Auseinanderkommen 

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

I.  
 
 
 
 
Im  Zimmer  riß  er  sofort  ein  Fenster  auf  und  hörte  dem  Geräuschgemenge  zu  wie  einer  Botschaft.  Daß  die  Fenster  des  Flughafenhotels  sich  öffnen  ließen,  machte  ihm  den  Hotelkasten  sympathisch.  Jenseits  der  weiten  Betonpisten,  der  abgestellten  Flugzeuge,  der  hohen  Zäune  das  Meer.  Wenigstens  der  Teil,  der  San  Francisco  Bay  heißt.  Die  far bigen Flugzeuge, Riesenvögel, aber kein bißchen zu groß für  die  Wasserweite.  Obwohl  sich  die  Bay  keine  Brandung  gestattete,  war  das  Ufer  an  diesem  Mittagsaugenblick  von  einer  weißen  Schaumrüsche  geziert.  Bräutlich,  dachte  Gottlieb. 

Von   seinen  zehntausend  Dollar  versorgte  er  gleich  einmal  neuntausendfünfhundert im Safe. Und kam sich vor wie im  19.  Jahrhundert.  Nach  einem  Code  gefragt,  fiel  ihm  nur  Annas  Geburtsdatum ein.  Im  Flugzeug,  beim  Ausfüllen  der  Fragebögen für die Einreise, hatte er die Zehntausend, die er  bei  der  Bank  aufgenommen  hatte,  nicht  angegeben.  Seinen  Bankherren  hatte  er  ein  Geschäft  in  Kalifornien  vorgegau kelt.  Landkauf  im  Sonoma  Valley.  Zukunftsreichstes  Wein land der Welt. Er fliegt da für einen Kunden hin. Sogar Anna  gegenüber  hatte  er  getan,  als  werde  er  in  den  drei  Wochen  nebenbei  noch  einen  Angebotskatalog  für  deutsche  Anleger  aufreißen.  Das  mußte  er  auch  sich  selber  vormachen.  Selbst  wenn man weiß, daß das, was man sich vormacht, nur etwas  Vorgemachtes ist, wird aus dem Vorgemachten etwas Spür bares, Fastreales. Man kann überhaupt nicht lügen, ohne an  das, was man lügt, zu glauben. Ein bißchen. Man kann nicht  andere  hereinlegen,  ohne  sich  selbst  hereinzulegen.  Zumindest Gottlieb konnte das nicht. Schau lieber hinaus auf  die  bräutliche  Rüsche.  Das  ist  doch  die  reine  Möglichkeit.  Und  dieses  Hotelzimmer  in  seiner  grandiosen  Vermeidung  von  allem  Persönlichen!  Auch  der  geringste  Anhauch  von  Persönlichem,  gar  Geschmack,  könnte  falsch  sein,  könnte  stören.  Dieses  Zimmer  aber,  in  seiner  blaßgrünen  Dien lichkeit,  diese  Nichteinengung  in  Persönliches,  diese  Nicht behauptung, dieses Nichtsbeweisenwollen! Dieses dich ganz  und gar gelten lassende Zimmer ist der Aufbruch. Und war  so  aufgeregt,  daß  er  nicht  im  Zimmer  bleiben  konnte.  In  dreieinhalb Stunden würde er drüben im Flughafen vor Gate  68 stehen, bis sie auftauchte. 

Im  Aufzug wieder ein paar von diesen FezTrägern, durch  die  er  sich  schon  bei  der  Ankunft  den  Weg  zum  Empfang  gebahnt hatte. Was daheim eine Fasnachtsgesellschaft gewe sen wäre, war hier, laut Informationstafel, ein altägyptischer  Orden  und  hieß  SCIOTS.  Roter  Fez,  schwarzer  Fez,  glit zernde  Kinkerlitzchen,  alles  ältere  Männer  beziehungsweise  Herren,  sie  staksten  mehr  als  sie  gingen.  Aber  jeder  stakste  anders  als  der  andere.  Keine  zwei  litten  unter  der  selben  Beeinträchtigung.  Das  fand  Gottlieb  interessant.  Im  Aufzug  sagte  ein  solcher  FezTräger  zu  den  anderen  FezTrägern:  This  is  the  best  chance  we  ever  had  to  paint  these  bastards  into a corner. Gottlieb war gierig darauf, möglichst viel von  Amerika  mitzukriegen.  Wovon  redeten  die?  Er  vermutete,  von Feinden der USA, die man nicht länger schonen durfte.  Er  fühlte  sich  angeschaut  von  einem  mexikanisch  ausse henden Buben, vier oder fünf Jahre alt. Der hatte eine fast zu  große  Puppe  im  Arm,  die  Gottlieb  vom  Fernsehen  her  zu  kennen  glaubte.  Gottlieb  mußte  das  Puppenmonster  an schauen statt den Buben. Er hatte den Eindruck, das Puppen monster habe den Vierjährigen im Arm. 

Als   er  in  der  Halle  einen  Sessel  suchte,  der  ein  wenig  Abstand  erlaubte,  blieb  eine  Dame,  die  einen  FezTräger  führte,  seinetwegen  kurz  stehen  und  rief:  I  am  ninetytwo  and I love you. Wahrscheinlich hatte er ihr leid getan, weil er  weder  den  roten  noch  den  schwarzen  Fez  trug  und  auch  sonst mit keinerlei Kinkerlitzchen ausgezeichnet war. Einige  FezTräger  hingen  in  Sesseln,  streckten  die  Beine  von  sich  und  schliefen  mit  klaffenden  Mündern.  Gottlieb  fühlte  sich  mit  allen,  die  er  sah  und  hörte,  solidarisch.  Im  Stim mengeräusch  gaben  Frauenstimmen  den  Ton  an.  Er  fand  einen  Sessel,  der  mehr  als  einen  Meter  von  der  nächsten  Sitzgelegenheit weg war. Er streckte die Beine auch von sich.  Er  spürte  sich.  Wahrscheinlich  würde,  bevor  Beate  landen  konnte,  San  Francisco  in  einem  Erdbeben  untergehen.  Wie  1905.  Er  spürte,  wie  sich  in  der  unteren  Mitte  Wärme  sammelte.  Sie  floß  förmlich  zusammen.  Die  Muskulatur  schwoll.  Sein  Geschlechtsteil  wollte  auf  sich  aufmerksam  machen.  Außer  ihm  sollte  nichts  mehr  spürbar  sein.  Der  angenehme  Schmerz  des  übersteifen  Teils.  Endlich  wieder  einmal.  Ihm  war  nach  Fortpflanzung.  Anfallartig.  Drastisch  buchstabierte  sich  in  ihm  die  durch  nichts  gehemmte  Fortpflanzungssucht. Die Wörter droschen auf ihn ein. Beate,  kleiderlos und fortpflanzungssüchtig wie er. Das, von beiden  empfunden, als Steigerung dessen, was zwischen ihnen, mit  ihnen  stattfinden  konnte.  Schluß  mit  dem  grotesken  Ver hinderungs und Verhütungszirkus. Scheiden schlämmen. In  das  schwarzrote  Dunkel  ihrer  Scheidenschlucht  den  tag hellen  milchigen  Samen  träufen,  bis  von  allen  Rändern  und  Wänden  nur  noch  die  lichten  Samenschwaden  flössen,  die  Schlucht überschwemmten und schlämmten. Nicht Koitieren  macht  traurig,  sondern  der  Betrug,  das  Sichnichtfort pflanzendürfen. 

Gottlieb   konnte  sich  wieder  loslassen.  Der  Anfall  war  zu  Ende. Er stakste zur Bar. Bourbon on the rocks. Drei nachein ander.  Sollte  er  Kaltblütigkeit  imitieren,  hinauf  ins  Zimmer,  den  Samen  verschleudern,  daß  dann  der  Ernstfall  keiner  Übereilung zum Opfer fiele? 

Vor  zehn Jahren, ja. Aber jetzt? Sechzig vorbei! Aber einen  alkoholischen Dämpfer schon. Keine Details mehr. Wir sind  ein  Orchester,  das  keines  Dirigenten  bedarf.  Und  warum  nicht  alles  auf  Englisch  stattfinden  lassen?  Sie  gleich  so  begrüßen.  Und  holte  sich  sofort  einen  Stoß  Zeitungen  und  jagte  nach  starken  Wörtern.  New  wavers  in  skinny  tights  and  fluorescent  high  heels.  Lipstick  lesbians  in  biker  chic.  Crowds  of  backstage sycophants with their perpetual condescending sneers. A  white  buttondown  collar  oxford  cloth  shirt  open  at  the  neck.  The  possible  validity  of  TA  (transactional  analysis).  Cardcarrying  highbrows. Viciously homophobic stereotypes. Dogeared quotations  from  the  gurus  of  yesteryear.  Zu  spät.  Diese  Verbalarena  schaffst du nicht mehr. Allenfalls ein paar flabby clichés. Self  consciously hip. 

Dann   las er  sich  noch  fest  im  Investors  Business  Daily. Den  würde er, solange er im Land war, täglich kaufen. US. A Safe  Bet.  Und  zwar  im  Real  Estate  Geschäft.  Schon  daß  hier  die  Immobilie  Real  Estate  hieß!  Estate,  ein  Wort,  in  dem  nur  Feines  mitschwingt:  Klasse,  Eigentum,  Besitz,  Landbesitz.  Dank des schwachen Dollars sind Real Estate Geschäfte für,  zum  Beispiel,  Deutsche  35  Prozent  billiger  als  vor  zwei  Jahren. I see a lot of German money Coming over this year, sagte  gerade  der  Präsident  der  Prudential  Property  Company.  Gott lieb  interessierte  sich  nur  Annas  wegen  für  die  USImmo bilien. Ach nein. Ach doch. Jetzt die Seite Real Estate Business  aus  dem  heutigen  Investor¹s  Business  Daily  heimfaxen,  daß  Anna  sähe,  er  denkt  ans  Geschäft,  das  wär¹s.  Aber  das  schaffte er nicht.  Anna  könnte  die  Kartei  durchblättern  und  die Seite gezielt weiterfaxen. Ach, Anna. Er verbrauchte hier  Geld, das Anna verdient hatte. Und es ist spürbar toll, Anna,  hier  dein  Geld  zu  verbrauchen.  Jawohl.  Er  investiert  ins  Leben. Versteh¹s, wer will. Daß dieses Mädchen ihn liebt und  wie sie ihn liebt, das ist doch ein Wunder. Und über Wunder  muß  man  nicht  nachdenken.  Man  muß  sie  pflücken,  basta.  Sorry, Anna. Was hatte er gerade noch im Investor¹s Business  Daily gelesen? Das war doch sein Satz, sein ReiseMotto! Auf  der Titelseite des Investor¹s Business Daily, einer ist verurteilt  zu  zwei  Jahren,  Spitzenfigur  des  WallstreetRings  für  verbotene  InsiderGeschäfte,  und,  bitteschön:  In  a  clear  firm  voice, Kowalski told the judge he «abused the System I believed in  and  I  will  never  forgive  myself».  Und  kriegt  statt  möglicher  zwölf  Jahre  nur  zwei,  weil  durch  seine  Kooperation  der  ganze  Ring  aufflog.  Fabelhaft.  Dieses  Schuldgefühl.  Groß artig.  Das  läßt  sich  noch  lernen.  12,6  Millionen  hat  er  ge macht.  Bewundernswert.  Und  dafür  zwei  Jahre,  Anna,  sei  deinem Gottlieb gnädig, he will abuse the System he believes  in, but he will never forgive himself, never, Anna. Die Wör ter  sind  Huren.  Zum  Glück.  Ach  ja,  Meine  Gedanken  sind  meine Dirnen. Diderot. Nicht umsonst hat Dostojewsky einen  seiner  begabten  Lügner,  nämlich  den  KaramasowVater  Fjodor  Pawlowitsch,  verkünden  lassen,  Diderot  sei  zum  Metropoliten  gepilgert,  sei  dem  Kirchenfürsten  zu  Füßen  gefallen  und  habe  geschrieen:  Ich  will  mich  taufen  lassen.  Diderot,  den  Gottlieb  nicht  liebt.  La  Mettrie  liebt  er  ...  ich  werde  nichts,  was  meine  Sinne  nicht  erreicht,  als  ein  uner forschbares  Geheimnis  gelten  lassen.  Meine  Sinne.  Und  mit  denen  ist  kein  Bund  zu  schließen.  Wir  sind  ein  Schiffbruch,  der sich als Stapellauf gibt. Großartig. 

Als   Reiselektüre  hatte  er  den  XV.  Band  der  Werke  Rous seaus dabei. Ein Bändchen mehr als ein Band. Es hatte zum  Nachlaß  eines  homosexuellen  Barons  gehört.  Gottlieb  hatte  den  Nachlaß  erworben,  als  er  die  Villa  dieses  Barons  vor  vielen  Jahren  an  einen  Käufer  vermittelt  hatte,  der  von  der  Bibliothek  nichts  wissen  wollte.  Auf  der  Seite  vor  dem  Titelblatt war mit einer breit ausfallenden Feder eingetragen  worden:  Von  Dr.  Wiedersheim  aus  dem  Schloß  Sassoz,  Marg.,  Argonner  Wald,  am  28.  IX.  1914  «requiriert»  &  mir  am  1.Nov.  1914  geschenkt.  V.v.L.  Das  Bändchen,  verlegt  1823,  wurde  eröffnet  mit  den  Lettres  a  Sara.  Sara  ist  dreißig  Jahre  jünger  als  der,  der  ihr  vier  Briefe  schreibt.  Der  Autor  im  Vorwort:  Auch  ein  alter  Knacker  könne  bis  zu  vier  Liebesbriefe  schreiben und immer noch aller Ehren wert sein, aber sechs  Liebesbriefe  könne  er,  ohne  sein  Gesicht  zu  verlieren,  nicht  schreiben. Gottlieb hatte sich die Stellen anstreichen müssen,  die ihn ganz direkt angingen. 

   

Die  schlimmste Folter für mich ist, mich zu sehen,  wie Du mich siehst.                              
Seine  Themire  hatte  ihm  in  keinem  Brief  das  WARUM 

erständlich   machen  können,  warum  sie  ihn  angeblich  liebe.  Und sein französischer Vorgänger war erst fünfzig gewesen.  Die  unglaubwürdigen  Zärtlichkeiten  der  Zwanzigjährigen  seien für ihn nichts als eine weitere Demütigung. Ich liebe in  der furchtbaren Gewißheit, nicht geliebt werden zu können. Gott iebs  Reiselektüre.  Er  stimmte  zu.  Und  widersprach.  Wehrte  sich. Forderte für sich die Ausnahme. Das Wunder. Je mehr  er  dem  Rousseauschen  Briefschreiber  zustimmen  mußte,  desto  heftiger  widersprach  er  ihm.  Und  kramte  in  seiner  Tasche  nach  dem  Blatt  mit  der  La  MettrieStelle,  die  jetzt  seine  Lieblingsstelle  war.  Hier  darfst  du  dich  zwanglos  dem  willkommenen Drängen der Natur überlassen. Dort mußt du dich  verkrampfen, mußt die Natur bekämpfen. Hier genügt es, sich nach  sich  selbst  zu  richten,  zu  sein,  was  man  ist,  und  gewissermaßen  sich  selbst  zu  ähneln;  dort  mußt  du,  ob  du  willst  oder  nicht,  den  anderen ähneln; leben und bald auch noch denken wie sie. Was für  ein Affentheater! Und er hatte sich für das HIER entschieden:  Se  laisser  doucement  aller  aux  agréables  impulsions  de  la  nature.  Aber  auch  dazu  paßt  (in  seinem  Fall)  der  Ausruf:  Quelle  comédie! 

 
2. 

 
 
Fast  als  letzte  kam  sie.  Also  nicht  mehr  zwischen  Pas sagieren.  Fast  allein  kam  sie  aus  der  Tiefe  eines  langen,  breiten Gangs. Das Kosmetikköfferchen hatte sie in der Lin ken,  angewinkelt  vor  der  Brust.  Wahrscheinlich  aus  Gleich gewichtsgründen, weil sie mit der Rechten ein Gepäckstück  am  ausgefahrenen  Griff  hinter  sich  herzog.  War  das  so  schwer? Schleppte sie? Oder spielte sie eine, die schleppt? Sie  spielte  die  Schwache,  Kleine,  die  vor  Schleppenmüssen  gleich  Ohnmächtige.  Ihre  Hand,  in  seiner  Hand.  Nicht  quetschen wie Rick Hardy. Aber auch nicht so lasch fingern  wie Glen O. Rosenne. Zeig, was du gelernt hast. Er zog sie an  sich,  nahm  dann  ihren  Kopf  in  seine  Hände  wie  etwas  Kostbares und küßte sie eher andächtig auf die linke und auf  die  rechte  Schläfe.  Keine  wilde  Küsserei.  Andacht.  Andacht  empfand  er,  wollte  er  ausdrücken,  vielleicht  sogar  noch  mehr,  als  er  empfand.  Ihr  wollte  er  grell  zeigen,  daß  er  aus  sanftester  Andacht  bestand.  Alles,  was  gezeigt  wird,  ver selbständigt  sich  doch.  Die  Mischung  zwischen  Inhalt  und  Form  kann  bei  keinem  Schauspieler  anders  sein.  Er  hatte  ja  nichts  vorgehabt,  aber  jetzt,  da  er  ihren  Kopf  in  seinen  Händen hatte, überwältigte ihn diese Andacht. Und machte  sich  eben  selbständig.  Dann  hielt  er  ihren  Kopf  weiter  weg.  Offenbar  zur  Betrachtung.  Sie  ließ  sich  betrachten.  Er  betrachtete  sie.  Sie  ihn  eben  nicht.  Sie  war  ganz  in  seinen  Händen.  Das  war  eine  Rolle.  Die  füllte  ihn  ganz  schön  aus.  Mein  Gott.  Wer  war  er,  daß  er  ein  Mädchen  betrachten  durfte, als habe er es gemacht! Ihre Nase hatte er vergessen  gehabt.  Die  hatte  es  schwer,  sich  zwischen  den  großen  Augen  und  dem  fast  geschwollenen  Großmund  zu  be haupten. Ach, du, sagte er. Und ließ es erstaunt klingen. Du  auch,  sagte  sie.  Und  wie  sie  das  sagte.  Universell.  All umfassend.  Und  schloß  nach  dem  auch  den  Mund  nicht  mehr.  Die  ziemlich  großen  Lippen  hingen  auseinander,  die  Zähne  zeigten  sich,  das  wirkte  in  diesem  Augenblick  kühn.  Mit dem Coach Service zum Hotel. Da war man, zum Glück,  nicht allein. 

