatte −  die  materielle  Einheit  der  Welt  bis  zur  empfin dungsfähigen  Materie −,  und  er  hat  dafür  genug  Feindseligkeit  geerntet;  aber  er  hat  offenbar  die  Erfahrung,  daß  die  Materie  fähig  ist  zu  empfinden,  nicht  aus  seinem  eigenen  Körper  und  dessen  Bedürfnissen  und  Ansprüchen  abgeleitet.  Er  hat  der  Natur  Gottlieben  Rang  erobert.  Aber  um  sie  so  zu  erhöhen,  brauchte  er  doch  noch  Gott.  Den  braucht La Mettrie nicht mehr. Ohne Gott aktiv zu leugnen,  entwickelt er eine vor Freude und Farben strahlende Welt an  diesem  Mastergott  vorbei:  Deshalb  konnte  Lessing,  der  La  Mettrie als Pornoschriftsteller verachtete, sagen: Es gibt keine  andere  Philosophie  als  die  Philosophie  Spinozas.  Und  später  Albert  Einstein,  von  einem  Rabbiner  gefragt,  ob  er  an  Gott  glaube: Ich glaube an den Gott Spinozas ... Auch wenn er dann  den allzu menschenähnlichen Gott verwirft und aus Spinoza  einen  Gott  der  Superstruktur  bezieht,  auf  La  Mettrie  wird  sich keiner berufen, wenn er nach Gott gefragt wird. Er ist als  Arzt so erfahrungshörig wie als Philosoph. Daß er nicht von  sich  absehen  kann,  befreit  ihn  aus  den  Zwängen  zum  System,  das  nachher  nicht  mehr  weiß  (oder  sogar  verbirgt),  woher es kommt und stammt. 
Die  Empfindung  bzw.  Wahrnehmung  erklärt  er  zur  Quelle  allen  Urteilens.  So  kann  er  gegen  Ende  seines  AntiSeneca  sagen:  Ich  habe  das  Thema  meinen  Empfindungen  entsprechend  abgehandelt und sozusagen meinen Charakter zu Papier gebracht.  Trotz dieses nichts als persönlichen Schreibens geht ihm der  gesellschaftliche,  ja  menschheitliche  Anlaß  nie  verloren.  Wenn er sich gegen Anfeindungen jeder Art wehrt, beteuert  er,  daß  er  nur  danach  strebe,  die  menschliche  Gattung  von  Schuldgefühlen zu befreien. Er hasse, ja verabscheue alles, was  der Gesellschaft schade. Der Philosoph muß formulieren: Die  Tugend ist nichts als eine willkürliche Konvention. Die aber will  er,  auch  wenn  er  sie  nicht  absolut  gelten  läßt,  doch  achten.  Genau  so  wie  er  nichts  tut  oder  tun  will,  was  ihm  Schuld gefühle  verursacht,  obwohl  er  erkennt,  daß  Schuldgefühle  nur  ein Produkt der Erziehung sind. Er ist ein Moralist der höheren  Art. Die Ketten der Vorurteile und Schuldgefühle zerbrechen: Das  ist sein unerschöpfliches Motiv. Sein Ziel: die Glückseligkeit  der  ganzen  Menschheit.  Daß  er,  wie  kühn  er  auch  wird,  immer sich, seine Erfahrung und Empfindung, seinen amour propre  anruft  zur  Bestätigung  oder  Widerlegung  alles  Gedachten,  das  macht  seine  Verläßlichkeit  aus.  Im  Beiläu figsten  wie  im  Anspruchvollsten.  Wenn  er  müde  sei  vom  Denken  und  Schreiben  und  sich  ganz  leer  fühle,  lese  er  Montaigne  und  empfinde  dann  dessen  Geschriebenes  wie  eine  leichte  Brise,  die  über  die  äußeren  Fasern  des  Kopfes  streicht  und  so  auf  die  inneren  des  Gehirns  wirkt  und  dem  überanstrengten  Gehirn  die  Schwere  mildert.  Und  merkt  dazu an: Die gleiche Wirkung hat auch ein Guß kalten Wassers:  Das  durch  die  Anspannung  gestaute  Blut  kann  wieder  frei  zirkulieren.  Pfarrer  Kneipp  läßt  grüßen.  Aber  auch  an  Rom  und  Griechenland  wird  man  als  sein  Leser  oft  erinnert.  Überhaupt reichen wir an die Alten nicht heran. Das läßt ihn sich  zu Cicero und Plinius d. J. zählen, daß die nur ihre persönlichen  Vorlieben  überschwenglich  dargestellt  haben.  Aber  er  geht  nie  unter in einem Gedankenimpressionismus, sein Thema bleibt  die  Natur,  auch  wenn  er  es  ganz  und  gar  aus  seiner  Emp findung, seinem amourpropre behandelt. 
