Zusammenfinden
I.
Zuviel auf einmal sagen wollen,
das ist ihre ihr bewußte,
aber deswegen nicht weniger unbehebbare Schwäche.
Ihre Schulaufsätze waren oft genug mißraten, weil sie ihr Allesaufeinmal keiner Komposition unterwerfen konnte. Jetzt soll sie La Mettrie und ihn auseinanderhalten. Sie hatte ihm schon zwei Briefe, Dankesbriefe, geschrieben. Hatte ihn weder mit seinem Namen angeredet, noch am Ende mit ihrem Namen gegrüßt. So waren es eher Arbeitszeugnisse geworden als Briefe. Aber sie hatte die Vermeidung der Namen doch mit ihrer Namensscheu begründet und die entstanden sein lassen aus dem, was sie ihr BeateTrauma nannte. Und wo, wenn nicht in Amerika, könnte man den bedenkenlosen Vornamengebrauch lernen! Aber es ging ja, bitte, nur um La Mettrie, nicht wahr, Herr Krall! Und Herrn ZürnKrall war es doch gelungen, sie zu öffnen. La Mettrie betreffend, war es ihm gelungen, sie zu öffnen! Wie La Mettrie in Deutschland ankam, nicht ankam ... Wie sie das nicht interessierte! Wie sie allein interessierte, wie La Mettrie bei ihr ankam! Und alle schreiben sie nur darüber, wie andere ihn verstanden oder nicht verstanden haben. Sie war eben keine Historikerin, wahrscheinlich überhaupt keine Wissenschaftlerin.
Ceux que la Nature aura favoris és, schaut man lieber an als die, die zu kurz gekommen sind. Er hatte ihr auf seiner Terrasse das Gefühl gegeben, sie sei gar nicht zu kurz ge kommen. Die Briefe an den Mann mit zwei Namen trug sie, bevor sie sie einwerfen konnte, tagelang mit sich herum. Jedesmal mußte sie sich mit Martini Extra Dry eine Art Bedenkenlosigkeit antrinken. Er hat die Briefe beantwortet. Ganz ungeniert ließ er jeden seiner Briefe mit Liebe Beate beginnen. Und das, obwohl sie sich gleich im ersten Brief einen krassen Vergleich abgerungen hatte, daß nämlich, ihren Vornamen serviert zu bekommen, für sie sei, als biete man ihr an einem heißen Tag ein Glas Eau de Cologne zum Trinken an. Würde er sie weiterhin so wenig ernst nehmen, mußte dieses heftige Aufkeimen einer eher abenteuerlich anmutenden Beziehung im Gedankensand der Selbstbeherr schung erstickt werden. So!
Nachdem Madelon und sie im vergangenen Winter ihre Er fahrungen mit Vornamen ausgetauscht hatten, hatte Made lon im Sommersemester einen Kurs über Vornamen angebo ten. Bei Charles Bernheimer stehe, sagte Madelon, strange first names were symptomatic of latent family degeneracy.
Ihr BeateTrauma kam vom Gegenteil, kam von der furchtbaren Gewöhnlichkeit, die ihr aus diesem Vornamen entgegenschlug. Triefend vor Gutgemeintheit, das war für sie Beate. Ihm hatte sie das alles gleich im ersten Brief gestanden. Hatte mit ihrem Vornamensproblem begründet, daß sie auch seinen oder seine Vornamen nicht aufs Papier bringe. Und kokett hinzugefügt: Oder heißt es zu Papier bringe. Nach sieben Jahren Englisch begännen ihr die deutschen Präpositionen zu verschwimmen. Sie schlug vor, daß sie in Zukunft mit Julien oder Offray beginne, und schließe mit Juliette. Warum sollten sie einander mit Namen nennen, die andere ihnen verpaßt hatten? Warum konnten sie einander nicht etwas anderes sein als anderen? Das schrieb sie nicht, aber sie dachte es. Und ihr Denken wucherte so, daß sie in den Briefen streng darauf achten mußte, ihre Fortgeschrittenheit nicht auf seine Zurückgeblie benheit prallen zu lassen. Falls er wirklich zurückgeblieben war und nicht nur so tat, als ginge es um nichts als La Mettrie.
Cher Julien, cordialement Juliette. Sie sollten einander einfach taufen! So übermütig gab sie sich dann doch. Und er? Er habe, was in ihrem Vornamen zu singen sei, zur Melodie gemacht: beade. Für den tdAustausch bitte er um Verzeihung. Diese Töne seien inzwischen mächtig geworden in ihm. Und fuhr fort, Briefe mit Beate zu eröffnen und mit Gottlieb Zürn zu schließen. Also fuhr sie fort, in Anrede und Schlußgruß namenlos zu bleiben. Jetzt wollen wir doch einmal sehen, wer nachgibt. Oder sollte sie hoffen, Gottlieb Zürn könne sie, so wie er sie auf seiner Terrasse einen Augenblick lang in ihrem Körper hatte heimisch werden lassen, auch noch mit Beate versöhnen? Als Vierzehnjährige hatte sie ihrer zwölfjährigen Schwester Bettina einen Vorna menstausch angeboten, war aber von dem frühreifen Gör nur ausgelacht worden. Und jetzt einem Mann konfrontiert, der offenbar ein Vornamensvirtuose war! Rosa, Magda, Julia, Regina. Lauter Volltreffer. Oder wirkten die vier Töchter namen nur so geglückt, weil der Kerl auf seiner Terrasse die Namen präsentierte, wie man im Zirkus prächtige Tiere, eins nach dem anderen, in der Arena auftreten läßt?
Dr. Douglas hatte von Anfang an gesagt, sie solle sich um ihren Vornamen nicht kümmern. Vorerst. Der löse sich eines schönen Tages von selber auf. Aber Madelon hatte keinen Sinn für Umwege. Sie nannte Beate inzwischen nur noch Juliette. Und die hatte das Gefühl, in diesen Namen könne sie hineinwachsen. Vielleicht lief sie schon bald mit dem hier üblichen VornamenDoppelpack herum. Beate J. Gutbrod. Also mit J. − das J. englisch − klang das schon einmal nicht so schlecht. Sie beschloß, Briefe probeweise mit Beate J. zu unterschreiben. Wenn der Flugplatz DurhamRaleigh nach ihr benannt werden würde, B. J. G., das klang noch besser als J. F. K.! Hoffentlich begriff Herr Zürn ihren Ernst bei diesem Spiel. Aber auch das, was Spiel war in ihrem Ernst. Auf seiner Terrasse hatte sie La Mettrie gehabt als Text für alles, was sie hatte sagen wollen. Gottliebs zögerliche Art hatte sie ermutigt. Seine Manier, Sätze nicht zu beenden. Es lohnte sich doch nicht, Sätze zu beenden! Sie hatte sich wohlgefühlt bei diesen hängengebliebenen Sätzen. Dieser Mann sprach, wie er war! Kam bei ihr so gut wie nie vor. Von La Mettrie schwärmend, hatte sie wenigstens eine Art Sehnsucht ausdrücken wollen. Nichts gelten lassen als die eigene Erfahrung und die davon lebende imagination. Warum sollte man sich nicht selbst zum Thema machen? Ob Herr ZürnKrall den Satz kannte? Den würde sie ihm schreiben. Mit Quellenangabe: Systéme d¹Épicure. Und die, die über La Mettrie schreiben, sollen jetzt ihn, ausschließlich ihn zum Thema machen?! Und ausschließlich ihn, das ginge ja noch, sie aber soll erforschen, darstellen, wie er von Lessing und Friedrich II. bis Bernd A. Laska und Ursula Pia Jauch in Deutschland verstanden wurde. Er selbst beruft sich, wenn er sein Thema sein will, auf Montaigne. Also beruft sie sich auf ihn! Sie will auch ihr Thema sein (dürfen). Und wird nicht wagen, es zu sein! Und das wird alles verderben! Natur, sonst nichts. Das Leben. Es hat nie etwas anderes gegeben. Zugeschmiert von Lüge, Tünche, Kulturtapete. Wendelin Kraus erster Aufsatz: La Mettrie war vor Rousseau. Die Befreiung der Natur aus ihrer Stromerzeugungs sklaverei. Vom Verwandlungszwang. Sie ist doch in ihrer kleinen Zehe ganz enthalten! Sie liebt ihre kleine Zehe! Die linke und die rechte! Ihre kleinen Zehen sind ihr wichtiger als Descartes, Kant, Hegel und Konsorten. Daß die Schön heit ... ach, die Schönheit ... Und er hatte nicht bemerkt, daß er sie schöner gemacht hatte als sie ist. Er hat sie ein bißchen angebetet. La Mettrie war Zeuge. Sie ist durch ihn in ihren Körper hineingewachsen. Sie hatte das Gefühl, sie könnte nackt auf seiner Terrasse stolzieren. Als die Frau gegangen war. Nach Pfullendorf.
Dieser Anfall von Lust auf Sichzeigen war ihr neu gewesen. Sie hat an die Geschlechtsgenossen ihres Gastgebers gedacht, die sich darin gefallen hatten, ihr zu sagen, sie rundete sich in der und der Partie zu sehr. Und dann ihre Brüste! Brüste waren nicht mehr gefragt! Sie hat im letzten Semester sechs Kilo abgenommen. Er hatte sie dort auf der Terrasse, nachdem die Frau aufgebrochen war nach Pfullendorf, so angeschaut, daß sie ihm das mit den sechs Kilo am liebsten gesagt hätte. Durch ihn, nur durch seine Art, sie anzu schauen, war sie von einem unmißverständlichen Übermut durchströmt worden. Sechs Kilo abgenommen, was sagen Sie dazu! Aber so etwas kann man nicht sagen. Genau das, was man am allerliebsten sagen möchte, kann man am allerwenigsten sagen.
Ach, Herr La Mettrie. Nancy Fridays Jealousy. Gerade gelesen. Sich von Büchern entdecken lassen. Tut am we nigsten weh. Sie ist doch immer unglücklich verliebt ge wesen. Weil sie anders geliebt hat, als sie geliebt worden ist. Sie ist eine Liebende. Eine Art Midasfluch. Sie will nicht einmal sich selber klar machen, wie sie das meint. Seine Tarte Tatin war eine Kulturleistung. Die zweieinhalb Stunden mit ihm auf der Terrasse waren Stress. Ihn beeindrucken zu wollen, das war Stress. Er ist nicht zu beeindrucken. Nicht mehr. Das kann auch nur ihr passieren, jemanden beein drucken zu wollen, der nicht oder nicht mehr beeindruckbar ist. Und sie meint nicht sein Alter, sondern sein ... seine Fassung, seine Haltung, seine ganze, von ihr auf nichts zurückführbare Unbeeindruckbarkeit. Bei La Mettrie gelernt: Etwas, was man durch keine Erfahrung belegen kann, nicht durch Einfälle ersetzen. Er hat sie einen Augenblick lang, mehrere Augenblicke lang ein bißchen angebetet. Aber dann war er wieder gefaßt gewesen. Dann wieder nicht. Aber dann doch wieder. Vor lauter Unterrichtenmüssen wird sie zu keinem eigenen Gedanken kommen. Gedankenflucht. Ihre Lieblingsbeschäftigung. Sich treiben lassen! Ferien! Fünfzehn Studenten sollten in fünf Ferienwochen das Pensum eines ganzen Semesters schaffen. Deutsch als Philo sophensprache. Daß sie dann in Professor Glen O. Rosennes NietzscheKurs mitkämen. Sie hatte jedem Studenten so helfen wollen, wie ihr dort auf der Terrasse geholfen worden war. Angeblich zweieinhalb Stunden lang. Zusammenge schnurrt auf einen Augenblick. Das Terrassenwunder. So wollte sie von jetzt an auf ihre Studenten wirken. Hegel geht ohne Aufhebung nicht, und aufheben ist süddeutsch, da heißt es, etwas bewahren, wozu ist sie bei Hegel daheim geboren, aber es heißt auch, etwas nicht liegen lassen, wo es bis jetzt lag, also sublate kann nur ein abstrakter Hauch sein von dem, was Hegel aufhebt, wenn er von Aufhebung spricht. Und wer nicht weiß, daß reification eigentlich Verdinglichung heißt, ist arm dran. Oder Nietzsches Gebrauch von Bosheit, Mitleiden, Weib, Aufklärung, Vornehmheit, Tugend und Höhe und Tiefe. Ferien! Als sie kurz vor Semesterende eher frivol durchs Ph. D. Qualifying Exam gestolpert war, hatte Professor Glen O. Rosenne die Dissertation angemahnt: Ende Septem ber die Gliederung, im Januar die Rohfassung der ersten drei Kapitel. Sie hatte, ohne triftigen Anlaß, hingeplaudert, die Arbeit werde acht Kapitel enthalten. Das hatte seinen Appetit gereizt. Und Rick Hardy, von allen Rosenne Assistenten der dünnlippigste, hatte gegrinst und gesagt, er kenne Beate − wie die Beate herausquälten, weil sie vermeiden mußten, daß es nach beauty klang −, Beate werde im Januar nicht drei, sondern sechs Kapitel liefern. Vielleicht suchte Rosenne Assistenten, die so wenig Lippen hatten wie er selbst. Er wurde als lizard gehandelt. Rick Hardy war nach der Prüfung mit ihr essen gegangen und hatte ihr seine Dissertation überreicht. Gedruckt. Revolt as Part of Socia lization. Mit Widmung. You are of my kin. Ein anmaßendes, besitzergreifendes Kompliment. Und ever yours. Bei dem Händedruck, mit dem er ihr gratuliert hatte, hatte sie leise aufgeschrieen. Obwohl man wußte, daß er immer seine ganze Kraft in den Händedruck legte, war man dann doch jedes Mal wieder unvorbereitet. Herr ZürnKrall hatte ihre Hand auch ein bißchen fester gedrückt, als zu erwarten war, aber sein fester war ein Seligkeitsblitz, verglichen mit der Quetschung, die einem Rick Hardy antat. Daß Ricks Frau ihn wieder betrogen hatte, erwähnte er nebenbei, wie er das jedesmal erwähnte, wenn man mit ihm allein war. Er habe Elaine jetzt hinausgeworfen, sagte er diesmal so dazu, als habe er damit zum letzten Mal von dieser Frau gesprochen. Revolte als Unterwerfung, das wäre ihr Titel, wenn sie eine Dissertation über Rick Hardy zu schreiben hätte. Der Rebell als Anwanze. Aber bei diesem Mittagessen hatte er ihr leid getan. Sie hatte ihm einen Augenblick eine Hand auf sein haariges Handgelenk gelegt. Auf dem Kopf nichts, aber sonst quollen bei dem die Haare aus allen Öffnungen. Sie mußte ihn besser behandeln. Nahm sie sich vor. Sie hatte ihn immer Verachtung spüren lassen wollen, weil er so erfolgreich war und weil sie glaubte, er befördere seinen Erfolg durch jene als Revolte verkaufte Unterwerfung. So was kam an. Sie würde ihn von jetzt an anders behandeln. Er sollte glauben, daß er auch bei ihr angekommen sei. Schaden konnte es nichts. Rick würde Karriere machen.
I ¹ve not yet organized myself today. Wieder einmal. Dieses unsolide Durcheinander zog natürlich Madelon an. Wenn deren eigenes Leben an einem Tag zu wenig Organisations bedarf bot, bei Beate J. Gutbrod geisterte immer ein Dilemma herum, das nur von Madelon Pierpoints Südstaatentem perament in das Nichts verjagt werden konnte, in das es gehörte. Life goes to the movies. So einfach war das heute. Madelon genoß es, wenn ihr gehorcht wurde. Und Beate J. genoß es, Madelon zu gehorchen. Madelon stammte aus einer jener Familien, die ihre Einwanderererfahrungen wie einen Schmuck tragen. Da wurde bewahrt und vollfarbig erzählt, was, wenn die Familie zu Hause geblieben wäre, kaum die Saison, in der es passierte, überlebt hätte. Beate J. konnte von dieser Art Amerikanistik gar nicht genug kriegen. Die erste Frau von Madelons Großvater war eine Freundin der Frau Sacher in Wien. Die zweite Frau ihres Großvaters kriegte von der ersten das Rezept für die Torte. Sie mußte versprechen, das Rezept nur innerhalb der Familie weiterzugeben. Als ihre Köchin es einmal einer Schwester weitergegeben hatte, wurde sie entlassen. Diese Köchin Schwester hat aber nachweisen können, daß sie das Rezept vom Enkel eines ungarischen Kochs hat, der in Wien bei der Konkurrenz von Sacher gelernt hatte. Also wurde die Köchin wieder eingestellt.
Madelon arbeitete an ihrer Beate. Sie konkurrierte mit Dr. Douglas. Kürzlich hatte sie eine Notiz in Beates Fach gelegt: The doctor¹s familiarity with the patient¹s history is contrasted with the doctor¹s anonymity to the patient. There is a power structure expressed in the unmasking of the patient¹s inner life vs the consistent masking of the doctor¹s private sphere. The dilemma of transference. Oneway traffic. The patient¹s illusion of intimacy in a Professional relation ship. And once more the well known pattern: the unapproa chable paternal figure. You know less about the person Dr. Rufus Douglas than about any other man.
Madelon kämpfte um
ihre Freundin und verband diesen
Kampf mit ihrer Doktorarbeit.
Freud, as Novelist of the Victorian Age. Untertitel: The Pseudo
Illness of the Feminine Other.
The sociosexual atmosphere im bürgerlichen Wien um 1900
machte sie verantwortlich für alles,
was Freud je gedacht und
geschrieben habe. Das, potenziert
durch die Energie
zufuhr des jüdischen Glaubens an die Erlösbarkeit. Und daß
für Erlösung nicht dies und das
gut sein kann, sondern immer
nur eins. Die Psychoanalyse als
der säkularisierte Monotheismus. Und
Beate ist Madelons aktuelles Studien
objekt. Dr. Douglas lachte zwar,
aber sie spürte, daß er
Madelon Pierpoint als Kampfansage verstand. Da kämpften
zwei um sie. Und sie? Wartete darauf, von Herrn ZürnKrall
zu hören, daß er auch ein bißchen um sie kämpfte.
Sie beneidete Madelon. Die forschte,
wühlte, formulierte, schrieb, es ging
immer um ihr Leben. Madelon,
Geliebte
eines Ingenieurs. Ein Environmental Analyst, einer der Stars
des carolinischen Scientific Triangle,
das das Silicon Valley
übertreffen wollte. Er entwickelte Methoden und Maschinen,
mit denen man das Wasser
unvorstellbar sauber machen konnte.
Für die ChipProduktion bei Texas Instruments. Sie, als
Madelons engste Freundin, durfte den
Eindruck haben, Madelon schreibe ihre
Doktorarbeit gegen diesen Brian
Dewey, der, nebenan in Durham,
Weib und Kind hat
und
11 Angestellte, 3 Häuser, 3
Autos, 1 Cessna, zweimotorig,
und in Chapel Hill 1 Geliebte, die er zweimal im Monat von
Louis, seinem farbigen Fahrer, irgendwohin holen läßt, und
sei¹s zum Flugplatz, daß sie
mit einander auf die Virgin
Islands flögen und Madelon dann
zurückkäme, von St. Thomas
schwärmend, einer mit dichtgrünem
Pelz bewach senen Insel, die in
sanften Küstenlinien den schmalweißen
Strand bietet, gehörend zu den
sieben schönsten Stränden der Welt.
Oder einfach mal schnell nach
Tangier Island
rüber, ChesapeakeBayCrabs essen und zurück, nur um eine
erregende Beweglichkeit zu erleben.
Ans Verrückte gren zende Unternehmungen,
das ist Brians Spezialität. In
der
ersten Stunde sind Brians Haare immer total elektrisch gela
den, weil er gerade noch vier Stunden lang telephoniert hat.
Er fährt sich quer durch die weichreichen Haare, dann knis
tert das, Madelon geht¹s durch
und durch. Am erstaun lichsten: daß
Madelon immer noch hoffte, Brian
werde sie eines Tages heiraten.
Inzwischen hatten beide BrianSöhne
den Pilotenschein. Madelon wird das
dargeboten, als solle
oder könne sie teilnehmen am Vaterstolz. Und sie tut¹s. Ob er
sie nach Surf City schleppt oder über¹s Meer hinaus, er bringt
es ihr dar. Und sie nimmt¹s.
Nur wenn er seinen Hund
Jonathan mitbringt und mit ihr
und Jonathan nackt in den
Whirlpool will, streikt sie. Oh
Madelon! Wie soll man ihr
sagen, daß diese Affäre aussichtslos ist?! Eine Affäre ist eine
Affäre, auch wenn sie zehn
Jahre dauert. Beate hatten drei
Jahre gereicht. Allerdings hatte Gert
Laubenthal ihr zwei
Jahre lang erfolgreich verschwiegen und verheimlicht, daß er
seit Jahren verlobt war. Es war
tatsächlich Rick Hardy ge
wesen, der immer über alle alles erkundete und sein Wissen
karrierefördernd verwendete, er hatte
ihr den sogenannten reinen Wein
eingeschenkt über ihren Liebsten.
Aber weder
Gert noch sie konnten auf einander verzichten, nur weil jetzt
eine Verlobte mitverkraftet werden
mußte. Im Gegenteil.
Ihre Liebe, oder das, was sie dafür hielten, flammte auf, Gert
versprach, sich baldigst zu entloben,
sie wurde sogar schwanger, aber
damit wäre sie für das
Ph.D.Programm ausgefallen, also Abtreibung,
und ist als Schwangere noch
mitmarschiert beim AntiAbortionClinicMarch,
aber Gert,
der Deutschland nachts verlassen hat, nachdem er mitten in
Köln einen Unfall verschuldet hatte
und unter Schock über
die Grenze floh und sich dann nie mehr zurücktraute, dieser
Erfahrungsgesättigte und inzwischen
Assistant Professor
Gewordene hat ihr zur Einsicht verholfen, wie unreparierbar
der Karriereknick durch ein Kind werden müßte, also hinein
in den Warteraum der Illusionen,
danach war Gert so lieb wie
noch nie, Häuser angeschaut, Möbel
beguckt für den
Livingroom, dann teilt ihr der immer aufmerksame Rick mit,
daß Gert seine Verlobte inzwischen geheiratet hat. Immerhin
konnte sie jetzt nichts mehr essen. Eine Zeit lang. Acht Tage
vor Gerts Hochzeit waren sie
noch mit einander im Bett
gewesen. Und sechs Wochen nach der Hochzeit auch wieder.
Es war das Telephon, das sie
wieder zusammenbrachte. Dann gebar
Gerts Frau. Das war¹s. Jetzt
ging nichts mehr. Auch das
Essen ging nicht mehr. Anorexie.
Behandlung.