Er  hatte, zum Glück, bevor er das Zimmer verlassen hatte,  die Vorhänge so weit zugezogen, daß ein Zwielicht entstand.  Sie  sehe  bestimmt  aus  wie  Wum,  sagte  sie.  Er  wußte  nicht,  wer Wum ist. Der Hund, den Loriot erfunden hat. Das haue  sie doch glatt um, die ganze Welt kennt den melancholisch witzigdümmlichen LoriotHund. Vor lauter Verwunderung  ließ  sie  sich  auf  das  Bett  fallen,  schlüpfte  dann  aus  den  Schuhen, drehte sich und imitierte, auf dem Bett kniend, den  Kopf  in  Schieflage,  diesen  Hund.  Er  hatte  das  Gefühl,  er  müsse  Beifall  klatschen.  Und  tat¹s.  Sie  sagte,  sie  sei  Loriot Fan. Und fügte hinzu: Gewesen. Und produzierte gleich ein  paar Figuren und Gesten und Witze, die sie zum Fan dieses  ComicVirtuosen  hatten  werden  lassen.  Und  unterstützte,  was sie sagte und zitierte, durch Mimik und Gestik. War sie  wirklich  so  hingerissen  oder  wollte  sie  ihm  vorführen,  wie  hingerissen  sie  sein  konnte?  Er  mußte  Beifall  spenden.  Sie  konnte ja noch ganze Sketche von dem auswendig. Es wurde  ihre  Show.  Er  setzte  sich.  Als  Zuschauer.  Dann  sprang  sie  plötzlich vom Bett, schlüpfte aus ihrem Kleid, ließ es auf den  Boden rutschen, und setzte sich auf ihn und umschlang ihn  und  küßte  ihn.  Da  konnte  er  wieder  mitmachen.  Er  mußte  die sogenannte Initiative übernehmen. Sie mußte noch sagen,  sie geniere sich nicht, zuzugeben, daß sie LoriotFan gewesen  sei. Er tat so, als begriffe er nicht, wieso sich jemand genieren  sollte, LoriotFan gewesen zu sein. Er sagte aber nicht, daß er  das Wort Fan überhaupt nicht schätzen könne. Offenbar war  er  schon  zu  alt  gewesen,  als  es  zum  ersten  Mal  bei  ihm  auftauchte;  Scharen  oder  Massen  meist  junger  Menschen  strecken  ihre  Hände  in  die  Höhe,  immer  einem  oder  einer  Angebeteten  entgegen,  Augen  und  Münder  gleichermaßen  irre  aufgerissen,  Ekstase  als  Massenwahn,  so  hatte  er  das  Wort  Fan  kennengelernt.  Dieses  kreischende  Außersichsein  blieb ihm fremd. Jetzt war sie also auch ein Fan gewesen. Er  hatte  das  Gefühl,  er  müsse  sie  zurückküssen.  Beim  Küssen  gewann  er  wieder  Präsenz,  das  spürte  er.  Ihre  Münder  gingen  in  einander  auf.  Wie  für  immer.  Es  gab  wirklich  keinen  Grund,  das  je  zu  beenden.  Das  waren  auch  schon  längst keine zwei Münder mehr. Das war ein Drittes. Ein bei  keinem von beiden so Vorkommendes. Das waren sie, beide,  als Einzahl. Als ein Einziges. Aber da es noch andere Körper teile gab, die drankommen wollten, lagen sie dann doch im  Bett.  Da  wollte  er  alles  richtig  machen.  Je  mehr  sie  davon  haben würde, desto mehr hatte er davon. Er hielt es sogar für  möglich,  daß  sie  auch  so  dachte.  Das  hätte  er  als  eine  Minderung des Möglichen empfunden. Sie sollte nichts sein  als  eine,  der  es  gut  ging.  Sie  sollte  nur  sich  empfinden.  Natürlich  durch  ihn.  Er  mußte  ihr  möglichst  unaufwendig  verwehren,  daß  sie  sich  gleich  mit  dem  Mund  seiner  be mächtige.  So  nah  waren  die  Leiber  einander  noch  nicht.  Sie  führte. Das konnte ihm nicht recht sein. Er übernahm. Wenn  sie  führte,  lagen  sie  in  zehn  Minuten  neben  einander  wie  zwei  abgebrannte  Feuerwerkskörper.  Das  kann  doch  nicht  der  Sinn  dieser  quälend  langsamen  Annäherung  gewesen  sein.  Sollten  sie  nicht  zuerst  einen  Wörterabtausch  durch spielen? Wie heißt bei dir das, wie nennst du das? Sie waren  doch Sprachmenschen. Und schon der erste Versuch glückte.  Er nannte, was er zur Verfügung stellte, Ding und fragte, wie  sie sein Ding nenne. Und sie: Ding an sich. Schließlich seien  sie  Philosophen.  Und  dann  genießerisch  weiter:  Du  weißt,  wie  Schopenhauer,  bekanntlich  kein  KantFan,  das  Ding  an  sich  nennt?  Gottlieb  wußte  es  nicht.  Sie  streichelte  ihn  und  sagte:  Amateurliga  muß  das  nicht  wissen,  geträumtes  Un ding,  so  Schopenhauer  zum  Ding  an  sich.  Gottlieb:  Das  nehmen wir. Sie wechselte jäh in die Aktivsprache: This is no  time  for  talk,  it¹s  time  for  Performance.  Let¹s  have  it  in  English. Und als wären sie im Studio und sie die Regisseurin,  rief  sie:  Action!  Ihm  gelang  es  trotzdem,  den  bloßen  Aktio nismus zu steuern. Als es dann so weit war oder als sie beide  gleich  so  weit  sein  würden,  fühlte  er  sich  vorbereitet,  den  ersten  Wortbeitrag  auf  Englisch  zu  liefern,  und  zwar  mit  einem  Zitat  aus  ihrem  Briefwerk,  und  das  war  jetzt,  da  das  Gelingen  ja  schon  begonnen  hatte,  eher  eine  Floskel  fröh licher Ironie: It ain¹t over till the fat lady sings. Sie schrie auf,  fuhr  hoch,  warf  sich  weg  von  ihm,  riß,  was  sie  an  Decke  kriegen  konnte,  über  sich.  In  ihr  wurde  offenbar  weder  die  opera  noch  die  Briefstelle  wach,  sie  war  bestürzt,  getroffen,  beleidigt, because of the fat lady. Sie fühlt sich fat. Und dann  sagt er¹s ihr auch noch in diesem Augenblick ins Gesicht. In  dem  Augenblick,  dem  sie  seit  Monaten  entgegenlebt.  Und  selbst wenn ER das nicht so gemeint hat, ES war so gemeint.  ES hat es so gemeint. Ein Freudian slip. 

Gottlieb   eilte  zur  Minibar,  holte  sämtliche  verfügbaren  Martinis  und  flößte  ihr  ein,  soviel  sie  bereit  war,  sich  ein flößen zu lassen. Und entschuldigte sich ernsthaft. Eins wisse  er sicher: Wenn er sie für fat hielte oder wenn sie ihm so vor käme, wäre ein Zitat, das dieses Wort mit sich führte, nie nie  nie  über  seine  Lippen  gekommen.  Aber  als  er  sich  das  so  sagen hörte, merkte er, daß es nicht ganz so war, wie er das  sagte.  Aber  es  war  auch  nicht  so,  wie  sie  das  gesagt  hatte.  Also küßte er innig drauflos, spielte Themire und Sylvandre  mit  ihr,  bis  sie  so  weit  waren,  das  vorher  Begonnene  fortzusetzen  und  zu  einem  glücklichen  Ende  zu  bringen.  Dann  lagen  sie  aneinandergeschmiegt  und  flüsterten  ihr  Schicksal  ins  grünliche  Zwielicht  dieses  alles  ermög lichenden  Zimmers.  Er  flüsterte,  er  habe,  als  er  drunten  in  der Lounge die Minuten bis zu ihrer Ankunft gezählt habe,  zum geträumten Unding gesagt − nebenbei, er halte das für  eine  brauchbare  Startbezeichnung,  das  heißt,  von  da  aus  gehe  es  weiter  zu  immer  besseren,  das  heißt  brauchbareren  Wörtern −,  da  habe  er  also,  hingefläzt  im  Loungesessel,  seinem  ungeduldigen  Unding  gesagt:  Heute  noch  wirst  du  im  Paradiese  sein.  Und  jetzt  könne  er  im  Namen  seines  Undings melden, daß ihm nicht zuviel versprochen worden  war. Sie flüsterte zurück: Sag noch was Schönes, Sylvandre.  Er: Danke, Themire. Sie: Ist Danke was Schönes? Und als ihm  nicht  gleich  eine  Antwort  einfiel,  sagte  sie,  und  das  sollte  offensichtlich  lustig  klingen:  Are  you  all  set,  Sir?  Daß  das  eine Kellnerfloskel war, begriff er. Und antwortete: Not at all.  Und  sagte,  was  alles  er  noch  nicht  habe,  also,  was  alles  er  noch  wolle  und  wünsche.  Nämlich  sie,  sie,  sie.  Also  gleich  dreimal,  sagte  sie.  Er  erschrak  ein  bißchen,  weil  er  es  so  konkret nicht gemeint hatte. Er tat aber so, als gebe es keine  Grenzen.  Und  tatsächlich  gab  es  die  im  Augenblick  noch  nicht. 

Dessen   versicherten  sie  sich  noch  vor  dem  Abendessen.  Aber da setzte sie ihre Mündlichkeit ein. Nahm ihm, was er  noch hatte, so ab und sagte dazu, sie beide seien doch Katho liken, also sei das ihre Kommunion. Da sie so hymnisch dran  war, konnte er nicht sagen, er sei gerade nicht so hymnisch  gestimmt,  könne  also  ein  so  weitgehendes  Zusammenkom men  nicht  so  natürlich  praktizieren,  im  Gegenteil,  er  fühle,  das  gehe  zu  weit,  noch  oder  überhaupt,  aber  das  war  nicht  aussprechbar,  er  mußte,  was  ihr  möglich  war  oder  gar  notwendig  war,  geschehen  lassen,  er  mußte  es  mitmachen.  Um ihretwillen. Obwohl ihm nicht danach war. Am liebsten  hätte er, als sie ihn so bediente, gesagt: Sprich doch mit mir.  Aber  wenn  er  gesagt  hätte:  Sprich  mit  mir!  hätte  sie  sagen  können: Mit vollem Mund spricht man nicht. Und schon war  er in der Assoziationsfalle. Philipp, Rosas Pastor, sprach nur  mit vollem Mund. Sobald er nicht mehr aß, war er ein stiller,  in  sich  gekehrter  Mensch.  Aß  er,  sprach  er.  Und  nicht  mit  vollem,  sondern  mit  vollstem  Mund.  Er  schaufelte  Essen  in  den  Mund,  bis  die  Backen  platzen  wollten,  dann  sprach  er,  sprach,  als  wolle  er  beweisen,  daß  er  auch  mit  vollstem  Mund  sich  immer  noch  verständlich  machen  konnte.  Und  das  konnte  er.  Das  war  sogar  das  Gemeinste,  daß  er  seine  radikal  dialektische  Theologie  so  mampfend  verkündete.  Und  ruderte  dabei  mit  Messer  und  Gabel  wild  durch  die  Luft. Gott, kein Kamerad, sondern eine Zumutung. Das war  seine  Verkündigung.  Und  das  im  vollsten  fränkischen  Dialekt,  als  solle  auch  noch  dieser  sonst  so  herbschöne  Dialekt  geschunden  werden.  Als  das  zum  ersten  Mal  im  Hause  stattfand,  hatte  Gottlieb  aufstehen  und  hinausgehen  müssen.  Natürlich  so,  daß  nicht  deutlich  wurde,  warum  er  ging. Inzwischen stand er, wenn Rosa mit dem Mampfer zu  Besuch  war,  nicht  mehr  auf,  aber  dabei  sitzen  bleiben  zu  müssen,  war  jedes  Mal  eine  Nerven  aufreibende  Anstren gung.  Daß  Rosa,  die  Feinfühligste  von  allen,  ihrem  Philipp,  wenn er mampfend dialektische Theologie predigte, förmlich  am  Mund  hing,  konnte  er  nicht  begreifen.  Komm  zurück!  Sprechen ist  hier  im  Augenblick  nicht  angesagt.  Mitmachen  ist dran. Rise to the occasion. Aber in ihm fragte es sich doch:  Ist das jetzt das Kind, das alles in den Mund nimmt, oder die  amerikanisch  gestimmte  Frau,  die  die  Rolle  spielt,  die  hier  die  Frau  zu  spielen  hat?  Angenommen,  die  Frau  habe  von  diesem  Munddienst weniger  als  der  Mann,  dann  hieße  das,  in  diesem  freiheitsberühmten  Land  hätten  es  die  Männer  gern, daß die Frauen ihnen etwas leisten, wovon die Frauen  weniger haben als die Männer. Aber ein Mann hat doch von  diesem  Munddienst  auch  weniger,  als  wenn  er  sein  Teil  dahin bewegt und darin bewegt, wo es hingehört. Das hieße,  beide  haben  weniger  davon,  aber  eine  Unterwerfung  oder  gar Erniedrigung der Frau wird erlebbar beim Munddienst.  Für  beide.  Könnte  es  dann  sein,  daß  die  Frau  etwas  davon  hat,  daß  sie  diesen  Dienst  tut?  Sie  hätte  dann  etwas  davon,  weil sie ihm etwas zuliebe tut, wovon sie nichts hat. Und er  hätte als seinen Genuß auch hauptsächlich ihre unterwürfige  Dienstbarkeit.  War  er  hier  bei  einem  fremden  Volksstamm,  dessen  Praktiken  er  zu  studieren  hatte?  Ist  also  bei  denen  hier  der  Geschlechtsverkehr  eine  Veranstaltung  haupt sächlich  zu  Gunsten  des  Mannes?  Aber  wenn  es  zu  seinem  Genuß  gehört,  daß  sie  auch  genießt,  muß  sie  doch  auch  genießen oder, wenn sie das nicht kann, so tun, als genösse  sie. Wehe ihr, wenn sie, falls er es genießen will, ihr Genuß  zu  verschaffen,  diesen  Genuß  nicht  zeigen  kann.  Aber  vielleicht  soll  hier  die  Frau,  um  den  Mann  zu  steigern,  beweisen, daß sie ihn mehr liebt als sich selbst. Und: daß sie  ihn  mehr  liebt  als  er  sich  selbst!  Das  war¹s  überhaupt.  Da  könnte  er  sich  strecken  und  recken  und  räkeln,  der  hiesige  Mann.  Auf  jeden  Fall  eine  Vormachorgie,  ein  Täuschungs zirkus.  Da  träumt  man  unwillkürlich  von  etwas  Gemein samem. Daß sich die beiden, was das Dabeisein angeht, nicht  mehr  von  einander  unterschieden,  nicht  mehr  einer  des  anderen  Besorger  wäre,  ein  Gemeinsamkeitsgenuß  eben.  Gottlieb fand, daß er, wenn er so dachte, ihren für ihn tätigen  Mund  schon  in  einer  verheißungsreichen  Art  erlebte.  Irgendetwas mußte er ja denken, wenn sie sich so heftig mit  ihm  beschäftigte.  Warum  dann  nicht  etwas  Schönes,  Zukünftiges.  Nachher  beim  Essen  konnte  er  das  ja  zur  Sprache  bringen.  Dann  also  die  Vollendung,  die  wirkliche  Kommunion,  er  würde  es  nachher  Ausschüttung  nennen.  Schließlich  war  er  auch  ein  Geschäftsmann.  Und  Aus schüttung ist ein Wort für geglückt Ergebnishaftes. So dachte  er  sich  über  den  Höhepunkt  hinweg.  An  der  religiösen  Sprachanleihe  wollte  er  sich  nicht  beteiligen.  Das  bringt  nichts. Dachte er. Ausschüttung. Basta. 

Als  sie merkte, daß er Mühe hatte, so hoch zu fliegen, wie  sie  flog,  sagte  sie:  Bei  einer  Gefangenenbefreiung  bestimmt  der Befreier, was geschieht. Und als er nichts sagte, sagte sie  noch: Auch wenn der Befreier eine Befreierin ist. 

Er  hätte beinahe wieder Danke gesagt. Aber er konnte nicht  schon  wieder  Danke  sagen.  Also  zog  er  sie  heftig  zu  sich  herauf,  preßte,  drückte  und  küßte  sie,  als  sei  er  außer  sich.  Erst jetzt. Als begriffe er erst jetzt, was sie für ihn getan hatte.  Sie  hatte  ES  geschluckt.  Sie  schmeckte  noch  danach.  Ja,  da  muß man doch außer sich sein. Wo denn sonst? In ihr, bitte.  Dann  sagte  sie:  In  der  letzten  halben  Stunde  seien  die  Jahreszahlen  überhaupt  nicht  mehr  spürbar  gewesen.  Und  als  er  nicht  wußte,  wie  er  darauf  reagieren  sollte,  sagte  sie:  Das  war  jetzt  frech,  gell.  Um  sie  vor  weiterem  Übermut  zu  bewahren, küßte er sie. Das konnte falsch sein. Dann fing er  einfach  von  Rosa  an.  Die  älteste  Tochter,  bald  zehn  Jahre  älter  als  Beate,  ja.  Wieso  jetzt  Rosa,  sagte  Beate.  Er  habe  gerade  an  sie  denken  müssen,  sagte  er,  weil  sie  auch  eine  Abtreibung hinter sich habe. Das zog. Das wollte sie genauer  wissen. Zuerst als komische Eröffnung: Max Stöckl, Kamera,  Regie,  Urbayer  beziehungsweise viech.  Wenn  der  da  war  und Gottlieb ging früher ins Bett und bat Rosa, daß sie nicht  vergessen  solle,  nachher  die  Lichter  zu  löschen,  sprang  der  auf,  tanzte  auf  der  Terrasse  herum  und  brüllte:  Genau  wia  mei Oidda. Auf jeden Versuch, anderer Meinung zu sein als  er,  lief  Bayerisch  ab.  Sie  senga  jo  dees  net  vu  Ehnarem  hiesigen  Standpunkt  aus,  naa,  wirkli,  gengas  zua,  lossns  Ehna  des  song,  di  Rosa,  des  Madl  is  z¹schood  firs  Studiern.  Dann  war  sie  schwanger,  er  benimmt  sich  so,  daß  Schluß  sein  muß,  Rosa  treibt  ab,  tritt  über,  studiert,  heimlich,  Theologie,  meldet  sich  eines  Tages  als  fertige  Theologin,  heiratet  einen  Pastor,  ist  Pastorin,  beide  in  Ingolstadt,  er  schlägt sie manchmal, dafür verlangt er aber jedes Mal, daß  sie  ihn  bestrafe.  Daß  der  Pastor  seine  Rosa  gelegentlich  schlägt, kann Gottlieb ertragen, es sind eher Ringkämpfe als  Schlägereien,  und  Rosa  ist  dem  dünnen  Pastor  durchaus  gewachsen, aber daß der, wenn er am Familientisch sitzt, nur  mit  vollem,  nein,  mit  vollstem  Mund  spricht,  breitestes  Fränkisch,  und  Rosa  bemerkt  es  nicht,  das  läßt  Gottlieb  manchmal  einfach  aufspringen  und  hinausrennen.  Gottlieb  kann  Rosa  von  seinen  Töchtern  für  die  Versorgteste  halten.  Da  muß  man  fränkisches  Mampfen  eben  in  Kauf  nehmen.  Rosa  muß  ja  nicht  ihren  Mann  ernähren,  wie  Julia,  wie  Regina.  Daß  auch  Anna  ihren  Mann  ernähren  muß,  ver schwieg  er.  Julia,  Regina,  Anna.  Frauen  für  Männer,  die  Unterschlupf  suchen.  Beate  war,  zum  Glück,  eingeschlafen,  er konnte aufhören. 

 

 

 

3.  
 
Jetzt wisse er, warum sie so zu schleppen hatte, sagte er, als  sie  den  voluminösen  Webster  aus  ihrem  Gepäck  hob.  Drei  Tage  lang  bot  sie  WebsterWörter  an,  er  sollte  wählen.  Und  wies hin auf die Schwächen ihrer englischen Sätze, die ihren  Grund  hätten  in  den  deutschen  Sätzen.  Immer  wenn  die  deutschen Sätze mehr wollten, als sie könnten, und dies auch  ausdrückten,  also  gestünden,  daß  sie  mehr  ausdrücken  wollten, als sie könnten, immer dann sei dieses Mehrwollen  als Können im Englischen nicht mehr spürbar. 

Rise   to  the  occasion,  das,  hoffe  sie,  sei  ihr  gelungen.  Sein  Entsprechen  ist  alles  geht  im  Englischen  nur  in  der  Be fehlsform. Sprechen kommt nicht mehr vor, das zeigt schon,  welche  Sprachkörperlichkeiten  beim  Übersetzen  verschwin den.  Aber  sie  gibt  noch  nicht  auf.  Drei  Tage  lang  wird  sie  jetzt  mit  ihm  Sprachrettung  treiben.  Daß  sie  die  Sprachrettung betreibt, um ihn zu retten, nicht nur hier, jetzt,  sondern  überhaupt,  das  müsse  er,  um  den  Grad  ihres  Dabeiseins  zu  begreifen,  wissen.  Er  werde  es  schon  noch  merken. Also, los jetzt. 

Wie   soll  sie  denn  das,  bitte,  übersetzen:  Shakespearisierend  kannst  du  dir  in  deinen  Träumen  vorkommen}  Oder,  wenn  der  Gefangene erwacht: Der Sturz des Gefangenen in sein Zeug} Ist  das  Heidegger  oder  was?  Zum  Glück  hat  sie  im  letzten  Sommer  diesen  Kurs  Deutsch  für  Philosophen  gegeben,  sonst  wäre  sie  noch  ratloser  gewesen.  Als  sie  dem  Professor  andeutete,  daß  die  Übersetzung  kein  Spaziergang  sei,  habe  der geraten, Rick Hardy zuzuziehen. Das sei geschehen. Der  habe  gegrinst  wie  die  Sphinx  persönlich.  Dann  habe  er  gesagt,  da  er  ja  in  Berkeley  die  Veranstaltung  mit  Mr.  Krall  zu moderieren habe, werde er sich jetzt nur zu den Fragen,  die  Übersetzung  betreffend,  äußern.  Das  habe  er  getan.  Sie  müsse  zugeben,  ihr  sei,  was  er  dazu  zu  sagen  gehabt  habe,  nichts  als  hilfreich  gewesen.  Intelligent  sei  der.  Manchmal  fast  zum  Fürchten  intelligent.  Erfahrungsgesättigte  Kennt lichkeit hätte sie ohne Rick kaum geschafft. Vor allem hat er  für  alle  deutschen  und  französischen  La  MettrieStellen  die  in  Amerika  vorliegenden  englischen  Übersetzungen  beige bracht.  Und  dann  auch  noch  die  Manfred  EigenSätze!  Die  gibt¹s  natürlich  auch  schon  auf  Englisch.  Und  Rick  schaffte  sie her. 