Trotz  aller  Bildung  kommt  er  wie  ungelehrt  daher.  Nor matives  ist  ihm  fremd.  Das  Denken  geht  den  Sätzen  nicht  voraus, sondern findet in ihnen, durch sie statt. Es gibt, was  er gibt, nur in seinen Sätzen. Die Sätze bezeugen unmittelbar,  aus  welcher  Erfahrung  sie  stammen.  Sein  Gedachtes  drückt  immer  die  Stimmung  aus,  aus  der  es  entstanden  ist.  Eben  diese  erfahrungsgesättigte  Kenntlichkeit,  diese  immer  aus  dem  eigenen  Leben  stammende  Stilistik  hat  ihn  in  Verruf  gebracht.  Bei  den  Theologen  und  bei  den  Aufklärern  gleichermaßen.  Es  charakterisiert  ihn  gewaltig,  wie  Lessing  und Diderot auf ihn geschimpft haben. Lessing empfahl ihm  in  der  Rezension  von  L¹Art  de  jouir  als  Titel  Porneutik.  Priapeische  Ausrufungen  seien  das.  Und  Diderot:  Einen  in  seinen  Sitten  und  Anschauungen  so  verdorbenen  Menschen  schließe ich aus der Schar der Philosophen aus. Das gibt es ja bis  heute,  daß  Intellektuelle,  die  es  zu  Ansehen,  also  Einfluß,  also  Macht  gebracht  haben,  einen  anderen  Intellektuellen,  der ihnen nicht liegt, aus der Branche ausschließen möchten.  Das  ist,  auch  unter  säkularisierten  Umständen:  odium  theologicum. Ein Eifer, der entsteht, wenn man sein eigenes  aufgeklärtes  Normatives  universalisieren  will.  Noch  fünfzehn  Jahre  später  hat  Lessing  es  in  seinem  vor  Wahr nehmungslust und Folgerungskraft blitzenden Laokoon nicht  lassen können, des längst Verstorbenen böse zu gedenken. Es  geht  um  La  Mettries  Porträtbild.  Beim  ersten  Hinschauen  halte  man  den  Gesichtsausdruck  des  Abgebildeten  für  Lachen, schaue man noch einmal hin, wird aus seinem Lachen  ein  Grinsen.  Warum  reizt  er  die  Anständigen  so?  Weil  er  mutwilliger schreibt als sie. Er fühlt sich erst wohl, wenn er  das  Gefühl  hat,  er  sei  zu  weit  gegangen.  Zu  weit,  was  Anstand und Sittlichkeit angeht. Er lebt geradezu davon, das  öffentlich zu bezeugen, was bisher jeder ausgeklammert hat.  Dieser Leidenschaft verdanken wir diese Zeugnisse, die uns  sagen, daß im 18. Jahrhundert kein bißchen anders empfun den  wurde  als  heute.  Und  wir  erkennen,  was  alles,  etwa  in  der  aufklärerischen  Enzyklopädie,  ausgeklammert  wurde.  Und das war sein Vergehen: Er hat die Sinne zu seinen Phi losophen  gemacht,  er  hat  versucht  gleichsam  im  Durchgang  durch  die  Organe  die  Seele  zu  entwirren,  aber −  und  damit  entspricht  er  immer  noch  moderner  Quantenphysik,  die  ohne  die  Statistik  nicht  auskommen  will −  aber,  sagt  er,  er  könne  zwar  nicht  mit  letzter  Eindeutigkeit  die  Natur  selbst  des  Menschen  entdecken,  aber  er  suche  den  größten  Wahrscheinlichkeitsgrad  dies  betreffend  zu  erreichen.  Weil  er  alles,  was  er  denkend  erfuhr  und  dadurch  erkannte,  auch  wieder auf sich anwandte, auf sich als Mann und Mitbürger,  also  auf  seine  Lust  und  auf  seine  Moral,  und  so  zu  einer  Sprache  kam,  Lust  überhaupt  und  Moral  überhaupt  betreffend,  deshalb  wurde  er  beschimpft  und  verleumdet  wie  sonst  keiner.  Und  hat  doch  geschrieben:  Sich  um  die  Gesellschaft verdient machen − darin besteht ... alle Tugend. 