Also Dr. Douglas. Ihm verdankt sie mehr als jedem anderen
Menschen. Gert Laubenthal hat sich
nach Philadelphia beworben. Das fand
sie dankenswert. Dort ist er angenom
men worden. Tenure. Telephoniert wird
nicht mehr. Das
alles hat Madelon noch vor sich. Madelon kennt jede Drecks
sekunde, die ihre Freundin
durchzustehen hatte. Aber sie
weiß natürlich, daß ihr so etwas nicht passieren kann.
Zuerst hielt Beate das
Überseerauschen für die Ankün digung
eines BettinaAnrufs. Bettinas
ostwestfälischer Samenhändler war dabei,
sich umzuschulen auf Program mierer.
Aber es war der Terrassenmensch
mit den unbe nutzbaren Namen. Und
der rutschte einmal sogar ins
Du.
Einen Freudian slip konnte sie das nicht nennen. Ihr blieb die
Spucke weg. Wie anders sollte
sie sich denn diese jähe
Mundtrockenheit erklären! Der Herr
dort an der Strippe kriegte
sich auch gleich wieder ein −
so würde sich ihre deutlich
flottere Schwester ausdrücken − und
brachte einen Selbstverhinderungstext
zustande, der ihr durch und
durch
ging. Er sagte ihr, daß er ihr nichts sagen könne. Aber daß er
ihr nichts sagen könne, müsse
er ihr doch sagen. Und legte
auf und ließ das Überseerauschen
über ihr zusammen schlagen.
Die Sinne sind seine Philosophen,
heißt es bei ihrem
Patron. Sie malte sich die zwei Buchstaben auf ein Blatt. DU.
Und ließ diese Buchstaben auf ihre Sinne wirken. Spielte sich
das gehörte DU zu, während sie das gemalte
DU ansah und
überließ sich der Flut; wie sonst sollte sie die Wucht nennen,
die jetzt am Zunehmen war. Am
liebsten hätte sie jetzt
Bettina angerufen und sich in diesem Zustand ihr ausgesetzt,
nein, präsentiert. Als Frischgeduzte! Krieg dich ein, Schwes
terchen, würde Bettina sagen. Beate
dachte bei manchen
BettinaSätzen, daß es die, als sie noch drüben gewesen war,
noch nicht gegeben hatte. Ihm, dem Herrn auf der Terrasse,
müßte sie sagen können, daß sie Erkenntnis schöpfe aus dem
puren DU. Aber
sie konnte dort nicht anrufen.
Die ganz gewöhnliche Machtstruktur.
Sie müßte, wenn Frau Anna
oder gar, gerade hereingeschneit, Regina, Julia, Magda oder
Rosa am Apparat wäre, schlicht
vergehen vor Verlegenheit. Ihm sagen
und Herrn Rosenne sagen und dem
eifersprü henden Rick Hardy sagen,
daß man mehr, als La Mettrie
erkannt hat, nicht erkennen kann, jetzt und immerdar. Leider
müßte sie das nicht sagen,
sondern beweisen. Die Äußer lichkeit
der Buchstaben und die Erfahrung,
die sie in ihr bewirkten.
Alles eins hat
schon vor fünfzehn Jahren ihr
Terrassen mensch geschrieben. Wer einmal
das Richtige berührt hat, kann
nicht mehr überholt werden. Als der
Patron erkannte, wie l¹imagination von
l¹expérience bestimmt ist, hat er
die Durchgängigkeit des Bewußtseins,
des Denkens, des Daseins, die
Unteilbarkeit überhaupt erfahren. Dieses
DU
macht vor nichts halt, reicht überall hin, ist eine Quelle uner
schöpflicher Erfahrung. Sie sieht das
Buchstabenpaar DU
und weiß, daß sie gemeint ist,
und es bewegt sie, wie noch
nie etwas sie bewegt hat. Zwei
Buchstaben, eine optische Figur, und
sie flutet, schwillt, blüht, kippt
... Das hat viel
mehr mit ihr zu tun als mit diesem Herrn ZürnKrall. Julien
Offray de La Mettrie kennt sie
besser als dieser deutsche
Geheimrat. Statt nachzuzählen, wie und wie oft La Mettrie in
Deutschland verstanden und mißverstanden
worden ist, möchte sie jetzt
nachweisen können, daß man mehr,
als er erkannte (per l¹expérience
und l¹imagination), auch in der
Zwischenzeit nicht erkannt hat.
Höchstens weniger. Es gibt (zum
Glück) auch Rückschritte. Sonst gäbe
es ja keinen Fortschritt.
... pourquoi diviser le Principe sensitif qui pense dans l¹Homme?
Denn etwas, was man geteilt
hat, kann nie mehr ohne Krampf
als unteilbar erlebt werden. Sagt
der Patron. Und trotzdem reden
auch die Gescheitesten von Materie,
Geist, Stoff, Seele usw., als
gäbe es zweierlei. Der KrallAufsatz
Alles eins wurde
nicht gelesen. Alles geht immer
so weiter.
Aber, sagt Julien, es sprechen die Wälder, die Echos seufzen, die
Steine weinen, der Marmor
atmet, ja, tout
prend vie parmi les corps
inanimés. Unterschiede gibt es
nur durch den Organisationsgrad.
Stimmt¹s? Der Organisationsgrad (der
Materie) ist der einzige Unterschied
zwischen Wurm und
Hund und Mensch und so weiter. Der schimpfende Lessing.
Porneutik will er
La Mettries Lebenskunst genannt
wissen.
Vielleicht das erste Mal, daß ein Sittenbeobachter eine seriöse
Schrift Porno schimpft. Weiß der Geier, was der gerade mal
einundzwanzigjährige, anakreontisch vertändelte
Lessing in
seiner Bundhose beherbergt hat, daß er hat so böse reagieren
müssen auf den naturbegnadeten Mann
aus dem Heiligen
Malo. Wie konnte er nur am 2. November 1750 seinem hoch
zuehrenden Herrn Vater schreiben,
das La MettrieBuch über
das Glück, sein Discours sur le Bonheur, sei nur zwölfmal ge
druckt worden, und die Abscheulichkeit dieses Buches habe
dazu geführt, daß der König,
der Große Friedrich also, daß
der höchstselbst zehn
Exemplare davon ins Feuer geworfen
hat.
Da das mit dem, was sie über das Verhältnis des Königs zu
seinem Leibmedikus La Mettrie weiß,
nicht übereinstimmt,
muß sie das in ihrer Dissertation klären.
Der Post ist ein Streich
gelungen. Sein Brief war vierzehn
Tage unterwegs. Living in suspense. War sie zu weit gegan
gen? Pangs of conscience. Wurde ihr Brief dort am Familien
tisch auseinandergenommen? Belächelt? Beschimpft? Zerris
sen? Schon war sie drauf und dran, einen Kommentar hinter
herzuschicken: Alles nur Wissenschaft,
Ichexperiment, hat La Mettrie recht,
wenn er usw. Allerdings, der
deutsche
Briefstilist turnt ganz schön im Vorsichtigen herum. Gerade,
als könnten seine Briefe auch
bei ihr noch jemandem in die
Hände fallen, der nichts merken
darf. Und dann wacht sie auf
mit der, nein, in der, nein,
an der Gewißheit, daß ein Brief
von ihm da sein werde. Und
sofort begreift sie nicht mehr,
wie man sich überhaupt täuschen
kann. Sie lebt,
allerdings nur augenblicksweise, im Zustand solcher Gewiß
heit. Als sie dann in der
Abteilung Glen O. Rosenne
begegnete, spürte sie sofort, daß die Daseinsfülle, die sie im
Augenblick ausstrahlte, seine
Dünnlippigkeit drastisch
verschärfte. Dabei hatte sie den heutigen Brief noch gar nicht
gelesen. Sie las die Briefe aus
Deutschland immer erst
abends. Sie mußte dieses Briefelesen zelebrieren. Kerze und
Komik inklusive. Rosenne, sofort alles erfassend, fand sofort
die richtigen Wörter zur Beendigung
ihres Zustands. Sie dürfe sich
nicht an die einzelnen Stationen
des La Mettrie
Wegs in Deutschland verlieren, etwa dadurch, daß sie jeder
Station dieses Wegs von Lessing
bis Laska ihr Recht oder
Unrecht nachwiese, sie solle sich möglichst nicht einmischen,
sondern nur darstellen, berichten,
alles andere müsse, bei
ihrer psychischen Verfassung, wegen notorischer Selbstüber
forderung in Panik enden. Nachdem
er dieses Wort (panic
stricken) eingeführt hat in den Dialog zwischen ihr und ihm,
will die Panik in ihr wachsen
und gedeihen. Seitdem ist sie
on the edge.
Als sie siebzehn war, hat sie
sich mit der Schere aus dem
Familienbild herausgeschnitten. Mit
neunzehn ab nach Amerika. Inzwischen
gibt es nichts, was sie so
froh stimmt wie die Gewißheit,
nie mehr siebzehn, achtzehn, neunzehn
sein zu müssen. Daß der Vater
zwei Jahre später von Untertürkheim
nach Manhattan überwechselte, weil Mer
cedes ihn an der Front
brauchte, kann einen Zufall nennen,
wer keinen Durchblick hat. Schwester
Bettina (die hat einfach den
besseren Namen erwischt!) war da
schon so
verliebt und fast verheiratet, blieb also in Stuttgart. Statt der
Töchter hat die Mutter zwei
Wellensittiche (einen gelben, einen
blauen), im Scarsdale Home. Mit
denen unterhält sie
sich, wenn der Vater im Whently Hill Club seine Pflicht tut.
Wenn er abends nicht heimkommt,
ruft die Mutter die Tochter an
und sagt, der Erzeuger sei
wieder ins 19. Loch gefallen.
So nennen die Golfer dort die
Country Club Bar.
Seinen Job in New York malt er immer so aus: In dieser Stadt
deutsche Autos verkaufen, das ist
wie barfuß durch die
Wüste. Und nie vergißt er den Witzsatz eines Kunden, eines
jüdischen Kunden, bitteschön: In den
USA leben 5½ Millio nen Juden,
davon 6 Millionen in New York.
Dieser Vater kommt aus Deutschland
nicht heraus. Dabei trägt er, be
richtet die Mutter am Telephon,
in seiner Freizeit unsäglich
gesprenkelte Shorts. Vater unser.
Daß man von Briefen, die noch nicht eingetroffen sind, am
Telephon erfährt, sogar Inhaltliches,
Temperaturhaftes, das zeigt, wie in
unserer Kommunikationszivilisation das eine
Medium das andere überholt. Sie
hoffte, es finde keine darwinistische
Auslese statt. Sie konnte inzwischen
ohne Briefe so wenig leben wie
ohne Anrufe. Dem Briefschreiber dort
empfahl die Empfängerin (schon das
ginge, bliebe es
beim Telephonieren, verloren: Empfängerin), ihr nach Hause
zu schreiben, die UNC ist berüchtigt wegen
ihrer lahmen
Postverteilung. Auf das Angerufenwerden konnte die Ange
rufene nicht verzichten, weil sie
da die Gewählte war. Der
Dortige aber hat in beiden
Medien die gleichen Hemmun
gen. Die Empfängerin hat im vergangenen Jahr drei Heirats
anträge empfangen. Könnten Mitteilungen
dieser Art den
Sender drüben ermutigen, sich in der Selbstzensur mäßigen
zu wollen? The ball is in
your court now. You have to
determine the limits. Die kindliche
Anhänglichkeit des
letzten Bewerbers hatte in ihr Weißglut produziert. So etwas
erlebt zu haben heißt, es bei
einem anderen vermeiden. L¹expérience
und L¹imagination. Andererseits pfeift
sie auf Kontakt, wenn sie sich
nicht eingestehen darf, daß sie
bei
Wendelin Krall Bestätigung suche (reassurance). Gegen Glen
O. Rosenne. Bei dem gibt es
Anerkennung nur in homöo
pathischen Dosen. Zum Glück hat sie Patricia Best. Zu einem
Doktorvater gehört eben auch eine
Doktormutter. Ohne Patricia Best wäre
sie längst nicht mehr hier. Wo
sie dann wäre? Wo der Pfeffer
wächst. Sagt man das noch?
Patricia Bests Mutter ist 1937
an einem Freitag in New York
angekommen, sechzehnjährig, mit zehn
Mark, das waren zwei Dollar
fünfzehn, und einer Leica, für
die sie fünfunddreißig Dollar
kriegte. Ihre Mutter hatte ihr
die mitgegeben, hatte gesagt, dafür
kriegst du hundert Dollar. Alle
Emigranten haben Leicas mitgebracht.
Patricias Mutter hat dann,
sechzehnjährig, in einem Cheese
Wholesale and Grocery angefangen,
Juli 37, das sei der heißeste
Sommer
überhaupt gewesen, Patricias Mutter sollte die Bestellungen
am Telephon entgegennehmen. Aber die
kamen alle auf Jiddisch. Nach
drei Wochen kapitulierte sie. Wegen
der Zahlen. Sie konnte einfach
die Zahlen nicht lernen. Patricia
Best sagt, es gebe niemanden,
der so zuhören könne wie
Beate. Und ihre Mutter ist ja auch in Stuttgart geboren. Wie
Beate. Obwohl Patricia Best nur einmal in Stuttgart gewesen
ist, 1986, und dann beschlossen
hat: Nie wieder! nennt sie
Beate manchmal fast zärtlich: Meine
Stuttgarterin. Auf Deutsch! Sie kann
noch viel mehr Deutsch, als sie
zugibt.
Außer Beate hört kein Mensch ein deutsches Wort von ihr.
Auch Leo nicht, ihr Mann. Das
hat sie Beate gestanden. Ja,
das war ein Geständnis. Fast eine Liebeserklärung.
Aber beide, Patricia Best und Glen O. Rosenne, warnen sie:
Das sei Beates Schwäche, die
Neigung, im Wissenschaft lichen in
einen allzu persönlichen, gar
privaten Ton zu
verfallen. Aber Madelon, der Beate das hinweinte:
Freuds Fallbeispiele sind bei weitem
nicht bloß medizini sche Befunde,
sondern höchst persönliche Geschichten,
ihm dienend zur Selbstbeleuchtung.
Aber dann, sagte Madelon,
dann bricht er ab, wenn es brenzlig wird (when it hits home).
Natürlich kann man, redet es in
ihr, die Geschichte von Lessing
bis Ursula Pia Jauch nachturnen
und mit heute im historischen
Kaufhaus billig zu erstehenden Farben
nach malen; nichts ist risikoloser
als das: Heute nachbeten den
Eifer der Fundamentalisten, die
Aufklärer waren und Les sing und
Diderot und so weiter hießen;
nachbeten die Ent
wicklungen, die eher auf Wanderwegen und in den Toiletten
feinerer Internate, eher in Salons und Kaschemmen als in den
Hallräumen der Wissenschaft, gar der Philosophie, erbracht
wurden; nachbeten, wie dieser Eifer
feindseliger Toleranz
prediger inzwischen eher komisch wirkt und La Mettrie jetzt
doch jedermanns (wenn auch noch nicht jeder Frau) Darling
ist!
Wut. Soweit sie sieht, kommt Wut nicht vor bei La Mettrie.
Ihr Leben besteht aber aus Wut und aus den Versuchen, sich
davon abzulenken. Die Wut ist
die Mauer gegen Angst. Sie
weiß, sie ahnt mehr, als sie weiß, daß in ihr die Angst lauert.
Die tut so, als sei sie die Wahrheit. Alles andere sind Masken.
Nur die Angst wäre das, was ihr entspricht. Die Angst und
sie. Allein. Das wäre Wahrheit.
La Mettrie hatte als der
wahre Kolumbus genug zu tun mit der Entdeckung unserer
unteilbaren Existenz. Dann folgt Freud mit Dora beziehungs
weise Beate J. Gutbrod mit
Wendelin Krall. Natürlich ist es
ein Rückschritt, nach der Entdeckung
unserer Unteilbarkeit wieder auf
Unterbewußtsein und ÜberIch zurückzufallen.
Aber Hysterie beziehungsweise Wut
sind, je näher wir sie
bei ihrer Herkunft lassen, um so treuere Zeugen. Mad woman
in the Attic. Das las sie mit Reingewinn! Also unterschlug sie
nicht mehr, wie sie jetzt hier
saß: hellrosa Jogginghosen (in
denen noch nicht ein einziges Mal gejoggt wurde) und hell
grünes Sweatshirt. Glen O. Rosenne, der ihr letzte Woche La
Mettrie in der FayardAusgabe
vorbeibrachte, sagte ganz munter, in
diesem Schlafanzug müsse sie von
himmlischen Limonaden träumen.
Aber 27 Aufsätze ihrer Literaturklasse
warten auf ihrem Schreibtisch darauf,
von ihr gelesen
UND benotet zu werden.
Schreibtisch! Um überhaupt transat lantisch
vorstellbar zu werden, muß sie
doch mitteilen, daß ihr Schreibtisch
eine alte Tür ist (von ihr
im Trödelmarkt
gekauft, dann, von ihr, blau gestrichen), auf zwei Holzböcke
gelegt, wie sie in Malerwerkstätten vorkommen. Schrecklich,
wie wichtig es einem ist, daß
der andere (the other) sich
vorstellen kann, wie man leibt und lebt. (Mehr leibt als lebt).
Am schwersten waren tatsächlich
Anfang und Ende. Bei Briefen!
Oder überhaupt. Im
Augenblick ganz und gar der
Unwirklichkeit hörig, schrieb ihr
German Other seelenruhig
hin. Schriebe das die Empfängerin, versagte ihr bei hörig die
Hand. Auch hätte sie vielleicht das Gefühl, sie habe sich mit
so einem Satz bei Nacht in einen Urwald gestoßen. In einen
tropischen dazu. Gemalt aber vom Zöllner Rousseau. Von ih
rer gemalten Nacktheit sieht man
hauptsächlich die Füße. Die streckt
sie dem Beobachter entgegen. Sie
ist überhaupt stolz auf ihre
Füße. Sie kann sich nicht
sattsehen an ihren Nägelhalbmonden.
Die hat sie angepinselt. Rubinrot.
Rot
röteramrotesten. Ach, Deutsch, diese Sprache, in der mehr
verboten als erlaubt ist!
Daß die Mutter ihre zwei
Sittiche immer noch bei der
Tochter deponieren muß, wenn sie
mit ihrem Mann in Fort
Lauderdale, Florida, Urlaub verleben
will, zeigte der
Tochter, wie wenig die Eltern in Amerika angekommen sind.
In diesem Land, in dem alles Menschliche sich zuerst einmal
als Nachbarschaft auslebt! Wenn sie
die zwei Schnäbel in
Pflege nahm, mußte sie einerseits so tun, als sei sie glücklich,
Hansel und Gretel endlich wieder
beherbergen zu dürfen,
andererseits durfte aus ihrem Glück nicht zu schließen sein,
sie sei einsam und deshalb sittichfroh. Eine einsame Tochter
in Chapel Hill, das würde dem
Sittichpaar in Fort Lauderdale die
Urlaubsmelodie verstimmen. Es ist
doch schön, wenn zwischen Eltern
und Kindern alles bis ins
Feinstkleinste geregelt ist, ohne daß das je formuliert werden
muß. Das sind die zwingendsten
Verträge, die gelten, ohne
geschlossen werden zu müssen. Zuerst streiften Mutter und
Tochter durch Antiquariate. Für fünfzig Dollar sechs Bücher:
Lessing (1824), König Ödipus (1785),
Cicero über die Pflichten (1784),
Diderot (1774), Rousseau (1789),
Holbach (1776). Dafür mußte die
Tochter mit in die Antique
Stores.
Die Mutter ist nicht mehr scharf auf Meißen, sondern auf die
schüsselartigen Teller aus der
Mingdynastie. Die Entzük kenslaute der
Mutter! Nirgends sei soviel aus
der Ming dynastie hängen geblieben
wie in North Carolina, zwitscherte
sie, wenn wieder eine Schale
erobert war. Daß antique heißt, was es
heißt, weiß die Mutter, daß
aber antic
soviel wie grotesk heißt, weiß die Mutter nicht. Daß Beate J.
ihrer Madelon die Eltern vorenthielt,
nahm sie sich übel.
Über ihr German Other wußte Madelon inzwischen mehr als
Beate J. selber. Madelon arbeitete alles, was sie erfuhr, in ein
Kolossalgemälde ein. Beate J. war,
was den
Terrassen
menschen anging, jähen Wettern − ist gleich Lichtwechseln −
ausgesetzt. Mal hatte sie alles
übernah und scharf und wie
unverlierbar, dann war gleich wieder
nichts mehr greifbar, alles ganz
ungewiß. Madelon illustrierte Beate
J. und
Gottlieb Wendelin inzwischen als Freud und Dora. Sie malte,
wenn sie mit Beate unter Chapel
Hills gewaltigen Bäumen promenierte,
eine historische Szene mit acht
Figuren, nur geschaffen zur
gegenseitigen Beleuchtung im Dienste
der Erkenntnis. Da sind dann:
der Freud der HysterieSchrift und
der wirkliche Freud (den Madelon
aus allen biogra phischen Schlupfwinkeln,
in die er sich verkrochen hat,
herausholt); Gottlieb Zürn, Germany,
ein leidenschaftlicher
Verundeutlicher, der an allem, was er verundeutlicht, keinen
Zweifel läßt, und Wendelin Krall, der leidenschaftlich darauf
besteht, ein rückhaltloser La Mettrist, also ein Verdeutlicher
zu sein; Beate J., Chapel Hill, auf der Suche nach einer Rolle,
die weniger anstrengend ist als
ihre bisherigen Rollen, und Juliette,
die sich zutraut, sie selbst zu
sein. Dazu noch zwei Madelons:
die unnachgiebige Freudforscherin und
die vor
der ganzen Welt, außer vor Beate verheimlichte Geliebte des
großen Erfinders Brian Dewey. Beate
muß Madelon noch melden, daß
sie inzwischen nicht mehr Juliette,
sondern Themire heißen möchte (siehe
die Schriften Volupté
und Épicure). Am
liebsten würde Beate nur noch
über einen einzigen Satz ihres
Patrons schreiben: Ich
habe die Stärke
gehabt zu vergessen, was ich aus Schwache gelernt hatte (Épicure,
S. 64). Madelon eröffnete sie,
nicht als Krieg, sondern als
Spiel, daß in diesem Satz ein
AntiFreudProgramm glühe.
Hätte dieser Satz von 1750 bis 1900 Folgen gehabt in Europa,
hätte sich Freud, den sie,
belehrtbekehrt von Madelon Pierpoint,
jetzt auch einen großen
wienviktorianischen Romancier nannte, hätte
der sich, entspannt für immer,
selber auf seine BerggassenCouch legen können.