Gottlieb  genoß es, daß er nicht leicht zu übersetzen war. Er  vermutete  allerdings,  daß  Beate  J.  (so  wollte  sie  mindestens  genannt werden) zu vorsichtig, zu bedenkensüchtig sei. Aber  seine  Versuche,  sie  bedenkenloser  zu  stimmen,  blieben  erfolglos.  Er  würde  dort  stehen,  Berkeley,  Dwinelle  Hall,  Hörsaal  soundsoviel,  und  vor  ihm  säßen  einhundertsiebzig  Zuhörer,  darunter  Professor  Glen  O.  Rosenne,  Patricia  Best,  Rick  Hardy  und  dann  noch  die  notorischen  BerkeleyIntel lektuellen,  sophisticated  bis  Zum  Gehtnichtmehr.  Sie  wollte  ihm  Angst  machen  und  ihn  so  zwingen,  das  Übersetzen  nicht nur als einen Spaß Zu erleben, sondern als ein Spiel um  alles  oder  nichts.  Er  solle  sich  doch  vorstellen,  wie  er  da  stünde, wenn er erlebte, daß er an denen vorbeiredete, über  die hinweg! Also sie habe vor jedem Referat Angst. Deshalb  rackere  sie  sich  dann  so  ab,  daß  das  Schlimmste  jedesmal  gerade  noch  vermieden  worden  sei.  Sie  wollte  nicht  begreifen, daß für Gottlieb nicht soviel auf dem Spiel stehe.  Er war Amateur. Er spielte in einer anderen Liga. Er hat La  Mettrie  dargestellt,  wie  er  ihn  erlebt  hat,  und  er  hat  La  Mettries  Wichtigstes,  sich  selbst  auf¹s  Papier  zu  bringen,  wichtig  genommen.  Und  das  ist  geworden:  Der  Gefangene  wird sich durch La Mettrie seines Gefangenseins bewußt und  fliegt nach Kalifornien, um dort Zeugnis abzulegen für eine  Wirkung La Mettries, die diesen Philosophen mehr ehrt und  erklärt als alle Wissenschaftelei. Und sie: Wenn er das in der  Diskussion  nach  seinem  Referat  sage,  riskiere  er,  daß  das  Auditorium ihn auspfeife. Einmal abgesehen davon, daß sie  als  seine  Dolmetscherin  sich  unfähig  fühle,  Wissenschaftelei  englisch auszudrücken. Das allerdings wäre ein Glück, denn  er spräche ja zu Wissenschaftlern und solchen, die es werden  wollten. 

Er   hatte  vorgeschlagen,  einen  der  drei  Tage  am  Meer  zu  verbringen.  Sie  lehnte  das  ab.  Mit  jedem  Wort,  für  das  sie  eine erlebbare englische Entsprechung fänden, werde es den  hiesigen  Highbrows  schwerer  gemacht,  den  Amateur  aus  Germany  zu  belächeln  oder  gar  zu  beschimpfen.  Letzteres  glaube  sie  allerdings  nicht.  Ein  Campus  sei  ja  kein  Bierzelt.  Aber sie habe eben diesen Gast vorgeschlagen, also wäre sein    
Nichterfolg  ihr  Mißerfolg.  Also  kein  Tag  am  Meer,  sondern  ein Ringen um jedes Wort, jede Nuance. 

Diese   Beate  J.  war  viel  stärker,  als  er  geahnt  hatte.  Ihre  Angstbereitschaft  war  Stärke.  Ihr  Ernst,  ihr  Genauigkeits wille,  ihre  Niezufriedenheit,  ihre  Vollkommenheitsvorstel lungen,  alles  nichts  als  Stärke.  Sobald  wieder  ein  Ausdruck  gelungen war, jubelte sie. Wenn das nur nie aufhörte, konnte  sie  dann  sagen.  Immer  so  weiter.  Immer  und  ewig  mit  dir  um  Wörter  ringen,  Bedeutungen  retten,  Nuancen  leuchten  lassen. 

Dann   die  Sprechproben.  Er  mußte  seine  Mund,  seine  Gesichtsnerven und seine Seele mit diesen englischen Sätzen  so  vertraut  machen,  daß  er  jede  gleich  zu  produzierende  Tonnuance  schon  im  voraus  wußte,  einen  Sekunden bruchteil,  bevor  dieser  Ton  fällig  war.  Alles  wie  von  selbst:  So  sollte  Englisch  aus  ihm  kommen.  Intonation!  Und  die  größte Schwierigkeit: die französischen Sätze. Die verlangten  doch  einen  ganz  anderen  Laut.  Die  französischen  und  die  englischen  Vokale  sind  einander  so  fremd  wie  eine  Mondnacht  und  ein  Diamantcollier.  Beides  blitzt,  aber  wie  verschieden!  Da  heißt  es,  das  ganze  Nervensystem  in  Nullkommanichts  umzustellen.  Hier  gewölbte  Mondschein laute  und  da  vor  Energie  blitzendes  Gesteinsfeuer.  Eine  Sprache ist ja zuerst eine Melodie und erst dann ein System  aus Grammatik und Wortbedeutungen. Jetzt war es an ihm,  nicht nachzugeben. Jetzt war er unersättlich genau. Ihm war  die Performance dort in der Dwinelle Hall wichtiger als die  Übersetzung.  Er  wollte  die  überraschen,  eine  flawless  Performance  wollte  er,  die  sollten  staunen.  Zehn  Seiten,  zu  lesen  in  dreißig  Minuten.  Fünfzehnmal  hatte  er  die  zehn  Seiten  sicher  gelesen,  bis  er,  von  Beate  J.  kritisch  abgehört,  alle  Töne  so  herausbrachte,  daß  die  englische  Sprache  nicht  aller  wunderbaren  Laute  beraubt  zu  sein  schien.  Er  hätte  noch  weitergelesen,  aber  die  Regisseurin  warnte:  Dann  bringe  er  zwar  die  Intonation,  aber  die  Stimmbänder  schlügen nicht mehr an. Er ging sofort auf Flüstern über. In  diesem  Augenblick,  sagte  sie,  sei  sie  so  glücklich  wie  noch  nie  in  ihrem  Leben.  Der  Text  funktioniere  jetzt  auch  auf  Englisch,  Gottlieb  W.  sei  ziemlich  musikalisch,  das  heißt,  seine Aussprache sei nicht mehr barbarisch. 

In   der  letzten  Nacht  vor  Berkeley  träumte  Gottlieb,  daß  Professor Rosenne zu ihm sagte: Ihr Englisch ist so exzellent,  daß ich Sie nicht mehr für einen Ausländer halten kann. Das  sagte er vor allen Zuhörern. Gottlieb bedankte sich für dieses  Kompliment  mit  einem  englischen  Satz,  in  dem  ihm  ein  grober  Fehler  unterlief.  Die  Zuhörer  lachten  laut,  Professor  Rosenne  lachte  auch,  aber  er  lachte  so,  daß  klar  wurde,  er  habe  das  Kompliment  nur  gemacht,  um  Gottlieb  zu  dieser  Selbstentlarvung  zu  provozieren.  Gottlieb  erzählte  den  Traum  Beate  J.  Themire,  bat  aber  darum,  von  Dr.  Douglas¹  Auslegungen  verschont  zu  bleiben.  Und  sie:  Hättest  du¹s  lieber ä la Goethe? Wieso, wie geht¹s á la Goethe? Na ja, sagte  sie fast genießerisch, Frau Herder hat einmal nichts Besseres  zu  tun  gewußt,  als  Goethe  einen  närrischen  Traum  zu  erzählen, und er rät ihr überhaupt ab, so zu träumen, wie sie  träumt,  und  sagt,  das  Schlimmste  sei,  die  Träume  machten  den  Verstand  krank.  Und  bevor  Gottlieb  reagieren  konnte,  sagte  sie  energisch,  daß  Goethe  hier  wohl  Ursache  und  Wirkung  verwechselt  habe.  Ja,  sagte  Gottlieb,  er  hing  dann  sehr am Beherrschbaren. 

Sie  stand jetzt schon vor dem Spiegel, sie kämmte sich, sah  sich an und sagte: Immer wenn du mit mir geschlafen hast,  bin  ich  doppelt  so  schön  wie  vorher.  Immer?  sagte  er.  Und  sie:  Jetzt  schon  viermal,  Sylvandre.  Und  gab  ihm  einen  kleinen  Schubs,  der  genügte,  ihn  aufs  Bett  zu  werfen.  Und  sofort war sie neben ihm und halb auf ihm und, als gäbe es  keine  Termine,  fuhr  sie  mit  ihrem  Zeigefinger  seine  Ohren  nach,  die  Augenbrauen,  die  Nase,  die  Lippen.  Die  Lippen  immer wieder. Da ihm das guttat, fuhr er ihr auch so sachte  mit  dem  Zeigefinger  ihren  Gesichtsplan  nach.  Ihm  blieb  nichts  anderes  übrig  als  zu  sagen,  so  habe  er,  als  seine  Töchter  noch  Kinder  waren,  auch  deren  Profile  mit  einem  liebenden Zeigefinger nachgefahren. Wahrscheinlich nur bei  Julia,  sagte  sie,  weil  sie  auf  die,  vom  selben  Jahrgang,  eifersüchtig  zu  sein  vorgab.  Er  griff  nach  Julias  Namen  wie  nach  einem  Rettungsring  und  spulte  vaterschmerzbewegt  die  Julialegende  herunter.  Fährt  neuerdings  mit  Bus  und  Boot durch Berlin und erklärt Ausländern die Museumsinsel,  die  Nationalgalerie,  den  Potsdamer  Platz  und  den  Reichs tagsbau  plus  Geschichte,  die  Kuppel.  Auf  Englisch.  Hat  ja  zwei Jahre mit und bei einem irischen Alkoholiker in Dublin  gelebt.  Sie  hat  den  nicht  ernähren  können  in  Irland,  also  mußte  sie  gehen.  Ihren  jetzigen  Alkoholiker,  und  es  ist  wieder  ein  Ire,  kann  sie  ernähren,  aber  eben  in  Berlin.  Die  Verbindung hält. Sie hat in ihrem Leben noch keinen Tropfen  Alkohol  getrunken.  Wahrscheinlich  zieht  das  die  Alko holiker an. Der Jetzige hat noch nie etwas gearbeitet. Und ist  stolz darauf. Er werde, sagt er, sich nie ausbeuten lassen und  werde  nie  andere  ausbeuten.  Und  da  das  bei  Arbeit  immer  die  Gefahr  ist,  meidet  er  Arbeit.  Weil  Beate  wissen  wollte,  wie  der  seine  Zeit  verbringe,  mußte  er  ihr  erklären,  daß  dieser  Ire  Tag  und  Nacht  lese  und  schreibe,  also  keinesfalls  untätig oder gar faul sei. Dann wäre ja alles einfach. Aber er  lese  und  schreibe  eben  ununterbrochen,  sage  allerdings,  es  habe keinen Sinn, sein Geschriebenes jetzt anzubieten, da es  so viel besser sei als all der Mist, der zur Zeit die Szene be herrsche,  daß  das  Seine  mit  keinerlei  Verständnis  rechnen  könne.  Noch  nicht!  Wann,  das  wisse  allein  Gott,  und  den  gebe  es  bekanntlich  nicht.  Da  in  Julia  die  Botschaft  einge brannt  war,  Iren  seien  genial,  glaubt  sie,  hofft  sie,  hebt  sie  und  erklärt  weiterhin  das  Reichstagsufer  und  lernt  jetzt  nebenher Japanisch. Sie will es so weit bringen, japanischen  Reisegruppen  Berlin  in  deren  Muttersprache  zu  erklären.  Das gäbe einige Euro mehr. 

Beate,   die  vielleicht  nicht  mehr  zugehört,  auf  jeden  Fall  spürbar von ihm abgelassen hatte, sagte: Wir müssen gehen.  Oh ja, sagte er und sprang auf und zog sie hoch und war fast  froh darüber, daß es ihm nicht gelungen war, sie für Julia zu  interessieren. 
 
 

4.  
 
 
Durch  San  Francisco,  über  die  Bay  Bridge,  hinüber  nach  Berkeley.  Gottlieb  wußte,  daß  er  nicht  wichtig  war.  Ande rerseits:  Warum  bauen  sie  Städte,  die  nichts  demonstrieren  als  deine  Unwichtigkeit.  Diese  Bankmonsterflanken,  die  spiegelnden,  und  spiegeln  doch  nichts  als  ihresgleichen.  Dann  diese  lächerliche  Pseudovertrautheit  mit  all  dem,  hundertmal im Film gesehen. Der farbige Taxifahrer machte  klar,  daß  das  auch  ein  Dschungel  ist,  in  dem  Menschen  zu  unliebsamen Wesen gedrillt werden. Hotel Durant hatte Beate  J. geordert. Der reagierte gereizt. Berkeley, was ist denn das  wieder  für  ein  Scheißhotel,  können  Sie  nicht  in  was  Besserem, also Bekannterem absteigen, wahrscheinlich keine  Knete,  und  so  was  muß  ich  kutschieren,  an  mir  bleibt¹s  hängen, Hotel Durant, oh boy. So etwa reagierte der. Gottlieb  nahm  sich  vor,  ihn  nachher  durch  ein  Trinkgeld  zu  beschämen. Der nahm das Trinkgeld ganzungerührt. Beate J.  schimpfte.                                      

Im   Durant  hatten  sie  zwei  Zimmer.  Und  die  auf  zwei  verschiedenen Etagen. Als sie sich eintrugen, zeigte Gottlieb  ihr, was er als Beruf angab: Privatgelehrter. Ach, Herr Krall,  sagte  sie.  Probeweise.  Alle,  die  einem  jetzt  begegneten,  konnten  La  MettrieReferenten  sein.  Das  hieß:  Ab  sofort  striktes per Sie. Zum Glück hatten sich Rosenne, Patricia Best  und  Rick  Hardy  bei  Freunden  untergebracht.  Mit  denen  frühstücken! Lieber nicht. Sie fürchtete sich ohnehin vor dem  Augenblick,  in  dem  sie  Gottlieb  Patricia  Best  vorstellen  mußte.  Sie  würde  rot  werden,  Patricia  sähe,  spürte  sofort,  was zwischen ihr und Gottlieb passiert war. 

In  der Eingangshalle von Dwinelle Hall wartete schon Rick  Hardy. Beate J. stellte die Herren einander vor. Patricia war  zum  Glück  schon  im  Saal.  Gottlieb  war  darauf  vorbereitet,  daß  dieser  Hardy  beim  Händedruck  alles  gibt,  was  er  hat.  Dachte der Drücker jetzt daran, daß er einmal Beates Hals im  Griff  gehalten  hatte?  Beate  hatte  berichtet,  von  den  Herren  hege  keiner  auch  nur  den  leisesten  Verdacht,  sie  könne  Herrn Krall aus anderen als wissenschaftlichen Gründen für  ein Referat vorgeschlagen haben. Davor schütze sie, ihn und  sie, schon der Altersunterschied. 

So   raste  es  in  Gottliebs  Kopf,  als  er  die  von  Rick  Hardy  gequetschte  Hand  demonstrativ  besah  und  murmelte:  Nothing  broken,  so  far.  Das  wurde  beifällig  aufgenommen.  Dann sah er dem Quetscher ins Gesicht. Eine eisige Freund lichkeit,  der  es  nicht  darauf  ankam,  glaubwürdig  zu  sein.  Gottlieb  spürte,  daß  ihm  eine  Gänsehaut  rückenabwärts  wanderte. Rick Hardy, das war ein Totenkopf. Augenhöhlen,  tief drin, große Augen, eingefallene Wangen und ein ebenes  Lächeln um einen eher unsichtbaren Mund. So würde einem  der  Tod  die  Hand  geben.  Um  zu  demonstrieren,  daß  man  von jetzt an in seiner Hand sei. 

Also,   wie  lange  wird  Mr.  Krall  vortragen?  Nicht  über  dreißig  Minuten.  Sehr  gut.  Dann  die  Diskussion.  Kann  Mr.  Krall  die  in  Englisch  bestreiten?  Er  will  es  versuchen  und  hofft,  falls  er  einen  Diskussionsbeitrag  nicht  zur  Gänze  versteht,  auf  Beate  Gutbrods  Hilfe.  Die  wird  ihm  zugesagt.  Und,  ergänzte  Mr.  Hardy,  Beate  sei  ja  jetzt  sowohl  eine  La  Mettrie wie auch eine KrallSpezialistin. 

Daß  der mit keinem Laut verriet, wie er den Vortrag finde,  beunruhigte  Gottlieb  jetzt  doch.  Unglaublich,  du  erarbeitest  einen  Vortrag,  fliegst  um  die  halbe  Welt,  und  dieser  Unischnösel  tut  so,  als  komme  da  einer  aus  der  Nachbar schaft und lese zum hundertsten Mal vor, was ihm gerade zu  La  Mettrie  eingefallen  ist.  Wenigstens  die  Übersetzung  könnte er loben. Aber das hatte ja Beate schon verraten, daß  der  Herr  sich  jeder  Reaktion  enthalten  habe.  Machtaus übung,  dachte  Gottlieb.  Das  hat  der  schon  voll  drauf.  Wahrscheinlich  ist  es  ihm  jahrelang  so  gegangen.  Der,  dem  etwas  vorgelegt  wird,  kann  den,  der  etwas  vorlegen  muß,  schon durch Nichtreagieren förmlich zermürben. Wenn man  das  übersteht  und  dann  selber der  ist,  dem  etwas  vorgelegt  werden  muß,  zermürbt  man  den,  der  jetzt  von  einem  abhängig  ist,  genau  so,  wie  man  selber  immer  zermürbt  worden  ist.  Gottlieb  dachte:  Du  zermürbst  mich  nicht.  Das  hatte er hinter sich. Irgendwann muß Schluß sein mit diesem  Abhängigsein  von  anderen.  Sonst  hast  du  umsonst  gelebt.  Daß  er  umsonst  gelebt  habe,  mußte  er  sich  allerdings  dann  und  wann  eingestehen.  Aber,  bitte,  nicht  hier,  zehn  Flug stunden  von  daheim.  Hier  kommt  es  auf  nichts  an.  Die  wissen doch alle nicht, daß du nicht ihretwegen hier bist. Du  bist  hier  wegen  dieser  viel  zu  jungen  Frau.  Das  ist  alles  so  gekommen,  wie  es  keiner  wissen  darf.  Und  das  ist  deine  Stärke, dein Schutz und Schirm, die können dir alle egal sein,  dir  kommt  es  nur  auf  sie  an,  Themire.  Du  bist  hier  nur  als  Sylvandre.  Laß  alles  schief  gehen,  aber  es  wird  nicht  alles  schief  gehen,  nie  geht  alles  schief,  aber  selbst  wenn  alles  schief  ginge,  Themire  und  Sylvandre  sind  ein  Paar,  La  Mettrie ist Zeuge. 

Dr.   Wendelin  Krall war  der  erste  Referent der  La  Mettrie Tagung  in  Kalifornien.  Vielleicht  war  Gottlieb  der  Un wichtigste,  vielleicht  der  Wichtigste.  Beate  hatte  aus weichend  geantwortet.  Sie  war zum Programmaufbau  nicht  befragt worden. Offenbar waren alle, die zur Tagung gekom men waren oder kommen würden, schon zum ersten Referat  erschienen.  Der  Hörsaal  war  gut  besetzt.  Gottlieb  zählte  im  Hineingehen  die  Reihen,  multiplizierte  mit  zwanzig,  soviel  etwa  saßen  in  einer  Reihe,  also,  dreihundert  Plätze,  davon  zirka  zweihundert  besetzt.  Vorne  erwartete  ihn  der  Profes sor,  die  Vorstellung  besorgte  jetzt  Mr.  Hardy,  Beate  hatte  sich  schon  im  Hineingehen  von  Gottlieb  getrennt,  hatte  irgendwo Platz genommen. Der Händedruck des Professors  war so lasch weich unspürbar, wie der von Rick Hardy krass  und aggressiv war. Man hätte wieder die Hand besehen und  sie  fragen  können:  War  was?  Und  Frau  Professor  Patricia  Best! Gottlieb behielt ihre Hand viel länger in der seinen, als  es üblich war, und sagte aus vollem Herzen, daß er sich sehr  freue,  Frau  Professor  Best  kennenzulernen.  Daß  er  von  ihr  gehört und zwar nur Schönes gehört habe, konnte er, wollte  er  nicht  verbergen.  Dr.  Krall  durfte  in  der  ersten  Reihe  zwischen  Patricia  Best  und  Rick  Hardy  Platz  nehmen.  Professor Dr. Glen O. Rosenne eröffnete die erste La Mettrie Tagung auf amerikanischem Boden mit einem Satzfragment  La  Mettries:  Armezvous  du  flambeau  de  l¹Expérience!  Gottlieb  fand, daß der Herr Professor den Rest des Satzes nicht hätte  weglassen dürfen. In ihm ergänzte es sich automatisch: ... et  vous ferez á la Nature l¹Honneur qu¹elle merite. Aber dann hätte  der  Professor  den  Trompetenton  nicht  geschafft,  den  er  für  den Anfang brauchte. Sieh das, bitte, ein. Gottlieb sah¹s ein.  Referenten aus fünf Ländern seien dazu erschienen, sagte der  Professor.  Und  da  Julien  Offray  de  La  Mettrie  seit  Diderot  immer  noch  verrufen  sei  als  der  bis  zu  de  Sade  unan ständigste Philosoph, sei es sicher kein Zufall, daß die Refe renten  eher  aus  katholischen  als  aus  protestantischen  Län dern  kämen.  Daß  aber  auch  protestantische  Gegenden  aus  ihrem  Anstandsschatten  heraustreten  können,  beweise  das  Gastgeberland, die USA

Einen   Satz  des  Professors  notierte  Gottlieb  sofort  und  verbarg  nicht,  daß  er  das  tat.  Deutsch  zitierte  der  Professor  einen  Satz  von  Nietzsche:  Der  Glaube  an  den  Leib  ist  funda mentaler  als  der  Glaube  an  die  Seele:  letzterer  ist  entstanden  aus  der  unwissenschaftlichen  Betrachtung  der  Agonien  des  Leibes  (etwas,  das  ihn  verläßt).  Dann  also,  Herr  Dr.  Wendelin  Krall.  Sein Thema: Rise to the occasion. Bitte, Herr Dr. Krall. 