Keiner  hat  so  leidenschaftlich  gegen  die  Todesstrafe  ge schrieben.  Der  Verbrecher  habe  getötet  aus  bestimmten  Gründen,  aus  Not,  Verzweiflung  oder  sittlicher  Be schränktheit; der Henker töte (den Verbrecher) für nichts als  Geld. Und so weiter. Wo immer man ihn aufsucht, er wirkt  immer  wie  ein  Mensch  mozartischer  Heiterkeit,  Sin nenfreudigkeit  und  Offenheit.  Aber  um  das  Niveau  seines  auf  die  Materie  gerichteten  Denkens  noch  einmal  der  heu tigen Sprache auszusetzen, noch einmal Manfred Eigen: Wir  verstehen − um es ganz klar zu sagen − unter «Selbstorganisation  der  Materie»  nichts  anderes  als  die  aus  definierten  Wechselwirkungen  und  Verknüpfungen  bei  strikter  Einhaltung  gegebener  Randbedingungen  resultierende  Fähigkeit  spezieller  Materieformen,  selbstreproduktive  Strukturen  hervorzubringen.  Oder − und man stelle sich vor, mit welchem Enthusiasmus  La Mettrie solche Sätze gelesen hätte: Indem wir das Phänomen  Leben auf die Gesetze der Physik und Chemie zurückführen, stellen  wir keineswegs in Abrede, daß diese neue Ebene der Organisation  sich in einer für diese allein typischen und charakteristischen Form  äußert,  ja,  daß  aus  der  materiellen  Organisation  schließlich  auch  nichtmaterielle Wirkungen hervorgehen. 
Bleiben  wir  innerhalb  der  philosophischen  Sprache,  die  jetzt das Sagen nicht mehr hat, wenn es um Natur geht. Der  Anspruch  La  Mettries  an  das  Denken  existiert  noch.  Seine  esprits animaux, seine organismische Struktur, seine Zirkulation  des  Blutes,  der  Lymphe,  sein  Bedürfnis,  bei  der  Natur  in  ihrer  großartigen  Einfachheit  zu  verweilen,  das  alles  hat  inzwischen  andere  Namen,  aber  diese  neuen  Namen  bestätigen,  daß  seine Wörter, die entstanden waren gegen das Himmel und  Erde  verfinsternde  Vorurteil,  ihre  Helle  nicht  eingebüßt  haben. Und die, die ihn als einen philosophierenden Unhold  verdammten, hat er schon vorweg überholt mit dem Satz: In  der  Gesellschaft,  in  der  er  trotz  seiner  Kühnheit  kaum  mit  Einfluß  rechnen  könne,  sei  seine  einzige  Maske  die  Masken losigkeit  gewesen.  Die  Zeit,  in  der  die  gewissermaßen  radikale  Bezüglichkeit  des  Denkens  auf  den,  der  denkt,  anstößig  wirkte,  ist  vorbei.  La  Mettrie  ist  zwar  ziemlich  unbekannt  geblieben,  aber  er  müßte,  um  akzeptiert  zu  werden, nur noch gelesen werden. 