When she left Dr. Douglas¹
office last time, she felt like
a
jerk. She had rambled, talked in circles. It becomes apparent
that their relationship caters
exclusively to her need for
confidence, reassurance, emotional
stability, and yet, at the
same time, distance, the freedom to keep her private space all
to herself. She¹s courting fathers
and, at the same time, she
withholds herself. She misses HIM.
Wenn sie dann mit angetrunkenem Mut wieder einen Brief
in den Kasten geschubst hat, so geschubst, als müsse dieser
Schubs den Brief über den Ozean befördern, fing der Brief an
zu schreien. Das war eine
Erfahrung, Jesus! Und der vorletzte
Brief, der eigentlich schon längst
drüben sein müßte, schreit auch
noch einmal mit. Wir genieren
uns, schreien die Briefe. Soviel
gibt man nicht zu, schreien
sie. Nimm uns zurück. Briefe zur Gründung von
Unwirklichkeit, hatte er
geschrieben. Andererseits hatte sie
beim letzten Telephongespräch zum
ersten Mal auch ein DU platziert. Alles ist
möglich. Auch das Unmögliche. Vor
allem das.
Hoffte sie. Ihr satzlos hingesagtes, also ziemlich blankes DU,
das sich nicht, wie sein erstes, als Versprecher tarnte, ihr DU
war eine Uraufführung. Dem
entsprechend ihre first night nerves.
Ist das DUSchreiben
doch einfacher als das DU Sagen? Hochgerechnet hieße
das: Schriftlich wächst du
leichter über dich hinaus als mündlich. Danach empfand sie
einen aus allen Partien ihres Körpers gespeisten Widerwillen
gegen Äußerung. Keine Lust mehr, sich mitzuteilen. Er war,
weil er sich zierte und
genierte und ministrantenhaft aufführte,
er war schuld, daß sie sich
entblößt vorkam. Der
kriegte keinen Traum mehr von
ihr. Nicht den Fetzen eines
Traums. Zu seiner Aufführung paßte, daß er sie immerzu als
Verheiratete adressierte. Mrs. Gutbrod! Her mother¹s dreams
come true. Hier ist man, unberingt, Ms.! Topic closed.
Ihr Widerwille gegen Äußerung war
zwar durch ihn ge speist, aber
auch durch die Vorstellung, daß
alles, was sie
über La Mettrie schrieb, nicht nur Glen O. Rosenne gefallen
mußte, sondern auch Patricia Best. Beate ahnt, nein, sie weiß:
So, wie sie das erzählen will,
will es Patricia Best nicht
wissen. Les grandes
pensées viennent du cœeur.
Vauvenargue.
Solche Zitate schleppt sie an, damit Patricia Best der Wissen
schaft Gefühl erlaube. Aber da
zündet die Kettenraucherin
mit ihrem Zigarettenrest die nächste an und kneift die Augen
zusammen, als schmerze sie Beates
Anblick. Beate kann Patricia Best,
wenn die von einer Sekunde auf
die andere plötzlich ganz kühl
wird, nicht gestehen, daß sie
Denken
ohne imagination nicht mag.
Weiß er, daß er eine Stimme hat, die nur mit dem Adjektiv
warm zu bezeichnen ist? Sie
hofft, er wisse das nicht. Sie
wünscht, sie könnte sich genau so zusammennehmen wie er.
In den Stimmungen, in die sie
(wie sie glaubt) durch ihn
gerät, ist sie sich selbst nicht sympathisch. Erst wenn sie mit
ihm telephoniert hat und er ihr
augenblicksweise hörbar spürbar verfällt
und sich dann umständlich wieder
zurück ruft in seine feineren Wälle,
den Schmerz aber, den das
bereitet, nicht verbirgt, sondern
geradezu angeberisch gesteht, erst
dann kann sie sich wieder
erträglich werden. Wer am Telephon
nicht unzurechnungsfähig wird, der
kommt nicht in Frage. Zum Glück
stolpertstammelt er am Telephon
regelmäßig in eine nicht mehr
gewollt wirkende Unzurechnungsfähigkeit.
Schreibend ruft er sich zurück.
Selbst da signalisiert er zwar,
daß er sich lieber nicht
zurückriefe, aber er müsse sich doch usw. Feiger Hund, der
er ist. Zum Glück. Zu beider
Glück. Wäre er nicht so feige,
würde sie sich des öfteren ganz verlieren. Gestehen darf sie
doch wohl, daß sie ihn immer
im Cordhemd sieht. So, als habe
er nur ein einziges Hemd. Dabei
wäre es ihr am liebsten, er
trüge das seit jenem Juninachmittag
nicht mehr,
weil er es nur tragen wollen sollte, wenn sie komme. Oder er
komme. Oder beide! Das Hemd
wurde in ihrer Erinnerung immer
blauer, immer heller, also immer
hellblauer. Aber seine Hände? Die
waren weg. Er hat doch seine
ganze Zögerlichkeit mit den Händen
demonstriert. Und die sieht
sie nicht mehr. Merde! Durfte sie es komisch finden, daß sie
einem, der ihr sechs Stunden
voraus war, der den Augen blick,
in dem sie jetzt lebte, schon
seit sechs Stunden hinter sich
hatte, daß sie so einem
augenblicksweise nahe zu sein
glaubte? Das hieß: alles Imagination,
sonst nichts. Wirklich nichts. Sollte
sie ihm das Photo schicken, das
sie mit ihrem
Doktorvater zeigt? Er drückt ihr die Hand, nachdem sie ihm
zu seinem Sechzigsten den Olms
Reprint der Œuvres
Philosophiques von 1774 geschenkt
hat. Sie wird es ihm
schicken. Dann sieht er einmal Mister Lizard in Aktion. Der
drückt ihr nämlich die Hand mit einer Geste, als hole er zu
einem Handkuß aus. Entsprechend lasch
ist sein Hände druck. Und neben
dem lippenlosen Abteilungssouverain ist
zu besichtigen seine hübsche,
geradezu schöne, vor allem aber
fast dralle Blondine SueAnn, der
die Haare über die nackten
Schultern bis zu den fast
nackten Brüsten wallen. Also seine
Studentin war die nie. Ja, das
soll ihr German
Other ruhig sehen, wie seine Beate in Gegenwart einer Gattin
zur belächelten Maus wird, obwohl
sie doch gerade die Œuvres Philosophiques von 1774 abliefert. Aber was nach der
Geburtstagsfeier passierte, muß sie
verschweigen. Vorerst. Das geht nur
mündlich. Zuerst die große Feier,
vor lauter Weihrauchwolken kein
Gefeierter mehr wahrnehmbar, gegen
fünf kam sie, benebelt, heim,
um sieben tritt, wie verabredet,
Rick Hardy auf. Hat im letzten
Jahr mehr als einmal den
Heiratsantrag angedeutet. Von ihr
heiter
abgewehrt. Von seiner Frau Elaine betrogen, dann verlassen.
Wer, bitte, will schon Ersatz
sein. Sie: Freundschaft, ja,
Weitergehendes, nein. Begründung (um
ihn nicht zu
verletzen): Sie könne ihre mühsam erkämpfte Position in der
Abteilung nicht durch eine solche
Beziehung gefährden. Schließlich ist
er für ihre finanzielle Unterstützung
mitver antwortlich. Er hat darauf
immer nobel reagiert. Sehr
südstaatlerisch. Sie machte also Drinks, es war noch zu früh
fürs Kino, für das sie
verabredet waren. Life goes to
the
movies. Plötzlich wurde sie geküßt. Sie wehrte ab, er drückte
sie auf den Boden und sagte, er sei much more powerful als
sie. Sie bat ihn, sie
loszulassen. Er ließ ihre Hände
los, sie
wollte sich aufrichten, da umfaßte er ihren Hals und drückte
zu, sie schrie auf. Diesen
Griff spürt sie noch immer.
Sein berühmter Händedruck. Den jetzt
am Hals. Auf jeden Versuch, von
ihm loszukommen, reagierte er mit
mehr
Druck. Sie redete und redete. Um nicht zu heulen. She could
talk him out of it. He
left. Sie hatte noch nie eine
solche Besessenheit erlebt. Er hatte
sie ja nicht vergewaltigt. Er
sprach, bevor er ging, von date rape. Das sei hier etwas ganz
Alltägliches. Und produzierte seine
Lachtöne durch die
Nase. Und: Er sollte sie eigentlich umbringen for being such
a bitch. Wieder seine Lachtöne.
Nichts Irritierenderes als
dieses tonlose Gelache. Erzählen konnte sie das niemandem.
In der Abteilung schon gar
nicht. Aussage gegen Aussage.
Kein Beweis. Sie würde sich selber unabsehbar schaden. Sie
hat Drinks gemacht. Sich verabredet,
mit ihm auszugehen.
Sie kannten sich seit drei Jahren. Sie hatte nicht geahnt, wie
er Frauen haßte, die ihm nicht zu Willen sind. Sollte sie jetzt
glücklich sein, daß sie so davongekommen ist? Der Griff um
den Hals. Die Ohnmacht. Die
Angst. Aber gesiegt. Was für
ein Sieg!
Selbst der kleinste Brief, den sie aus dem Postfach angelte,
cheered her up or on. Morgens,
wenn sie ihr Lehrerinnen gesicht
präparierte, legte sie Diana Ross
mit den Supremes
auf. Warum hatte sie beim letzten Telephonat dieses Gefühl,
in ein Vakuum hineinzusprechen? Sie ließ alles, was dort auf
der Terrasse abgelaufen war, noch
einmal ablaufen, durch suchte es nach
Beweisen und Gegenbeweisen. War über
haupt etwas? Oder war überhaupt alles nichts? Sein Türöff
nen, Tarte Tatm, sein Cordhemd,
hellblau, ihr allzu mäd chenhaft
geblümtes Kleid, die pünktlichen, nur
zu zweit möglichen Schwäne, die
souverän gütige Frau in dunkelst
blauer Bluse und ebenso dunklen
Hosen, die allerdings mit strichhaft
dünnen weißen Streifen auf den
Seiten, seine letzten Endes gekonnt
wirkende Verlegenheit, diese trick reiche
Verabschiedung am schrill kreischenden
Tor, sein an ihr Auf und
Abblicken, dieser sicher nicht zum
ersten Mal diensttuende Schmerz im
Gesicht, ihr seinem Blick Nicht
Standhalten ... Diana Ross war
inzwischen bei You
keep me
hanging on. Set me free, why don¹t you, babe.
Dann hatte sie endlich etwas zu
melden, das dem von
Routine bedrohten Hin und Her zu neuem Schein verhelfen
konnte. Der Professor beruft einen
La MettrieKongreß ein. Und weil
er so gute Beziehungen hat zu
Berkeley und weil die noch
etwas zu seinem Sechzigsten tun
wollen, soll der Kongreß dort
stattfinden. Themire Beate J. Gutbrod
wurde
sogar die Liste der Einzuladenden vorgelegt, daß sie sie mit
europäischen Namen füttere. Hat sie
getan. Für März nächsten Jahres
sollen sich bereithalten Timo
Kaitaro, Helsinki, Mariana Saad,
Paris, Eckhard Höfner, Frank furt/Oder,
Ursula Pia Jauch, Zürich, und
Wendelin Krall, falls er will.
Der Professor: Dann muß er aber
etwas Neues bringen, die zwei
Altessays tun¹s nicht. Die
Diensttuende,
unterwürfig: Klar. Und dazu dann hochstaplerisch: Das wird
er, er hat nicht aufgehört, La
Mettrie ist, wie sie bei ihrem
Kurzbesuch bemerkt hat, immer noch
ein Tag und Nacht
thema. Der Professor: Und Bernd A. Laska und Sandra Pott?
Der Professor mußte immer beweisen, daß er der Belesenste
war. Sie würde also weiterwühlen. Daß sie Bernd A. Laska,
falls er erreichbar war, nicht selber auf die Liste gesetzt hatte,
nahm sie sich übel. Und wenn
jetzt dieser Wendelin Krall auch
noch schnöde ablehnend reagierte,
dann stand sie da, vorlaut,
unsolide, uneffektiv, blamiert. Mr.
Rosenne konnte
auf vernichtende Art freundlich sein. Und
Patricia Best war im Abteilungsalltag
nur halb so präsent wie
Rosenne. Pa tricia Best fährt jeden
zweiten Tag nach York hinunter,
Leo versorgen, Gebrauchsgrafiker, dreimal
operiert, Grafik geht nicht mehr,
legt jetzt eine musikologische
Bibliothek an am
Computer und webt am Webstuhl Teppiche, alte indianische
Muster, die er vor dem
Verschwinden retten will; ein Lun
genemphysem hat er auch; bei ihm raucht sie nicht; wenn sie
melden kann, daß Leo die
Gehhilfe schrittweise entbehren
kann, umarmt sie Beate so heftig, wie es ihr Busen zuläßt.
Seit dieser Märztermin aufgetaucht
ist, fühlt sie, wie sie
zunimmt, überhaupt nicht an Gewicht,
sondern an Kraft, Bestimmtheit,
Zukunft, ja, sie spürt, wie sie
förmlich hin
einragt in die Zukunft. Noch nie hat sie so deutlich gespürt,
daß ihr doch etwas bevorsteht.
Bisher hat sie alle Zeitbe nennungen
zu vermeiden versucht. Ins Vage
hineingehofft
auf ein unfaßbares Irgendwann. Und jetzt, konkret: März. Sie
wird dem Kalender die Tage und
Wochen abluchsen. Gottlieb und sie
werden einen Brief und Telephonwinter
veranstalten, der durch seine genaue
Berichtetheit und Bemessenheit zum
spannendschönsten Vorspiel der Welt
werden wird.
Sie eilte den Möglichkeiten voraus. Sie konnte sich (wieder
einmal) nicht vernünftig fassen.
Jetzt schrieb sie¹s zuerst einmal
nach Germany. Deutete eine Art
Erwartungsvibrato
an. Schön wär¹s ja. Nicht wahr! Aber wenn¹s nicht geht, bitte.
Sie überlebt¹s. Wenn auch ungern.
Und täglich pfuschte ihr die
Angst vor der nächsten Be gegnung
mit Rick Hardy in ihre
Vormärzstimmung. Dabei
spürte sie, daß der Mensch in Deutschland ihr jetzt als Stärke
diente. So oft sie sich gegen Hardyerscheinungen behaupten
mußte, spürte sie, daß sie in
jeder Sekunde hinüberdenken konnte,
auf die Terrasse, zum hellsten
Blau der Welt. Sie konnte sich
sogar hinsetzen, den RickVorfall
aufschreiben, das Aufgeschriebene Glen
O. Rosenne überreichen, ihn
bitten zu entscheiden, wie zu verfahren sei. Für sie sei durch
das Aufschreiben und Überreichen des
Aufgeschriebenen das getan, was sie
habe tun müssen. Von ihr aus
müsse weiter nichts geschehen. Aber
das zu entscheiden, sei sie
nicht fähig. Deshalb komme sie zu ihm. Dr. Douglas hatte sie
noch nicht sagen können, was passiert war. Sie würde es ihm
sagen, klar. Aber wie? Sie
wollte die Bewertbarkeit des
Gesagten bestimmen, vorherbestimmen.
Der neueste Traum: Unterwegs zu
Wendelin Krall. Zuerst
auf einem Boot, dann über eine Brücke, mit ihr Magda und
Julia, sie gehen zu einer, auf
(?) eine (verflucht seien die
deutschen Präpositionen) Party. Auf
der Brücke blieb sie
stehen. Sie wollte hinunterschauen ins Wasser. War froh, daß
Magda und Julia ohne sie weitergingen. Sie hatte beide, von
denen sie nicht viel mehr als
die Vornamen wußte, von
Anfang an als Konkurrentinnen, ja, als Gegnerinnen empfun
den. Natürlich die artemishafte Julia
mehr als die sophro
synische Magda. Julia wollte von ihr (im Traum) bewundert
werden, sie aber weigerte sich. Im Wasser schwammen viele
gewaltige Holzstämme. Ein mächtiger Stamm stieß so gegen
ein Boot, daß es kenterte. Das
Ufer war ein einziges Bauge
lände. Dann Wald. Sie mußte weiter. Sie wußte nicht
mehr, wo Wendelin Krall war.
Die Douglasgeschulte Deuterin
wurde von Deutungen heimgesucht: Angst, auch im Traum,
nicht kreativ genug zu sein.
Die Holzstämme erinnern an
Bleistifte/ pen(cils). Wissend, daß die Kreativität männlicher
Autoren, ihr Griff zum pen als
phallische Geste gilt ... Ach
nein. Sie ist es müde,
Bedeutungen zu träumen. Wehe ihr,
wenn Dr. Douglas das entdeckte. Is she weird?
Glen O. Rosenne, im Büro der
Abteilung, also in Janes Gegenwart,
daß er den Bericht über Rick
Hardy noch nicht
an den Sexual Harassment Officer weitergeleitet habe. Mehr
sagte er nicht. Würde sie ihn
um das Weiterleiten bitten, würde
er weiterleiten. Also hing es
doch von ihr ab. Und Jane
wußte offenbar Bescheid. Sie nickte
nicht, schüttelte auch nicht den
Kopf. Sie hob ein wenig die
Schultern und tippte weiter.
Tatsächlich konnte Beate an nichts
anderes mehr denken als an die
ausbleibende Antwort aus Deutschland.
Weder
Brief noch Telephon. Das konnte nur heißen, daß Herr Zürn
Krall durch die Aussicht, in
sechs Monaten das hochlie
gende Hin und Her einer Wirklichkeit aussetzen zu müssen,
verstört worden war. Er hatte
wahrscheinlich mit nichts
gerechnet beziehungsweise mit nichts als Wolken und Kulis
senschieberei. Briefe zur
Gründung von Unwirklichkeit. Und
das in alle Ewigkeit! Sie hatte
ja auch nicht anders gedacht
oder empfunden, auch wenn sie die Ziellosigkeit, die sie sich
verordnete, nicht so gewählt
ausdrückte wie ihr Briefstilist
jenseits des Wassers. Und jetzt
dieser Knaller! März.
Entweder oder! Oh boy, c¹mon.
Die Angst, ihn zum Nochwenigersagen
zu treiben, war federführend gewesen.
Der Vortrag natürlich auf Englisch.
Da dürfte sie sich endlich für unentbehrlich halten. Und
Mitte März, kalifornischer Frühling! Was that not tempting?
Und 500 Dollar, Sir.
Dann machte er es ihr so schwer wie möglich. Er stellte ihr
eine Aufgabe, eine richtige Hausaufgabe, eine Gleichung mit
zwei Unbekannten: Er und Sie. Und sie sollte sie lösen. Nur
wenn sie die Gleichung lösen
könne, könne er kommen. Also,
führte er wahrhaft aus, nehmen
wir einmal an,
zwischen ihnen sei etwas entstanden, wofür es ehrwürdige,
aber auch weniger ehrwürdige Namen
gibt. Ihm ist, gibt er
zu, egal, welche Bezeichnung er einheimst. Jeder Zeuge − bis
jetzt haben sie noch keine − (von Madelon hatte sie ihm noch
nichts geschrieben), jeder Zeuge
würde Themire und Sylvandre (wenn
er sich auch mal kostümiere)
beurteilen, wie es ihm beliebt,
wie er es (für sich) braucht.
Was er,
Sylvandre − er gibt zu, daß ihm dieser Rollenname jetzt sehr
gelegen kommt −, was er aber
selber wissen muß, ist: Egal,
wie man, was zwischen ihnen ist, nennen muß, warum ist es
entstanden! Noch genauer − er kann das ihr und sich selber
nicht ersparen −: Er weiß nicht, warum sie ihn mag. Sie hat
zwar Sympathie, Zugetansein, ja
Verliebtsein, vielleicht
sogar gelegentlich heftiges, sie hat es gestanden, hat es durch
Verbergen gesteigert, hat es durch sommernachtstraumhafte
Regieeinfälle immer reizender werden lassen, aber nicht ein
einziges Mal hat sie sich
gefragt, WARUM. Nun
kann man natürlich auch antworten,
ohne daß gefragt worden sein
muß. Er aber muß fragen: Warum. Er begreift nämlich nicht,
warum. Er ist nicht gewinnend, nicht gut aussehend, nicht reich, nicht einmal geistreich. Er ist furchtbar normal. Erschütternd
durchschnittlich. Dank der Plastizität, also Anpassungs, also
Entwicklungsfähigkeit seiner Frau hat
er es sich leisten
können beziehungsweise einfach geleistet, seine Mitwirkung
im Immobiliengeschäft aufs Schriftliche
einzuschränken. Er ist ein Lyriker,
der schweigt. Als Denker Amateur.
Selbst
unter hiesigen Immobilienhändlern gibt es zwei (Schatz und
Kaltammer heißen sie), die sie,
das Mädchen aus North Carolina,
viel anziehender finden müßte als
ihn. Gut, die kennt sie nicht.
Er nennt seine beiden ihm in
jeder gesell schaftlichen, überhaupt in
jeder irdischen Schätzbarkeit überlegenen
Konkurrenten, um sich selber für
sie, das Mädchen aus dem
Westen, richtig einzustufen. Er ist
der lehrbuchreife Mittelstand in
Gewicht, Geld, Ansichten, Aussichten.
In ihm, an ihm ist nichts
Mitreißendes, und
Spektakuläres schon gar nicht. Und er klassifiziert sich so im
Vergleich zu seinen beiden Konkurrenten − wohlgemerkt, er
hat, Anna sei Dank, aus dieser ihn andauernd verstörenden
Konkurrenz aussteigen können − nicht
etwa, um von ihr
oder von irgend jemandem sonst das Gegenteil zu hören. Er
− das immerhin hat seine auf sich selbst, also auf wenig bis
nichts gestellte Existenz erbracht − er ist versöhnt, überhaupt
versöhnt, aber auch versöhnt mit sich selbst. Er gibt zu, das
ist die erste Aussage in dieser Selbstpreisgabe, die nicht ganz
und gar wahr ist. Und alles, was nicht ganz und gar wahr ist,
ist komplett erlogen. Es gibt
keine Halbwahrheit. Aber erlogen, das
heißt nicht, daß etwas vorwerfbar
sei. Erlogen, das heißt nur,
daß es sich um
Nochnichtverwirklichtes handelt. Man muß,
was man noch nicht schafft und
ist, zu erlügen versuchen (im
Sinn von erreichen, erfühlen usw.)
Also, was er alles nicht ist!
Nicht einmal ein Blender ist
er. Ihm fehlt die überall
verlangte, erwartete und akzeptierte
Hochstaplerbegabung fast ganz. Soll
sie doch, bitte, einmal, flüchtigst,
von seinen beiden Konkurrenten,
ehemaligen Konkurrenten Kenntnis nehmen.