Wenn   ein  Amerikaner  deinen  Namen  mit  Herr  versieht,  klingt das wie ein Distanzierung. Wenn du daheim einen als  Mr. Rosenne ankündigen würdest, klänge das nicht kritisch.  Vielleicht  liegt  es  an  diesem  Herr.  Vielleicht  wissen  die  Ausländer,  was  für  ein  Wort  das  ist.  Vielleicht  denken  sie  tatsächlich  an  Herrenrasse.  Gottlieb  mußte  anfangen.  Rise  to  the occasion. Er fing vorsichtig an, versuchte aber zu zeigen,  daß es die Fremdsprache war, die ihn vorsichtig machte. Der  Schwung  würde  dann  schon  kommen.  Der  La  Mettrie Schwung: á la Nature Honneur qu¹elle merite. Noch redete er  vor  sich  hin.  Gab  den  Schüchternen.  Schonte  er  sich?  War  etwas  mit  seiner  Stimme?  Wagte  er  schon  gar  nicht  mehr,  draufloszusprechen?  Und  bei  der  ersten  Umschaltung  ms  Französische,  la  douceur  de  mon  caractére,  spürte  er  einen  Stich im Hals, sprach aber weiter, konzentrierte sich weniger  darauf,  ob  der  Stich  schärfer  werde,  als  auf  den  Text,  versprach  sich  aber  gleich  zum  ersten  Mal.  Der  Stich  nahm  zu.  Wenn  der  so  zunehmen  würde,  könnte  er  bald  nicht  mehr  weiterlesen.  Aber  wegen  eines  Stichs  würde  er  nicht  aufhören.  Sollte  es  wehtun,  das  ging  ihn  nichts  an.  Er  hatte  einen Nagel im Hals. Bitte, dann sprichst du eben mit einem  Nagel im Hals. Es gibt Schlimmeres als einen Nagel im Hals.  Kein Schmerz der Welt würde ihn zwingen, das Referat, das  ihn ganz enthielt, abzubrechen! Es war ihm weder schwind lig noch schlecht. Er hatte nur diesen Nagel im Hals, der bei  jedem  Wort  zustach.  Sollte  er!  Das  tat  weh.  Bitte,  sollte  es  wehtun!  Nachher  würde  er  Beate  genau  schildern,  was  das  für eine Qual war, bei jedem Wort dieser Stich, und wenn er  nicht das Gefühl gehabt hätte, er spreche für sie nur für sie,  hätte er diese Tortur nicht überstanden. Er sprach für Beate!  Aber  als  er  zum  ersten  Zitat  aus  dem  Dictionnaire  Universel  kam,  machte  die  Stimme  nicht  mehr  mit.  Es  gab  sie  nicht  mehr.  Er  konnte  seiner  Kehle,  den  Stimmbändern,  dem  Mund befehlen, was er wollte. Nichts als ein Krächzen. Das  klang  grotesk.  Lieber  nichts  mehr  als  dieses  Krächzen.  Erledigt. Aus. Da stand schon Rick Hardy vor ihm, der hatte  schon  Kontakt  mit  Beate,  der  sagte  schon  an,  solange  der  Referent nicht bei Stimme sei, werde Beate Gutbrod, sowohl  Übersetzerin  dieses  Textes  wie  gerade  beim Schreiben  einer  Doktorarbeit  über  La  Mettrie,  den  ihr  durchs  Übersetzen  geläufigen Text vorlesen. 

Bitte,  Beate. 
Beate  sprechen  die  hier  tatsächlich  ziemlich  schräg  aus,  dachte Gottlieb und ging, den Blick auf dem Boden, zu dem  Stuhl, auf dem er schon gesessen hatte. Beate las, er  konnte  nicht  zuhören.  Sie  las  das  Englische  perfekt.  Perfekt  ameri kanisch.  Aber  er  konnte  nicht  folgen.  Er  schluckte,  er  ver suchte,  in  der  Stimmbandgegend  eine  Empfindung  zu  wecken.  Er  spürte  nichts  als  den  Nagel.  Auch  ohne  daß  er  sprach,  stach  in  seiner  Kehle  ein  Nagel.  Als  Beate  geendet  hatte,  wurde,  auf  akademische  Art,  ein  höflicher  Beifall  gespendet.  Aber  als  sie  auf  ihren  Platz  zurückging,  gab¹s  noch Extrabeifall. Deutlich für ihre Vortragsleistung. 
Rick  Hardy  rief  hell  und  lebhaft  zur  Diskussion  auf.  Als  sich niemand meldete, sagte er, er werde einmal den Anfang  machen.  Vielleicht  sei  der  Referent  inzwischen  wieder  bei  Stimme. Schon flüstern könne bei der vorzüglichen Verstär keranlage  von  Dwinelle  Hall  eine  Kommunikation  ermög lichen. Gottlieb sah und hörte und spürte, wie unvollständig  Beate ihm diesen Rick Hardy geschildert hatte. Eine Stimme  wie  ein  italienischer  Tenor.  Eine  gelbe  Lederweste,  aus  der  ein  weißer  Rollkragen  unmäßig  herausquillt.  Ein  vorne  aufknöpfbarer  Rollkragen.  Wahrscheinlich  aus  Seide  oder  feinster  Baumwolle.  Und  diese  Lachbereitschaft!  Er  lachte  seinen  eigenen  Sätzen  hinterher.  I  like  your  attempt  to  con ceptualize your misere propre. Und lachte. Er wolle, sagte er,  mit einem Zitat von T. S. Eliot beginnen. Bad poets copy, great  poets  steal.  Und  lachte.  Warum  er  jetzt  Eliot  zitiere,  sei  ihm  selber  unbekannt.  Aber  Eliot  paßt  immer.  Und  lachte.  Die  Unlust  des  Auditoriums,  sich  zu  Wort  zu  melden,  könne  damit zu tun haben, daß Mr. Krall weniger über La Mettrie  und  mehr  über  sich  selbst  gesprochen  habe.  Let  me  try  to  elucidate what Mr. Krall was trying to say. Und spezialisierte  sich auf ein Wort: Schuldgefühle. Ein deutscher Intellektueller  kommt an eine USEliteUniversität und versucht unter dem  Vorwand,  er  spreche  über  La  Mettrie,  den  Deutschen  einen  Freispruch  zu  erschwindeln.  Zweifellos  sei  der  späte  La  Mettrie eine Art Verführung zur Gewissenlosigkeit. Aber er  hat aus allzu einsichtigen Gründen nicht daran gedacht, die  Deutschen  aus  ihrer  von  ihnen  selbst  verschuldeten  Schuld  zu  erlösen.  Schluß mit  Schuldgefühlen!  Das  aus  dem  Mund  eines  Deutschen!  La  Mettrie  hat,  als  er  die  Menschheit  von  Schuldgefühlen  befreien  wollte,  nicht  an  Völkermord  ge dacht, sondern an Ehebruch und dergleichen. Insofern ist der  Coup,  den  ein  konvertierter  Altachtundsechziger  hier  zu  landen  versuche,  fast  schon  jenseits  des  akademisch  Tole rierbaren.  Massage  gegen  Gewissensbisse!  Und  das  via  Nietzsche!  Wer  Professor  Rosennes  NietzscheVorlesung  gehört  habe,  könne  einen  so  unreflektierten  NietzscheGe brauch nicht ohne Gänsehaut zur Kenntnis nehmen. Sollte er  in  seinem  Versuch,  die  Diskussion  zu  entfesseln,  zu  weit  gegangen  sein,  bitte  er  um  Widerlegung  dessen,  was  er  gesagt  habe  und  was  er  allerdings  unter  allen  Umständen  sagen würde. Kräftiger Beifall. 
Das  war  eine  vorbereitete,  geplante,  vielleicht  sogar  mit  dem  Professor  abgesprochene  Diskussionseröffnung.  Gott lieb stand auf, ließ sich, zur Sicherheit, von Beate den Hardy Text  noch  einmal  zusammenfassen,  dann  flüsterte  er  Beate  ins  Ohr  und  sie  sagte  es  laut  auf  Englisch  weiter:  Er  sei  überrascht. An all das, was Mr. Hardy in seinem Vortrag ent deckt  habe,  habe  er  nicht  gedacht.  Trotzdem  seien  Mr.  Hardy¹s  Bemerkungen  ernst  zu  nehmen.  Für  einen  Deut schen  ganz  besonders.  Remords  nennt  La  Mettrie,  was  deutsch  Gewissensbisse  oder  Schuldgefühle  heißt,  und  auf  Englisch  vielleicht  bad  conscience  oder  feeling  guilty  oder  selfreproach. Wie auch immer man¹s übersetze, La Mettries  Versuch,  Schuldgefühle  zu  demontieren,  stehe  im  Discours  sur le Bonheur. Und das ist nicht die witzige Abrechnung mit  remords,  wie  sie  die  Boulevardkomödie  pflegt.  Autre  reli gion,  autre  remords,  heißt  es  da  zwar,  aber  dann  wird  gründlich  gefragt,  wozu  remords  überhaupt  gut  sind.  Für  den  Menschen.  Für  die  Gesellschaft.  Es  geht  um  die  Glückseligkeit  der  Menschheit,  die  nicht  gestört,  zerstört  werden  soll  durch  nichtsnutzige  Schuldgefühle.  La  Mettrie  fragt  furchtbar  nüchtern  und  vielleicht  auch  erschreckend  sachlich  nach  dem  Nutzen  der  remords.  Sie  nützen  nichts.  Sie verhindern nichts. Weder vor, noch während, noch nach  dem Verbrechen. Von den remords geplagt werden ohnehin  nicht die Bösen, sondern die Guten. Man kann sagen, er habe  die Kritik des schlechten Gewissens geschrieben. Diese Kritik  war für ihn das, was er für die Menschheit tun konnte. Sein  größtmögliches  Verdienst.  Also  mit  Seitensprungerleich terung  darf  das  nicht  abgetan  werden.  Und  jetzt  kommt  einer  hierher,  der  erkannt  hat:  Wer  nur  ÜBER  La  Mettrie  schreibt,  ohne  dabei  über  sich  zu  schreiben,  der  entspricht  ihm  nicht.  Also  folgt  er  dem  von  Montaigne  stammenden,  durch  La  Mettrie  überbrachten  Rat  und  macht  sich  selbst,  auch  sich  selbst,  zum  Thema.  Dann  erfährt  er  hier  in  Kali fornien,  daß  ein  Deutscher  immer  zuerst  ein  Deutscher  ist  und  erst  dann  ein  Mensch.  Zu  Hause  ist  er  zuerst  ein  Mensch,  so  und  so  alt  und  ein  Mann.  Hier  ist  er  offenbar  zuerst  ein  Deutscher.  La  Mettrie  hat  seine  Gewissenskritik  nicht  für  eine  Gesellschaft  geschrieben,  die  sich  gerade  in  einen  Völkermord  verstrickt  hat.  Aber  er  hätte  wahr scheinlich  in  seiner  furchtbaren  Nüchternheit,  in  der  Be schreibung dessen, was das menschliche Gewissen zu leisten  vermag, er hätte seine Gewissenskritik nicht von Grund auf  anders  geschrieben.  Aber  zweifellos  kann  ein  Deutscher  davon keinen sein Gewissen entlastenden Gebrauch machen.  Das  war  auch  nicht  im  mindesten  die  Absicht  des  Referenten. Obwohl der Sachlage nach nicht ausgeschlossen  werden kann, daß ein deutscher Referent die La Mettriesche  Gewissenskritik auf den Fall Deutschland anwenden könnte.  Vielleicht  darf  erwähnt  werden,  daß  dem  Deutschen  Gedächtnis zu einem Synonym für Gewissen geworden ist. 
Der  Referent  hat  sich  als  einen  Gefangenen  seines  Ge wissens gesehen und ist nach Kalifornien geflogen, um hier  zu  bekunden,  daß  von  La  Mettrie  eine  Befreiungskraft  ausgehe. Und, hat er gedacht, kein Land der Welt eigne sich  so  gut  wie  Amerika,  diese  Befreiungskraft  zu  feiern  und  nicht  bloß  zu  feiern,  sondern  sie  ganz  praktisch  wirken  zu  lassen, ganz praktisch, hier und jetzt. Wie das dann aussähe,  muß  jeder  Tagungsteilnehmer  für  sich  entscheiden.  Dem  Referenten hätte es genügt, wenn er ein wenig hätte erlebbar  machen  können,  wie  La  Mettrie  in  sein  Leben  eingegriffen  habe.  La  Mettrie  plus  Amerika,  das  hat  sich  im  Referenten  aufgeladen  zur  Befreiungshoffnung  schlechthin.  Leider  hat  er  dabei  einfach  übersehen,  daß  ein  Deutscher  alles,  was  er  denkt  und  sagt,  zuerst  daraufhin  überprüfen  muß,  wie  es,  von  einem  Deutschen  gesagt,  wirkt.  Daß  der  Referent  diese  Selbstüberprüfung versäumt hat, war ein furchtbarer Fehler.  Den bedauert er sehr. Er hätte bedenken müssen, daß er im  Ausland spricht. In den USA! Er bittet die Versammlung um  Entschuldigung. Und er hofft, er habe gelernt, spät genug ge lernt, aber doch noch gelernt, er als Deutscher, vor allem im  Ausland,  hat  immer  daran  zu  denken,  daß  er  zuerst  ein  Deutscher ist und erst dann, falls sein EinDeutschersein das  noch zuläßt, erst dann ein Mensch. 
Eher  zaghafter,  aber  aus  ein  paar  hinteren  Reihen  dann  doch  deutlicher  Beifall.  Gottlieb  schaute  nicht  hin.  Er  be dankte  sich,  immer  noch  flüsternd,  bei  seiner  Übersetzerin.  Das  ergab  einen  allgemeinen,  sogar  heftigen  Beifall.  Beate  verneigte  sich.  Rick  Hardy,  der  während  Gottliebs  Erwi derung deutlich geduldig auf dem Podium stehen geblieben  war,  übernahm  die  Leitung  der  jetzt  einsetzenden  Diskus sion.  Gottlieb  setzte  sich  auf  seinen  Platz,  Beate  auf  ihren.  Gottlieb konnte nicht mehr folgen. Er kriegte mit, daß hinten  ein  paar  Frauenstimmen  für  ihn  sprachen  und  daß  die  Mehrheit  dann  diese  Sympathisantinnen  eines  Besseren  zu  belehren suchte: moralisch, politisch, philosophisch. Es ging  um  die  Wörter.  Guilt,  debt,  selfreproach,  bad  conscience,  hypocrisy.  Gottlieb  war  nicht  mehr  gefragt,  das  kriegte  er  mit.  Denen,  die  ihn  verteidigen  wollten,  konnte  er  nicht  helfen.  Beate  beteiligte  sich  auch  nicht.  Seine  Verteidi erinnen, das hörte er, ohne sich umzudrehen, mußten ältere  Damen sein; eine wies darauf hin, daß sie aus einer Familie  von Holocaustüberlebenden stamme. Es wurde ihr gesagt, es  sei ihre Sache, ganz und gar ihre Privatsache, wenn sie sich  mit  einem  deutschen  Entlastungsmanöver  dieser  Art  befreunden  könne,  kein  Mensch  könne  ihr  daraus  einen  Vorwurf  machen,  solange  sie  nicht  versuche,  ihrer  Privat sache universale Gültigkeit zu erstreiten. Rick Hardy hatte so  gut wie nichts mehr zu tun, so gut lief die Diskussion. Dann  und  wann  mußte  er  sagen:  Keep  your  remarks  brief,  und  schließlich:  Die  Kaffeepause  sei  ein  MUST,  also  noch  eine  letzte  Wortmeldung.  Die  kam  von  Patricia  Best.  Sie  stand  auf, sprach ebenso zu Gottlieb wie zum Saal. Die kleine, eher  rundliche Person wuchs mit jedem Wort. Sie wuchs wirklich.  Sie sprach nicht einmal besonders laut. Mußte sie auch nicht.  Ihre  hohe,  eigentlich  sehr  hohe  Stimme  schwebte  über  dem  ganzen  Saal.  Das  sah  man.  Gottlieb  hatte  tatsächlich  den  Eindruck, als wüchsen auch die Zuhörer. Alle Hälse wurden  lang,  alle  Köpfe  hoben  sich.  I  liked  your  speech.  So  begann  sie. Dann sagte sie, daß auch heute noch das Gewissen eines  jeden  Menschen  von  der  Religion  gebildet  werde,  in  der  er  aufwachse.  Das  Gewissen  sei  das  Kostbarste,  was  unsere  Kindheit  in  jedem  von  uns  lebendig  erhalte.  Und,  bitte,  der  Atheismus  sei  ja  nichts  anderes  als  eine  Religion,  die  sich  zutraue,  ohne  Gott  auszukommen.  Tatsächlich  sei  jede  praktizierte,  gar  herrschende  Religion  in  Gefahr,  das  kostbare  Kindheitsgut  Gewissen  zur  Rezeptur  verkommen  zu  lassen.  Daß  die  Philosophie  darauf  kritisch  zu  reagieren  habe,  verstehe  sich  inzwischen  von  selbst.  La  Mettrie  habe  das  getan.  Einzigartig.  Großartig.  Nachträglich  seiner  Gewissenskritik  Reservate  anzuweisen,  in  denen  allein  sie  angewendet  werden  dürfe,  komme  ihr  vor  wie  freiwillige  Kurzsichtigkeit, die gebe es aber in der Natur nicht, und die  Wissenschaft  sollte  nicht  versuchen,  gerade  darin  die  Natur  zu  korrigieren.  Dann  wolle  sie,  müsse  und  könne  sie  dem  Herrn  Referenten  versichern,  daß  das  Problem  der  Transzendenz vom Deutschen zum Menschen ganz und gar  nicht  nur  sein  Problem  ist.  Solange  es  noch  Nationen  gibt,  und  es  wird  sie  ganz  sicher  nicht  ewig  geben,  muß  es  und  wird es diese Einladung zur Überwindung des nur Angebo renen  geben.  Die  herzliche  Theatralik  mit  der  der  Referent  den  Emanzipationskitzel  vor  uns  ausgelebt  hat,  hat  mich  gerührt. 
Aus verschiedenen Saalquartieren heftiger Beifall. Aber da  und dort gab es auch Zischen. 
Rick  Hardy  übernahm:  Er  sei  immer  wieder  glücklich,  wenn  er  Patricia  Best  in  ihrer  sibyllinischen  Laune  erlebe.  Und lachte. Vielen Dank, Patricia! 
Jetzt  Professor  Rosenne.  Er  sei  auch  glücklich  über  diesen  Anfang der Tagung. Daß La Mettrie immer noch ein Unruhe stifter  sei,  mache  ihn  glücklich.  Gestern  Abend  habe  er  drüben in San Francisco in Chinatown Abend gegessen. Die  Chinesen lieferten ja zu jedem Dinner ein Cookie, ein fortune  Cookie,  das  man,  wenn  man  Sprachliches  nicht  wegwerfen  kann,  einstecke,  in  der  Hoffnung,  eine  Situation  zu  erleben,  in  die  der  Spruch  passe.  Daß  das  schon  heute  der  Fall  sein  würde,  habe  er  nicht  zu  hoffen  gewagt.  Aber  daß  ihm  der  Spruch  für  Mr.  Krall  mitgegeben  worden  sei,  sei  jetzt  nicht  mehr  zu  bezweifeln.  So  gebe  er  ihn  also  weiter.  Er  reichte  Gottlieb einen winzigen Papierstreifen, las aber vorher noch  vor,  was  darauf  stand:  Redecorating  will  be  in  your  plans.  Helles Gelächter. Da hinein Rick Hardy¹s Stimme, daß es um  vier  Uhr  weitergehe  mit  William  Blondel:  Machine  and  Morality. Dann rief er noch das Tagungsmotto: Armezvous du  flambeau de l¹Expérience! 
Im Hinausgehen wurde Gottlieb aufgehalten von den zwei  oder  drei  Damen,  die  ihn  hatten  verteidigen  wollen.  Sie  boten ihm Kaffee an und sagten alles noch einmal. Er konnte  keinen  Kaffee  trinken.  Er  deutete  auf  seine  Kehle.  Sie  verstanden  und  bedauerten.  Eine  sagte  mehr  als  einmal:  Your speech was great. Er durfte gehen. In der Eingangshalle  holte ihn Beate ein. Er bat sie, sofort zurückzugehen, dort zu  bleiben,  er  gehe  ins  Hotel  und  warte  auf  sie.  Sie  dürfe  kein  Referat,  keine  Diskussion,  keine  Kaffeepause  versäumen.  Schon daß sie ihm nachgeeilt sei, sei ein Fehler. Also schnell,  schnell. Ab. Sie schluchzte fast. Sagte nur noch: Aber Patricia  war toll. 
Im  Zimmer  griff  er,  bevor  irgendeine  Ratlosigkeit  sich  seiner bemächtigen konnte, zur Fernbedienung. Da erschien  eine  blaue  Mütze,  mit  glänzendem  Schild,  schief  auf  dem  Kopf  eines  Grauschwarzbärtigen,  da  erschien  im  Lederjak kenglanz  ein  als  Kapitän  kostümierter  Prediger.  I¹m  God¹s  University on the air ... not just another church ... my belief ...  god  wants  me  ...  er  braucht  bis  Mittwoch  nächste  Woche               780  000  Dollar.  If  we  don¹t  get  it  we  are  off.  780000  bis  Mittwoch, 130 000 bis Montag, er ist im Augenblick näher bei  300  000  als  bei  200  000,  aber  bis  Mittwoch  780  000.  If  you  want me on 24 hours a day, pay the bill and if you don¹t do  this till Wednesday we will be off, I¹ve got to have 780 000 by  Wednesday, this satellite may be the only free satellite in the  sky,  I¹m  gonna  have  780  000  by  Wednesday,  you¹re  not  tel ling  me  what  you¹r  gonna  give,  if  you  can¹t  give  a  iooo  dollars we will never be back on NCN, we have four million  households,  king  dollar  rules  down  here  ...  in  this  ruthless  jungle,  God  is  in  control,  I  want  to  be  on  His  side  ...  NCN  could  sell  their  time  to  nonchristian  ministries  which  pay  more than we can ... I am just tired of being spit on by some  people who are not worth my spit... put me 24 hours a day  on  a  satellite,  I  am  a  one  man  university  on  the  air  ...  God  wants me alone ... where is all the accusation of fraud ... I am  the news ... I am on every night ... I told you so ... this church  has never done anything wrong ... I love to spend money for  Jesus ... give me ten million dollars a day, I¹ll spend ten mil lion a day, I¹m happy, I¹m the true university in the sky, have  you all understood  what I  have said? It¹s time to move and  shut up. 
Dann  sangen  vier  Schwarze  leidenschaftlich  innig  ihre  Gospels.  Schnitt  auf  die  Telephonierer,  die  jetzt  die  Anrufe  derer, die tausend oder mehr Dollar spenden wollen, entge gennehmen.  Die  Telephonierer  sind  fast  uniformiert,  haben  blauweiße oder rotweiße Mützen auf. Auf den Mützen kann  man  lesen:  The  Doc  is  in.  Und  an  der  Rückwand  erscheint  groß  die  Schrift:  It¹s  not  rock  around  the  clock,  it¹s  Doc  around  the  clock.  Und  noch  einmal  groß  der  Prediger,  mit  tiefer,  ruhiger Stimme: Where are the 1000dollar pledges, I need 50  of them ... 
Gottlieb  schaffte  den  befreienden  Knopfdruck.  Dann  konnte  er  Anna  anrufen  und  sie  bitten,  daß  sie  ihn  anrufe.  Kaum, daß er noch die Hotelnummer herausbrachte. Sie rief  sofort  zurück.  Der  Hals  also.  Sie  war  gerade  am  Heimkom men.  Sie  hat  endlich  einen  seriösen  Interessenten  für  das  Bauernhaus in Wintersulgen. Aber am Anfang wirke ja jeder  Interessent seriös. Also, sein Hals. Kein Wort mehr, bitte. In  die  Apotheke.  Bienenwachscreme,  Eisentabletten,  Fichten nadelsaft. Und dreimal die Essigwasserwaschung, von Kopf  bis  Fuß,  besonders  die  Fußsohlen.  Nachts  einen  dicken,  engen Krautwickel um den Hals. Dann ist das morgen weg.  Daß er erst anruft, wenn ihm etwas fehlt, ist schlimm genug.  Schlimm  genug,  Gottlieb!  Bitte,  jetzt  kein  Wort  von  ihm!  Sobald die Stimme wieder da ist, soll er anrufen. Aber wenn  ihm nichts mehr fehlt, warum sollte er dann anrufen! Wenn  sie  also  nichts  mehr  hört  von  ihm,  weiß  sie,  es  geht  ihm  besser.  Mach¹s  gut.  Du  furchtbarer  Mensch.  Sie  wäre  ihm  dankbar,  wenn  er,  weil  er  doch  so  schlau  ist,  wenn  er  ihr  erklären könnte, warum sie ihn noch hebt. Das ist ein Leiden,  gegen  das  sie  immer  noch  kein  Mittel  gefunden  hat.  Aber  Wintersulgen  hat  geklappt.  Droben,  hinter  Heiligenberg.  Weißt  du  noch?  Im  Winter,  wir  beim  Langlauf  im  verschneiten Gelände, dann plötzlich quer über den sanften  Hügel  das  Rudel  Wildschweine,  und  wir  standen  und  schauten zu, wie die durch den  Schnee stoben. Wir müssen  da  ziemlich  fromm  ausgesehen  haben.  Adieu.  Gottlieb  konnte gerade noch Adieu krächzen, dann legte sie auf.   
 