 
II. Wenn man in einem anderen das entdeckt, worin er nicht  übertroffen werden kann, ist man glücklich. Und wenn man  das  in  einem  Denker  entdeckt,  der  vor  mehr  als  250  Jahren  gedacht und geschrieben hat, ist man glücklich und fröhlich.  Daß  man  zu  jeder  Zeit  Unüberholbares  aussprechen  oder  schreiben kann, darf einen auf fröhliche Art festlich stimmen.  Aber  verfehlt  man  ihn  nicht  doch,  wenn  man  sich  so  emsig  um ihn bemüht? Der von Montaigne geerbte Anspruch: sich  selbst zum Thema zu machen! Und La Mettrie hat, wie weit  er  dann  auch  ausgreift,  nichts  anderes  getan,  als  eben  sich,  seinen  Charakter  zu  Papier  zu  bringen,  ohne  daß  ihm  die  radikale  Inanspruchnahme  der  eigenen  Erfahrung  je  zum  Bloßprivaten  verkommen  wäre.  Jetzt,  mach¹s  auch  so.  Ohne  es nachzumachen. Dein durch La Mettrie geschärftes Thema:  die  Erziehung  als  eine  Ausbildung  zum  Gefangenen.  Von  Anfang  an  war  kein  Mensch  und  keine  Institution  daran  interessiert,  dich  zu  dir  selbst  kommen  zu  lassen.  Die  Erziehung  als  Zumutung.  Aber  dann  hast  du  angefangen,  deine  Erzieher  zu  betrügen.  Du  hast  mehr  als  eine  Persönlichkeit entwickelt. 
Das  tut  jeder.  Keiner  ist  nur  das,  was  die  Erziehung  aus  ihm  machen  wollte.  Wieviele  Persönlichkeiten  einer  dann  ausbildet,  hängt  davon  ab,  wieviele  er  zur  Befriedigung  seiner  Bedürfnisse  braucht.  Ein  paar  Berufspersönlichkeiten  und  ein  paar  Privatpersönlichkeiten  sind  es  allemal.  Der  Erfolg  dieser  Persönlichkeitenentwicklung  hängt  davon  ab,  wie  sehr  es  dir  gelingt,  jede  Persönlichkeit,  wenn  du  sie  brauchst,  wenn  sie  also  agiert,  als  deine  einzige  zu  produ zieren. Dazu mußt du jedesmal selber glauben, das jetzt seist  du  ganz  und  gar.  Dann  wird  dir  das  auch  von  anderen  geglaubt.  Dieser  mozartische  Kettenzerbrecher  hat  dich  hingewiesen  auf  deine  Gefangenschaft.  Also,  dem  Befreier  La Mettrie gewidmet: Du als der Gefangene. Von Anfang an. 
Was  auch  immer  du  an  Fluchten  geplant  und  ausgeführt  hast,  du  bist  ausgebrochen  als  der  Gefangene,  und  wo  du  hinkamst, warst du der Gefangene auf der Flucht. Die Lage  ist schwieriger als zu La Mettries Zeiten. Sein Haß gegen die  Vorurteilsfürsten  seiner  Zeit,  gegen  die  Theologen  und  gegen  die  das  Vorurteil  kultivierenden  Philosophen,  war  leicht  zu  haben.  Die  Szene  war  danach.  Die  Szene  hat  sich  verfeinert. Wessen Gefangener bist du denn? Auf jeden Fall  erleidest  du  eine  Daseinsminderung  auf  Schritt  und  Tritt,  weil  du  nicht  dein  Leben  lebst,  sondern  ein  Gefangenen leben.  Das  ist  geworden  aus  einem  Erziehungprogramm,  dem  man  nichts  Böses  nachsagen  kann.  Du  darfst  dich  für  typisch halten. Andere, die du liebst, wieder andere, die du  nicht  liebst,  kommen  dir  verwandt  vor.  Durch  Erfahrung  oder Schicksal. Ihr könnt euch in allem vergleichen, aber daß  ihr  Gefangene  seid  und  wie  sehr,  das  verschweigt  ihr  vor  einander. Du bist jetzt immerhin so weit, daß du dir, sobald  du  dein  Gefangensein  verheimlichst,  nichts  mehr  glaubst.  Von  allen  Persönlichkeiten,  die  du  hast  entwickeln  müssen,  hat  sich  keine  so  übermäßig  entwickelt  wie  die  des  Gefan genen.  Daß  du  nicht  sagen  darfst,  wessen  Gefangener  du  bist, macht dich mundtot. Daß dir erlaubt ist, dich für frei zu  halten,  du  aber  von  dieser  Erlaubnis  keinen  Gebrauch  machen  kannst,  macht  dich  vor  dir  selbst  zum  Feigling.  Denen, die mit dir zu tun hatten, ist es gelungen, ohne Plan  gelungen,  ganz  von  selbst  gelungen,  dich  zu  einem  Menschen  zu  machen,  der  von  keiner  angebotenen  Freiheit  Gebrauch  machen  kann.  Er  kann  einfach  nicht.  Er  ist  ein  Gefangener.  Jeder  Versuch,  dich  frei  zu  fühlen  oder  gar  zu  benehmen,  mündete  bis  jetzt  im  Schuldgefühl.  Das  ange borene  oder  anerzogene  Gewissen.  Ob  angeboren  oder  anerzogen, es ist die mächtigste, wachsamste, unerbittlichste,  unbetrügbarste Regung, deren du fähig bist. 