Da ist zuallererst
Jarl
F. Kaltammer, der, ganz früh,
seinen Namen dressiert hat zur
Produktion von KennedyInitialen. Dann
radikal links,
Anführer bei Häuserbesetzungen, Verfasser des Aufrufs, den
Immobilienhandel als obsolet und politisch unsittlich abzu
haffen, inzwischen läßt er sich in Privatflugzeugen zu seinen
Objekten fliegen, ist ausschließlich
Schlössermakler, er scheint vor dem
Notar entweder in flaschengrünen oder
in bordeauxroten Seidenanzügen, seine
Firma residiert auf
Little Cayman, zahlt also dem deutschen Staat keine Steuern,
aber nicht aus Geiz, sondern
aus Verachtung, er ist Anar chist,
und als Staatsverächter gilt er
als Intellektueller. Auf
dem Kopf hat dieser Kaltammer eine platinhelle Haartracht,
die man, solange man nicht
versucht hat, sie herun terzureißen,
für naturwüchsig halten muß.
Zweitens, das prachtvoll
heimischdemokratische Gegenstück und Su
permannsbild Paul Schatz, die
Beliebtheit schlechthin. Also, jetzt
das Geständnis aller Geständnisse,
dessen außer ihr noch kein
Mensch teilhaftig werden durfte:
Gottlieb mußte den Handel quittieren,
weil es diesen Paul Schatz
gibt.
Irgendwann einmal, es war an einem Abend im Juni, das ist
hier der eigentliche Lebensmonat, da
mußte er sich Paul
Schatz mit stehendem Geschlechtsteil vorstellen. Von diesem
Abend an konnte er sich gegen diese Vorstellung nicht mehr
wehren. Wenn er auch nur an Paul Schatz dachte oder wenn
dessen Namen erwähnt wurde, und
das war sozusagen
andauernd der Fall, sah er den verhältnismäßig kleinen Paul
Schatz hinter seinem hochstehenden
Geschlechtsteil stehen. Er fing an,
sich zu wehren, stellte sich
Paul Schatz als
Bankbeamten hinter dem Schalter vor, auf dem Tennisplatz,
im Konzert, in Situationen, die ein stehendes Geschlechtsteil
einfach unwahrscheinlich machten, es
nützte nichts. Also
gut, wenn er sich Paul Schatz nur noch so denken konnte, so
würde er sich eben daran gewöhnen, sich Paul Schatz so zu
denken. Was soll¹s. Soll der
eben mit ewig stehendem
Geschlechtsteil herumlaufen. Das mußte
Paul Schatz mehr stören als
ihn. Aber zu einer wirklichen
Entspannung führten solche Übungen
nicht. Es blieb quälend, sich
Paul
Schatz so vorstellen zu müssen.
Brennen sich ihm nur Vorstellungen
ein, die ihn quälen? Neigt er
zu ihn Quälendem? Auf jeden
Fall konnte er froh
sein, daß Anna den Handel übernahm. Bei Rousseau und La
Mettrie fühlte er sich fast
geschützt vor Schatz und
KaltammerHeimsuchungen. Ihr, dem Mädchen
aus North
Carolina, gestehe er, was er sonst in sich hineinschließe: den
Nachhall des Lärms verlorener
Schlachten. Er ist geflohen. Nicht
weit genug. Er würde jetzt gern
weiterfliehen. Aus allen diesen
Gefangenschaften. Er hat sich ihr
gegenüber
sofort zu wenig beherrschen können. So wenig, daß er selber
erschrak. Das ist ihm keine dreimal passiert in seinem Leben.
Zweimal vielleicht. Aber dreimal nicht. Jetzt fragt er aber sie.
Jetzt wendet er sich an sie.
In was ist er (bei ihr)
hineingeraten? War sie in einer
Lage, daß er auf sie anders
wirkte, als er war. Einem
Ertrinkenden − um es krass zu
illustrieren − kommt ein mittelmäßiger Schwimmer, der ihn
zu retten versucht, stärker vor,
als er ist. Er, Sylvandre
GottliebWendelin, muß ihr vor ihre
begabten Augen
gekommen sein in einem Augenblick, in dem sie gerade von
einer übermäßigen Verklärungskraft
durchströmt war. Wie im Märchen.
Den Nächsten, dem du begegnest,
wirst du vergolden! Und das ist
nun zufällig er gewesen. Zufälliger
kann nichts sein. Andererseits gehört
es zu seinen Unver
brüchlichkeiten: Zufälle gibt es nicht. Also muß weiter nach
geforscht werden: WARUM. Deshalb muß er
im März nach
Amerika reisen. Bis dahin aber Tag und Nacht forschen, um
seine Themire und sich zu
durchschauen. Das tut er um so
lieber, als seine Themireforschung bis jetzt nur Schönes und
Schönstes zutage gefördert hat. Und daß sie den Namen der
Frau aus La Mettries LustBuch mit sich besetzt hat, hat ihn
vorwärts, also mitgerissen. Sylvandre!
Er, Sylvandre! Nur
um ihr zu entsprechen. Er hat keine andere Wahl. Er muß ihr
entsprechen. Oder sterben. Das aber
gern. So ganz und gar schlicht
ist ihm zumute. Daß er sich
im Augenblick, in diesem Augenblick,
fühlt wie der ausgestattetste
Liebhaber aller Zeiten, erwähnt er
nur nebenbei. Sie hat ihm mehr
als
den Kopf verdreht. Sie hat ihn um seinen Verstand gebracht.
Also wird er abstürzen. Ikarushaft.
Er hat die Jahrgänge vergessen.
Ihren und seinen. Verdrängt? Ach
nein, nicht Freud! Die fürchterliche
Bedingung bleibt allgegenwärtig. Sylvandre!
Es ist schlicht lächerlich. Aber
was spricht da gegen, lächerlich zu
sein? Liebe Themire! Sie soll
ihn, bitte, lächerlich sein lassen.
Erst wenn sie ihn als ganz
und gar Lächerlichen erträgt, haben
sie und er (vielleicht) eine
Chance. Vielleicht nicht. Aber er kann seinen Empfindungen
nicht beibringen, sich nach Chancen
oder Nichtchancen zu
richten. Wie schreibt doch der Patron im LustBuch: Welch ein
bezaubernder Kampf tobte da zwischen
den Kräften der Tugend, der
Schicklichkeit und der Liebe.
Dem März entgegenlebend,
grüßt seine Themire deren Sylvandre. PS 1: Aber es bleibt ihr
aufgebürdet: Warum glaubt sie, ihn
brauchen zu
können.
PS 2: Es ist dieses ganz und gar konkrete Datum, das ihn so
geschmissen hat. Aber er bleibt nicht liegen. Er fliegt. Hoch.
Und zu ihr.
Jetzt erlebte sie, daß es nicht darauf ankommt, mit welchem
Innen oder Außenmaterial jemand seine
Liebe erklärt; es
kommt nur auf den erlebbaren Heftigkeitsgrad an. Und den
erlebte sie jetzt. Die
Verklausuliertheit, in der er sich
verstrickte, war doch eine einzige Kapitulation: Er ergab sich
ihr. Diese Fragerei nach dem
WARUM war nichts
als ein
Wortkostüm, mit dem er auftrat, um sie herauszufordern. Sie
sollte ihn übertreffen. Sie sollte noch lauter als er sagen, daß
sie hin sei und wie hin sie sei. Das einzig Lernbare in diesem
Verklausulierungsdickicht: Er war bedürftig. Er war unterer
nährt. Was ihm fehlte, war
weniger wichtig, als daß ihm
etwas fehlte. Aber er hielt es für möglich, daß sie ihm fehle.
Und das war¹s dann doch. Sie fehlte ihm genau so wie er ihr.
Und die Gründe in ihren beiden Lebensläufen lassen wir erst
mal außen vor. Sie wollte jetzt
zuerst einmal schwelgen. Gebraucht zu
werden ist doch das
Höchsteliebstebeste. Lieber
GottliebWendelinSylvandre! Und zur neuen
Dring
lichkeit paßte sein nächster Vorschlag, der eintraf, bevor sie
auf seine WARUM Epistel reagieren konnte. Sein Vorschlag,
daß sie, statt einander Briefe zu schreiben, einander nur noch
ihre Träume mitteilen sollten. Das
klang zuerst einmal ein
ladend, befreiend, anheimelnd, verführerisch. Vor allem die
Begründung: Um unsere Träume zu
retten! Dann aber der
Hammer: Die Träume − und damit waren natürlich nur ihre
gemeint − nicht übersetzen. Übersetzen nannte der
deutsche
Keuschkopf und Geheimrat die vorsichtige Herüberführung
eines hochverletzlichen Trauminhalts ins
mildeste biogra phische Tageslicht. Das
kam ihr gerade recht. Sie
servierte ihm sofort den Traum
der letzten Nacht. Die Douglas
mäßigen free associations konnte sie
sich diesmal (oder für immer)
ersparen. Also: Sie war auf
einem Bahnhof, Typ Central Station
N.Y., sie verabschiedete sich
zärtlich von
einem Mann, stieg ein, ihr folgte ein anderer Mann, der die
Verabschiedung beobachtet hatte, er
trug ihre zwei grell
roten Taschen hinter ihr in den Zug, er war der Typ Priester,
er sei, sagt er, nur für
das Gepäck in den Zug
gestiegen, er muß den Zug
wieder verlassen, aber dann küßt
er sie, sie küßt ihn, er
sagt, er werde mitfahren, sie
erschrickt, darauf er: Wenigstens ein
paar Stationen. Dazu teilt die Traum
lieferantin mit: Die Abwehr einer
an Freud geschulten Traumauslegung
empfinde sie als eine Ablehnung
ihrer wissenschaftlichen Arbeit überhaupt.
Sie soll pur daher kommen, ja!
In ihr rege sich eine
ursprüngliche Wut. Auf den Priester.
Aus Deutschland. Sie hatte nämlich
gedacht, sie, sie beide, könnten
das Persönliche und das Berufliche
auseinanderhalten. Andererseits würde sie gern, gesteht sie,
für ihr Berufliches (La Mettrie
in Deutschland) von ihm persönlich
Energien empfangen. Schon wieder
empfangen.
Demnächst wird sie, um sich La Mettrie unverstellt widmen
(hingeben!) zu können, ihren Eisprungtag mitteilen. Und: ob
diesmal links oder rechts. Aber
daß sie (er und sie) ihr
Laienspiel auch als Traumspiel
betreiben können (eine Zeit
lang!), glaubt sie schon. Hat doch der Körperpatron Julien sie
wissen lassen, daß die Träume die treuen Überbringer der Ideen
vom Tage seien. Nun kauen Sie mal! Ohne FreudZähne!
Bei der GraduateParty kamen auch
die Telephonkosten dran. Die Neulinge
wollten die hiesigen Billigtarife
wissen. Von Deutschland aus 10
Minuten 30 Euro. Sie erschrak.
Soviel Geld für eine Frau, die
er noch gar nicht kennt. Sie
wird, sollte er je neben ihr
liegen, nie einschlafen. Sie muß
Augenblicke sammeln. Für immer. Sie hat gestern Alles Eins
wieder gelesen. Das hat keiner so ansprechend, einnehmend
gesagt wie er: Worin La Mettrie
nicht übertroffen werden
kann. In der Instinktsicherheit. Nicht mehr zu sagen, als man
erfahren kann. Etwas, was man
nicht, noch nicht wissen kann,
nicht mit Wörtern zuschmieren, die
so tun, als wisse
man das, was man nicht, noch nicht wissen kann. Beleg und
Beweis: Leibniz. Über den sagt der Patron: Er hat die Materie
spiritualisiert, statt die Seele zu materialisieren. Aber Gottlieb W.
hat es erlebt und berichtet, wie Bewegung und Empfindung
einander hervorbringen. Sie liest und
liest. Ist hochbewegt.
Also empfindlich. Sie hört die Grillen und macht eine Erfah
rung und weiß, daß diese Erfahrung niemanden interessiert.
Zur Zikadenmusik möchte sie jetzt ihn anrufen, nur um auch
noch das Überseerauschen zu hören,
zum Zikadenschwall.
Sie weiß, daß alles, was sie jetzt denkt und tut, nichts ist als
die Feier seiner Nichtanwesenheit.
Der Sexual Harassment Officer rief an. Rick Hardy hat alles
als joke erklärt. Sollte, was
er als Witz und Parodie und
Unterhaltungsbeitrag gedacht hat, falsch verstanden, also für
ernst gemeint gehalten worden sein,
tut ihm das awfully
leid. Er ist bereit, für die Stiftung eines solchen Mißverständ
nisses jede Buße zu tun, die die Mißverstehende billigerweise
von ihm fordern könne. Sie rief den Officer an und sagte, sie
ziehe ihr Schreiben zurück, da
sie sich für eine Auseinan dersetzung
nicht stark genug fühle. Das
kam ihr diplo matisch vor.
Von Dr. Douglas geträumt. Sie
fühlte seinen muskulösen
Nacken. Seine Wohnung, ein Antiquitätengeschäft. Die Um
armung, leidenschaftlich. Er führte sie zur Couch. Weiterhin
leidenschaftlicher Verlauf. Er, tätowiert,
amputiert, Stumpf hier, Stumpf da,
VietnamVeteran. Sie hat einfach
keinen Bock, die counter
transferenceBildchen in Deutschlands Süden
zu mailen. Aber daß sie sich
im Traum bewies, sie könne
Ekelerregendes deftig lieben − was
beweist das dem German Other?
Viel! Alles nur Kastrationskomplex,
wa! Nicht: Penis weg! Sondern:
Phallus runter! Welch eine Sklaverei.
Unter Wörtern gehen wie unterm
Joch. Jede
Bewegung schmerzt, weil die Vokabularketten scheuern. Da
soll jemand zu sich kommen! Und
wo kommt er hm? Zu Vokabeln!
Das, was man außen trägt, kann
dadurch, daß man¹s wählt,
zusammenstellt und dann trägt, zu
etwas
erträglich Eigenem werden. Aber wieviel Fremdwörter kann
man sich einverleiben (!), ohne sich innen fremd zu werden?
Sie will undankbar sein. Das
importierte InnenDress
verbindet sich nicht mit ihr selbst. Seelische Immunreaktion.
Es wird ihr abverlangt, sich zu unterwerfen, das ist der Preis
für Schutz und Halt, nur um diesen Preis können die Herren
väterlich werden und wirken. Seit die von Glen O. angeregte
Panik in ihr so grassiert, daß
sie jede Nacht auflodern und
schlafvernichtend weiterlodern kann bis
in den Morgen, sucht sie im
Gedankengespräch mit ihrem German
Other
Schutz, Zuflucht, Bleibe. Das sollte sie nicht. Und wenn sie¹s
tut, sollte sie¹s ihm nicht
auch noch hinreiben. Ihm zu
gestehen, wie schwer es ihr
fällt, ihm etwas nicht zu
gestehen! Neben ihrem Bett steht,
gerahmt hinter Glas, das
Photo von
ihrer Graduation. Vassar College. Siebzig Meilen
nördlich von N.Y. Sie zwischen den Fakultätsroben und den
B.A.¹s. Sie direkt neben der
Vassarpräsidentin Virginia B. Smith.
Tröstlich dick. Der Zigarettenreklamespruch
Virginia slims war
immer präsent. 650 B.A.¹s. Sie,
die einzige Magis
terin. In schwarzer Robe. Unterm Magisterhut mit schwarzer
Quaste. Nach der Zeremonie bemerkte sie, an sich hinunter
schauend, daß sie links einen
dunkelblauen Schuh anhatte
und rechts einen schwarzen. Eigentlich ist das so geblieben.
Panik vor der nächsten Hürde. Springreiterei forever. Dieses
Murksen und Placken in der
ersehnten sommerlichen Einsamkeit. Neid
auf die Verreisten. Auf dem
Balkon, das Blumenmeer als Ersatz.
Madelon redet (beim Essen, im
Restaurant) ununterbrochen und laut.
Der totale southern drawl, alle
schauen her, ihr egal. Sushi
samplers und California rolls nimmt
sie nicht wahr. Zuletzt ging¹s
gegen Freud, weil er den Frauen
weniger ÜberIch zugesteht als
den Männern. Themire dachte natürlich sofort daran, daß ihr
German Other sie des öfteren gern älter hätte. Warum, fragt
sich Themire. Schreibt sie ihm
zu unreifgirliehaft und unintellektuell,
oder was?! Warum soll sie älter
sein? Nur
daß sie älter wäre? Ja?! Näher dran an ihm? Oder geht¹s doch
um ihre Unentwickeltheit überhaupt?
Oder Freudisch: Ihre Unentwickelbarkeit
überhaupt. Denn: Wieso soll sich
eine überhaupt entwickeln ohne ein
sie andauernd hochpeit
schendes ÜberIch?! Nicht wahr!
980 F. 70%
Feuchtigkeit. Der Ventilator rauscht.
Sie wird
sich jetzt doch noch in die Sonne legen. Gestern auch schon.
Jaaa! Die allzu bleiche Haut
ist getönt. Bronze. Die Haare
heller. Honigblond, sagte einmal Glen O., aber er ist, wie alle
wissen, farbenblind. Allwissend, aber
farbenblind. Und vernichtend freundlich.
Dabei bleibt sie. Panicstricken. Sie
nennt ihre Haarfarbe puddle blond.
So sind hier Pfützen
nach jähem Regen, alles, was zwischen braun und beigegrün
möglich ist. Morgen, Termin bei
Dr. Douglas. Morgen ist inzwischen
heute. Um 8 Uhr 30 auf
die Couch. Nicht ein
schlafen. Der Kopf nie so leer wie dienstags 8 Uhr 30. Nichts
sagenkönnen ist gleich Schweigen ist
gleich Widerstand.
Und abends ins Bistro mit Jeffrey. Ach, er kennt Jeffrey noch
nicht. Der hat gelegentlich keuschen
Unterschlupf gesucht
bei ihr, obwohl er, verglichen mit ihr, feudal wohnt. Er hatte
monatelang die Asche seines Vaters
bei sich im Apartment, er
sollte sie, im Auftrag der
Familie, nachts auf dem Green
ausstreuen; der Vater hat hier
studiert und lebenslang vom Campus
geschwärmt; sie hat Jeffrey, der
ängstlich ist,
geholfen, praktisch hat sie in mondloser Nacht die Alumnus
Asche gestreut; daß ihr German
Other weiß, was ein Alumnus
ist, unterstellt sie, und mit
Jeffrey, dem Ängst
lichen, ißt sie heute.
Musik und Mordgedanken. Die Musik
(Supremes) extra
laut, daß die Sittiche, die sie
gerade wieder in Vollpension
hat, nicht zu hören sind. Geträumt: Sie beide in einem großen
Raum, übervoll von Menschen. Sie
entfernen sich immer mehr von
einander, aber sie verständigen sich
wortlos, mit den Augen. Jeder
weiß genau, was der andere
denkt. Kann
etwas schöner sein. Jeder denkt das Wort: liebestoll. Geweckt
von den lärmenden Sittichen.
Vergessen gehabt, die Decke
über den Käfig zu legen, daß das Dunkel die noch eine Zeit
lang getäuscht hätte. Das hat ihr natürlich, als sie bei ihm im
Gang über den Morgenlärm der Sittiche gejammert hat, Rick
Hardy geraten. Er ist nicht wie
Glen O. ein Allwissender, sondern
ein Alleswisser. Gottliebs Hände!
Nicht ums Verrecken liefert
l¹imagination seine Hände. Sein
Mund wird ... ihre Haut
wird ... sie will ihn so
... Vorsicht. Die Vorfreude ist
die Falle. Fast 100° F. 80
% Luftfeuchtigkeit.
Keine Lust, das Schwarzseidene anzuziehen. Daß er so kurz
hinter einander dreimal angerufen
hat. Paß doch auf,
Mensch. Bitte, paß ja nicht auf.
Wer sollte ihr helfen. Sie durfte, konnte nicht mehr schrei
ben. Sobald sie sich hinsetzte und schrieb, stand nachher auf
dem Papier: Kommmm. Gerade blitzte es. Lautlos. Ach nein,
der Donner kam zögerlich hinterher. Kein Regen, aber doch
Entladung. Immerhin.
Von Wut übermannt (!). Gestern.
Sie, im Abteilungsbüro, schnell mal
am Schreibtisch der Sekretärin, was
tippen, da kam ihr leibhaftiges
ÜberIch namens Glen O. Rosenne he
rein, sah sie und sagte: Oh, do we have a new ... Sie fuhr auf
und ihm dazwischen: Don¹t even
think of it. Und er: If
you
don¹t want to be the new secretary, I take lt you¹re there for
purely decorative purposes. Und sie,
tollkühn: Boy, that¹s a sexist
remark. Und er: Some women
would take it as a compliment.
Und ließ sein lippenloses Lächeln
lieblich ge
frieren. Die Wut: Säße Steve oder Tom oder Rick auf diesem
Stuhl, würde er sie fragen,
woran sie gerade so eifrig ar
beiteten!
Sie vermißt Gottlieb. Jemanden vermissen, der noch nie da
war. Geht das?
Sich der NichtZensur hingeben. She
indulges herself in
that feeling. Aber sobald sie dort anrief, tat die Distanz mehr
weh, als wenn sie nicht anrief. Nach jedem Gespräch erwies
sich, was sie gesagt hat, als
das Falscheste, Schlimmste,
Lächerlichste. Nie war es das, was sie hatte sagen wollen. Ihr
fehlte ein innerer Air Conditioner, den sie auf high und low
stellen könnte. Dr. Douglas über
ihre Angst vor dem Schreiben:
Ob sie insgeheim befürchte, dafür
nicht richtig
ausgestattet zu sein! Sie widerspricht, aber
so schwach, daß der Widerspruch
nichts heißt. Pen as a
metaphorical penis.
Jahrelang hat sie sich vor der Vaterfigur Rosenne vor Bewun
derung gekrümmt, jetzt, da sie
selber ein bißchen Bewun
derung brauchte, tut er so eisig wie freundlich wie bösartig:
You don¹t have to worry about
not getting a job. You¹re
attractive and will probably get married in no time. Hat das
jemand je zu einem männlichen Doktoranden gesagt? Diese
zu nichts führende Wut ist alles, was ihr bleibt.
Geträumt: In einem gewaltigen
Gebäude, Kirche plus
Turnhalle, Rick und sie beobachteten seinen Sohn beim Ker
zenanzünden. Sie fühlte sich bedroht.
Beider Kleider waren
auf der Empore. Dort sollten sie die Nacht verbringen. Sie zu
Rick: Er solle die Sachen herunterholen, dort oben wären sie
ja gefangen. Rick ging hinauf,
ging ihr zu langsam hinauf. Und
wie er die Sachen zusammensammelte,
gefiel ihr auch nicht. Vergiß
meine Jeans nicht, rief sie. Er
warf sie ihr von oben zu.