5. 

 
 
Sie rief an wie aus dem Grab. Und auch noch so, als hörten  die  Toten  gierig  mit,  sie  müsse  also  ganz  leise  sprechen.  In  zehn  Minuten  kommt  sie  mit  dem  Taxi,  er  soll,  bitte,  dann  schon unten sein, vor dem Hotel. Also ins Krankenhaus. 
Der  Arzt,  der  alles  schon  wußte,  plauderte  aus  seiner  Geschichte,  was  jetzt  paßte.  Wievielen  Tenören  er  schon  geholfen  hatte.  Aber  zuerst  mußte  Gottlieb  sich  ausziehen,  seine  Kleider  auf  einen  Bügel  hängen,  der  auch  die  Schuhe  aufnehmen  konnte,  mußte  in  einen  grünlichen  Pa tientenkittel  schlüpfen  und  in  ebensolche  Hosen,  ums  Handgelenk kriegte er ein Bändchen, an dem ein Schildchen  mit  seinem  Namen  hing.  Der  Arzt,  der  die  ankommenden  Patienten  auf  die  dafür  geeigneten  Ärzte  verteilte,  wollte  selber  einmal  Sänger  werden,  plauderte  über  Bei  Canto Technik  und  war  ganz  sicher,  daß  er  für  den  stimmlosen  Herrn aus Deutschland den richtigen Doktor im Haus habe.  Sie sollten sich entspannen, beide. Bis gleich. 
Beate  hatte  begriffen,  daß  das  die  Vorbereitung  war  für  einen  stationären  Aufenthalt.  Sie  eroberte  die  Kleidung  zurück,  Gottlieb  mußte  sich  sofort  umziehen,  sie  entkamen,  bevor  der  Verteiler  zurück  war.  Und  Beate  hatte  aus  einem  jungen  vorbeikommenden  Arzt  auch  noch  einen  HNOArzt  herausgefragt. In Berkeley. Dr. Matusaka. Ein Japaner. Beate  bezahlte das Taxi, drückte die siebte Etage, verhandelte mit  dem  Empfangsmädchen,  sie  sollten  sich  setzen.  Es  waren  gerade noch zwei Stühle frei. Allerdings zwei schöne Stühle.  Weiß, und geschwungen und geknickt, dann wieder gerade.  Es war eng. Gottlieb schob¹s auf die Quadratmeterpreise. Er  und Beate würden unter solchen Umständen nicht sprechen.  Aber Beate suchte seine Hand. Niemand sagte etwas, nur das  Mädchen  mit  dem  verbundenen  Ohr.  Sie  sprach  ungeniert  laut. We have seen Indian houses. Totems. Seals floating on  icebergs.  Dolphins.  Mating.  All  exciting.  Was  für  eine  Sprache!  Dolphins.  Mating.  Dieses  Mädchen  war  so  beson ders, wie die Frau, der sie erzählte, gewöhnlich war. Miche langelo  hätte  aus  diesem  großäugigen,  schlaksigen,  lang gliedriegen  Ding  einen  unsterblichen  Buben  gemacht.  Aber,  dachte  Gottlieb,  das  wäre  schade  um  dieses  Mädchen.  Wie  beschränkt  ist  das  Leben.  Dolphins.  Mating.  Und  nie  wirst  du mit diesem Mädchen auf der hier üblichen Holzveranda  sitzen,  nie  mit  ihr  durch  die  Eukalyptuswälder  traben  ...  Beate signalisierte an seiner Hand, daß sie auch noch da sei.  Also löste er seinen Blick von diesem langen Hals und dem  halblangen  Haargewell.  Zum  Glück  wurde  sie  jetzt  hin eingerufen. Catherine. Und wie sie hineinging. Drei Schritte.  Aber die wie auf einem Sandstrand. Als sinke sie bei jedem  Schritt ein und müsse sich dann hochstemmen, strecken. Als  sie  wieder  herauskam,  ging  sie,  alle  grüßend,  hinaus.  Gott lieb durfte sich auch gegrüßt fühlen. Dann wurden, obwohl  sie noch nicht dran waren, er und Beate hineingerufen. 
Dr.  Matusakas  Sprechzimmer  war  eine  überfüllte  Kabine.  Der Doktor war entsprechend klein und zart und leise. Eine  Art  Astronautensitz  nahm  Gottlieb  auf.  Dr.  Matusaka  dik tierte, was er feststellte, in ein Mikrophon, das er als schwar zen  Knopf  an  seinem  eierschalenfarbenen  Mäntelchen  trug.  Als er dem Mikrophon alles gesagt hatte, sagte er alles noch  einmal in unärztlichem Englisch. Und immer sprach er auch  zu  Beate,  weil  er  gemerkt  hatte,  daß  sie  ohnehin  dem  Patienten nachher alles noch einmal in seiner Sprache sagen  mußte.  Daß  der  Patient  über  seine  Stimmbänder  so  gut  wie  nichts  wußte,  hatte  er  sofort  erkannt.  Also:  Eine  adoptive  Asymmetrie des linken Stimmbandknorpels und eine inkom plette  Lähmung  der  linken  Stimmbandlippe.  Vielleicht  sind  von einer Grippe Toxine zurückgeblieben, vergiftete Eiweiß stoffe,  und  haben  den  langen  Stimmbandnerv  angegriffen.  Vielleicht war eine Verletzung die Ursache. Der Stimmband nerv,  Recurrens  genannt,  sei  mehr  oder  weniger  funktions unfähig.  Dieser  Nerv  reicht  vom  Kopf  herab  und  um  das  Herz  herum;  das  Embryo  hat das  Herz  noch  im  Hals,  dann  senkt sich das Herz und nimmt den Recurrensnerv mit. Der  geht  dann  um  das  Herz,  um  die  Aorta,  um  die  Speiseröhre  herum, bis er den Muskel des Stimmbands bedient. Für eine  Lähmung  oder  Teilweiselähmung  kann  es  viele  Ursachen  geben:  von  einer  Schilddrüsenvergrößerung  bis  zum  Carci nom. Was tun ? Antibiotika auf jeden Fall. Eine Thoraxrönt gung auch auf jeden Fall. Eine Computertomographie auch.  An  der  Universitätsklinik  hat  ein  Professor  ein  Verfahren  entwickelt,  das  es  ermöglicht,  in  den  Stimmbandmuskel  einen  Sender  einzusetzen,  der  genau  meldet,  wieviel  das  Stimmband noch bringt. Dr. Matusaka hält das hier nicht für  nötig.  Das  rechte  Stimmband  des  Patienten  ist  erstaunlich  gut trainiert, es kommt mit seinen Schwingungen bis an das  linke hin. Aber natürlich sind, um die Carzinomvariante zu  klären, Aufnahmen, Röntgen und Tomographie, unerläßlich.  Und  sofort  Antibiotika,  um  die  möglicherweise  von  einer  Virusgrippe  verursachte  Sekundärinfektion  zu  stoppen.  Der  Patient  soll  jetzt  nicht  nichts  reden.  Er  soll  sich  um  Gottes  willen  jetzt  nicht  aufs  Flüstern  reduzieren.  Weder  brüllen  noch  flüstern.  Einfach  reden.  Er,  Dr.  Matusaka,  habe  unter  seinen  Patienten  einen  Pfarrer,  der  an  ähnlichen  Beschwer den  leide,  der  sich  aber  jede  Aufklärung  über  seine  Symp tome verbiete. Er will darüber nichts hören. Er tritt für seine  Kirche  dreimal  pro  Woche  im  Fernsehen  auf.  Vor  jedem  Auftritt  läßt  er  sich  eine  leichte  Strychninspritze  geben,  die  tonisiert dann die Stimmbänder so, daß sie ein paar Stunden  funktionieren. 
Gottlieb  war  sicher,  daß  der  Arzt  von  dem  bärtigen  Geld forderer mit der schief sitzenden Mütze sprach. 
Mr.  Krall,  sagte  der  Arzt,  muß  um  eine  rasche  und  voll kommene  Aufklärung  bemüht  sein.  Er,  Dr.  Matusaka,  kann  das  organisieren.  Seine  Diagnose  bis  dahin:  eine  idiopathi sche,  kryptogenetische  Recurrensparese.  Beate  sagte,  das  müßten sie und ihr Freund erst einmal verdauen. In Gottlieb  war  inzwischen  ein  solches  Zutrauen  zu  diesem  zarten  Japaner  gewachsen,  daß  es  ihn  richtig  schmerzte,  sich  jetzt  einfach  und  für  immer  verabschieden  zu  müssen.  Der  gab  noch den Rat, einen halben Ton tiefer zu sprechen, sich das  anzugewöhnen,  immer  einen  halben  Ton  tiefer,  und  er  werde  sich  wundern,  wie  heilsam  das  sei.  Wir  sprächen  ja  alle  andauernd  viel  zu  hoch.  Und  lächelte.  Gottlieb  hatte  sofort  das  Gefühl,  dieser  Rat  sei  überhaupt  das  Wichtigste  gewesen.  Draußen  bezahlte  er  die  bescheidene  Rechnung.  Das  Mädchen  am  Computer  druckte,  was  der  Doktor  verschrieben hatte, aus und überreichte Beate das Rezept. 
Als  sie  unten  auf  der  Straße  waren,  bat  Gottlieb,  Beate  möge  Passanten  nach  einem  Gemüsesupermarkt  fragen.  Dazu das Geständnis, daß er Anna angerufen habe. Dazu das  Geständnis,  daß  sich  Anna  schon  vor  zehn  Jahren  zur  Heilpraktikerin habe ausbilden lassen, die Prüfung gemacht  habe,  aber  nicht  praktiziere.  Sie  sei  einfach  neugierig  ge wesen, habe das Gefühl gehabt, in der Schule das Wichtigste  nicht  erfahren  zu  haben.  Sie  werde  inzwischen  von  immer  mehr  Leuten  um  Rat  gefragt.  Irgendwann  werde  sie  dafür  Honorar  nehmen.  Der  Immobilienhandel  profitiere  von  der  Naturheilkunde. Das ist Annas Begabung: zu entdecken, wie  Immobilienhandel  und  Naturheilkunde  zusammenpassen.  Jeder  zweite  Kunde  ist  krank,  sagt  Anna.  Koliken,  Magen bluten,  Blutspucken,  kommt  alles  vom  Penicillin.  Und  ohne  vorherige  Auspendelung  der  Wasseradern,  der  Kreuzungs quadrate,  der  Globalgitter  und  der  Diagonalgitter  und  der  HartmannStrahlen  übernehme  Anna  sowieso  keinen  Auftrag  mehr.  Jetzt  also  eine  Nacht  mit  Krautwickel.  Das  habe Anna, sagte Beate, gegen sie verordnet. Daß er und sie  nicht mit einander schlafen können. Eine Nacht weniger. Er  mußte  Beate  aufklären,  daß  sie  wenigstens  ahne,  wer  Anna  auch noch ist: Anna hat irgendwann gemerkt, daß sie durch  die  Schwächen  ihres  Privatgelehrten  genötigt  worden  war,  den Immobilienhandel ernst zu nehmen. Und als das passiert  war,  ist  in  ihr  per  Dialektik  die  Rettungskraft  erwacht  und  gewachsen:  die  Naturheilkunde.  Völkle  und  Krezdorn,  das  sind ihre Herkunftsfamilien, in beiden Familien gab es über  die  Gegend  hinaus  bekannte  Naturheilkundige.  Der  letzte,  ein Vetter Leonhard aus Simmerberg oder, wie er sich selber  nannte, Leonhard von Simmerberg, der ist ins Haus gekom men,  hat  die  verstörte  Regina  geheilt,  Anna  hat  sich,  bevor  sie  ihre  Ausbildung  begann,  für  drei  Wochen  bei  ihrem  Vetter  Leonhard  in  Simmerberg  einquartiert  und  hat  von  dem  alles  übernommen,  was  sich  bei  dem  aus  den  Natur heiltraditionen ihrer und seiner Familie angesammelt hat. Sie  hat  von  ihm,  weil  er  sich  zu  alt  fühlte,  den  Leinensack  und  die  Kupferrute  übernommen.  Hat  aber  vom  PendelLehr gang in Einsiedeln die TechnoVersion der Rute mitgebracht:  Doppelantenne  mit  Kugelgelenk.  Und  als  sie  beobachtet  hatte, daß Magda nur noch kauernd schlief, die Beine ange zogen, Knie fast am Kinn, hat sie gependelt, danach das Bett  einen  Meter  verschoben,  Magda  schlief  ab  sofort  gestreckt.  Es gehört sicher nicht zum Beweisbaren und trotzdem ist es  Faktum: Anna hält andere dadurch am Leben, daß sie an sie  denkt.  Beate  lachte  und  sagte:  Dann  kann  sie  durch  Darandenken auch töten. Gottlieb sagte: Logisch. 
Es  war  dann  eine  gewaltige  Halle,  japanisch  geleitet,  Gemüse und Früchte in farbigen Bergen. Dazwischen Kraut  zu  finden,  war  nicht  leicht.  Daß  es  so  viele  Früchte  und  Gemüsearten gibt, die er noch nie gesehen, deren Namen er  noch  nie  gehört  hat!  Aber  sie  fanden  das  Kraut.  Und  keine  Apotheke gesucht. Ihm genügte es, Bescheid zu wissen. Aber  im  Hotel  suchte  er  im  Webster  idiopathic.  Da  stand:  Gr.  Idiopatheia,  feeling  for  oneself  alone,  designating  or  of  a  disease  whose cause is unknown or uncertain. Beate bat er, daß sie zum  Abendessen in den Faculty Club gehe. Sie gehört zum staff.  Das  muß  sie  demonstrieren.  Sie  darf  nicht  als  Kranken wärterin  des  deutschen  Durchgefallenen  figurieren.  Er  werde,  egal,  wie  seine  Stimmbänder  sich  benähmen,  an  keiner  Veranstaltung,  auch  an  keinem  Essen  mehr  teilneh men.  Bitte,  keine  Mitleidsgesten  jetzt.  Er  fühlt  sich  im  Zim mer  wohl,  vielleicht  geht  er  noch  über  die  Straße  in  ein  Bistro.  Sie  soll  dort  bleiben,  solange  das  dort  geht.  Beate  wollte das nicht einsehen. Wenn er fernbleibe, demonstriere  er  eine  Niederlage,  die  es  nicht  gab,  dank  Patricia.  Er  muß  mit  hinüber,  Patricia  umarmen,  hellauf  lachen  über  die  dümmliche Polemik dieses und jenes Teilnehmers, vor allem  über  die  unfaire  Moderationspolitik  Rick  Hardy¹s.  Gottlieb  deutete auf seinen Hals. Lachen, hellauf, womit?! 
Sie  ging,  sagte  aber,  daß  sie  sich  nur  noch  darauf  freue,  zurückzukommen.  Sobald  sie  in  ihrem  Zimmer  sei,  rufe  sie  an  und  bitte  ihn  dann,  flehe  ihn  dann  an,  sofort  zu  ihr  hinüberzukommen.  Zur  Hauptsache,  sagte  sie  und  lächelte  lasziv,  aber  so,  daß  klar  wurde,  sie  parodiere  eine  Film prostituierte, aber es sei ihr auch danach. 
Er  konnte  sich  nicht  entschließen,  sich  jetzt  einen  Kraut wickel anzutun. Er rief das LufthansaBüro an und verlegte  den  Rückflug  vom  13.  April  auf  den  6.  April.  Exchange  fee  150 Dollar. Es war, als habe er eine Last abgeworfen. Er hätte  fast  übermütig  werden  können.  Am  liebsten  hätte  er  gepfiffen.  Aber  summen  mußte  er.  Anna  informieren,  nein,  das  noch  nicht.  Zuerst  mußte  er  Beate  mit  diesem  Datum  vertraut  machen.  Sie  würde  protestieren.  Mehr  als  protes tieren.  Diese  Umbuchung  war  aber  notwendig  geworden.  Wenn  er  je  mit  sich  selber  übereinstimmte,  dann  jetzt.  Er  würde mit Beate am Sonntagabend nach Chapel Hill fliegen,  wie  geplant.  Aber  dann,  statt  zwei  Wochen,  eine.  Diese  Woche  würde  ihm  schwer  genug  fallen.  Das  hatte  nichts  oder  wenig  zu  tun  mit  der  Reaktion  auf  seinen  Vortrag.  Auch  wenn  sie  ihm  zugejubelt  hätten,  hätte  er  umbuchen  müssen.  Die  Niederlage  in  der  Dwinelle  Hall  kann  er  ertragen,  er  muß  sie  nicht  mildern.  Ein  Deutscher  will  den  Deutschen mit Hilfe des radikalen Moralrealisten La Mettrie  einen  Freispruch  erschwindeln!  Daß  La  Mettrie  auch  für  Deutsche  in  Frage  kommen  muß,  darf  er  gar  nicht  denken.  Hat er auch gar nicht gedacht. Darauf hat ihn erst Mr. Hardy  gebracht.  La  Mettrie  behauptet,  es  gebe  nichts  Unmensch licheres,  nichts  Lebensfeindlicheres  als  remords.  Das  würde  natürlich  auch  für  den  Umgang  der  Deutschen  mit  ihrer  Vergangenheit gelten. Aber das hat er nicht gesagt. Er müßte  dann  nachweisen,  daß  es  eine  Schuld  gibt  ohne  Schuld gefühle.  Kein  bißchen  weglügen,  nichts  verkleinern,  und  trotzdem  kein  Schuldgefühl,  keine  remords.  Das  ist  ein  anderer Vortrag. Ein Vortrag, den er nicht gehalten hat, den  zu  halten  er  nicht  wagen  kann.  La  Mettrie  hatte  keine  Erfahrung  mit  dem  Gedächtnis.  Inzwischen  wacht  das  Gedächtnis über das Gewissen. Ob das lebensfeindlich ist, ist  dem Gedächtnis egal. 
Im Bistro aß er eine Salatplatte und ein PastramiSandwich  und  trank  ziemlich  viel  Bier.  Dann  kaufte  er  sich  noch  eine  Flasche  Bourbon.  Den  würde  er  an  diesem  Abend  trinken.  Ihm  war  nach  Bewußtlosigkeit.  Er  war  zwar  ganz  und  gar  einverstanden  mit  sich,  aber  er  wußte  nicht,  wie  er  sich  anderen verständlich machen sollte. Beate, zum Beispiel. Am  liebsten  hätte  er  Beate  jetzt  einen  Abend  lang,  eine  Nacht  lang  von  Anna  erzählt.  Er  mußte  ihr  den  Traum  erzählen,  den er noch in der letzten Nacht daheim geträumt hatte: Er  sah  sich  scheißen,  sollte  in  ein  tuchenes  Gefäß  treffen,  verfehlte  es,  aber  Anna  zog  seine  Kotstange  durch  die  Tuchwand durch, alle Unreinlichkeit war vermieden. Sobald  sie sein Zeug durch die bereitwillig sich öffnende Tuchwand  durch  hatte,  fing  sie  an,  mit  ihren  Händen  in  dem  Kot  zu  fingern,  zu  suchen  und  dazu  sagte  sie:  Oh,  was  haben  wir  denn  da?  Bei  wem  war  er  denn  jetzt  wieder?  Und  hatte  offenbar  Beweise  in  ihren  Händen,  Beweise  für  seine  Untreue mit einer Frau, die zu nennen nicht mehr nötig war.  Nach  diesem  Traum  war  Gottlieb  in  einer  Stimmung  vollkommener  Trostlosigkeit  aufgewacht.  Er  fieberte  sozu sagen Tag und Nacht seinem Abflug entgegen. Dann dieser  Traum. Dieser Traum vernichtete alles. 
Jede  Zukunft.  Jede  Gegenwart.  Er  wußte  nicht,  warum.  Aber er fühlte sich vernichtet. Anna hatte das bemerkt, hatte  gefragt,  was  ihm  fehle.  Welch  eine  Frage,  hatte  er  gedacht.  Gesagt hatte er: Ein Traum, den ich dir nicht erzählen kann.  Sie  hatte  gesagt,  sie  habe  auch  geträumt.  Da  er  nicht  nach  ihrem Traum fragte, hatte sie gesagt, sie wisse, daß ihn ihre  Träume  nicht  mehr  interessierten,  da  er  jetzt  auf  andere  Träume abonniert sei − womit sie bewies, wie erfolgreich sie  ihn  überwachte −,  aber  sie  sage  ihm  trotzdem,  was  sie  geträumt  habe.  Sie  sei  im  Traum  geohrfeigt  worden.  Von  einer  ihr  unbekannten  Frau.  Und  als  sie  gefragt  habe,  warum, habe diese Frau gesagt: Weil sie sich von dem habe  heiraten  lassen.  Gottlieb  hatte  gesagt,  genauer  könne  man  nicht  träumen.  Bis  zu  den  ten  o¹clock  news  hatte  er  die  Flasche Jim Beam fast ausgetrunken. Er hatte das Gefühl, der  Bourbon  gebe  ihm  die  Kraft,  allein  zu  sein.  Er  konnte  sich  gehen  lassen.  Er  hatte  nichts  dagegen  zu  denken,  wie  er  dachte.  Wie  es  dachte.  In  ihm.  Bitte.  Ich  lasse  euch  alle  köpfen.  Nicht  gleich.  Aber  später.  Bis  dahin  schmeichle  ich  euch.  Auf  eine  begabte  Art.  Ich  will  den  äußersten  Effekt.  Kein  Argwohn  mehr.  Ihr  müßt  mich  für  total  gezähmt  halten. Ich gehöre dazu. Auf mich kann man sich verlassen.  Ich  trage  dazu  bei,  daß  das  System  erfolgreich  ist.  Immer  noch  erfolgreicher.  Immer  noch  legitimer.  Vor  allem  das:  legitimer.  Das  ist  meine  Hauptarbeit:  Legitimitätsbeschaf fung.  So  gut  ich  eben  kann.  Davon  lebt  ja  das  System,  daß  jeder  da,  wo  er  leibt  und  lebt,  das  Großeganze  legitimiert.  Dann laß ich euch alle köpfen. Das wird eine Überraschung.  Das  hättet  ihr  nicht  gedacht.  Andererseits  gibt  es  nichts  Konformeres,  Typischeres  als  mich.  Macht  alles  mit  und  sinnt  auf  Vernichtung  dessen,  was  ihn  gemacht  hat.  Ich  glaube, ich bin der Inbegriff dieses Systems. Dieser Westwelt.  Ich  bin  wahrscheinlich  längst  Amerikaner.  Nicht  wirklicher  Amerikaner,  der  daheim  ein  liebwerter,  begabter  Nachbar  ist, sondern SystemAmerikaner, IdeologieFuzzi. Im Reprä sentanten  verliert  sich  nach  oben  hin  alles,  was  an  Ort  und  Stelle liebenswürdig war. In mir kommt das System zu sich  selbst. Die vom System in jedem produzierte Feindseligkeit,  in  mir  erscheint  sie,  bricht  sie  heraus.  Ich  werde  das  Signal  geben,  auf  das  hin  alle  losstürmen,  die,  ohne  sich  mit  einander  verständigen  zu  müssen,  gewartet  haben.  Und  in  einem  einzigen  Augenblick  liegt  alles  in  seinem  Blut.  Ein  Riesenmord in Nullkommanichts. Die Flasche war jetzt leer.  Wieder dieser Wunsch, Alkoholiker zu sein. Das, was er jetzt  fühlte, immer zu fühlen. Diese uneingeschränkte Sichselbst überlassenheit.  Nichts  Verlogeneres  als  das  Gerede  von  der  Verantwortung. Damit halten sie uns unter der Fuchtel, und  selber  leben  sie  drauflos.  Das  ist  das  Schöne,  das  Drauf losleben.  Photographiert  wird  die  Verantwortungsvisage  in  Hochglanz oder achtbändig. 
Als sie anrief, ihn hinüberrief zu sich, kam er sich betäubt  vor. Oder wie betäubt. Er lächelte zwar, als er eintrat bei ihr,  aber  lebloser  als  dieses  Lächeln  konnte  nichts  sein.  Das  spürte er. Und sie sah es auch. Er hatte die BourbonFlasche  in  der  Hand.  Hielt  sie  gegen  das  Licht.  Da  war  noch  etwas  drin.  Eine  BourbonFlasche  ist  nie  ganz  leer.  Beate  lag  auf  dem Bett. Im Kimono. Er setzte sich auf den Bettrand, nahm  ihre  Hand  wie  ein  Arzt.  Ihr  Mund  schien  jeder  Fassung  entglitten. Zorn oder Tränen, etwas anderes konnte er wohl  nicht  produzieren  in  ihr.  Lieber  Zorn.  Er  dachte  an  Anna.  Das war ihm, als er allein in seinem Zimmer war, gar nicht  so deutlich geworden: Er wollte zu Anna. Die im Kimono, da  auf  dem  Bett,  diese  junge  Frau  produzierte  in  ihm  den  Wunsch,  bei  Anna  zu  sein.  Seine  Sinne  sind  seine  Philo sophen! 
Und, sagte er. 
Beim  Essen  sei  nicht  mehr  über  Mr.  Krall  gesprochen  worden,  kein  Wort  mehr  über  Rise  to  the  occasion.  Zum  Glück.  William  Blondel  sei  gefeiert  worden,  Machine  and  Moral.  Nur  Rick  habe,  neben  ihr  sitzend,  schnell  einmal  herübergefragt: Lebt er noch. 
Als Gottlieb nach der Flasche greifen wollte, die er auf dem  Nachttisch abgestellt hatte, war sie schneller als er. Sie setzte  die  Flasche  an  den  Mund,  trank  sie  aus,  als  sei  es  Mine ralwasser,  und  sagte:  Du  kriegst  nichts  mehr  von  diesem  Zeug. 
Er sagte: Zu spät. 
Aber  jetzt  hatte  er  eine  Rolle.  Der  Betrunkene.  Von  lauter  Mißlichkeiten  getroffen,  hat  er  zur  Flasche  gegriffen,  und  jetzt  ist  er  eben  betrunken.  Sie  zog  ihn  zu  sich.  Schließlich  hatte er dann doch nichts mehr an. Sie glaubte offenbar fest  daran, daß ein Mundbehandelter zu allem, was man so von  ihm verlange, im Stande sei. Er konnte sich nicht verkneifen,  das  mit  Hiesigem  zu  kommentieren.  Gottlieb  war  ja  gierig  auf  amerikanische  Prägungen,  die  im  Deutschen  nicht  zu  schaffen  waren.  Tatsächlich  interessierte  er  sich  hier  weder  für Gebäude noch für Brücken, sondern nur für das, was die  Menschen  zu  sagen  vermochten.  Daß  er  keinmal  den  Investor¹s  Business  Daily  ausließ,  war  er  Anna  schuldig.  Gerade  hatte  er  im  Fernsehen  einen  Ausdruck  aufge schnappt,  den er, als  Beate sich  in ihrer Zuwendung  verlor,  einfach aufsagen mußte: Oral communication skills. 
Sie  ließ  sich  nicht  stören.  Also  probierte  er  selber  weiter:  Oral proficiency. Sie bewies ihm, daß im Augenblick Sprache  nicht  gefragt  war.  Es  siegte  das  amerikanischerotische  Leistungsprinzip. Rücklings auf ihm lag sie jetzt. Als komme  es  darauf  an,  daß  sie  beide  vom  selben  Punkt  aus  in  den  Himmel beziehungsweise zur Zimmerdecke hinauf starrten.  Und  darauf  kam  es  eigentlich  auch  an.  Wie  zur  Justierung,  daß sie wirklich von einem Punkt aus hinaufstarrten, steckte  sie  sich  das  geträumte  Unding  hinein.  Jetzt  waren  sie  aufeinandergenagelt,  sahen  gemeinsam  nach  oben.  Al lerdings  gab  es  da  oben  in  der  weißen  Zimmerdecke  nichts  zu sehen. Aber das war doch auch etwas. Fand Gottlieb. Und  als  alles  offenbar  gut  ausging,  sagte  sie:  Know  the  score.  Gottlieb  war  zu  wenig  Sportsmann,  um  jetzt  sofort  mit  Zahlen reagieren zu können, also sagte sie: Fünf zu vier. Für  sie.  Als  man  wieder  bei  Atem  war  und  immer  noch  zur  Decke  statt  einander  in  die  Augen  schaute,  sagte  sie,  ihre  Organisiertheit,  La  Mettriesch  gesprochen,  sei  schon  ein  Jammer, ausgerechnet bei ihrer Lieblingsbeschäftigung habe  sie  immer  Schwitzhände  und  diese  kalten  Füße.  Gottlieb  holte sie schnell neben sich, drehte sich zu ihr hin und küßte  ihr  den  Mund  zu,  daß  sie  nicht  weitere  Nachrichten  dieser  Art spenden konnte. Aber er war auch hingerissen vom Tat sächlichkeitsniveau dieser Mitteilung. Er mußte ihr das auch  sagen. 
Ich bewundere dich, sagte er. 
Sie:  Das  darfst  du.  Besonders  wenn  du  noch  dazusagst,  warum. 
Wenn er es ihr auseinanderlege, Gründe formuliere, bleibe  von  der  fühlbaren  Wucht  seiner  augenblicklichen  Bewun derung nur noch eine Inhaltsangabe. Er bewundere sie, weil  sie durch eine solche glanzlose Mitteilung ihn und sich selber  geradezu zusammenschmelze. Mehr Intimität als durch eine  solche  Schwitzhände  und  KalteFüßeMitteilung  gibt  es  überhaupt nicht. 
Als  er  ihr  und  sich  seine  Hingerissenheit  und  Rührung  so  aufsagte,  riß  er  sich  noch  einmal  hin  und  sie  dann  auch.  Diesmal  war  er  es,  der  sagte:  Know  the  score.  Er  fand  al lerdings, es sei höchste Zeit, daß sie wisse, was er hier brin ge,  sei  nicht  seine  Normalform,  sondern  das  Ergebnis  eines  fast  schon  epochalen  Staus.  Also  eine  Ausschüttung  von  Angespartem, aber dann Hochverzinstem. 
Diese Mitteilung war auch eine Folge ihrer Mitteilung über  Schwitzhände und kalte Füße. Er hatte zwar ihre Mitteilung  stürmisch begrüßt, aber ihm selber war der Eifer, mit dem er  die  Begeisterung  über  soviel  Offenheit  ist  gleich  Nähe  produziert hatte, verdächtig. Er hatte den Schrecken nieder reden  müssen,  den  ihre  Mitteilung  auch  bewirkt  hatte.  Wirklich  nicht  nur  Schrecken.  Sie  lag  inzwischen  daumen lutschend  an  ihm.  Wie  hätte  er  da  nicht  an  Regina  denken  müssen!  Und  sagen  mußte  er  ihr  das  auch. Auf  Regina,  die  zwei  Jahre  jünger  war  als  sie,  war  sie  nicht  eifersüchtig.  Er  brauchte  jetzt  das  Reginaleben.  Er  floh  ins  Reginaschicksal.  Von Julia wußte Beate soviel, von Regina so gut wie nichts.  Du  kannst  ruhig  weiter  daumenlutschen.  Regina  hat  von  allen  seinen  Kindern  am  längsten  und  heftigsten  daumen gelutscht.  Jetzt  ernährt  sie  einen  Künstler,  einen  Bildhauer,  der  sich  weigert,  Aufträge  anzunehmen.  Für  ihn  wäre  das  Prostitution. Er formt nur Kugeln, setzt alles, was er macht,  aus Kugeln zusammen. Menschen, Pferde, Wale, Geier oder  Ideen,  er  kann  alles  aus  Kugeln  bilden.  Er  nennt  sich:  mystischer  Bildhauer  und  Sphärist.  Eines  Tages  wird  die  Welt  sein  Atelier  stürmen  und  ihm  alles  aus  den  Händen  reißen,  bevor  es  fertig  ist.  Bis  dahin  muß  Regina  ihn  ernähren.  In  einer  Agentur  für  Zirkusartisten  arbeitet  sie.  Und  das  in  Wien.  Am  Telephon  klingt  sie,  als  mache  es  nichts  als  Spaß,  ein  Genie  zu  ernähren.  Er  hält  es  für  eine  Auszeichnung,  ihn  ernähren  zu  dürfen.  Und  Regina  fühlt  sich ausgezeichnet. Der Sphärismus wird für eine noch nicht  absehbare  Zeit  die  Kunstszene  beherrschen.  Die  Kugel  ist  nun  einmal  das  einzige  Vollkommene  überhaupt,  Leben  konnte  nur  auf  einer  Kugel  entstehen,  Uwe  Seeler  hat  es  goldrichtig formuliert: Das Geheimnis des Fußballs ist ja der  Ball. Gottlieb hatte dem Sphäristen einmal einen Abend lang  zugehört,  seitdem  begriff  er,  warum  Regina  bereit  war,  ihr  Leben  im  Leben  des  Sphäristen  beziehungsweise  im  Sphärismus  auf  oder  vielleicht  auch  untergehen  zu  lassen.  Die  Unbedingtheit,  mit  der  der  an  sich  glaubte.  Nein,  nicht  an  sich,  sondern  an  den  Sphärismus.  Er  ist  nur  das  Werkzeug. Das Unbedingte wirkt. Ohne Inhaltskram. Regina  sagt,  wenn  sie  nach  ihrem  Beruf  gefragt  wird:  Himmel stürmerin.  Rosa  hat  Theologie  studiert,  Magda  Mehrwert steuer,  Julia  Japanisch.  Errungen  wurden  ein  Sphärist,  ein  Pastor, ein fahnenflüchtiger USFarbiger und einer, der außer  Alkohol  alles  verweigert.  Als  er  merkte,  daß  Beate  einge schlafen war, konnte er aufhören. 
 
 
 
6. 
 