Die  Gegenwelt,  deren  Gefangener  du  von  Anfang  an  bist,  ist das Gute. Das jeweilige Gute. Das immer so genannte, das  immer  anerkannte,  das  herrschende  Gute.  Du  kannst  den  Mund  nicht  aufmachen  gegen  das  Gute,  ohne  dir  schlecht  vorzukommen.  Du  erkennst  das,  was  als  das  Gute  gilt  und  herrscht  und  es  wahrscheinlich  sogar  ist,  du  erkennst  es  nicht  an.  Aber  du  wagst  es  nicht,  daraus  Handlungen  werden  zu  lassen.  Du  bist  der  Gefangene,  das  heißt,  du  darfst  nicht  sagen,  was  du  denkst;  du  darfst  nicht  handeln,  wie  du  willst,  sondern  du  mußt  leben,  wie  du  mußt.  Und  daß  Rousseau  meint,  wer  glaube,  der  Herr  über  andere  zu  sein, sei noch mehr ein Sklave als jene, über die er Herr ist,  hilft  dir  nicht.  Das  ist  die  Gerechtigkeitsillusion.  Von  dir  wird sogar verlangt, daß du dein Gefangensein kein bißchen  sehen,  spüren,  merken  läßt.  Alle  deine  Verrichtungen,  Äußerungen,  Handlungen  müssen  aussehen,  als  geschähen  sie freiwillig. Bis zum Aberwitz werden Wörter gedrillt, wird  die  Grammatik  gequält,  um  zu  beweisen,  der  Mensch  habe  einen  freien  Willen.  Das  wiederum  findet  statt,  um  ihn  bestrafbar  zu  machen.  Dabei  ist  zuzugeben,  daß  schon  die  Frage, ob der Mensch einen freien Willen habe, ein Witz ist.  Jede Frage kann so beantwortet werden, wie sie es wünscht.  Mehr  noch,  sie  enthält  die  Antwort  ganz  und  gar.  Anders  wäre  dein  Leben  die  stummste  Trostlosigkeit.  Aber  da  du  durch  Erfahrung  weißt,  daß  du  genau  so  keinen  freien  Willen  hast,  wie  du  einen  freien  Willen  hast,  kannst  du  dir  einbilden,  es  gebe  überhaupt  Spielraum.  Eines  Tages  wird  das  Leben  auf  deine  Träume  hören.  Es  kann  nicht  anders.  Und  das  Wichtigste:  Du  hast  in  deinen  Träumen  keine  Schuldgefühle.  Du  unterliegst  zwar  regelmäßig  und  mußt  Mißhandlungen und Demütigungen hinnehmen; aber immer  erst,  wenn  du  ausgebrochen  bist,  aufgebrochen  bist,  wenn  dir eine im Traum nicht meßbare Zeiteinheit lang Freiheit ge lungen  ist.  Shakespearisierend  kannst  du  dir  in  deinen  Träumen  vorkommen.  Trotz  der  Bestrafungen,  denen  du  dann regelmäßig unterworfen wirst, trotz der Gemeinheiten,  die  dir  dann  körperlich  und  seelisch  angetan  werden,  du  hast  Freiheit  gehabt.  Du  warst  nicht  meßbare  Zeiteinheiten  lang  frei  von  Schuldgefühlen.  Das  wird  durch  nichts  so  deutlich wie durch das Erwachen. Der Sturz des Gefangenen  in  sein  Zeug.  Das  Verstummen.  Das  Verneintsein.  