Dr. Douglas fand das Wort Jeans
interessant. Er
hörte darin genes. Und to drop one¹s pants ... Oh je.
Wünschen muß nicht entsprochen werden. Das wollen wir
doch mal klar sagen. Sonst
würde man sich ja nicht trauen,
überhaupt noch etwas zu wünschen.
Seine Stimme ist
zärtlich, egal was er sagt. Daß
Wörter so streicheln können. Das
kommt von der Stimme. Eine
solche Nähe, bei soviel Distanz.
Sie wünschte sich, daß er das
auch empfände.
Zugeben müßte er das nicht. Vor allem wünschte sie sich ein
langes Gespräch, direkt, ohne die Einheiten klicken zu hören;
ein Gespräch, das so lang wäre, daß es nicht auf das ankäme,
was da gesagt wurde. Ihr neues Buntgeblümtes, das sie ihm
per Photo vorgestellt hat, sollte
endlos besprochen werden. Without any
thought about the other¹s telephone
bill.
Trotzdem: Nichts gegen das Telephon. Wenn zwischen ihm
und ihr etwas entstanden ist,
dann fernmündlich. Fernmündlich. Falls
dieses Wort für das Telephonische
je aussterben sollte, muß man
ihm ein Denkmal setzen, auf
dem steht:
FERNMÜNDLICH
Von allen behördlich gezeugten Wörtern das schönste.
Solang sie keinen Brief von ihm
bekam, konnte sie ihm nur ihre
Träume schicken. Aber das will
er ja. Sein Wille ge schehe.
Wie im Traum, so am Tage.
Und so ging¹s letzte
Nacht zu: Man stülpt ihr Plastik, eine Tüte, einen Ballon, ein
Kondom über den Kopf. Sie
wußte, sie würde ersticken. Beiße
ein Loch in die Hülle! Dann
schuldbewußt. Sie hat
etwas zerstört. Dr. Douglas: If you are in a condom, what are
you then? Sie: A writer, a penis. Oh je.
Daß er doch wieder angerufen hat. Against all odds! Dem
schrillen Wecker zuvorkommend. So aufzuwachen! Sie sollte
seinen Gefühlen vertrauen. Seine letzten Briefe waren doch,
trotz des alles beherrschenden
Konjunktivs, Liebesbriefe. Und gerade
das bezweifelte sie. Die ganze
Briefschreiberei nur ein Spiel. Wenn
nicht, dann wäre doch dieses
Hin und
Her längst hinaus über einfaches Verliebtsein. Der Ventilator
summte. Die Nächte kühlten nicht
mehr ab. Er hat ihre
Selbstzensur zersetzt. Thanks for
lending yourself to my
fiction. In zehn Tagen begann der normale Unterricht. Jeden
Morgen von 8 bis 10 Uhr
30. Nur noch leise Wut auf
sich selbst. Weil sie sich
nicht rechtzeitig abgefangen hat.
Wann wäre das gewesen, rechtzeitig?
Und schon vermißte sie morgens
sein Wecken. So schnell entsteht
eine Erwartung.
Alberta Hunter. Ihre Trösterin.
Und bügeln. Drei Ladungen
Wäsche. Und Haare waschen. In der Hitze jetzt: abschneiden
lassen. Nein. Durchhalten. Seinetwegen. Bis März. Bis ...
Immer noch fehlten ihr seine Hände. Auf der Terrasse hatte
sie − es dauerte ja, alles in allem, nur zweieinhalb Stunden −
nichts als sein Gesicht mitgekriegt. Mund und Augen, sonst
nichts. Wahrscheinlich hat das
Cordhemd mit seinem verzehrenden
Lichtblau die Hände praktisch
verschwinden lassen. Vielleicht hat
sie deswegen von einem Dr.
Douglas mit amputierten Händen
geträumt. Schlicht beängstigend:
daß sie sich nicht mehr am Ausmalen seiner Anwesenheit zu
hindern vermag. Und jedesmal läuft
der selbe Film ab. Sie
wird auf ihn warten, er kommt auf sie zu, und blitzartig wird
klar sein: was sie einen Sommer
lang gesponnen, geredet, geschrieben
haben, hat mit dem jetzt
Wirklichen nichts
gemein. Irgendwann wird dann doch einer von beiden etwas
sagen. Sie weiß: nur jetzt kein falsches Wort. Vor allem: kein
Wort zuviel. Und hört sich
reden wie einen Sturzbach. Sie
war doch dort auf der Terrasse
mit Tarte Tatin, Frau Anna,
dunkelstblau gewandet, und mit einer
dicken glatten rein runden Goldkette
bewehrt, mit Calvados und den pünkt
lichen Schwänen und der Orgel La Mettrie, da war sie doch
zu selfconscious − deutsch sagt
man wohl, eher rätselhaft, befangen dazu −, um
von ihm mehr als die Augen
und den
Mund für spätere Abrufbarkeit zu speichern. Der Mund, der
sich selber andauernd zurücknehmende
und eben dadurch auf sich
aufmerksam machende. Die meisten
Männer hier sind, darf man
sagen, dünnlippig. Oberlizard: Glen
O. Rosenne. Zuzugeben ist, daß
sie, bevor er wirklich hier
eintreffen wird, gern ein Photo
hätte, eins ganz von vorn,
vielleicht MIT
Händen, einfach daß sie, was
sich in ihr zusammengebraut hat,
ein bißchen der Wirklichkeit anglei
chen kann. Diese Angleichung etwa
zu verschieben, bis er auf
ihrem Sofa sitzt, hält sie für
riskant. Ihr Sofa, das sie
übrigens aus dem Hinterlaß einer
Mörderin gekauft hat −
MörderinnenHausrat ist der
billigste −, ihr hellbeiges und
trotzdem fleckenloses Sofa eignet
sich nicht zu solchen
Maßnahmen. Sobald er und sie bei ihr sind, verliert sie den
Verstand. Sie hält es für fair,
ihm das schon vorher mitzuteilen.
Heiliger Julien Offray, steh uns
bei. Sie können
sich doch, wenn er da ist, kalifornischen Rotwein einflößen,
vorsätzlich, mildernder Umstände wegen.
Und wie kommt
sie überhaupt dazu, sich ihn hier vorzustellen! Hierher wird
er nie kommen. Vier Tage
Kalifornien. Oder fliegt er dann
noch mit nach NC? Schlüpft hier herein
und unter.
Schlüpfen! Deutsch ist toll!
In genau 6 ½ Stunden ist es eine Woche her, daß er sie ge
weckt hat. Sie wünscht sich,
die Zeit zurückdrehen zu können,
daß sie die letzten drei
Telephonate noch vor sich hätte.
Daß er telephonisch die sogenannte
Fassung leichter verliert als auf
dem Papier, erfüllt sie mit den
rosigsten
Hoffnungen! Daß er beim gestrigen Morgengespräch fragte,
was sie denn heute anziehe, hat
sie sozusagen bezaubert.
Noch keinen Mann hat das bisher interessiert. Da war immer
sie diejenige, die sich dem
Jeweiligen ausmalen mußte. Denen
schien ihre aktuelle Erscheinung
immer nicht der
Rede wert. Könnte es sein, glutet sie sich jetzt vor, daß er der
zartestaufmerksamstegefühlvollste Mensch ist,
den sie bis jetzt getroffen
hat? Ach nein. Bitte, keine
ungebührliche Er
wartung, gar Forderung. Er soll das schurkischste Nullund
nichts sein. Ihr ist es (er)
recht. Daß sein schriftliches
Immerallesgesagtewiederzurücknehmen eine Art
Ehrlich keitstalent verrät, weiß sie.
Aber als geschulte Textauslege rin
weiß sie auch, daß sein
rührender Eifer im Zurückneh
men alles jeweils Gesagten auch eine stürmische Zärtlichkeit
bedeutet. Glaubtsiehofftsie. Hopelessly
hopeful. Themire
wird im März in ihrer Kleidung, um nicht noch ungesünder
auszusehen, jede leuchtende Farbe
vermeiden. Sie war ja auch noch
nie in Kalifornien. Das Licht
dort soll ziemlich stark sein.
Entblößend. Aber daß er und sie
sich deshalb ausschließlich in der
Lichtlosigkeit der chinesischen Restaurants
treffen − wie er sarkastisch
oder wirklich vor schlägt −, wird
sie nicht zulassen. Sie will
ihn sehenhaben
begreifen, so grell wie möglich.
Sein Sichdurchsielebendigfühlen. Zwei
verschiedene Arten zu fühlen. In
Rosennes PhänomenologieVorlesung war zu
lernen der Unterschied zwischen
otherdirectedness
und intentionality. Sie möchte das genau so praktizieren, wie
sie es braucht. Alles.
Nur sie und er sollen das Thema sein.
Wie Patron Julien Offray es
vorgemacht hat. Allerdings brauchte
sie schon lang keinen Patron
mehr. Der war ein
Vorwand, ein ebenso liebens wie schätzenswerter. Aber im
März, wenn die Papier und
Telephonierepoche vorbei ist,
dürfen sie allein und sich alles sein.
Als sie aus dem Klassenzimmer trat, regnete es, goß es. Ein
tropisches Gewitter. Sie ging durch
den Regen nach Hause. Zehn
Minuten. Sie lächelte. Triumphierend.
Sie hatte aus
ihrem Fach einen Brief geangelt. Den trocken heimgebracht.
Geöffnet. Gelesen. Enttäuscht. Ernüchtert. Niedergeschlagen.
Fernmündlich sind sie soviel weiter
als in dieser perfekten
AllesbedenkenStilistik. AlibiStilistik ist
das. Feigheits Syntax. Fernmündlich hatte
er den Ventilator beneidet, und
sie hatte gewünscht, er wäre der Wasserfall ihrer Dusche. In
seiner Briefstilistik bringt er sich
praktisch wieder zum Verschwinden.
Sie dagegen sagt ihm einfach,
sie liebe ihn
und täte nichts lieber als sich ganz in ihm auflösen, das heißt,
sie verschwindet nicht ihm, sondern in ihm. Wissend, daß sie
danach (was für ein Unwort) weiterleben MUSS.
Den Wetterbericht, hot, hazy and humid, findet sie in sich,
an sich, durch sich bestätigt.
Ihm muß sie gestehen, daß sie
sich nicht mehr daran erinnern kann, wie das war, ein Leben
ohne ihn. Er sei, sagt sie, nicht mehr wegzudenken. Also eine
Gottliebe Eigenschaft sei schon seine
Allgegenwart. Wo sie
ist, ist er bei ihr, im
Bett, im Bad, in der Bibliothek.
Wie sie sich fühlt −, das
muß ein schwerer Koffeinschock sein.
So verrückt war sie noch nie.
Vielleicht ist sie zum ersten
Mal
normal. Und das hält sie nicht aus. Also zwischen Ulrike von
Levetzow und ihrem Anbeter lagen 55 Jahre. Sie hat nachge
schaut. Von Jahrgängen will sie nichts mehr hören. Ain¹t mis
behavin¹ läuft bei ihr. Fats Waller, I¹ve got my fingers crossed /
not that I¹m superstitious /
I¹m afraid / it¹s too good
to be true. Andererseits hat
seine Stimme, die fernmündliche, zuge
nommen an Zudringlichkeit und
Nichtanderskönnen und
eben doch auch an Häufigkeit. Dreimal täglich. Das ist doch
nicht nichts, oder. Täglich dreimal.
Und sie gesteht¹s ihm
inzwischen: Sie hat ihn einfach unterschätzt. Und er: Er sich
auch. Und sie: Aber sie sich nicht. Butterflies in the stomach.
Wenn er sie irgendwo abholt,
wird sie ihr Kosmetik köfferchen in
der Hand haben. In der linken.
Sie hat in
Gedanken schon alles hinter sich, was je zwischen ihnen sein
wird oder sein kann oder sein
könnte. Also, wenn er das
übertreffen will, muß er sich
einiges einfallen lassen. Keine
Angst. Sie kann sich auch in himmelblaues Schweigen hüllen
und so weiter. Jetzt soll sie
unterrichten und drei Kapitel
Rohfassung liefern und will doch
nur seine Briefe bis zum
Auswendigkönnen lesen und die
Telephongespräche vom innersten Tonband
noch einmal und noch einmal
ablaufen
lassen. Es wird vorstellbar, daß er, falls sie einander je sehen,
über Altersunterschiedszahlen nichts mehr zu jammern hat,
sie wird nämlich durch dieses
irrsinnige IhnnichtHaben, durch den
Wahnsinn des IhnVermissens, durch den
Ohne ihnSeinsSchmerz wird sie so
gefoltert, so bis zur Erschöpfung
verzehrt, daß von ihr nur noch
eine Alte Frau übrig sein wird.
Und hat sich, diese vor
Sehnsucht Hin
kende, die feinsteverruchteste Unterwäsche gekauft. Und sie
strickt wieder! Total regressiv. Die
Mutter übernimmt das Kommando.
Tiefviolett, ein Seidenpullover soll¹s
werden. They¹re setting themselves up
for major trouble, does he know
that. Im Krieg wie in der
Liebe, sagt der Patron, gilt
der Satz: Die Pflicht ist alles, die Gefahr ist nichts. Nach dem
Pullover, der sozusagen im Handumdrehen fertig sein wird,
kommt sofort eine schmutziggelbe Strickjacke dran. Sie muß
sich die Finger wundstricken. Weil sie nicht schreiben kann.
La Mettrie ist der einzige, der das versteht, das weiß sie. Ach,
Sylvandre, seufzt Themire. Ja, soll
sie denn dem Herrn Rosenne
beschreiben, daß Sylvandre es dreimal
hinterein ander mit Themire tat, weil
sie, die Schlampe Themire, erst
beim dritten Mal so weit war? Das war schon im Jahre 1745
den Herrschaften zuviel. Und das richtig, das heißt, nach der
Erfahrung dargestellt, das heißt:
nicht nur moralisch
klimatisiert davon geredet, wie es üblich war von Lessing bis
Lange (du weißt, Geschichte des Materialismus),
der viel versteht, aber die
LustSchrift doch cynisch findet. Na ja,
Marburg 1873, dafür war er doch auch mutig. Wenn sie ihren
La Mettrie darstellen würde, das heißt, die La MettrieSätze
messen an ihren eigenen Erfahrungen
und Beobachtungen,
dann würde das entweder niemanden interessieren oder sie
wäre ihren Job los. Wahrscheinlich
beides. Aber da sie im
Januar von den erwarteten drei Kapiteln Rohfassung so gut
wie nichts liefern wird, wird man sie entweder für faul oder
für unfähig halten. Wahrscheinlich
für beides. Womit sie dann
endlich als die, die sie ist,
erkannt sein wird. Daß er heute
am Telephon alles, was ihn dort
hält, als ehrenwerte
Gesellschaft bezeichnete, hat ihr
gut getan. Daß sie ihn nicht
befreien kann, selbst wenn sie
alle Kaltblütigkeit der Welt
aufbrächte − und das wird sie definitely not −, ist sicher. Also
ist ihr aufbrandendes Geseire, seins
und ihrs, Gischt und nochmal
Gischt. Oder Geflunker. Oder
Funkenflug in einer eisigen
Winternacht. Oder sie sind eben
eine stinknormale Affäre. Wie Madelon
und ihr Brian, undundund. Sie
hat
doch gemerkt, daß er zu heftiggroßen Sätzen flieht, um sich
und sie nicht der nächstbesten
Affärenlächerlichkeit auszu
liefern. Könnte es sein, daß sie, er und sie, nur so lächerlich
sind, weil sie einander so
ernst nehmen? Kann etwas komischer
sein als der Anspruch,
unvergleichlich zu sein?
Und das mußte noch geträumt werden: Statt der gelbgrünen
Gretel saß ein ganz kleiner
tiefvioletter Vogel beim blauen
Hansel. Dieser Kleine biß dem Hansel das Bein ab. Sie schrie
nach ihrem Vater. Der nahm das
nicht weiter wichtig. Sie stand,
konnte nicht wegschauen von Hansel,
der versuchte, auf dem dünnen
Bein die Balance zu halten. Als
sie
aufwachte, rannte sie gleich zum Käfig. Die waren ja wieder
zu Gast. Und beide gesund, der Blaue und die Gelbgrüne.
Im letzten Brief hatte er
beschrieben, wie er unter ihrem
blauen Laken erwachte und sie darauf aufmerksam machte,
daß er tot sei. Das hat
sie schaudernd genossen. Heute
fernmündlich seine Bemerkung, daß die
horrenden Tele
phonrechnungen erst nach seinem Tod ins Haus kämen, hat
sie aber doch erschreckt. Sie weiß schon, es war, es sollte ein
Witz sein. Warum sagte er so etwas? Sagte es einfach so hin.
Jesus, sie − er und sie −
haben doch nicht einmal eine
normale Affaire. Madelon wird zweimal
pro Monat vom farbigen Fahrer
Louis, einem hübschen Fahrer sogar,
ab geholt und zu Brian Dewey,
dem genialen Erfinder der feinsten
Wasserreinigungsmaschinen der Welt, nach
Wil mington oder Charleston chauffiert,
um dann verwöhnt zu werden und
so weiter, und dann wieder
zurückchauffiert vom dunkelschönen Louis
und so weiter. Soll doch ihr
Wendelin Gottlieb ... Jetzt hat
sie¹s, sie wird ihn jetzt, ganz
ernüchtert, mit dem hier üblichen
VornamenZweierpack nennen, á la John
F.! Soll doch ihr Wendelin G.
einmal pro Woche vor Anna
hintreten, zum Kegeln müssen, jeden
Donnerstag, zum Beispiel, immer in Turnschuhen, soll seine
Anna doch zugeben, es tue ihm
gut, auch wenn er danach
ziemlich erschöpft sei, bis eben
die Kegelbahn eines Tages schließt
oder er einfach nicht mehr
kegeln, sondern die Donnerstagabende
wieder daheim verbringen will. Ihre
blütenweiße Spitzenunterwäsche aber liegt
sorgfältig im Schrank und wartet
auf einen März, der, je
heftiger sie ihn
ersehnt, um so weniger vorstellbar wird. Heiliger Julien, wo
bleibt l¹imagination! Aber der
Pullover ist fertig. Inklusive Ärmel.
Ob er ihr gefällt, könnte von
Gottlieb W. (so herum ist es
besser) abhängen. Lila. Erikafarbener
SchalKragen.
Der, wie grobe Spitze. Das Lila durchlocht. Das ganze seidig.
What now, my love?
Könnte sein, daß sie in seiner
Art Zärtlichkeit unerfahren
ist. Dachte sie heute, nach seinem zweiten Anruf. Als sie auf
den dritten, der nicht kam, gewartet hat. Zum Glück gibt es
die Hits.
You make me feel like a natural woman.
Das mußte sie summen und singen gegen die entnervende
Angst, alles könne nur ein
Sprachspiel sein und bleiben,
fernmündlich wie schriftlich, folgenlos.
Schnell wieder mit
Madelon ins Kino.
Falling in Love.
Mit Meryl Streep. Auch eine
VassarFrau.
Sie hatte den selben Schauspiellehrer wie Meryl Streep. War
aber unentdeckt geblieben. Madelon und sie nach dem Film,
stumm. Dieses Sichfinden, Sichtrennen,
Sichwiederfinden und Wiedertrennen bis
zum Gehtnichtmehr beziehungs weise
Dochnochhappyend. Eine freche Spekulation
mit der
menschlichen Bedürftigkeit. Und das Beleidigendste: die Ge
nauigkeit, mit der sie da
berechnet werden. Aber daß sie
dem StreepDeNiroGetrapse lechzlechz
hinterhertrapsen, gibt Hollywood recht.
Die ähnlich operierenden Religionen
versprechen ihren Opfern wenigstens
eine Belohnung im Jenseits. Hollywood
kassiert unser Geld und unsere
Seelen
und liefert dafür neunzig Minuten.
Weil sie von ihrer Mutter
geweckt wurde, fernmündlich, fing sie
sofort an, mit ihr zu streiten,
weil sie nur noch von
ihm geweckt werden will. Die Schmutziggelbe ist fertig. Die
schönste, die sie je gestrickt hat. Und das in neun Tagen. Und
es hat eine Zeit gegeben, und
die hat sie überlebt, da kam
nur alle drei Wochen ein Brief von ihm. Und überhaupt kein
Anruf. Steinzeit. Nein, Eiszeit. Und jetzt. Hier heißt es It¹s not
over till the fat lady sings (Opernspruch). Sein Hegel nennt¹s
Begierde, Freud versteckt sich hinter
Libido, Lacan veredelt es als
Begehren, sie sagt Sehnsucht,
mehr − sucht als Sehn. Jetzt
wird sie ihm in jedem Brief
mindestens drei Polaroids
schicken, in gerade noch gebremster Obszönität. Aber wenn
man diese roids vergrößerte auf
2 x 3 Meter, dann wären
das Rembrandts. To be sure. Und er hat gesagt, er trage die
Polaroids jetzt immer bei sich.
Auf seinem Körper, hat er
gesagt. Und das nicht aus Sicherheitsgründen! Und: Er fühle
sich so gesund wie noch nie!
Am Telephon, seine Stimme! Sie möchte am ganzen Körper
Ohren haben!
Die Naturgeschichte der Seele. Und löst sich auf in ihm. Ver
gißt, daß er von der ehrenwerten Gesellschaft umgeben,
um
ringt, bewacht ist. Er muß seiner Themire schwören, nie
mehr anzurufen, wenn er gezwungen sein kann, einfach auf
zulegen.
Gestern sein schönster Brief, so far. Zum ersten Mal ist sie
«Liebste», zum ersten Mal gibt er sich ausführlich mit ihren
Küssen ab. Es hilft tatsächlich,
das Wort Sehnsucht auszu sprechen.
Hilft ist falsch. Es heizt.
Reizt. Die Sehnsucht erwacht eben,
wenn man sie nennt. Die Jahre,
die er zwischen ihr und ihm
aufbaut wie ein unpassierbares Ge
birge, putzt sie weg wie nichts. Dazu paßt, daß er dann auch
in jedem zweiten Brief vorschlägt,
nur in chinesischen
Restaurants zu essen, weil es in denen so schummrig ist. Sie
wird ihn in die Helle führen.
Tag und Nacht. Unter eine
Operationslampe wird sie ihn legen
zum Küssen und so
weiter. Sie ist nämlich S & M. Das sagt man hier für pervers.