 
Das hat sie geschafft. Sie hat ihn und sich von Berkeley nach  Chapel  Hill  in  die  Rosemary  Street  gebracht,  ohne  daß  sie  von einem anderen La MettrieMenschen gesehen 
worden  sind.  Sie  hat  geglüht  vor  logistischer  Konzentra tion.  Gesehen  zu  werden  mit  ihm  wäre  für  sie  sozusagen  tödlich.  Sie  flöge  aus  dem  Ph.D.Programm,  verlöre  ihre  sowieso  andauernd  gefährdete  Lehrstelle  und  so  weiter.  Jetzt,  nachdem  er  als  deutscher  Schuldleugner  entlarvt  ist,  erst recht. 
Als sie in ihrem EinzimmerApartment die Türe hinter sich  zugemacht hatten, ließ sich Beate auf ihr hellbeiges Sofa, das  von  einer  Mörderin  gekaufte,  fallen  und  sagte:  Dich  vor  hundert  Jahren  durch  ein  Indianergebiet  zu  bringen  wäre  sicher  ein  Kinderspiel  gewesen  dagegen.  In  welche  Risiken  sie seinetwegen geriet! Und? Fühlt er sich jetzt, bitte, daheim  hier? Und das sofort, bitte! Und ganz und gar! Schau, das ist  Schwesterlein Bettina. Die, die den besseren Namen erwischt  hat. Aber sie werde jetzt über Beate J. allmählich zu Juliette  B. übergehen. Aber das erst nach der Diss, oder mit der Diss.  Bettina am Hochzeitstag. Die schönste Verlegenheit der Welt,  der Gesichtsausdruck auf dem Hochzeitsbild. Wann heiraten  wir,  Sylvandre?  Der  ostwestfälische  Samenhändler,  jetzt  Progammierer  bei  Star  Money,  Hamburg,  schaut,  verglichen  mit  Bettinchen,  ganz  plattplanfrech  in  die  Welt.  Hallo!!  Gottlieb nickte so eifrig, wie er immer nickte, wenn er mehr  Eifer zeigen mußte, als er hatte. Daß er das blaue Cordhemd  nicht  mitgebracht  habe,  bleibe  unverzeihlich.  Und  sah  ihn  theatralisch  kritisch  an.  Graduate  Studentin  erschießt  deut schen  Referenten,  sagte  sie  in  der  Tonart,  in  der  sie  immer  ihre  Schlagzeilen  intonierte.  Er  mußte  mitspielen,  also  sagte  er: Grund? Sie: Rohes Vergessen des Augenblicks der Liebe.  Vergessen  des  Sonnenblumenaugenblicks.  Er  dachte  daran,  daß  die  runde  umflammte  Sonnenblumendunkelheit  ihn  an  Annas  Augen  erinnert  hatte.  Seitdem  waren  Annas  Augen  nicht  mehr  das  Meer,  sie  waren  die  Sonnenblumendunkel heit. 
Dein  hellblaues  Cordhemd  und  meine  Sonnenblume,  das  war¹s überhaupt, sagte Beate. Das war doch van Gogh. Daß  er  in  der  Zeit  der  Trennung  gelegentlich  gesagt  habe,  die  Sonnenblume sei immer noch nicht im Müll, habe in ihr jedes  Mal  wie  ein  Gefühlsschub  gewirkt.  Zu  solchen  poetischen  Erfindungen sei nur die Liebe fähig. 
Jetzt  mußte  er  ihr  doch  sagen,  daß  ihre  Sonnenblume  wirklich  noch  im  Wasserkrug  stehe  und  auch  noch  leuchte.  Auf der Fensterbank. Die Terrasse sei ja doch eine warme ins  Haus  hineingebaute  Nische.  Den  Rest  müsse  Anna  bewirkt  haben. Natürlich, sagte sie, Anna, die Hexe. Daß du sie, war¹s  an  dir  gewesen,  verbrannt  hättest,  ist  mir  klar,  sagte  er.  Er  habe sich gehütet, sich über das Fortleben der Sonnenblume  zu  deutlich  zu  wundern.  Bitte,  wenn  Anna  träumt,  daß  es  Julia schlecht gehe, ruft sie morgens an und hört, Julia wisse  vor  Magenschmerzen  nicht  mehr  ein  noch  aus,  überhaupt  nicht mehr liegen könne sie, nur noch in der Hocke kauern,  Anna  diktiert:  RingelblumenTee,  dreimal  Heilerde,  und  geheilt ist Julia. Anna, die Zaubererin, sagte Beate. Und gab  ihm  eine  sanfte  Ohrfeige.  Ja,  sagte  er,  schlag  mich  ruhig.  Aber  ich  glaube,  Anna  hält  deine  Sonnenblume  am  Leben,  solange wir, du und ich, einander lieben. Und wenn du mal  morgens  vom  Bett  aufstehst  und  tot  umfällst,  wissen  wir,  daß  Anna  aufgehört  hat,  an  dich  zu  denken,  sagte  sie.  Und  grinste. Und sagte: Der schönste Augenblick dort sei der an  der Gartentür gewesen, als die Tür so grell kreischte. Ob er  die inzwischen geölt habe, daß sie nicht mehr kreische? Hat  er nicht. Sie hätte ihn, wenn er dieses Kreischen aus der Welt  geschafft hätte, jetzt sofort hinausgeschubst, daß er die Nacht  im University Motor Inn verbringe. 
Was denkt sie eigentlich von ihm! Sie habe doch gesagt, das  Kreischen sei so schön schrill und habe bei schrill drei l¹s lang  ihre  Zungenspitze  so  entblößt,  daß  er  sofort  an  ihr  hinunterschauen  mußte  und  erst  wieder  Halt  fand  an  dem  Schlangeniedermuster  ihrer  Schuhe.  Was  heißt  schon  Halt.  Er fühlte sich hineingestoßen in  den Dschungel des Lebens.  Aber  in  einen  raffinierten  Dschungel.  Nachher  habe  er  versucht,  ihre  hochmanierierten  Absätze  zu  zeichnen.  Das  ging nicht. Nicht weil er zu unbegabt sei, sondern weil Anna  in  jedem  Augenblick  hereinkommen  konnte.  Und  auf  alles,  was nicht eingeführt ist zwischen ihr und ihm, reagiert Anna  mit Fragen. Und vor denen, sagte Beate, hatte mein Feigling  Angst.  Ich  liebe  dich  trotzdem,  sagte  sie.  Und  wie!  Wann  heiraten wir? 
Jetzt  packen  wir  zuerst  einmal  aus,  sagte  er.  Aber  dann  packte nur sie aus. Er konnte nicht. Er hätte ihr doch längst  den Traum mit dem Anwaltmädchen erzählen müssen. Den  Traum  in  der  Nacht,  bevor  sie  kam.  Dazu  war  es  jetzt  zu  spät. Er sah zu, wie sie die Kleider und Kleidungen, die sie in  Kalifornien  nicht  getragen  hatte,  wieder  dem  Schrank  anvertraute. Er hätte jetzt am liebsten gesagt, dieses Kleider aufhängen erinnere ihn an Anna. Er mußte sich beherrschen.  Anna  und  Beate  hatten  einiges  mit  einander  gemein.  Das  Lichtbrennenlassen,  das  Wasserlaufenlassen,  den  Herd  und  das Bügeleisen eingeschaltet lassen auch. Und Anna konnte  soviel,  was  sie  nie  gelernt  hatte.  Beate  auch.  Da  waren  sie  einander näher als ihm. Er konnte soviel nicht von dem, was  er  gelernt  hatte.  Er  mußte  jetzt  sagen −  und  er  intonierte  deutlich tiefer −, er habe in Kalifornien etwas versäumt. Sie:  Jetzt  sag  es  schon.  Er  habe,  sagte  er,  im  Fernsehen  gehört,  daß  Selbstmord  in  Kalifornien  noch  nie  als  strafbar  galt.  Er  mußte  jetzt  einfach  düster  daherreden.  Er  wollte  ihr  mitteilen, daß er den Rückflug eine Woche vorverlegt habe,  also  nur  eine  Woche  in  Chapel  Hill  bleiben  könne.  Und  schaffte es nicht. Nahm einen zweiten Anlauf: Was wollte ihr  Mr.  Hardy  mit  dem  EliotZitat,  große  Dichter  stehlen,  schlechte kopieren, was hatte das mit seinem Vortrag zu tun?  Und  sie:  Weiß  der  Geier.  Ihm  fiel  auf,  daß  er  sagen  würde:  Weiß  Gott  ...  Gott  durch  Geier  zu  ersetzen,  hielt  er  für  übertrieben. Dazu fiel ihm ein, weiß Gott, warum, daß sie in  der  Stunde  ihrer  Ankunft  gesagt  hatte,  sie  sähe  jetzt  sicher  aus  wie  Wum,  sie  sei  eben  ein  LoriotFan  gewesen,  und  in  der ersten Nacht, das fiel ihm jetzt auch, Gott weiß, warum,  ein, als sie auf ihm saß und zum ersten Mal diesem Zwang,  alles in Schlagzeilen auszudrücken, nachgab, hatte sie gesagt:  Frivole  Studentin  fickt  Forscher  zu  Tode.  Sein  Gedanken zwang produzierte jetzt, daß Anna niemals Gott durch Geier  ersetzen  würde.  Dazu  kann  man  doch  nur  sagen:  Na  und?  Wie anders verliefe jedes Leben, wenn man jedem den Text,  der ihm gerade durch den Kopf geht, ansehen würde. Nicht  nur  ungefähr,  sondern  exakt  im  Wortlaut.  Da  würde  man  wahrscheinlich ganz anders denken. Vielleicht sogar freund licher. Man würde schon in Gedanken lügen. Das muß man,  wenn  man  sich  zu  hüten  hat,  ohnehin  tun.  Beim  ersten  Frühstück im Durant, das sie, um nicht gesehen zu werden,  auf sein Zimmer kommen ließen, hatte sie, als er sie anschau te, gesagt: I can read your mind. Darauf hatte er tatsächlich  mehr  als  einen  Augenblick  lang  nicht  mehr  gewußt,  was  er  denken  sollte.  Wenn  wenigstens  die  Augen  so  angebracht  wären, daß man sich auch selber andauernd sähe, vor allem  das  eigene  Gesicht,  beim  Sprechen,  dann  unterbliebe  viel.  Andererseits  hat  Rousseaus  dreißig  Jahre  älterer  barbou  mit  Recht die schlimmste Folter darin gesehen, sich selber so zu  sehen, wie Sara ihn sieht. Und Anna mutet er sich zu. Noch  und noch. So gut wie nie denkt er daran, daß er, wenn sie ihn  anschaut, genau so alt ist, wie wenn Beate ihn anschaut. Laß  mich  gehen,  hätte  er  jetzt  an  liebsten  zu  Beate  gesagt.  Zum  Glück hatte er auf dem Flughafen RaleighDurham noch eine  Flasche Bourbon gekauft. Man sah ihr an, daß sie, als sie ihn  zum Bourbon übergehen sah, daran dachte, ihm die Flasche  wegzutrinken.  Sie  spürte,  daß  er  sich  wieder  in  die  alkoho lische  Unbelangbarkeit  retten  wollte.  Er  hätte  ihr  gern  die  Stellen aus den Briefen an Sara vorgelesen. Statt dessen sagte  er, dieser Bourbon überrasche ihn jedes Mal wieder, der sei  einfach gut. Und sie: Calvados ist besser. Das war die falsche  Fährte.  Die  WeißtdunochFährte.  Allein  sein,  und  nichts  anderes  wollen.  Das  schwebte  ihm  vor  als  Stimmung.  Und  ganz  akut  beherrschte  ihn  das  Wort  Studentenbude.  Das  Zimmer war durchaus ein Zimmer, aber die Liege war kein  Bett,  das  Sofa  Trödel,  das  Sofatischchen  ein  aus  einem  Schiffbruch  stammendes  Brett  auf  Pionierzeitklötzen,  der  Arbeitstisch ein romantisches Gestell. Ausschlaggebend war  immer das Klo. Als er noch mäkelte. Zeige mir dein Klo, und  ich sage dir, wer du bist. Davon kam er nicht los. Ihr Klo war  simpel,  sauber,  ambitioniert,  roch  leicht  nach  Zimt:  wollte  letzten  Endes  kein  Klo  sein.  Gesamteindruck:  lieb.  Gottlieb  Zürn in einer Studenten ... nein, in einer Studentinnenbude.  Er wollte sagen: Wir tun einander weh, nur weil wir sind. Er  war froh, daß er das nicht sagen mußte. Turpe senilis amor.  Das  konnte  er  auch  nicht  sagen.  Alles,  was  er  sagen  wollte,  würde, wenn er es sagte, wie eine Ausrede klingen. Er wollte  das Ende verschwiemeln, wegschummeln, schönfärben. Dise  Rotzveredler,  diese  Fallenvergolder,  diese  als  Philosophen  geschminkten Lügenbarone! Deren Wortweisungen sollte er  jetzt folgen. Alles, was er sagen konnte, war wahrhaft wert los.  Hier,  in  diesem  Zimmer,  zählte  jetzt  nur  Empfindung.  Und  die  fehlte  ihm.  Jetzt.  Lieblos  sein,  das  läßt  sich  nicht  sagen.  Und  schon  bildete  sich  flugs  die  Rechtfertigung.  Symmetrie  als  moralische  Qualität.  Er  muß  hier  lügen,  darf  hier  lügen,  weil  er  zu  Hause  auch  gelogen  hat.  Durch  Verschweigen  hat  er  Anna  belogen.  Durch  Verschweigen  belügt er jetzt Beate. Durch Verschweigen hat er Beate schon  während  der  Schreib  und  Telephonierzeit  belogen.  Beate  mußte glauben, er schlafe nicht mehr mit Anna. Sonst hätte  sie  die  Schreib  und  Telephonierzeit  nicht  überstanden.  Sie  brauchte  diese  Meldung;  daß  eine  Zeit  lang  genau  das  Ge genteil der Fall war, war nicht sagbar. Er hatte sich eine Zeit  lang  verpflichtet  gefühlt,  Anna  auch  etwas  zukommen  zu  lassen  von  seiner  Beate  zu  verdankenden  Lebhaftigkeit.  Könnte  man  wirklich  sprechen  mit  einander,  dann  hätte  er  Beate  als  einen  Beweis  ihrer  Wirkung  melden  können,  daß  das Ehepaar Zürn, nachdem sie erschienen war, lebhafter mit  einander  verkehre  als  vordem.  Aber  so  wie  alles  ist  und  zu  sein  hat,  war  es  für  Beate  lebenswichtig  zu  erfahren,  ihre  Wirkung  habe  die  Ehe  außer  Kraft  gesetzt.  Tatsächlich  war  die  Lüge,  daß  mit  Anna  nichts  mehr  sei,  dann  immer  mehr  Wahrheit  geworden.  Auch  wenn  noch  etwas  stattfand  zwi schen  ihnen,  waren  es  für  ihn  bloße  Beatebeschwörungen  geworden. Beate hatte sozusagen gesiegt. Er hatte, als er ihr  das  beteuert  hatte,  die  sogenannte  Wahrheit  gesagt.  Wahr heit gibt es. Augenblicksweise. 
Diese  Augenblicke  heißen  Glück.  Und  sobald  wieder  die  Verheimlichungspflicht  regiert,  herrscht  das  normale  Unglück. Dafür zahlt man. Also ist dem Unglücklichen kein  Vorwurf  zu  machen.  Mit  keinem  Vokabular  der  Welt.  Der  Unglückliche ist quitt. 
Beate sagte: Das war jetzt frech, gell. 