So  sehr,  daß du es nicht nur geschehen läßt. Der Grad des Verneint seins  produziert  eine  diesem  Grad  entsprechende  Kraft.  Zuerst  nur  als  Vorstellung.  Aber  je  unverfälschter  du  dem  Gefangensein  als  Verneintsein  erlebst,  um  so  deutlicher  erlebst  du  diese  Kraft,  die  wirkt,  als  könntest  du  alles,  was  du willst. Das kann doch nicht nur eine Einbildung sein, ein  Schattenkringel  an  der  Wand  der  Zelle,  in  die  keine  Sonne  fällt?  Die  Frage  ist  die  Antwort.  Kolumbus  hatte  die  Him melsrichtung.  Der  Rest  war  Seemannschaft.  Die  Sprache,  in  der du es jetzt ausdrückst, ist eine Sklavensprache. Sie ist ein  Signal.  Verständlich,  hoffst  du,  denen,  die  auch  in  einer  Gefangenschaft leben. Vielleicht ruft einer zurück. Oder viele  rufen zurück. Illusion. Des Gefangenen. Daß das so ist, ist dir  denkbar  geworden  durch  den  emsigen  Umgang  mit  dem,  der  die  Ketten  des  Vorurteils  und  der  Schuldgefühle  zerbrach. Julien Offray de La Mettrie. Der Umgang mit ihm  wird fortgesetzt. Am 20. Mai 1887 schrieb Nietzsche an einen  Freund:  «Die  Behauptung  Plato¹s,  daß  man  mit  Massage  sogar  Gewissensbisse  heilen  könne,  verdiente,  erprobt  zu  werden.» Heureka! 
 
Das durfte sie doch wohl Glück nennen. So muß es auf dem  KolumbusSchiff  gewesen  sein,  als  die  Neue  Welt  in  Sicht  kam.  Ein  aus  dem  Innersten  stammender  Jubellaut,  der  da  drin  schon  so  lange  gewartet  hatte,  immer  unterdrückt,  immer wieder belehrt, daß es noch nicht so weit sei, daß es  vielleicht  überhaupt  nie  so  weit  sein  werde,  daß  er,  der  Jubellaut,  wahrscheinlich,  höchstwahrscheinlich  sogar,  für  immer  und  ewig  im  dunkelsten  Innersten  zu  bleiben  und  dort gespensterhaft zu verkümmern habe. Und jetzt durfte er  heraus,  der  Jubellaut.  Der  Laut  entrang  sich  ihr.  Er  hatte  Mühe, herauszugelangen. Es war die Geburt eines Lauts. Sie,  die Befreierin. Und das würde Gottlieb W. Zürn in Berkeley  öffentlich kundtun! Er würde nach Amerika gekommen sein,  weil  er  sich,  wie  MontaigneLa  Mettrie  es  empfehlen,  zum  Thema gemacht und damit der Aufgabe, über La Mettrie zu  sprechen, beispielhaft entsprochen hat. 
Und  sie  fing  an,  den  Schicksalstext  zu  übersetzen.  Das  Befreiungsevangelium,  die  Frohe  Botschaft.  Sie  hatte  noch  nie  einen  Text  übersetzt,  den  man,  wenn  man  ihn  las,  voll kommen  versteht,  aber  nachher,  wenn  man  ihn  übersetzen  will,  sträubt  er  sich.  Deutsch  teilt  er  sich  einfach  mit.  Aber  wenn  man  diese  Einfachheit  ins  Englische  überträgt,  ist  sie  nicht mehr da. 