Er weiß eben nicht, daß sie als Kind gefährdet war, weil sie
alles in den Mund genommen hat. Nach dem Regen hat sie
aus Pfützen getrunken. Ihre Mutter,
Weltmeisterin in
Reinlichkeit und Peinlichkeit, verzweifelte schier. Es gab jetzt
Träume, die sie Dr. Douglas nicht hinplaudern konnte. Ihm
auch nicht. Nein, ihm auch
nicht. Noch nicht. Vielleicht im
März. Ins Ohr. Sie saß an
einem Kindertisch und hatte den
Mund voller Kot. Um sie herum
mehrere Gleichaltrige, die, obwohl
sie den Kot verbergen wollte,
merkten, was sie im Mund hatte.
Sie versuchte, den Kot hinter
vorgehaltener Hand auszuspucken. Er
fiel unter den Tisch und war
jetzt erst recht sichtbar. Dann
spuckte sie den Rest noch in
eine Serviette, mit der sie
dann auch noch den Boden
säuberte.
Dann sagte Patricia Best, sagte es aber wie zum Spaß, daß sie
mit ihr intim werden wolle. Das
sei ihr Traum, von einer jungen
Frau zum Auto gebracht zu
werden. Sie aber rief nach Glen
O. Rosenne. Aber der kam nicht.
Patricia bot ihr
den kurzen Arm und sagte: Komm, Kind. Und zeigte auf den
Kot, der wieder unter dem Tisch lag, sichtbarer als je zuvor.
Aus der Traum.
Im Fußballstadion läuft gerade die
Nationalhymne. Sie hört¹s durchs
offene Fenster. Sie erträgt kein
geschlossenes Fenster mehr. Weder bei
Tag noch bei Nacht. Sie war
jetzt
stundenlang mit ihren Finger und Zehennägeln beschäftigt.
Wie eine Künstlerin. Vielleicht. Davor, in der Wanne liegend,
hat sie Beine und Achselhöhlen
ab und ausgeschabt. Da
fühlt sie sich amerikanisiert. Aber, bitte, keine falschen Vor
stellungen: Rot auf Nägeln kann
sie jetzt nicht mehr aus stehen.
Nur noch Naturtöne. Vielleicht La
Mettries Einfluß.
Natur ist alles. Alles ist nichts als Natur.
Sie wird das Grüngeblümte anziehen,
weil er sich das
schon zweimal genau beschreiben ließ. Daß sie die einzige in
der Abteilung ist, die so gut wie nie Hosen trägt, gesteht sie.
Gestern abend Women¹s Study Group.
Dreißig Frauen. Sie die einzige
nicht in Hosen. Findet alle
drei Wochen statt. Feministische
Filmtheorie. Bei Einstellungsinterviews
wird
nach Filmkursen gefragt. Unter Frauen, unter diesen Frauen,
ist sie weniger selfconscious als
in der Gesellschaft von Männern.
Selfconscious übersetzt sie sich so:
sich selbst
peinlich sein. Sie hat Männern gestattet zu sagen oder sie gar
eingeladen zu sagen, ihre Hüften könnten schmaler sein, ihre
Brüste bescheidener. Dann hat sie sich mit den Augen dieser
Männer angeschaut. Daß er immer
wieder ihre Brüste erwähnt, sich
nach ihren Brüsten erkundigt, als
wären das
Lebewesen, mit diesen Brüsten alles mögliche anstellen will,
ist für sie Zauber pur.
Sie hat Dr. Douglas den
neuesten Traum hingeplaudert, hingerotzt,
gekotzt, zumindest hingetrotzt. Es
hat ihr gut getan, ihm mit
diesem Traum seine Grenzen zu
zeigen. So
wird sie nie von ihm träumen. So träumt sie nur von Gottlieb
W., Herr Doktor. Nämlich: Wieder
im Kinderzimmer, Schwester Bettina
spielt Karten mit ihrem Mann,
dem ost westfälischen Samenhändler,
inzwischen umgeschult auf Programmierer.
Beide sitzen an einem kleinen
Fenster. Der
Schwager fragt, ob sie nicht mitspielen wolle. Ihr Gottlieb W.
lag schon oben, auf dem oberen Bett eines bunk bed, ihr fällt
jetzt der deutsche Ausdruck nicht
ein, zwei Betten überein
ander, wie man¹s für Kinder hat. Sie legte sich zu ihm. Aber
abgewandt. Sie spürte seine Erregung.
Griff nach ihm. Sie hatte
Angst, daß die Schwester und
deren Mann durch das jetzt
entstehende Geräusch alles mitkriegten.
Sie fühlte sich unfähig zu
allem. Schwester und Schwager sangen
Brüder
lein, Brüderlein und Schwesterlein. Fledermaus. Gottlieb W. kam
völlig ungeniert. Und zwar in ihren Mund. Für Dr. Douglas
repräsentierten die Schwester und ihr Mann die ehrenwerte
Gesellschaft jenseits des Atlantik.
Als TraumNachgeburt lieferte sie Dr.
Douglas ihre Stimmung beim Erwachen:
März, Gottlieb W. KrallZürn will bleiben, bis er und sie ihre
La MettrieDissertation durchgesprochen
haben. Sie weiß,
daß sie zuviel erwartet. Und erwartet trotzdem weiterhin zu
viel. In dem Samenerguß in
ihren Mund sieht Dr. Douglas
diese übermäßige Erwartung ausgedrückt. Influence. Sie: Er
hat ihr etwas in den Mund gelegt. Die Einladung des Samen
händlerProgrammiererSchwagers bezeugt ihre
Angst, der sexuelle Kontakt mit
dem ersehnten Mann könne sie voll
ends um ihre professionelle
Zurechnungsfähigkeit bringen.
Also das Ersehnteste als das Gefährlichste. Er müßte, ehe er
hierherkommt, noch Madwoman in the Attic lesen. Manchmal
kommt es ihr vor, als gebe
es nichts von dem, was sie
sich einbildet.
Alles nur ein verzweifeltes Schließen aus diffusen
Daten, die auch ganz anders zu deuten wären. Aber gestern
hat er fernmündlich ihre Brüste
geküßt, das sagt ihr auch jetzt
noch, daß es ihn gibt, daß,
was sie redeten, im land läufigen
Bezeichnungswesen für Erotisches eingestuft
werden kann als oral sex.
Ihr Kurs muß wegen zu großem
Andrang geteilt werden. Also täglich
zweimal. Heute das Formular Employment
Eligibility Verification. Sie hat kein Arbeitsvisum, aber Lehren
gehört zum Ph.D.Programm. Nach drei
Stunden Telepho nieren die Auskunft:
Die Visumsübertragung von NATO2
zu F1 dauert vier bis sechs Wochen. Ohne dieses Visum kein
Gehalt mehr. Neue Formulare geholt und ausgefüllt. Sie soll
unterschreiben, in diesem Land nie
Arbeit zu suchen. Jane zeigt
Mitgefühl. Dann geht die Tür
auf, Frederick fragt, ob
für seine Frau Evelyn, die genau so weit ist wie Beate, heute
die Green Card, die endgültige Arbeitserlaubnis, gekommen
sei. Jane: Evelyn habe die doch
schon am Vormittag abgeholt. Jane
zu ihr: Das hat er gewußt.
Der hat das nur gefragt, um
Beate zu ärgern. Jetzt mußte
geweint werden. Mit verheultem
Gesicht zum Graduate Student Meeting.
Und gleich wieder raus. Zu
Rosenne. Bevor sie etwas von
sich sagen kann, muß er
mitteilen, daß er in seinem
NietzscheKurs mehr als hundert Studenten hat. Sie hat zum
Glück die Sonnenbrille vor ihren verquollenen Augen. Aber
Rosenne sagt dann, er werde
helfen. Im FakultätsCasino zwei
Martini Extra Dry. Ein Cheeseburger.
Rick Hardy kommt samt Tablett
an ihren Tisch, benimmt sich
demütig, wanzt sich richtig an,
sie spürt, daß sie das brauchen
kann.
Bietet ihm an, ihn heimzufahren. Er hat ja, weil immer Elaine
fuhr, nie einen Führerschein gemacht.
Vor seinem Quartier reden sie
weiter. Das heißt, Rick redet.
Er redet und heult. Daß sie
ihn nicht angezeigt hat wegen
seiner Attacke, die
keine war, aber ein Unsinn war es, eine Schwäche, ein totaler
Ausrutscher, eine Jämmerlichkeit, die
man sich nicht, die man sich
niemals verzeihen kann, daß sie
ihn aber nicht denunziert hat,
daß sie sofort diesen Rückzieher
gemacht hat, sie hätte ihn doch
vernichten können, und hat¹s nicht
getan, eine kann einen vernichten, und tut¹s nicht, wo gibt¹s
denn so was, also wirklich, das
sitzt bei ihm so tief oder
traumatisch, tut auf jeden Fall
weh, er hat das Gefühl, er
müsse ihr irgendwann einmal die Hände um den Hals legen,
um ihr zu beweisen, daß er
diesen Griff eher zärtlich als
drohend meine, ein bißchen Drohung
gehört zu jeder Zärtlichkeit, ob
sie das anders sehe? Jetzt
protestierte die Nachbarin. Der Motor
lief noch. Wurde abgestellt. Richard
redete weiter. In dieser schürfenden
Art. Bis kurz vor Mitternacht.
Auch als er nichts mehr hatte
in dieser
schürfenden Art. Aber er hat immer etwas, das man nur von
ihm erfahren kann. Wahrscheinlich
wäre er, wenn er nicht
andauernd die gesamte UNC ausspionieren müßte,
längst HarvardProfessor. Wenn er dann
aber ein paar Bytes aus seinen
Nachrichtendateien aufmarschieren läßt,
ahnt man, daß man eine Karriere
genau so gut auf Nachrichten
beschaffung wie auf Wissenschaft
gründen kann. Und er
weiß, was er wem zu servieren hat. Glen O. Rosenne ist also
seit drei Jahren Klient von Dr.
Douglas. So etwas läßt Rick
Hardy verlauten unter der Rubrik: Wie du ja weißt. Und er
weiß genau, wie sensationell diese
Mitteilung wirkt. Und macht so
weiter. Zwischen SueAnn Rosenne und
dem Gatten Glen reime sich
nichts mehr. Dr. Douglas habe
erklärt, er sei mit seinem
Latein bald am Ende. Natürlich
wollte Beate jetzt mehr wissen.
Wenn möglich, alles. Aber Rick
war auch darin Meister. Für
heute reicht¹s. Vielleicht
schon bald mehr. Dann vielleicht sogar ALLES. Und drückte
ihr die Hand, als wolle er
nur den Unterschied zum Professor
demonstrieren. Und ging. Als er
verschwunden war, wollte sie den
Pontiac starten. Aber der reagierte
nur
mit einem erbärmlichen Gurgeln. Die Batterie leer. Sie rannte
hinter Rick her, der war schon
im Haus verschwunden. Sie
rannte zurück zum Auto. Der Schlüssel drin. Die Türen auf
Schließen gedrückt. Zu Fuß heim. Morgen AAA anrufen. Mit
Ersatzschlüssel hin. Warten bis die Batterie geladen ist.
Die Stelle in Vassar, die ihr
in Aussicht gestellt worden war,
wird nicht frei. Die Frau, die
man dort loswerden
wollte, hat durchgesetzt, daß sie bleiben kann.
Das Ticket nach San Francisco liegt vor ihr auf dem Tisch.
Billigflug. Daß er jetzt vorsorglich sein Alter grell beleuchtet,
findet sie sowohl lustig wie
auch lieb. Männer stehen doch
zu ihrem Äußeren, egal, wie alt sie sind. Sie war zwei Jahre
mit einem Mann zusammen, dem es
bei einem Autounfall
die Kopfhaut verbrannt hatte, der ein dezentes Haarteil trug,
das sie erst als solches erkannte, als sie von anderen
darauf
aufmerksam gemacht wurde. Genügt ihm das?
Ob er ahnt, daß es Wörter
gibt, mit denen sie noch nie
bedacht wurde. Liebes nennt er sie. So hat sie noch niemand
genannt. Und sie mußte nicht lachen. Daß seine Wörter einen
Oberton haben, der aufs zarteste komisch ist, muß er ahnen.
Daß er solche Wörter trotzdem
benützt, offenbar nicht anders kann,
als sie zu benützen, das geht
ihr durch und durch. Daß er
gefürchtet hat, die durch Magdas
unerklär liches Verschwinden entstandene
achttägige Unterbrechung des Telephonierens
und des Briefeschreibens werde sie
benützen, sich von ihm zu trennen, hat sie eher belustigt als
gerührt. Danebenen kann man (wenn
er ihr diesen Kom
parativ gestattet) nicht treffen. Sie hofft, Magda melde bald,
daß sie wohlbehalten ist. Vielleicht
hat sie sogar jemanden getroffen,
der sie vergessen ließ, wo sie
zu Hause ist oder
daß es wißbegierige Eltern gibt. Das wünscht ihr die ameri
kanische Geistesschwester. Tatsächlich
glaubt sie, Magda näher zu sein
als Julia. Julia siegt zu sehr.
Ach, nichts ist weniger gefragt
als ihre Nähe oder Nichtnähe zu
den Erztöchtern Regina und Magda
und Julia und Rosa. Sonntagmorgen.
Bald auch im März. Um nicht
über den März hinausdenken zu
müssen, weidet sie den März
aus, fieselt ihn ab, nagt an
jeder Minute herum, bis nichts
mehr
dran ist. Zuerst einmal das nicht enden könnende Frühstück.
Sie, ER und SIE, mit der New York Times. Das
all American couple. Donnerstag,
Freitag, Samstag, Sonntag in San
Francisco und Berkeley. Nur noch für einander. Geliebtester
Mann. Aber wie lange kann er
überhaupt bleiben? Solche
illusionsschädigenden Fragen werden nicht
gestellt. Am besten, er ist
eines Morgens abgereist, sie sieht¹s,
fällt in Ohnmacht und erwacht
erst Jahre später aus ihrem
Koma, das allem Gedächtnis den
Garaus gemacht hat. Rosig
erwacht sie, im Bergwerk von Chapel Hill. Allen Zeugen ein
Augen und Seelenschmaus. Ihr erstes
Wort: La Mettrie.
Worauf sie für eine Französin gehalten wird. Zweites Wort:
L¹Homme Machine. Worauf sofort ein
paar Roboter herge rufen werden. Die
sollen sich mit ihr beschäftigen.
Und so
kommt es, daß sich einer der Roboter in sie verliebt, daß sie
heiraten, Kinder zeugen, so schöne,
wie sie nur in Misch ehen
gezeugt werden. Amen. Den ersten
Gewinn aus der
MärzTagung: Der Professor wird einsehen, daß sie, um aus
der Tagung noch Nutzen zu ziehen, nicht im Januar, sondern
erst im April drei Kapitel Rohfassung abliefern wird.
Eine Art count down setzte ein. Sie wehrte sich. Erfolglos.
Sie hätte es lieber als
Weihnachtskalender gehabt. Oder als
Kalender eines Gefangenen. Jeder Tag ein durchgestrichener
Strich an der Zellenwand. Dieses Panikgefühl, weil sie ihrem
Ersehnten so gut wie nichts verraten hat von sich. Alles, was
sie ihm geschrieben hat hoch zehn, das käme hin. Das würde
er aber nicht ertragen. Das hält kein Mensch aus, daß sich ein
anderer so abhängig fühlt von
ihm. Und das nach zweieinhalb
Stunden Terrasse und ein paar
Monaten Brief wechsel und Telephon.
Vor San Francisco, im Pacific,
wurden gestern zweihundert Blauwale gesichtet. Das hat sie
sofort als Signal empfunden.
Hoffnungsignal. Also sind sie
doch nicht ausgestorben, die Blauwale. Das Wunder von San
Francisco! Das heißt, es geschehen
noch Wunder! Wenn es nur so
wäre: Er dürfe sich, sagt er,
um sich vor der
drohenden Zukunft zu schützen, nicht eingestehen, wie sehr
auch er sie braucht, liebt, ersehnt, begehrt. Das heißt, er sei so
schlimmschön dran wie sie. Es darf nur nicht ganz heraus.
Fernmündlich kam manchmal doch ganz
schön was
heraus. Manchmal blutete er doch geradezu. Und sie dachte
und konnte es nicht sagen, daß er Hand an sich legen sollte
und denken, es sei ihr Mund.
Und wie sie es, ihn her
beschwörend, sich selber machte,
konnte sie auch nicht sa
gen. Nichts konnte sie sagen. Was für eine Welt oder Kultur,
in der einem der Mund verschlossen und die Seele vernagelt
ist. Heiliger La Mettrie, du bist nicht schuld daran! Du hast
es anders gewollt und gesagt.
Aber gesiegt haben die Vor
schriftenmacher! Die Quälgeister. Die
großen Quälgeister.
Die beherrschen noch immer die Welt.
Frühlingfrühlingfrühling. So nah war Deutsch ihr noch nie
gegangen. Wenn sie nicht aufpaßte,
war sie gleich stolz auf diese
Sprache; weil, glaubte sie, Frühling nirgendwo offen
barender, und doch nicht flach
werdend, ausgedrückt sein
kann. Frühling, ein schöneres Wort dafür konnte es nirgend
wo geben. Sie liebte Wörter, die etwas eindeutig offenbarten,
ohne daß sie das, was sie
offenbarten, aussagten. Eine Zeit
lang muß es Dichter gegeben haben wie Sand am Meer. Ganz
genau wie Sand am Meer. Selbst
als das Wort Behörde
geschaffen wurde, waren noch Dichter am Werk. Nicht mehr
bei Beschuldigung,
Charakterlosigkeit, Sittenverfall, Pflichtver
letzung, Selbstmord und dergleichen.
Wohl aber bei Frühling. Und bei fernmündlich natürlich. Nur
halb geglückt kam ihr allerdings
Muttersprache vor.
Chapel Hill flaggte grün mit
gewaltigen Bäumen. Und ließ pflichtgemäß die Staatsblume
blühen. Dogwood. Sie wird ihm
erklären, was ihr der geborene
South Caroliner Rick erklärt hatte,
daß der Gast erführe, wie man
sich in einem aufgeklärten Land
etwas erklärt: Dogwood heißt die
Blüte, weil sie nicht genug
getrauert hat, als am GolgathaFreitag Trauer angesagt war,
und bis in alle Erdenklichkeit muß jedes ihrer weißen Blätter
das Profil der Nägel zeigen,
mit denen Christus gekreuzigt
worden ist. Das hat Linné noch nicht gewußt.
Sie sei zu seiner Zuflucht
geworden: Diese Art Mitteilung war
die Verführung schlechthin. Daß er
sie brauchte, wie
sollte sie denn das ertragen, in Ruhe, oder gleichmütig, oder
sonstwie gefaßt? Wie oft würde sie noch, bevor er käme, die
Haare waschen, wie oft noch that time of the month durch
stehen, wie oft noch tanken,
wie oft noch vor die Klasse
treten mit dem IchliebeeuchalleGesicht, wie oft noch Glen
O. Rosennes NichtLippen nach einem
Lächeln absuchen
und sich in Patricias kurze Arme flüchten? Wie oft noch sich
die Hand von Rick zerquetschen lassen, wie oft noch das und
das, bevor er kommt? Madelon
gibt¹s nicht mehr. Madelon hat
sich verabschiedet. Plötzlich. Keine
Dissertation mehr, Freud adieu, fast
triumphal, wie sie sich verabschiedet
hat. Von der Abteilung. Von
ihrer Freundin hat sie sich
zärtlich verabschiedet. Sie hat
geheiratet. Ohne es wissen zu
lassen. Der Mann ist Louis, der
sie so lange hin und
herchauffiert
hat, bis es ihm und ihr klar wurde, daß es längst unzumutbar
war, sich weiterhin dem
uninterruptible power system des
Erfinders hinzugeben, weil Louis¹
Augen ein Versprechen
signalisierten, das ihr einfach lebendiger vorkam als die fein
kalkulierte UntreueÖkonomie des genialen
Erfinders. Glückliche Madelon. Kein
Neid. Tränen schon. Beim Ab schied
hatten dann beide geweint. Und
sie hatte herzhaft
gesagt, sie komme bald nach. Und Madelon hatte gesagt, daß
sie Beate J. erwarte. Auf der Insel Trinidad nämlich.
Daß sie dann, vier Wochen vor
dem Tag X, der Nacht Y,
auch noch schwarze Unterwäsche
gekauft hatte, nahm sich Beate
übel. Ihn glücklich machen, wie
er noch nie war. Solches Zeug
mußte sie andauernd niederringen,
wissend, daß jede niedergerungene
Schummervision dieser Art die nächste
produzierte. Seine Erregung spüren.
Sie fühlte sich umstellt von
Giergespenstern. Halbwegs erträglich fand
sie sich erst wieder, wenn sie
solche Sätze an sich selbst
adressieren konnte: So darf man
sich einfach keinem Men schen
ausliefern. Wahrscheinlich war es zu
spät. Er hatte sicher alles
schon erfaßt, bewertet, abgelegt.
Seine neuer dings spürbare Angst vor
dem 22. März war eine kluge
Angst. Die Wut wachsen lassen!
Ihre einzige Rettung war
immer ihre Wut gewesen. Wenn die Grenze des Zumutbaren
deutlich überschritten war ... Am
besten wäre es, eine objektive
Katastrophe verhinderte alles. Natur,
Politik, Technik ... Aber statt
einer Katastrophe, jeden Tag neue
Jubelmeldungen über die Blauwale. Daß
sie niemanden hatte, mit dem
sie darüber reden konnte, wie
sie nach dem
Soundsovielten weiterleben sollte! Daß Madelon jetzt fehlte,
tat weh. Dafür einmal pro Woche
eine Karte aus Port of
Spain. Louis hat schon einen Job in einer Fabrik, in der eine
USGesellschaft Fernsehgeräte zusammensetzen
läßt. Sein Brian G. Dewey
hat ihm nobel bescheinigt, daß
er in einem TechnologieUnternehmen
der feineren Art einen erfah
rungsreichen Job gehabt hat. Also machten sie ihn dort sofort
zum Vorarbeiter. Und Madelon am Independence Square im
Tourist Board
aussichtsreich, die USTouristen strömen. Und
du? Wenn sie so weitervegetierte,
würde sie ihm am zwei undzwanzigsten
mit verquollenen Augen entgegengehen.
Dann konnte sie das
Kosmetikköfferchen gleich daheim
lassen. Und die Wäsche auch. Und erst recht sich selbst. Sie
hat noch einen Kimono gekauft. In seinem letzten Brief kam,
zum ersten Mal, das Wort sehnen vor. Daraus wollte sie sich
nicht vertreiben lassen. Sie war doch nicht ihr eigener Feind.
Amourpropre, bitteschön. Sie war jetzt gierig auf Anzeichen
der Bedürftigkeit, der Schwäche
seinerseits. Sie sollte ihn bergen,
schützen, wärmen, retten müssen. Die
ganze Welt eine Feindseligkeit, und
sie, der nackte Engel ... Ach
nein,
bitte ... Sie nahm sich vor, ab sofort keine Telephonate mehr.