Er  hatte  aber  nicht  gehört,  was  sie  gesagt  hatte.  Sie  hatte,  was frech gewesen sein sollte, von der Kochecke aus gesagt.  Er  sagte:  Überhaupt  nicht.  Und  er  war  sicher,  daß  er  das  sagen konnte. Sie hatte schon ein paar Male so auf etwas von  ihr Gesagtes reagiert. Jetzt paßte es, jetzt konnte er ihr Das warjetztfrechgell  darstellen  als  Reaktion  auf  den  Alters unterschied.  Jetzt  konnte  er  den  Unterschied  verkaufen  als  die Unmöglichkeit schlechthin. Ihre Angst, frech gewesen zu  sein,  sagte  alles.  Es  war  von  Anfang  an  eine  Illusion,  von  beiden  gefühlt,  von  beiden  geleugnet,  von  beiden  ausge stattet  mit  Wahrheitswut  und  so  weiter.  Er  habe  sich  von  Anfang  an  als  Hochstapler  gefühlt.  Aber  der  Hochstapler  leistet mehr als er zu leisten glaubt. Sich als Hochstapler zu  empfinden ist eine Form der Bescheidenheit. Vielleicht sogar  der Schüchternheit. La Mettrie hätte zu keinem anderen Er gebnis kommen können. Und wo wir schon so weit sind, laß  uns gestehen die Austauschbarkeit eines jeden Mannes, einer  jeden  Frau.  Sie  hat  ihn  zwar  in  ihren  Briefen  phantastisch  ausgezeichnet  mit  Notwendigkeit,  hat  sich  und  ihn  in  ein  Schicksal  hineingeredet,  das  hat  ihn  so  belebt,  daß  er  die  prinzipielle  Austauschbarkeit  glatt  vergessen  hat,  also  fing  auch er an zu schwärmen, hat nicht anders gekonnt, als sie in  eine  Einzigartigkeitsgloriole  zu  hüllen,  ihr  eine  Unver gleichlichkeitsaura anzutun, das war doch schön ... Sie hielt  ihm den Mund zu. Wir sind keine grief party, sagte sie und  fuhr  fort  im  Schlagzeilenton:  Auf  dem  Sofa  der  Mörderin  vergewaltigt.  Wer  von  wem,  sagte  er  und  griff  nach  dem  Glas.  Sie  war  schneller,  sie  trank  es  aus  und  zeigte  ihm  so,  daß  sie  jedes  Glas,  das  er  einschenken  würde,  vor  ihm  austrinken werde. Das hieß: Keine Flucht in die Besoffenheit.  Das  hieß:  Dageblieben!  Er  sollte  ihr  lieber  sagen,  wie  sie  gelebt  hat  ohne  ihn.  Sie  hat  es  vergessen.  Sie  kann  sich  an  nichts mehr erinnern. Als sie zu ihm kam, auf die Terrasse, er  im  hellblauen  Cordhemd,  wie  hat  sie  da  auf  ihn  gewirkt?  Das  war  ja  die,  die  bis  dahin  ohne  ihn  hat  leben  können.  Bitte, er soll ihr die schildern, vielleicht kann sie sich dann an  die erinnern, die sie war, bevor sie ihn kannte. Aber er hörte  auch der Waschmaschine zu, die aus dem Bad hereindröhnte  und  stöhnte,  dann  wieder  innehielt,  als  sei  es  ihr  zu  anstrengend,  als  müsse  man  ihr  zu  Hilfe  kommen,  dann  legte  sie  aber  wieder  los,  klang  wie  ein  Flugzeug,  das  die  Triebwerke  aufgedreht  hat,  gleich  starten  will,  noch  einmal  zerfällt, wie von vorne anfängt, auf die höchste Umdrehung  zurast,  aber  mühelos  jetzt,  hört  sich  an  wie  Leerlauf,  die  Waschmaschine  landet,  läuft  aus,  es  kann  wirklich  nichts  mehr kommen. Bitte, bitte, würdige doch endlich, was Beate  inzwischen  hergezaubert  hat,  ja,  gezaubert,  aus  dem  Kühl schrank  ein  SpaghettiEssen,  und  er  hatte  zugeschaut  und  dahin  und  dahergeredet.  Er  mußte  sie  in  seine  Stimmung  hineinreden!  Und  schaffte  es  nicht.  Also,  BeateJuliette Themire, hör zu. 
Hübsch, diese Servietten, wirklich. Wenn er sich die antue,  sehe  er  sicher  aus  wie  ein  Pflegefall  an  seinem  Geburtstag.  Aber  bitte.  Es  kommt  nicht  mehr  darauf  an.  Lach  ruhig.  Es  gibt  null  Ernstes.  Das  ist  das  einzige,  was  sie  ihm  glauben  kann.  Sie  hat  das  Geschirr  in  der  Spülmaschine  unterge bracht,  hat  zuerst,  was  noch  vor  ihrer  Abreise  gespült  worden  war,  ausgeräumt  und  versorgt.  Das  sei  raffiniert,  sagte er, diese Geschäftigkeit, dieser Eifer, dieser Fleiß, diese  offenbar unverbrauchbare Bewegungskapazität. Und er, der  Parasit  ...  Pascha  reicht,  rief  sie  dazwischen.  Er  bat  noch  einmal,  La  Mettrie  herbitten  zu  dürfen.  Sie  bat,  von  La  Mettrie verschont zu bleiben. Morgen, bitte, aber nicht jetzt,  am ersten Abend in ihrer Wohnung, am ersten Abend ohne  Hotel,  ohne  Professor  Rosenne  und  so  weiter,  am  ersten  Abend der Zukunft. Gegenwart genügt, sagte er hartnäckig.  Aber  sie  wollte  jetzt  mit  ihm  im  Bett  liegen,  obwohl  ihre  Liege kein Bett sei, aber je enger sie lägen, um so schöner sei  es. 
Sobald  sie  lagen,  knipste  sie  das  Fernsehen  an,  zur  Um stimmung, sagte sie und verbesserte sich: Zur Einstimmung.  Und  da  sie  keine  Kleidung  zugelassen  hatte,  wußte  er,  was  das  hieß.  Auf  dem  Bildschirm  lag  ein  amerikanisches  Ehepaar  im  Bett,  das  ein  Fernsehprogramm  anschaute.  Das  fand  Beate  super.  Wir  liegen  im  Trend,  rief  sie.  Und  griff  nach  ihm.  Er  sagte, die −  und  meinte  die auf  dem  Schirm −  seien aber noch nicht so weit. Wir sind Avantgarde, sagte sie  und  machte  weiter  an  ihm  herum.  Themire,  sagte  er,  du  darfst gleich weitermachen, wenn dir nach dem, was ich dir  sagen  muß,  noch  danach  ist.  Sie  zog  ihre  Hände  weg,  die  Augen  meldeten  Angst.  Also,  die  Umbuchung  konnte  er  in  diese  erschrockenen  Augen  hinein  nicht  melden.  Themire,  sagte  er  noch  einmal,  ich  glaube,  ich  muß  einen  Vortrag  halten. Ich weiß, sagte sie. Was weißt du, fragte er. Du willst  irgendwas sagen, was mir erklären soll, warum  du dich bei  mir nicht wohl fühlst. Du langweilst dich. Etwas geht dir auf  die Nerven. Wahrscheinlich ich. 
Du willst nichts wissen von mir, sagte er. Du sagst, was du  sagst, nur um zu verhindern, daß ich dir etwas sage. 
Bitte,  sagte  sie,  sprich.  Sie  sagte  das  so,  als  wisse  sie  alles,  was er sagen könne, im voraus. 
Er  sagte,  es  ist,  als  sei  vor  ihm  noch  nie  ein  Mensch  alt  geworden. Was er erlebe, scheine noch nie erlebt worden zu  sein. Auf jeden Fall hat es ihm keiner gesagt, wie schlimm es  sein würde. Auf jeden Fall hat auf ihn, was er bisher über das  Altsein gehört hat, keinen Eindruck gemacht. Man kann nur  jung  oder  alt  sein.  Er  habe  seit  längerem  geglaubt,  er  sei  schon alt. Das war, wie er jetzt wisse, ein naseweises Anem pfinden. Das einzige, was ein wenig in die richtige Richtung  ging, war eine Art Mitleid mit Alten. Jetzt weiß er, der Junge  kann nichts empfinden von dem, was der Alte empfindet. Es  gibt  kein  Verständnis  für  einander.  Der  Alte  versteht  den  Jungen so wenig wie der ihn. Es gibt keine Stelle, wo Jugend  an Alter rührt oder in Alter übergeht. Es gibt nur den Sturz.  Aus. Nachher bist du drunten und kannst tun, was du willst,  du  reichst  nicht  zurück.  Mit  nichts.  Durch  nichts.  Ob  du  lachst oder schreist, ist gleichgültig. So zu tun, als könne man  sich  auf  diesen  Sturz  vorbereiten,  ist  unsinnig.  Dieser  Sturz  gestattet kein Verhältnis. Der einzige Mensch, der ihn, wenn  es darauf ankäme, verstünde, wäre Magda. Er habe nie den  Mut  gehabt,  Magda  seine  Lebensschwierigkeit  vorzutragen,  sie  wäre  die  einzige,  die  ihm,  ohne  urteilen  zu  müssen,  zuhören  könnte.  Was  macht  sie,  fragte  Beate.  Sie  arbeitet  in  einem  Steuerbüro,  sagte  Gottlieb,  hat  sich  spezialisiert  auf  Umsatzsteuer.  Lebt  mit  einem  schwarzen  Amerikaner  zusammen.  Der  ist,  als  seine  Einheit  auf  dem  Balkan  Krieg  führen  sollte,  bei  ihr  untergeschlüpft.  Will  bei  ihr  bleiben.  Für  immer.  Hat  nichts  gelernt,  außer  vier  Jahre  Army.  Vor her  in  San  Antonio  Telephonverkäufer  für  ein  Reinigungs mittel,  sechs  Dollar  die  Stunde,  zweihundert  Stunden  pro  Monat am Apparat. Sieben Jahre jünger als sie. Man hat sie  nicht  gefragt,  warum  sie  diesen  Bob  aufgenommen  hat,  sie  hat von sich aus gesagt: Er hing in der Luft. 
Schweigen. 
Ach,  Beate,  sagte  er  dann,  wohin  flieht  man,  wenn  das  Ende sich aufdrängt? Dahin, wo es am krassesten klar wird,  daß  man  am  Ende  ist,  zu  Beate,  nach  Amerika.  Das  sind  seine  Empfindungsdaten.  Geliefert  von  seinen  Philosophen,  von  seinen  Sinnen  also.  Er  habe  den  Rückflug  um  eine  Woche vorverlegt. 
Er  hätte  sowieso  nicht  weitergesprochen.  Aber  sie  schrie  auf, sprang auf, übrig blieb ein längeres Nein. 
Auf dem Bildschirm lag das Paar immer noch im Bett, aber  der  Mann  hatte  sich  zur  Seite  gedreht,  weg  von  der  Frau,  offenbar  weinte  er,  es  schüttelte  ihn  geradezu  vor  Weinen,  die  Frau  kniete  hinter  ihm,  machte  ein  ratloses  Gesicht  und  streichelte ihn wie einen Kranken. Gottlieb beneidete diesen  Mann. 
Sie hatte den Kimono an, dessen Schwarz und Silber noch  nie so gut gepaßt hatten wie jetzt, als sie sich krümmte und  bog und mit den Fäusten auf das Sofa eintrommelte. 
Sie würde die Nacht auf dem Sofa verbringen, er würde auf  der Liege ausharren. Er trank die Flasche Bourbon leer. 
Plötzlich  stand  er  auf,  ging  hinüber  zu  ihr,  legte  sich  eng  neben  sie,  zwischen  sie,  sagte,  er  sei  genau  so  erschrocken  wie sie, als er sich so reden hörte. Aber müsse nicht wenig stens  ein  Tausendstel  von  dem,  was  in  einem  passiere,  her aus? Zwischen zweien wie sie und er. Das Gerede vom Sturz  ist Wortstroh. Das Hinab so bremsen, daß es kein Sturz wird,  sondern  ein  Untergang.  Jetzt,  nach  dem  schönen  Bourbon,  hat  er  mehrere  Bedürfnisse.  Erstens  will  er  auf  sie  einplau dern  von  zu  Hause.  Was  er  jetzt  empfindet,  und  sie  wisse,  daß  La  Mettrie  alle  Erkenntnis  mit  Empfindung  beginnen  läßt,  möchte  er  eine  unschuldige  Sehnsucht  nennen.  Nach  dort. Nach dieser Familie, die er seine Familie nennen muß.  Er  möchte  sie  alle  andauernd  aufzählen.  Inklusive  Anna.  Und  daß  er  das  Beate  so  hinsagen  kann,  daß  er  das  nicht  finster  verheimlichen  muß,  das  zieht  ihn  hin  zu  Beate.  Er  kann  gar  nicht  sagen,  wie.  Er  will  jetzt  auch  einmal  Schlagzeilen machen: Besoffener Gastreferent fickt Graduate  Studentin ins Leben. 
Danach verschraubten sich beide auf der Liege in einander.  Beate  löschte  den  Fernseher.  Gottlieb  lag  noch  wach,  als  sie  schon  schlief.  Ihm  war,  weiß  Gott,  warum,  fromm  zumute.  Er  hatte  dieses  Hochgefühl  der  Biederkeit,  es  allen  recht  gemacht zu haben. Also auch sich selbst. 
Am nächsten Vormittag, als Beate in ihrer Klasse war, rief  Gottlieb  die  Lufthansa  an  und  verlegte  den  Flug  noch  einmal, und zwar auf den nächsten Tag. Das wird teuer. Er  muß die Fluglinie wechseln. Ihm egal. Oder nicht egal. Egal. 
Als  sie  zurückkam,  gab  sie  sich  erstaunt.  Sie  habe  ge fürchtet, geglaubt, er sei, wenn sie zurückkomme, nicht mehr  da. Und riß ihn an sich und aufs Sofa. Und entschuldigte sich  dafür, daß sie so etwas habe denken können. Aber dieser Tag  sei  der  Tag  der  Katastrophe,  was  lag  da  näher,  als  zu  fürchten,  daß  die  Katastrophe  auch  vor  ihr  nicht  Halt  machen  werde.  Wart,  sagte  sie,  als  sie  sah,  daß  er  etwas  sagen wollte. Wart! Sie hat Dr. Douglas verloren. Für immer.  Tot? sagte Gottlieb. Sie schüttelte den Kopf. Rick Hardy habe  sie  heute  hinausgebeten  in  den  Park  und  habe  sich,  als  sie  draußen waren, umgesehen und erst als weit und breit kein  Mensch  zu  entdecken  war,  habe  er  angefangen.  Sie  sei  da  schon  halb  ohnmächtig  gewesen  vor  Angst,  weil  sie  sicher  war, daß er etwas Vernichtendes über Berkeley nachzutragen  habe oder − noch schlimmer − daß er, weiß der Geier, woher,  wisse, wo der Gastreferent untergeschlupft sei. Aber das war  es  nicht.  Allerdings,  was  der  Meisterspion  dann  ganz  kühl  und leise mehr vor sich hin als zu ihr sagte, war fast genau  so  schlimm.  Kurzfassung  OTon:  Dr.  Douglas  called  housewives:  Their  husbands,  his  patients,  are  in  danger  of  comitting suicide. If the wives would have sex with another  man, that could cure the husbands. Of fifty women who now  called  the  sexual  victims¹  unit  seven  did  everything  the  psychiatrist  asked.  Eine  der  sieben  Opferwilligen  war  Sue Ann,  die  üppige  blonde  RosenneGattin.  Klar,  ihr  geliebter  Gatte stehe kurz vor dem Selbstmord, helfen könne nur noch  eine  Therapie  per  Vitalschock  und  sie,  SueAnn,  sei  die  einzige, die diesen Vitalschock auszulösen im Stande sei. Sie  müsse mit einem anderen Mann schlafen, das ihrem Gatten  sagen,  aber  nicht  sagen,  mit  wem,  sonst  wäre  die  Schock wirkung  relativiert.  Irgendwann,  müsse  sie  sagen,  werde  er  es  von  ihr  erfahren.  Die  Wirkung  werde  absolut  fabelhaft  sein.  Dafür  verbürge  er  sich.  Von  Suizidgefahr  könne  dann  nicht  mehr  die  Rede  sein.  Dr.  Douglas  besorgte  den  therapeutischen  Beischlaf.  Honorarfrei.  Dann  schaffte  sie  aber  das  Verschweigen  nicht.  Oder  der  Gatte  setzte  Mittel  ein, die sie dazu brachten, alles zu gestehen. Dr. Douglas ist  verschwunden. Wahrscheinlich für immer. 
Gottlieb  streichelte  Beate.  Sie  brach  jetzt  richtig  in  Tränen  aus.  Je  mehr  es  sie  schüttelte,  desto  heftiger  mußte  er  sie  streicheln.  Sie  müßte  jetzt  doch  sofort  zu  Glen  O.  Rosenne,  ihn  trösten,  unglücklicher  als  Rosenne  jetzt  sei,  könne  doch  kein  Mensch  sein.  Und  sie,  sie  hat,  als  sie  zum  ersten  Mal  gehört  hatte,  der  Professor  liege  bei  Dr.  Douglas  auf  der  Couch,  gegrinst!  Dafür  schämt  sie  sich  jetzt.  Ihr  war,  als  sie  das  gehört  hatte,  eine  Zeitungsnotiz  eingefallen,  besagend,  Krokodile  träumen  nicht,  weil  sie  sich  zu  einer  Zeit  entwickelt  hatten,  als  auf  der  Erde  noch  nicht  geträumt  werden  konnte,  was  also  konnte  Professor  Lizard  Dr.  Douglas erzählen! Und dann das! Sie weinte weiter. 
Wie  ihr  jetzt  offenbaren,  daß  er  den  Rückflug  auf  den  nächsten Tag vorverlegt hatte?! Irgendwann, als sie gegessen  und getrunken hatten und aneinandergeschmiegt lagen, fing  er an, über Rick Hardy zu staunen. Lobte ihn. Eine CIAreife  Leistung.  Und was sie, Beate, betreffe, bitte, sie könne doch  froh sein, daß sie diesen Dr. Douglas los sei. Wahrscheinlich  sei  Beate  jetzt  eifersüchtig.  Mit  diesem  therapeutischen  Beischlaf  habe  Dr.  Douglas  auch  Beate  betrogen.  Da  sprang  sie auf, nannte das einen absurden beziehungsweise typisch  männlichen  Kommentar.  Wie  und  wo  sie  diese  Nachricht  getroffen  habe,  wisse  sie  selber  noch  nicht.  Wie  bei  einem  Todesfall werde sie wahrscheinlich erst im Lauf der Zeit den  Verlust  empfinden.  Da  konnte  er  sagen −  und  daß  er  das  sagen konnte, wunderte ihn selbst −, daß er das leider nicht  mehr  miterleben  dürfe.  Sie  schaute  erschreckt.  Er  hielt  ihr  sofort die Augen zu und sagte: Ja, umgebucht, noch einmal,  morgen. Sie riß sich los, warf sich in die andere Sofaecke, zog  die Beine an, umfaßte ihre Knie und legte den Kopf auf ihre  Knie.  Gottlieb  fiel  die  kauernd  schlafende  Magda  ein,  von  Anna  geheilt.  Beate  weinte  nicht,  sagte  nichts,  rührte  sich  nicht.  Einmal  ein  Wort:  Verstoßen.  Und  irgendwann  zwei  Wörter:  Nie  mehr.  Auf  dem  Sofatisch  lag  ein  dickes  Ringbuch:  The  Graduate  School.  Darunter:  The  University  of 