Den Verfasser anrufen. Egal, wer da an den Apparat kam.  Und prompt kam sie. Mein Mann ist im Augenblick nicht zu  sprechen. Die wußte Bescheid. Die würde ihrem Mann nicht  einmal mitteilen, daß er aus Amerika angerufen worden war.  Es  geht  um  den  Vortragstext,  hatte  sie  noch,  zunehmend  hilflos,  in  den  Hörer  gerufen.  Aufgelegt.  Das  Transatlantik rauschen.  Mein  Mann.  Das  besitzanzeigende  Fürwort.  Aber  Beate konnte nicht aufgeben. Sie rechnete. Wenn die Frau in  Pfullendorf  und  sonst  wo  war,  mußte  er  an  den  Apparat  kommen.  Der  Gefangene.  Und  er  kam  an  den  Apparat.  Sie  jubelte. Ihm zu. Dem Text zu. Gestand aber unterwürfig, daß  sie  das  nicht  ohne  ihn  ins  Englische  zu  bringen  wage.  Sie  macht  eine  Rohfassung.  Dieses  Wort  endlich  in  einer  sie  begeisternden  Verwendung.  Er  kommt,  dann  schmiegen  sie  gemeinsam  den  Text  ins  Englische.  Das  heißt  aber,  daß  er  nicht  vierundzwanzig  Stunden  vor  der  Tagung  eintrifft,  sondern  vier,  fünf,  am  besten  sechs  oder  sieben  Tage.  Am  Montag, dem 19. März. Sie wird freinehmen. Das wird nicht  leicht  sein.  Sie  kann  das  nur  fordern,  weil  die  Übersetzung  das  fordert.  Er  klang  sowohl  glücklich  wie  bedenklich.  Am  liebsten  käme  er  vierzehn  Tage  vorher,  aber  er  wisse  schon  jetzt, daß mehr als vier Tage vorher nicht drin seien. In was  drin, dachte sie und sagte: Wenn du meinst. Er so kleinlaut  wie noch nie: Ich nicht, aber ... Und ließ den Satz routiniert  hängen. Sie sagte: Ich verstehe. Und er: Danke. Sie legte auf.  Warum  wurde  es  ihr  jetzt  nicht  schlecht!  Warum  kotzte  sie  jetzt  nicht!  Weil  sie  es  nachher  selber  wieder  aufputzen  müßte.  Nein,  nein.  Einer  Frau  in  historischer  Funktion  und  Mission wird es nicht mehr schlecht. Sie wird gebraucht. Sie  ist  die  Befreierin.  Und  das  ist  weder  Anmaßung  noch  Einbildung. Rise to the Occasion. 
Wie  immer  Anfang  März,  die  floridasüchtigen  Eltern.  Die  Wellensittiche  als  Vorwand,  in  North  Carolina  Station  zu  machen  und  der  Tochter  zu  Taten  zu  raten,  zu  Eltern entlastungstaten.  Keine  Antique  Malls  diesmal.  Die  Mutter  machte einen gesättigten Eindruck. Sie hatte gerade per eBay  ein zwölfteiliges MeißenService, produziert 1935, für ganze  sechzehnhundert  Dollar  erschachert  und  in  abenteuerlicher  Fahrt droben in New Hampshire selber abgeholt. Der Vater  fragte wie immer, ob ein Heiratskandidat in Arbeit sei, und  fragte  wieder  so,  daß  er  seine  Art  zu  fragen  für  taktvoll  halten konnte. Sie klagte nicht − und über nichts. Schon lange  nicht  mehr.  Sie  hatte  einmal,  beiläufig,  eine  Verstimmtheit  mit  these  days  of  the  month  begründet,  darauf  der  Vater:  Was sie beklage, habe sie sich selbst zuzuschreiben, solange  sie  sich  ihrer  weiblichen  Bestimmung  verweigere.  Seitdem  vermied sie in seiner Gegenwart jede Art Klage. Er dagegen  klagte  auch  diesmal  und  wie  immer:  Noch  nie  sei  es  so  schwer  gewesen  wie  jetzt,  deutsche  Autos  in  New  York  zu  verkaufen.  Und  dann  auch  noch  von  Mercedes.  Die  oberschlauen  Bayern  hätten  in  New  York  einmal  einen  installiert,  der  sei  beim  Jungvolk  gewesen,  B¹nai  Brith  habe  das  als  harmlos  bezeichnet,  da  der  hier  schon  zweimal  verheiratet  gewesen  sei,  zweimal  mit  einer  Jüdin,  zweimal  nach  jüdischem  Ritus.  Und  schaute  dabei  seine  Frau  fast  vorwurfsvoll an. Also sagte sie: Dann hau doch ab. Er nickte  ganz  langsam  und  sagte,  er  wolle  doch  nur  sagen,  daß  es  nicht  leicht  sei.  Und  sie  vollendete:  Deutsche  Autos  zu  verkaufen,  ja,  ja.  Und  er,  weil  sie  das  ausgelassen  hatte:  In  New  York.  Da  mußte  die  Tochter  dann  doch  sagen:  New  York  ist  Spitze.  Und  der  Vater:  Eines  Eisbergs.  Sie  mußte  sagen: Ach, Papa. Und ihn ein bißchen küssen. 