Stimmungsabbau jeder Art. Zur
Ermöglichung eines glimpflichen Übergangs
vom hemmungslosen Gieren und
Schwärmen in ein erträgliches reales
Visavis. Vielleicht sollten sie von
jetzt an nur noch La Mettrie
behandeln. Ein jäher Briefwechsel
über La Mettrie. Das fiel ja
zusammen: Sobald er wieder abgereist
sein wird, hatte sie ihre drei
Kapitel Rohfassung zu liefern. Bei
dem Wort Rohfassung konnte sie
verweilen. Tatsächlich konnte sie
sich von Gottlieb W. durchaus
Brauchbares versprechen. Er arbeitete
seit Wochen an dem Vortrag für die Konferenz in Berkeley.
Jetzt, zwei Wochen vor ihm, war
der Text bei ihr eingetroffen,
daß sie ihn übersetzen konnte.
Entsprechen ist
alles. So sein Titel. Klang da Shakespeare durch? Entsprechen
würde im Englischen abstrakter
daherkommen als im Deutschen. Im
letzten Kapitel ihrer Dissertation
würde Wendelin Krall dominieren. Daß
sie so, wie sie jetzt fühlte,
noch nie gefühlt hatte, mußte sie sagen dürfen. Es ging nicht
darum, ihn glücklich zu machen. Gelogen, eben darum ging
es doch überhaupt. Wenn ihr das
gelänge, würde er sie
genau so glücklich machen wie sie ihn. Trotzdem, egal, wie
er ankommen würde, wie er sich
dann fühlen würde, sie mußte
schlicht loswerden, daß sie so,
wie sie jetzt fühlte,
noch nie gefühlt hatte, daß sie sich also so nicht kannte, also
unsicher war hinsichtlich ihres
Benehmens ihm gegenüber,
aber daß ihr das auch egal sein würde, sollte er sie doch am
Arsch lecken oder auch nicht, es muß ein Menschenrecht sein
zu sagen, wie man im Augenblick
fühlt. Basta. Zuerst jetzt
der Text. Her mit dem Text. Entsprechen ist alles. Ihr schwebte
sofort vor: Rise to the Occasion. Und las.
I. Es war einmal ein Verbrechen
zu sagen, es gebe keinen
Gott. Und die, die das sagten, meinten nur, es gebe den Gott
nicht, der verkündet wurde, gelehrt
wurde, an den zu
glauben Pflicht war, höchste Pflicht. Und wenn es den nicht
gab, gab es überhaupt keinen. Das war die furchtbare Folge
der Einschränkung des Gottlieben auf
diesen kirchlich verschriebenen Mastergott.
Und die Philosophie war die
Magd der Theologie. Primus motor immobilis. So durfte man
ihn schon nennen. Dann kam La
Mettrie, der alles, was
bisher Gott zugeschrieben worden war, der Natur zuschrieb.
Der entscheidende Unterschied zwischen
Gott und der Natur: Die Natur
war mit den Sinnen erfahrbar,
studierbar,
prüfbar. Und soweit sie nicht erkennbar war, durfte sie nicht
in den Dienst der Erkenntnis
genommen werden. Das war die
Leistung La Mettries: nicht zu
spekulieren. Er sagte, welche
Vorstellungen von welchen Erfahrungen
kommen.
Religion, Moral und Politik müssen nützen, Philosophie muß
die Wahrheit sagen. Man hat
sich geeinigt. Man hat die
Sprachgebräuche jahrhundertelang kultiviert
zu dem einen Ziel: wie kann
das, was uns als Religion
wichtig geworden ist, so formuliert
werden, daß die Vernunft damit
leben
kann. Der studierte Arzt La Mettrie entzieht die Philosophie
diesem Dienst. Die Philosophie hat es nur mit der Natur zu
tun. Ihr muß sie entsprechen.
Dem, was die Sinne erfahren
können, muß sie entsprechen. Dann wird sie, hat er zumin
dest angedeutet, den Segen, den Religion und Moral stiften,
nicht nur nicht mindern, sondern
vermehren. Er wollte keinen Streit.
Es liegt in der
Sanftmut meines Charakters (la
douceur de mon caractére), jeden
Streit zu vermeiden, solange es
nicht darum geht, eine Unterhaltung zuzuspitzen. Aber als Arzt,
der die Natur erforschte, und als Philosoph, der sich verbot,
über die Erfahrung hinauszugehen,
mußte er formulieren, daß es im ganzen Universum
nur eine einzige Substanz − in
unterschiedlicher Gestalt − gibt. Und diese Substanz,
die Materie nämlich, kann empfinden,
und das nicht nur im Menschen,
sondern auch schon im Tier, ja,
die Materie ist
sogar gewissensfähig.
Das hat ihm nichts als Hohn
und Zorn eingebracht.
Friedrich II. hat ihn aufgenommen und beschützt, als er zum
zweiten Mal − diesmal aus
Holland − emigrieren mußte. Salomon des Nordens hat
er seinen Potsdamer Philoso phenkönig
genannt. Er lebe an Friedrichs
Hof, hat er bezeugt, in einem Paradies für
Philosophen. Er hat, so sanft
mütig und lebenslustig er sich fühlte, seine Einsichten immer
auch mit fröhlicher Schärfe formuliert. Nicht streit, sondern
wahrheitssüchtig. Daß die Materie
empfindungs und
gewissensfähig beziehungsweise daß auch der empfindungs
und gewissensfähige Mensch rein
stofflicher Natur sei, das
verzieh ihm weder die Kirche noch die Universität.
Inzwischen haben die Naturwissenschaften
das Sagen, wenn unterschieden werden
soll zwischen unbelebter Ma
terie und Lebewesen. Zirka zwei Milliarden Jahre lang seien
sich, heißt es jetzt, Nukleinsäuren
und Proteine begegnet, ohne daß
eine Zelle entstanden wäre, die
lebend genannt werden könne, also
eine Zelle, die aus ihrer
Umwelt die Energie entnimmt, die
sie zu ihrer Reduplikation bezie
hungsweise Fortpflanzung braucht. Also
zwei Milliarden jahre lang keine
Evolution, kein Kampf ums Dasein.
Vom
ersten Einzeller bis zum heutigen Menschen dauerte es dann
nur noch eine Milliarde Jahre. Und dieser Mensch wird jetzt
erklärt mit einem genetischen Code.
Das ist ein Über setzungsschlüssel,
der angibt, welche Nukleinsäureschrift
welcher Proteinschrift jeweils entspricht.
Die Sprache der Naturwissenschaft
kann uns Nichtnaturwissenschaftlern diese
Vorgänge nicht ohne Vergleiche
näherbringen, die nicht mehr rein
wissenschaftlich sind. Leben habe nur
ent stehen können aus einer
Arbeitsteilung zwischen Proteinen
und Nukleinsäuren, die Zufälle zuließ; die Zufälle heißen in
der für uns bestimmten Sprache Ablesefehler, entstanden bei
der Codierung der Proteinbausteine durch die Nukleinsäure
sequenzen. Und, heißt es, es
bedurfte ungeheuerlicher Zufälligkeiten,
daß sich der genetische Code
durchsetzen konnte, der jetzt auf
diesem Planet bei allen Lebewesen
maßgebend ist. Und das ist das,
was La Mettrie
l¹organisation genannt hat. Manfred Eigen hat es genannt das
Problem der Selbstorganisation von
Makromolekülen zu autoka talytischen
Hyperzyklen. Das ist die
neueste Sprache für die Erfahrung,
daß die Natur alles enthält,
was wir sind. Zwei Milliarden
Jahre lang folgenlose Begegnung
zwischen Nukleinsäuresequenzen und
Proteinbausteinen, dann kommt es zu
einer Kombination, zu kombinierten
Kreisen aus DNAMolekülen und
Proteinmolekülen, diese Kreise werden
als höhere Gebilde geführt. Reine
DNAGebilde konnten
nur stagnieren. Hyperzyklen nennt
Manfred Eigen diese kombinierten
Kreise; die Nukleinsäuren seien sozu
sagen die Legislative, die Proteine die Exekutive bei diesem
Prozess, der jetzt einsetzte und der eben durch weitere Zufäl
le Mutanten hervorbrachte, die mit
einander um das Über leben
konkurrierten. Der Zufall, der
letzten Endes zum
einzelligen Lebewesen geführt habe, sei so ungeheuerlich, so
ganz und
gar nicht erwartbar gewesen − dieser Zufall, dem
wir letzten Endes entstammen −,
daß auch unter Natur wissenschaftlern
wieder eine Art Gottliebe Mitwirkung
gedacht werden konnte. Gott als
der geduldigste Experi
mentalphysiker, dem es nach drei Milliarden Jahren gelingt,
ein Wesen zu produzieren, dem
er beibringen kann (durch
Offenbarung), ihn anzubeten. Aber
auch diese frömmeren Physiker können
den universellen genetischen Code
nicht mehr außer Kraft setzen.
Und wie hat es La Mettrie
gesagt: Man sieht, daß es im Universum nur eine Substanz gibt und daß
der Mensch die vollkommenste ist. Daß alles aus Nukleinsäure
sequenzen und Proteinketten entstanden
ist, hat La Mettrie in der
auf Bilder angewiesenen Sprache so
sagen müssen: Der Mensch ist aus keinem wertvolleren Lehm geknetet; die Natur
hat nur ein und denselben Teig verwendet, bei dem sie lediglich die
Hefezusätze verändert hat.
Jeder Satz über La Mettrie, der
im Allgemeinen endet, verfehlt ihn.
Er beschreibt die Wohlgefühle, die
der Geist dem Körper bereiten
kann und begründet: ... denn ohne Zweifel zirkulieren
dessen Säfte besser, wenn die
Seele in ausge zeichneter Verfassung
ist. Das ist Psychosomatisches,
1748. Wäre es nicht
... eine Art Unmenschlichkeit, eine
Rose verwelken zu lassen, ohne
ihr die geringste Aufmerksamkeit
geschenkt zu haben? Das ist
La Mettrie. Ein Frühlingsausbruch sonder
gleichen. Empfindung als Erkenntnisquelle.
Genuß als Denkbedingung. Lust als
Seinserfahrung. Und Glück als
Sinn des Daseins. Ganz schnell und ein für alle Mal: Absurd,
diesen Mann für jemanden zu halten, der den Menschen zur
Maschine machte, ihn also der
Kybernetik, der Roboterei auslieferte.
Verfehlter als die Verladung dieses
Lebens
philosophen ins Technologische konnte nichts sein. Maschine
war für ihn das Wort, mit
dem er den höchsten damals
vorstellbaren Organisationsgrad ausdrücken
wollte. Die
sinnliche Empfindlichkeit, eben die Natur, war das schlecht
hin Unabdingbare. Von heute aus
gesehen, gibt es für die
Schrift L¹Homme
Machine keinen irreführenderen
Titel. Man
vergesse doch nicht, daß La Mettrie danach noch verfaßt hat
L¹Homme Plante und Les Animaux plus que Machines. Letzteres
versehen mit einem Motto von Moliere: Les Bêtes ne sont pas si
bêtes que l¹on pense.
Es lohnt nicht, die vom Vorurteil lebenden Verfälschungen
ins Sciencefictionhafte zu widerlegen. Aber vielleicht hilft es,
sich vorzustellen, was alles machine im Französischen in der
ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts
bedeutet haben kann. Im Dictionnaire Universel aus dem Jahr 1752 ist alles aufgeführt,
was La Mettrie bei der Arbeit an diesem Buch in den Jahren
bis 1747 wissen konnte, welche Vorstellungen, auch Empfin
dungen, dieses Wort in ihm weckte. Außer den Maschinen
Bedeutungen, die sich bis heute
gehalten haben, ist damals
der deus ex machina mehr als ein Theatertrick. Der Diction
naire von 1752 versteht unter deus ex machina jede Art von
dichterischen Einfällen oder Handlungen,
mit deren Hilfe unlösbar gewordene
Schwierigkeiten überwunden werden. Und
es ist eben die Mitwirkung von
etwas Göttlichem (de quelque
Divinité), die dann als machine
übernatürliche Wirkungen erbringt.
Gottliebes und Maschinelles in einer
uns nicht mehr vorstellbaren
IntimKooperation. Die Ma schine ist
da alles andere als ein
seelenloses Gefüge. La Mettrie hat,
zum Beispiel, die MaschinenVorstellung
benutzt, um zu beweisen, daß die Willensfreiheit ein Irrtum
ist. Wie kann ein Mensch eine
Maschine, die er nicht selber
gebaut hat, die er aber ist,
nach seinem Willen lenken? Maschinell
muß für ihn ein Wort gewesen
sein wie für uns automatisch. Da denken wir
auch nicht mehr an einen
Automaten, sondern an von selbst. Aber daß er mit Maschine
das Gegenteil von allem KybernetischRoboterhaften gedacht
und beschrieben hat, sollte
zweihundertfünfzig Jahre nach seinem
Tod auch in der deutschen
Sprache denkmöglich werden. Seine
esprits animaux sind
keine Mega und Giga bytes. Les Poétes apellent le monde la machine ronde. So offerier
te es der Dictionnaire
von Trévoux im Jahr 1752.
Erwähnens wert ist die historisch
bedingte Unfähigkeit der deutschen
Sprache, auf dieses französische
Denkangebot, vernünftig,
das heißt: nicht ideologisch zu reagieren.
L¹Organisation est le premier mérite de l¹Homme heißt es in Die
Maschine Mensch. Das wird so übersetzt: Dieser organische Bau
ist das erste Verdienst des
Menschen. Etwa zu sagen:
Der
Mensch ist vor allen anderen Lebewesen ausgezeichnet durch seine
Organisation ging nicht, weil
in der deutschen Sprache in
Organisation nichts Organisches mehr mitklingt, während im
Dictionnaire Universel von Furetiére, 1725, steht: Organisation.
Terme d¹Anatomie, und: Il signifie ainsi, la figure de l¹organe de
la génération. Also das
Geschlechtsteil selbst heißt l¹Organi sation. Mehr Körper
kann man dem Wort kaum
mitgeben.
Und zum Seelischen steht da, daß also die Seele sich bildet,
wie der Körper sich organisiert.
Also: daß die Seele jeweils dem
Körperlichen entspricht. Und deshalb
sah eben ein La Mettrie das
Organische als das, von dem die
Entwicklung
der Seele bestimmt wird.
Ein solches Angebot war keinem
deutschen Denker je beschieden.
Unsere Sprache lebte, wie es La
Mettrie einmal
aus der deutschen Philosophie zitierte, von der symbolischen
Erkenntnis. Er aber lebte von der durch die Sinne, durch die
Erfahrung, durch das medizinische
Studium genährten
Erkenntnis, was eben heißt: wenn die Philosophie noch eine
Magd war, dann nicht mehr die der Theologie, sondern die
der Natur. Alle Fähigkeiten der
Seele seien abhängig de la propre Organisation du
Cerveau et de Wut le Corps,
qu¹elles ne
sont visiblement que cette Organisation même. Voilá une Machine
bien éclairée! Übersetzt wird:
Da aber alle
Fähigkeiten der Seele
so sehr von dem eigentümlichen Bau des Gehirns und des ganzen
Körpers abhängen, daß sie offensichtlich nur dieser organische Bau
selbst sind, so haben wir es mit einer gut erleuchteten Maschine zu
tun. Daß die Seele nichts ist als die Organisation selbst, diese
Seinsintimität ist der deutschen
Sprache offensichtlich nicht
zumutbar. Wenn La Mettrie Materie des Höchsten für fähig
hält, nämlich der Gewissensregung,
ruft er geradezu aus: L¹Organisation suffiroitelle donc
á tout? Oui, encore une
fois.
Und wieder kann das Deutsche nur hinkend folgen. Sollte der
organische Bau allem genügen? Noch einmal Ja.
Der Übersetzer und Herausgeber Bernd A. Laska ist, soweit
ich sehe, der einzige, der gewagt hat, l¹Organisation Organi
sation sein zu lassen. Mit
eindeutschender Umständlichkeit wäre La
Mettries letzte große Schrift, der
AntiSeneca, nicht zu
übersetzen gewesen. Das
Glück, das aus unserer Organisa tion
stammt, ist das beständigste und
am schwersten zu erschüt ternde.
Oder über die Erziehung: Alte Prägungen sind schnell
einmal vergessen. «Maschinenmäßig» gewinnt
dann die Organi
sation zurück, was die Erziehung
ihr geraubt zu haben schien, so
als ob die Formung nach einem
Ideal eine Verformung gewesen
wäre. Hier denkt man bei
maschinenmäßig automatisch
an automatisch
beziehungsweise von
selbst. Wenn es einem
Übersetzer erlaubt wäre, ein Wort
nur auf seine Bedeutung hin zu
übersetzen, dann wäre L¹Organisation am vollstän
digsten mit Natur zu übersetzen.
Manfred Eigen, der gedankenreiche und
sprachbewußte Physiker, hat, als er
die Zusammenwirkung von Nuklein
säuremolekülen mit Proteinmolekülen bei
der Entstehung des Lebens beschrieb,
formuliert, daß die
Selbstorganisa
tionsfähigkeit der Materie bisher eher unter als überschätzt wurde.
La Mettrie war nicht der erste
und nicht der letzte, der das
Organische beziehungsweise die Natur
zur Bedingung für alles machte.
Es gab vor ihm Spinoza, der
alles, was La
Mettrie erlebte und beschrieb, schon systematisch entwickelt
hatte − die materielle Einheit
der Welt bis zur empfin dungsfähigen
Materie −, und er hat dafür
genug Feindseligkeit geerntet; aber
er hat offenbar die Erfahrung,
daß die Materie fähig ist zu
empfinden, nicht aus seinem eigenen
Körper und dessen Bedürfnissen und
Ansprüchen abgeleitet. Er hat der
Natur Gottlieben Rang erobert. Aber
um sie so zu erhöhen, brauchte
er doch noch Gott. Den
braucht La Mettrie nicht mehr. Ohne Gott aktiv zu leugnen,
entwickelt er eine vor Freude und Farben strahlende Welt an
diesem Mastergott vorbei: Deshalb
konnte Lessing, der La
Mettrie als Pornoschriftsteller verachtete, sagen: Es gibt keine
andere Philosophie als die
Philosophie Spinozas. Und später
Albert Einstein, von einem Rabbiner
gefragt, ob er an Gott
glaube: Ich glaube an den Gott Spinozas ... Auch wenn er dann
den allzu menschenähnlichen Gott verwirft und aus Spinoza
einen Gott der Superstruktur bezieht,
auf La Mettrie wird
sich keiner berufen, wenn er nach Gott gefragt wird. Er ist als
Arzt so erfahrungshörig wie als Philosoph. Daß er nicht von
sich absehen kann, befreit ihn
aus den Zwängen zum System, das
nachher nicht mehr weiß (oder
sogar verbirgt),
woher es kommt und stammt.
Die Empfindung bzw.
Wahrnehmung erklärt er zur
Quelle allen Urteilens. So kann
er gegen Ende seines AntiSeneca sagen: Ich habe das Thema meinen
Empfindungen entsprechend
abgehandelt und sozusagen meinen Charakter zu Papier gebracht.
Trotz dieses nichts als persönlichen Schreibens geht ihm der
gesellschaftliche, ja menschheitliche Anlaß
nie verloren.
Wenn er sich gegen Anfeindungen jeder Art wehrt, beteuert
er, daß er nur danach strebe,
die menschliche Gattung
von
Schuldgefühlen zu befreien. Er hasse, ja verabscheue alles, was
der Gesellschaft schade. Der Philosoph muß formulieren: Die
Tugend ist nichts als eine willkürliche Konvention. Die aber will
er, auch wenn er sie nicht
absolut gelten läßt, doch achten.
Genau so wie er nichts tut
oder tun will, was ihm Schuld gefühle verursacht, obwohl
er erkennt, daß Schuldgefühle nur
ein Produkt der Erziehung sind. Er ist ein Moralist der höheren
Art. Die Ketten der Vorurteile und Schuldgefühle zerbrechen: Das
ist sein unerschöpfliches Motiv. Sein Ziel: die Glückseligkeit
der ganzen Menschheit. Daß er,
wie kühn er auch wird,
immer sich, seine Erfahrung und Empfindung, seinen amour
propre anruft zur Bestätigung
oder Widerlegung alles Gedachten, das
macht seine Verläßlichkeit aus. Im
Beiläu figsten wie im Anspruchvollsten.
Wenn er müde sei vom Denken
und Schreiben und sich ganz
leer fühle, lese er Montaigne
und empfinde dann dessen
Geschriebenes wie eine leichte Brise,
die über die äußeren Fasern des
Kopfes streicht und so auf die
inneren des Gehirns wirkt und
dem überanstrengten Gehirn die
Schwere mildert. Und merkt
dazu an: Die gleiche Wirkung hat auch ein Guß kalten Wassers:
Das durch die Anspannung gestaute
Blut kann wieder frei
zirkulieren. Pfarrer Kneipp läßt
grüßen. Aber auch an Rom und
Griechenland wird man als sein
Leser oft erinnert. Überhaupt reichen wir an die Alten nicht heran. Das läßt ihn sich
zu Cicero und Plinius d. J. zählen, daß die nur ihre persönlichen
Vorlieben überschwenglich dargestellt
haben. Aber er geht nie
unter in einem Gedankenimpressionismus, sein Thema bleibt
die Natur, auch
wenn er es ganz und gar
aus seiner Emp
findung, seinem amourpropre behandelt.
Trotz aller Bildung kommt er
wie ungelehrt daher. Nor matives ist
ihm fremd. Das Denken geht den
Sätzen nicht
voraus, sondern findet in ihnen, durch sie statt. Es gibt, was
er gibt, nur in seinen Sätzen. Die Sätze bezeugen unmittelbar,
aus welcher Erfahrung sie stammen.
Sein Gedachtes drückt immer die
Stimmung aus, aus der es
entstanden ist. Eben diese
erfahrungsgesättigte Kenntlichkeit, diese
immer aus dem eigenen Leben
stammende Stilistik hat ihn in
Verruf gebracht. Bei den Theologen
und bei den Aufklärern gleichermaßen.
Es charakterisiert ihn gewaltig, wie
Lessing
und Diderot auf ihn geschimpft haben. Lessing empfahl ihm
in der Rezension von L¹Art de jouir als
Titel Porneutik. Priapeische
Ausrufungen seien das. Und
Diderot: Einen in
seinen Sitten und Anschauungen so
verdorbenen Menschen
schließe ich aus der Schar der Philosophen aus. Das gibt es ja bis
heute, daß Intellektuelle, die es
zu Ansehen, also Einfluß, also
Macht gebracht haben, einen anderen
Intellektuellen,
der ihnen nicht liegt, aus der Branche ausschließen möchten.