Am dritten Tag lag der Blaue, also Hansel, reglos im Käfig.  Und  der  Gelbgrüne,  also  Gretel,  saß  reglos  stumm  auf  der  Stange und sah auf Hansel hinab. Hansel war tot. Alt war er  noch  nicht  gewesen.  Als  sie  gestern  heimgekommen  war,  hatten beide sich benommen wie immer. Immer ein bißchen  zu laut. Vielleicht hatte Hansel das Genick gebrochen. Hatte  Gretel mit einem Kunststück imponieren wollen. Sie wickelte  ihn ein, trug ihn hinaus, kratzte in dem kleinen Park mit der  Büroschere  ein  Grab,  beerdigte  ihn,  am  nächsten  Morgen  kaufte  sie  im  Zoogeschäft  einen  Nachfolger.  Taufte  ihn  Hansel.  Der  benahm  sich  überlebendig.  Der  benahm  sich  genau  so  wie  sich  Hansel  noch  gestern  benommen  hatte.  Gretel akzeptierte ihn. Also würde die Mutter nichts merken.  Die Eltern rauschten floridagesättigt herein, bedauerten ihre  arme  Tochter  ebenso  sehr,  wie  sie  sie  bewunderten −  Tag  und Nacht sitzt die und übersetzt diesen vertrackten Text für  die Tagung −, luden Hansel und Gretel ein, verstanden, daß  die  Tochter  dieses  Mal  überhaupt  nicht  gesellig  war,  und  waren fort. 
Er  würde  an  einen  Pfeiler  gelehnt  stehen.  Sie  war  all mählich  im  Stande,  sich  nur  noch  mit  Konkretem  zu  be schäftigen. Keine Panikszenarien mehr. Nur noch, was Sache  ist  beziehungsweise  sein  wird.  Wie  geht  es  dir,  wird  sie  sagen. Und er: Ich liebe dich auch. Und ohne das auch wäre  ihr  der  Satz  lieber.  Vielleicht  läßt  er  dieses  auch  weg.  Dann  der  Gang  zum  Hertzschalter.  Nein,  das  hat  er  ja  schon  erledigt.  Er  ist  ja  schon  seit  dem  Vormittag  im  Land.  Im  Hotel. Also, der Gang zum Auto. 
Bis zuletzt wußte sie nicht, was sie anziehen würde. Sobald  sie  sich  für  ein  Kleid  entschieden  hatte,  drängten  sich  die  Nachteile dieses Kleids vor. Also das nächste. Bis sie wieder  beim  ersten  war.  Dessen  Nachteile  waren  durch  den  Vergleich  mit  den  anderen  Kleidern  nicht  weniger  grell  geworden. Es war ein Spiel. Ein Aufregungsgenußspiel. Eine  Befreierin  kann  anhaben,  was  sie  will.  Sie  mußte  ohnehin,  sobald  sie  anziehen  dachte,  an  ausziehen  denken.  Sie  wußte,  sie war jetzt verrückt. Aber gefahrlos verrückt. Sie war selig  verrückt. Ihr Begleitpaar Angst und Wut gab es nicht mehr.  Sie  wußte  nicht  mehr,  wie  das  war,  eingeklemmt  zwischen  Angst und Wut. Sie war so leicht wie noch nie. Steine in die  Manteltaschen, das brauchte sie. Sonst hob sie ab.   
 
III.