Das ist, auch unter säkularisierten
Umständen: odium
theologicum. Ein Eifer, der entsteht, wenn man sein eigenes
aufgeklärtes Normatives universalisieren
will. Noch fünfzehn Jahre später
hat Lessing es in seinem vor
Wahr
nehmungslust und Folgerungskraft blitzenden Laokoon nicht
lassen können, des längst Verstorbenen böse zu gedenken. Es
geht um La Mettries Porträtbild.
Beim ersten Hinschauen halte man
den Gesichtsausdruck des Abgebildeten
für
Lachen, schaue man noch einmal hin, wird aus seinem Lachen
ein Grinsen. Warum reizt er
die Anständigen so? Weil er
mutwilliger schreibt als sie. Er fühlt sich erst wohl, wenn er
das Gefühl hat, er sei zu
weit gegangen. Zu weit, was
Anstand und Sittlichkeit angeht. Er lebt geradezu davon, das
öffentlich zu bezeugen, was bisher jeder ausgeklammert hat.
Dieser Leidenschaft verdanken wir diese Zeugnisse, die uns
sagen, daß im 18. Jahrhundert kein bißchen anders empfun
den wurde als heute. Und wir
erkennen, was alles, etwa in
der aufklärerischen Enzyklopädie,
ausgeklammert wurde.
Und das war sein Vergehen: Er hat die Sinne zu seinen Phi
losophen gemacht, er hat versucht
gleichsam im Durchgang
durch die Organe die Seele zu
entwirren, aber − und damit
entspricht er immer noch moderner
Quantenphysik, die ohne die Statistik
nicht auskommen will − aber,
sagt er, er könne zwar nicht
mit letzter Eindeutigkeit die Natur
selbst des Menschen entdecken, aber
er suche den größten
Wahrscheinlichkeitsgrad dies betreffend zu
erreichen. Weil er alles, was
er denkend erfuhr und dadurch
erkannte, auch
wieder auf sich anwandte, auf sich als Mann und Mitbürger,
also auf seine Lust und auf
seine Moral, und so zu einer
Sprache kam, Lust überhaupt und
Moral überhaupt betreffend, deshalb
wurde er beschimpft und verleumdet
wie sonst keiner. Und hat doch
geschrieben: Sich um die
Gesellschaft verdient machen − darin besteht ... alle Tugend.
Keiner hat so leidenschaftlich gegen
die Todesstrafe ge schrieben. Der
Verbrecher habe getötet aus
bestimmten Gründen, aus Not,
Verzweiflung oder sittlicher Be
schränktheit; der Henker töte (den Verbrecher) für nichts als
Geld. Und so weiter. Wo immer man ihn aufsucht, er wirkt
immer wie ein Mensch mozartischer
Heiterkeit, Sin nenfreudigkeit und
Offenheit. Aber um das Niveau
seines auf die Materie gerichteten
Denkens noch einmal der heu
tigen Sprache auszusetzen, noch einmal Manfred Eigen: Wir
verstehen − um es ganz klar zu sagen − unter «Selbstorganisation
der Materie» nichts anderes als
die aus definierten Wechselwirkungen
und Verknüpfungen bei strikter
Einhaltung gegebener Randbedingungen
resultierende Fähigkeit spezieller
Materieformen, selbstreproduktive Strukturen
hervorzubringen.
Oder − und man stelle sich vor, mit welchem Enthusiasmus
La Mettrie solche Sätze gelesen hätte: Indem wir das Phänomen
Leben auf die Gesetze der Physik und Chemie zurückführen, stellen
wir keineswegs in Abrede, daß diese neue Ebene der Organisation
sich in einer für diese allein typischen und charakteristischen Form
äußert, ja, daß aus der
materiellen Organisation schließlich auch
nichtmaterielle Wirkungen hervorgehen.
Bleiben wir innerhalb der
philosophischen Sprache, die
jetzt das Sagen nicht mehr hat, wenn es um Natur geht. Der
Anspruch La Mettries an das
Denken existiert noch. Seine esprits animaux, seine organismische Struktur, seine Zirkulation
des Blutes, der Lymphe, sein
Bedürfnis, bei der
Natur in ihrer großartigen
Einfachheit zu verweilen, das
alles hat inzwischen andere Namen,
aber diese neuen Namen bestätigen,
daß
seine Wörter, die entstanden waren gegen das Himmel und
Erde verfinsternde Vorurteil, ihre
Helle nicht eingebüßt
haben. Und die, die ihn als einen philosophierenden Unhold
verdammten, hat er schon vorweg überholt mit dem Satz: In
der Gesellschaft, in der er
trotz seiner Kühnheit kaum mit
Einfluß rechnen könne, sei seine
einzige Maske die Masken
losigkeit gewesen. Die Zeit,
in der die gewissermaßen radikale
Bezüglichkeit des Denkens auf den,
der denkt, anstößig wirkte, ist
vorbei. La Mettrie ist zwar
ziemlich unbekannt geblieben, aber er
müßte, um akzeptiert zu
werden, nur noch gelesen werden.
II. Wenn man in einem anderen das entdeckt, worin er nicht
übertroffen werden kann, ist man glücklich. Und wenn man
das in einem Denker entdeckt,
der vor mehr als 250 Jahren
gedacht und geschrieben hat, ist man glücklich und fröhlich.
Daß man zu jeder Zeit
Unüberholbares aussprechen oder
schreiben kann, darf einen auf fröhliche Art festlich stimmen.
Aber verfehlt man ihn nicht
doch, wenn man sich so emsig
um ihn bemüht? Der von Montaigne geerbte Anspruch: sich
selbst zum Thema zu machen! Und La Mettrie hat, wie weit
er dann auch ausgreift, nichts
anderes getan, als eben sich,
seinen Charakter zu Papier zu
bringen, ohne daß ihm die
radikale Inanspruchnahme der eigenen
Erfahrung je zum Bloßprivaten
verkommen wäre. Jetzt, mach¹s auch
so. Ohne
es nachzumachen. Dein durch La Mettrie geschärftes Thema:
die Erziehung als eine Ausbildung
zum Gefangenen. Von Anfang an
war kein Mensch und keine
Institution daran interessiert, dich
zu dir selbst kommen zu lassen.
Die Erziehung als Zumutung. Aber
dann hast du angefangen, deine
Erzieher zu betrügen. Du hast
mehr als eine
Persönlichkeit entwickelt.
Das tut jeder. Keiner ist nur
das, was die Erziehung aus ihm
machen wollte. Wieviele Persönlichkeiten
einer dann ausbildet, hängt davon
ab, wieviele er zur Befriedigung
seiner Bedürfnisse braucht. Ein paar
Berufspersönlichkeiten und ein paar
Privatpersönlichkeiten sind es allemal.
Der Erfolg dieser
Persönlichkeitenentwicklung hängt davon ab,
wie sehr es dir gelingt, jede
Persönlichkeit, wenn du sie brauchst,
wenn sie also agiert, als deine
einzige zu produ
zieren. Dazu mußt du jedesmal selber glauben, das jetzt seist
du ganz und gar. Dann wird
dir das auch von anderen
geglaubt. Dieser mozartische
Kettenzerbrecher hat dich hingewiesen
auf deine Gefangenschaft. Also, dem
Befreier
La Mettrie gewidmet: Du als der Gefangene. Von Anfang an.
Was auch immer du an Fluchten
geplant und ausgeführt hast, du
bist ausgebrochen als der Gefangene,
und wo du
hinkamst, warst du der Gefangene auf der Flucht. Die Lage
ist schwieriger als zu La Mettries Zeiten. Sein Haß gegen die
Vorurteilsfürsten seiner Zeit, gegen
die Theologen und gegen die das
Vorurteil kultivierenden Philosophen, war
leicht zu haben. Die Szene war
danach. Die Szene hat sich
verfeinert. Wessen Gefangener bist du denn? Auf jeden Fall
erleidest du eine Daseinsminderung
auf Schritt und Tritt, weil du
nicht dein Leben lebst, sondern
ein Gefangenen leben. Das ist
geworden aus einem Erziehungprogramm,
dem man nichts Böses nachsagen
kann. Du darfst dich für
typisch halten. Andere, die du liebst, wieder andere, die du
nicht liebst, kommen dir verwandt
vor. Durch Erfahrung
oder Schicksal. Ihr könnt euch in allem vergleichen, aber daß
ihr Gefangene seid und wie
sehr, das verschweigt ihr vor
einander. Du bist jetzt immerhin so weit, daß du dir, sobald
du dein Gefangensein verheimlichst,
nichts mehr glaubst. Von allen
Persönlichkeiten, die du hast
entwickeln müssen, hat sich keine
so übermäßig entwickelt wie die
des Gefan genen. Daß du nicht
sagen darfst, wessen Gefangener du
bist, macht dich mundtot. Daß dir erlaubt ist, dich für frei zu
halten, du aber von dieser
Erlaubnis keinen Gebrauch machen
kannst, macht dich vor dir
selbst zum Feigling.
Denen, die mit dir zu tun hatten, ist es gelungen, ohne Plan
gelungen, ganz von selbst gelungen,
dich zu einem Menschen zu
machen, der von keiner angebotenen
Freiheit Gebrauch machen kann. Er
kann einfach nicht. Er ist ein
Gefangener. Jeder Versuch, dich frei
zu fühlen oder gar zu benehmen,
mündete bis jetzt im Schuldgefühl.
Das ange borene oder anerzogene
Gewissen. Ob angeboren oder
anerzogen, es ist die mächtigste, wachsamste, unerbittlichste,
unbetrügbarste Regung, deren du fähig bist.
Die Gegenwelt, deren Gefangener du
von Anfang an bist,
ist das Gute. Das jeweilige Gute. Das immer so genannte, das
immer anerkannte, das herrschende
Gute. Du kannst den Mund nicht
aufmachen gegen das Gute, ohne
dir schlecht vorzukommen. Du erkennst
das, was als das Gute gilt
und herrscht und es wahrscheinlich
sogar ist, du erkennst es nicht
an. Aber du wagst es nicht,
daraus Handlungen werden zu lassen.
Du bist der Gefangene, das
heißt, du darfst nicht sagen,
was du denkst; du darfst nicht
handeln, wie du willst, sondern
du mußt leben, wie du mußt.
Und daß Rousseau meint, wer
glaube, der Herr über andere zu
sein, sei noch mehr ein Sklave als jene, über die er Herr ist,
hilft dir nicht. Das ist die
Gerechtigkeitsillusion. Von dir
wird sogar verlangt, daß du dein Gefangensein kein bißchen
sehen, spüren, merken läßt. Alle
deine Verrichtungen, Äußerungen, Handlungen
müssen aussehen, als geschähen
sie freiwillig. Bis zum Aberwitz werden Wörter gedrillt, wird
die Grammatik gequält, um zu
beweisen, der Mensch habe einen
freien Willen. Das wiederum findet
statt, um ihn bestrafbar zu
machen. Dabei ist zuzugeben, daß
schon die
Frage, ob der Mensch einen freien Willen habe, ein Witz ist.
Jede Frage kann so beantwortet werden, wie sie es wünscht.
Mehr noch, sie enthält die
Antwort ganz und gar. Anders
wäre dein Leben die stummste
Trostlosigkeit. Aber da du durch
Erfahrung weißt, daß du genau
so keinen freien Willen hast,
wie du einen freien Willen
hast, kannst du dir einbilden,
es gebe überhaupt Spielraum. Eines
Tages wird das Leben auf deine
Träume hören. Es kann nicht
anders. Und das Wichtigste: Du
hast in deinen Träumen keine
Schuldgefühle. Du unterliegst zwar
regelmäßig und mußt
Mißhandlungen und Demütigungen hinnehmen; aber immer
erst, wenn du ausgebrochen bist,
aufgebrochen bist, wenn
dir eine im Traum nicht meßbare Zeiteinheit lang Freiheit ge
lungen ist. Shakespearisierend kannst
du dir in deinen Träumen
vorkommen. Trotz der Bestrafungen,
denen du
dann regelmäßig unterworfen wirst, trotz der Gemeinheiten,
die dir dann körperlich und
seelisch angetan werden, du hast
Freiheit gehabt. Du warst nicht
meßbare Zeiteinheiten lang frei von
Schuldgefühlen. Das wird durch nichts
so
deutlich wie durch das Erwachen. Der Sturz des Gefangenen
in sein Zeug. Das Verstummen.
Das Verneintsein. So sehr,
daß du es nicht nur geschehen läßt. Der Grad des Verneint
seins produziert eine diesem Grad
entsprechende Kraft. Zuerst nur als
Vorstellung. Aber je unverfälschter
du dem Gefangensein als Verneintsein
erlebst, um so deutlicher erlebst
du diese Kraft, die wirkt, als
könntest du alles, was
du willst. Das kann doch nicht nur eine Einbildung sein, ein
Schattenkringel an der Wand der
Zelle, in die keine Sonne
fällt? Die Frage ist die
Antwort. Kolumbus hatte die Him
melsrichtung. Der Rest war
Seemannschaft. Die Sprache, in
der du es jetzt ausdrückst, ist eine Sklavensprache. Sie ist ein
Signal. Verständlich, hoffst du,
denen, die auch in einer
Gefangenschaft leben. Vielleicht ruft einer zurück. Oder viele
rufen zurück. Illusion. Des Gefangenen. Daß das so ist, ist dir
denkbar geworden durch den emsigen
Umgang mit dem, der die Ketten
des Vorurteils und der Schuldgefühle
zerbrach. Julien Offray de La Mettrie. Der Umgang mit ihm
wird fortgesetzt. Am 20. Mai 1887 schrieb Nietzsche an einen
Freund: «Die Behauptung Plato¹s, daß
man mit Massage sogar Gewissensbisse
heilen könne, verdiente, erprobt zu
werden.» Heureka!
Das durfte sie doch wohl Glück nennen. So muß es auf dem
KolumbusSchiff gewesen sein, als die
Neue Welt in Sicht kam. Ein
aus dem Innersten stammender
Jubellaut, der da drin schon so
lange gewartet hatte, immer
unterdrückt,
immer wieder belehrt, daß es noch nicht so weit sei, daß es
vielleicht überhaupt nie so weit
sein werde, daß er, der
Jubellaut, wahrscheinlich, höchstwahrscheinlich
sogar, für immer und ewig im
dunkelsten Innersten zu bleiben und
dort gespensterhaft zu verkümmern habe. Und jetzt durfte er
heraus, der Jubellaut. Der Laut
entrang sich ihr. Er hatte
Mühe, herauszugelangen. Es war die Geburt eines Lauts. Sie,
die Befreierin. Und das würde Gottlieb W. Zürn in Berkeley
öffentlich kundtun! Er würde nach Amerika gekommen sein,
weil er sich, wie MontaigneLa
Mettrie es empfehlen, zum
Thema gemacht und damit der Aufgabe, über La Mettrie zu
sprechen, beispielhaft entsprochen hat.
Und sie fing an, den
Schicksalstext zu übersetzen. Das
Befreiungsevangelium, die Frohe Botschaft.
Sie hatte noch nie einen Text
übersetzt, den man, wenn man
ihn las, voll kommen versteht, aber
nachher, wenn man ihn übersetzen
will, sträubt er sich. Deutsch
teilt er sich einfach mit. Aber
wenn man diese Einfachheit ins
Englische überträgt, ist sie
nicht mehr da.
Den Verfasser anrufen. Egal, wer da an den Apparat kam.
Und prompt kam sie. Mein Mann ist im Augenblick nicht zu
sprechen. Die wußte Bescheid. Die würde ihrem Mann nicht
einmal mitteilen, daß er aus Amerika angerufen worden war.
Es geht um den Vortragstext,
hatte sie noch, zunehmend hilflos,
in den Hörer gerufen. Aufgelegt.
Das Transatlantik rauschen. Mein Mann. Das
besitzanzeigende Fürwort. Aber
Beate konnte nicht aufgeben. Sie rechnete. Wenn die Frau in
Pfullendorf und sonst wo war,
mußte er an den Apparat kommen.
Der Gefangene. Und er kam an
den Apparat. Sie
jubelte. Ihm zu. Dem Text zu. Gestand aber unterwürfig, daß
sie das nicht ohne ihn ins
Englische zu bringen wage. Sie
macht eine Rohfassung. Dieses Wort
endlich in einer sie begeisternden
Verwendung. Er kommt, dann schmiegen
sie gemeinsam den Text ins
Englische. Das heißt aber, daß
er nicht vierundzwanzig Stunden vor
der Tagung eintrifft, sondern vier,
fünf, am besten sechs oder
sieben Tage. Am
Montag, dem 19. März. Sie wird freinehmen. Das wird nicht
leicht sein. Sie kann das nur
fordern, weil die Übersetzung das
fordert. Er klang sowohl glücklich
wie bedenklich. Am liebsten käme
er vierzehn Tage vorher, aber
er wisse schon
jetzt, daß mehr als vier Tage vorher nicht drin seien. In was
drin, dachte sie und sagte: Wenn du meinst. Er so kleinlaut
wie noch nie: Ich nicht, aber ... Und ließ den Satz routiniert
hängen. Sie sagte: Ich verstehe. Und er: Danke. Sie legte auf.
Warum wurde es ihr jetzt nicht
schlecht! Warum kotzte sie jetzt
nicht! Weil sie es nachher
selber wieder aufputzen müßte. Nein,
nein. Einer Frau in historischer
Funktion und
Mission wird es nicht mehr schlecht. Sie wird gebraucht. Sie
ist die Befreierin. Und das ist
weder Anmaßung noch Einbildung. Rise to the Occasion.
Wie immer Anfang März, die
floridasüchtigen Eltern. Die Wellensittiche
als Vorwand, in North Carolina
Station zu machen und der
Tochter zu Taten zu raten, zu
Eltern entlastungstaten. Keine Antique
Malls diesmal. Die Mutter
machte einen gesättigten Eindruck. Sie hatte gerade per eBay
ein zwölfteiliges MeißenService, produziert 1935, für ganze
sechzehnhundert Dollar erschachert und
in abenteuerlicher
Fahrt droben in New Hampshire selber abgeholt. Der Vater
fragte wie immer, ob ein Heiratskandidat in Arbeit sei, und
fragte wieder so, daß er seine
Art zu fragen für taktvoll
halten konnte. Sie klagte nicht − und über nichts. Schon lange
nicht mehr. Sie hatte einmal,
beiläufig, eine Verstimmtheit mit
these days of the month
begründet, darauf der Vater:
Was sie beklage, habe sie sich selbst zuzuschreiben, solange
sie sich ihrer weiblichen Bestimmung
verweigere. Seitdem
vermied sie in seiner Gegenwart jede Art Klage. Er dagegen
klagte auch diesmal und wie
immer: Noch nie sei es so
schwer gewesen wie jetzt, deutsche
Autos in New York zu verkaufen.
Und dann auch noch von
Mercedes. Die oberschlauen Bayern
hätten in New York einmal einen
installiert, der sei beim Jungvolk
gewesen, B¹nai Brith habe das
als harmlos bezeichnet, da der
hier schon zweimal verheiratet
gewesen sei, zweimal mit einer
Jüdin, zweimal nach jüdischem Ritus.
Und schaute dabei seine Frau
fast
vorwurfsvoll an. Also sagte sie: Dann hau doch ab. Er nickte
ganz langsam und sagte, er
wolle doch nur sagen, daß es
nicht leicht sei. Und sie
vollendete: Deutsche Autos zu
verkaufen, ja, ja. Und er, weil
sie das ausgelassen hatte: In
New York. Da mußte die Tochter
dann doch sagen: New York ist
Spitze. Und der Vater: Eines
Eisbergs. Sie mußte
sagen: Ach, Papa. Und ihn ein bißchen küssen.
Am dritten Tag lag der Blaue, also Hansel, reglos im Käfig.
Und der Gelbgrüne, also Gretel,
saß reglos stumm auf der
Stange und sah auf Hansel hinab. Hansel war tot. Alt war er
noch nicht gewesen. Als sie
gestern heimgekommen war,
hatten beide sich benommen wie immer. Immer ein bißchen
zu laut. Vielleicht hatte Hansel das Genick gebrochen. Hatte
Gretel mit einem Kunststück imponieren wollen. Sie wickelte
ihn ein, trug ihn hinaus, kratzte in dem kleinen Park mit der
Büroschere ein Grab, beerdigte ihn,
am nächsten Morgen kaufte sie
im Zoogeschäft einen Nachfolger.
Taufte ihn Hansel. Der benahm
sich überlebendig. Der benahm sich
genau so wie sich Hansel noch
gestern benommen hatte.
Gretel akzeptierte ihn. Also würde die Mutter nichts merken.
Die Eltern rauschten floridagesättigt herein, bedauerten ihre
arme Tochter ebenso sehr, wie
sie sie bewunderten − Tag
und Nacht sitzt die und übersetzt diesen vertrackten Text für
die Tagung −, luden Hansel und Gretel ein, verstanden, daß
die Tochter dieses Mal überhaupt
nicht gesellig war, und
waren fort.
Er würde an einen Pfeiler
gelehnt stehen. Sie war all mählich
im Stande, sich nur noch mit
Konkretem zu be
schäftigen. Keine Panikszenarien mehr. Nur noch, was Sache
ist beziehungsweise sein wird. Wie
geht es dir, wird sie
sagen. Und er: Ich liebe dich auch. Und ohne das auch wäre
ihr der Satz lieber. Vielleicht
läßt er dieses auch weg. Dann der
Gang zum Hertzschalter. Nein, das
hat er ja schon erledigt. Er
ist ja schon seit dem Vormittag
im Land. Im
Hotel. Also, der Gang zum Auto.
Bis zuletzt wußte sie nicht, was sie anziehen würde. Sobald
sie sich für ein Kleid
entschieden hatte, drängten sich die
Nachteile dieses Kleids vor. Also das nächste. Bis sie wieder
beim ersten war. Dessen Nachteile
waren durch den Vergleich mit
den anderen Kleidern nicht weniger
grell
geworden. Es war ein Spiel. Ein Aufregungsgenußspiel. Eine
Befreierin kann anhaben, was sie
will. Sie mußte ohnehin, sobald
sie anziehen dachte,
an ausziehen denken.
Sie wußte,
sie war jetzt verrückt. Aber gefahrlos verrückt. Sie war selig
verrückt. Ihr Begleitpaar Angst und Wut gab es nicht mehr.
Sie wußte nicht mehr, wie das
war, eingeklemmt zwischen
Angst und Wut. Sie war so leicht wie noch nie. Steine in die
Manteltaschen, das brauchte sie. Sonst hob sie ab.
III.