North   Carolina  at  Chapel  Hill.  Das  hatte  sie  offenbar  mitge bracht. Er hätte gern darin geblättert, gelesen, aber er wußte,  daß  er  sich  nicht  rühren  durfte,  bevor  sie  sich  nicht  rührte.  Nicht  rühren  durfte  oder  nicht  rühren  konnte?  Um  seiner  menschlichen Zurechnungsfähigkeit willen entschied er sich  für:  nicht  rühren  konnte.  Solange  du  dich  nicht  für  einen  guten Menschen hältst, ist dir nichts vorzuwerfen. In a clear,  firm voice: I abused the System I believed in and I will never  forgive myself. Dann ist ja alles gut. Schuldgefühl, bitte. Freie  moralische  Marktwirtschaft.  Oh  Gottlieb.  Oh  Wendelin.  Oh  Zürn. Oh Krall. Krümme dich, bis du dich wohlfühlst. 

Sie  rührte sich zuerst. Sie mußte aufs Klo. Sie tat das, was  sie pinkeln nannte, bei offener Tür. Was zu hören war, klang  tröstlich.  In  ihm  buchstabierte  es  sich  so:  Die  Sehnsucht,  heimzukommen,  scheint  größer  zu  sein  als  die  Sehnsucht,  von  daheim  fortzukommen.  Real  Estate  könnte  man  auch  übersetzen mit Der wirkliche Stand. 

Daß   er  sich  nicht  von  ihr  im  rührend  alten  Pontiac  zum  Flughafen  fahren  ließ,  deutete  sie  so:  Er  habe  Angst,  der  Pontiac  sei  auf  ihrer  Seite,  werde  also  die  fünfzehn  Meilen  zwar  angehen,  dann  aber  plötzlich  streiken,  daß  Herr  Zürn  das  Flugzeug  versäume.  Er  sagte,  das  sei  die  fast  poetische  Deutung  einer  eher  realen  Möglichkeit.  Das  letzte,  was  sie,  als  das  Taxi  schon  wartete,  sagte,  war:  Nie  mehr.  Das  verspreche ich mir. Nie mehr. 

Er   sagte:  Viel  Glück  bei  La  Mettrie.  Sie  bohrte  ihr  Zei gefingerchen an die Schläfe und drehte sich weg. Drehte sich  wieder  her  und  sagte:  Die  Diss  geschmissen,  auf  die  Diss  geschissen, adieu, Herr Dr. Zürn. 

 

Im  Taxi beschäftigte ihn eine Utopie: Nach der Geburt eines  Menschen  wird  das  Datum  in  einer  Datei  gespeichert,  die  durch  einen  PINCode  zugänglich  ist,  der  nur  den  Eltern  bekannt  ist.  Sie  können  ihn  dem  Kind  weitergeben  oder  nicht.  Sie  können  das  Kind  von  Anfang  an  ohne  Zahlengerüst aufwachsen lassen. 

Der   Wechsel  der  Luftlinie  wurde  nicht  nur  teuer,  sondern  auch  schwierig.  Die  Deskdame  in  WashingtonDulles,  die  ihn  endorsen  sollte,  wollte  davon  abschrecken  mit  dem  Hinweis, das Gepäck könne, wenn er jetzt mit einer anderen  Gesellschaft  fliege,  vielleicht  zurückbleiben.  Unidentifi ziertes Gepäck werde nicht befördert. Bei all den Terroristen.  Aber  er  gab  nicht  nach.  Sie  mußte  telephonieren,  bis  alles  okay  war.  Er  zahlte  und  zahlte  und  freute  sich,  als  der  Kapitän sagte, daß sie mit Rückenwind flögen. Extraservice:  Manhattan  bei  Nacht.  Der  Kapitän:  Seit  Monaten  kein  so  schöner  Nachtflug.  Die  Avenues  und  die  querlaufenden  Straßen  ergaben  eine  genaue  Goldgeometrie.  Manhattan  ist  ein Goldkäfig, in dem Schwärze gefangen gehalten wird. 

Bevor   er  müde  wurde,  schaute  er  noch  frühe  AnnaBilder  an,  die  er  immer  dabei  hatte,  aber  fast  nie  mehr  anschaute.  Anna vor so vielen Jahren. Daß sie so schön war, hatte er, als  sie noch so schön gewesen war, nicht bemerkt. Da Schönheit  immer hieß, denen zu ähneln, die gerade als schön gehandelt  werden,  hatte  sie  sich  nie  schön  gefunden.  Wenn  man  eine  Frau schön nennt, die, normenbesetzt, sich selber nicht schön  findet,  vermindert  man  dadurch  nur  die  eigene  Zurech nungsfähigkeit. Daß sie aber schön gewesen war, sah er jetzt  auf  diesen  Bildern.  Sie  müssen  eben  alles  universalisieren,  die  Moralnormen  wie  die  Schönheitsnormen.  Es  gibt  keine  mächtigere Industrie als die der Normierer. Seine Sehnsucht  nach  Anna  war  immer  mit  dem  verbunden,  was  sie  erlebt  hatten.  Er  flog  auf  sie  zu.  Er  war  das  ganze  Flugzeug  und  flog direkt auf Anna zu. Das spürte er. Die Anziehungskraft  der unlösbaren Probleme. Am meisten bindet Leid. Er hätte  singen  können.  Keine  Spur  mehr  von  dem  Nagel  in  der  Kehle.  Und  sagte  sich  vor:  Ich  liebe  die  faltigen  Äpfel  im  Januar, alt, gelb, als wären sie leberkrank. Ekelhaft sind mir  die polierten knackigen grünen. Wie wahr alles Unwahre ist.  Er  und  Anna  haben  ein  Geschlechtsleben  entwickelt,  das  auch  in  Zeiten  tiefster  Niedergeschlagenheit  ausgeübt  werden kann. So. Darauf kann er sich verlassen. 

Die   Ankunft  in  Frankfurt  um  7  Uhr  30  sagte  der  Kapitän  mit größter Selbstverständlichkeit voraus. Um 8 Uhr 30 nach  Stuttgart, Landung dort um neun. Und wenn das Gepäck da  ist  und  Anna  da  ist,  dann  ist  alles  gut  gegangen.  Er  würde  nicht  von  diesem  Ausflug  träumen.  Er  träumte  nur  von  Orten  oder  Personen,  mit  denen  er  jahrelang  zu  tun  gehabt  hat.  Er  war  noch  nie  so  direkt  auf  Anna  zugereist.  Anna  würde nicht in der vordersten Reihe der Wartenden stehen.  Sich durch Vordrängen auszudrücken, liegt ihr nicht. Als sie  Gottlieb  einmal  nach  einer  Zehntagetour  in  der  Autobahn raststätte  Neckarburg  abholte,  um  11  Uhr  nachts,  erzählte  sie,  sobald  sie  im  Auto  saßen,  was  ihr  am  Nachmittag  ein  Kunde  erzählt  hatte.  Der  war  von  einer  Zweiwochenreise  zurückgekehrt,  hatte  bemerkt,  daß  seine  Frau  einen  Mund geruch  hatte.  Hatte sie  den  immer  schon  gehabt?  Nein.  Der  war neu. Wie sollte er jetzt davon anfangen. Er konnte nicht  sagen:  Dein  Atem  riecht  nicht  mehr  so  gut  wie  früher.  Diesem  Mann  war  sofort  klar,  daß  er  vorerst  nichts  sagen  konnte.  Und  er  fragte  sich,  was  alles  seine  Frau  an  ihm  bemerke  und  nicht  ausspreche.  Ein  Ehepaar,  zwei  zuneh mende  Verschwiegenheiten.  Anna  hatte  dem  Mann  eine  differenzierte  TeeAnweisung  für  seine  Frau  gegeben,  der  Mann  hat  zwar  die  Wohnung,  die  Anna  ihm  angeboten  hatte,  nicht  gekauft,  aber  er  hatte  sich  bei  Anna  herzlich  bedankt  für  den  Rat,  der  Wunder  gewirkt  habe.  Die  Frau  hatte  keinen  Mundgeruch  mehr.  Gottlieb  holte  diese  Erinnerung  herein,  weil  er  jene  nächtliche  Heimkehr  und  Heimfahrt mehr erlitten als erlebt hatte. Daß Anna ihn nach  einer Zehntagetour abholt, er übernimmt das Steuer, sie sitzt  neben ihm und sie fahren durch eine mondhelle Nacht − es  war  Frühling  wie  jetzt −,  und  sie  erzählt  diese  blödsinnige  Mundgeruchsgeschichte  als  Erfolgsgeschichte  und  raucht  dabei  eine  Zigarette  nach  der  anderen.  Das,  Anna,  dachte  Gottlieb,  als  das  Flugzeug  sich  auf  Stuttgart  hin  senkte,  das  darf  nicht  noch  einmal  passieren.  Er  hätte  sich  durchsetzen  müssen  gegen  die  blöde  Mundgeruchsgeschichte.  Aber  er  war  so  enttäuscht  gewesen.  Die  Ausführlichkeit  Annas  war  das  Enttäuschendste.  Die  nichtswürdige  Genauigkeit.  Auf  ihn  hatte  das  gewirkt  wie  eine  geplante,  inszenierte  Abhal tung.  Und  selbst  wenn  es  das  nicht  war,  war  es  eine  unbe wußte,  La  Mettriesch  gesprochen,  automatische  Entziehung  und  Verhinderung.  Heute  durfte  sie  mit  dergleichen  nicht  kommen.  Ein  Wiedersehen  demonstriert  jedes  Mal,  ob  die  beiden auf einander zugelebt oder an einander vorbeigelebt  haben.  Die  erste  Minute  sagt  es,  entscheidet  es.  Man  kann  sich natürlich täuschen. Und getäuscht werden. Nichts ist so  ungesichert  wie  ein  Wiedersehen.  Nichts  müßte  so  einfach  sein wie ein Wiedersehen. 

Gottlieb   konnte  sich  nicht  vorstellen,  daß  dieses  Wieder sehen am Flughafen in Stuttgart mißraten könnte. Schließlich  hatte  er  zweimal  umgebucht.  Das  mußte  ihr  doch  etwas  sagen. Und als er seine zwei Gepäckstücke abstellte, um ihr  die Hand zu geben, sie dabei ein wenig zu sich herzog und  dann umarmte und dann nicht links und rechts mit Lippen berührung abfertigte, sondern sie einigermaßen drückte und  presste, fast schüttelte, da spürte er: Dieses Wiedersehen ist  gelungen.  Es  herrschte  unbesprochenes  Einvernehmen  darüber,  daß  jetzt  nicht  viel  zu  reden  sei.  Gottlieb  präsen tierte ihr,  was er im Flughafen Dulles gekauft hatte: Chanel  Nr. 5. Dazu grinste er, damit sie sehe, daß er einen früheren  Gottlieb  imitiere,  auch  ein  bißchen  parodiere.  Aber  dann  mußte er doch noch sagen: Ich liebe dich wieder einmal wie  noch nie. 

Die   Fahrt  in  der  Frühlingssonne  empfand  er  als  einen  theatralischen,  das  heißt  übertriebenen,  das  heißt  sich  ver selbständigenden  Ausdruck  einer  Gemeinsamkeit.  Fraglos  einig.  Aber  Anna  störte  noch  einmal.  Mitten  in  die  Musik,  von der er sich jetzt ausgefüllt und bewegt fühlte, mußte sie  die neuesten Kindernachrichten bekanntgeben. Gestern habe  Julia  angerufen.  Mit  der  leblosen  Stimme.  Die  Mutter  sollte  leiden  unter  dieser  leblosen  Stimme.  Sie  sollte  nachfragen:  Julia, was ist los, was fehlt dir. Das habe sie getan. Und Julia:  Sie weiß nicht, wer sie ist. Mehr nicht. Schweigen. Aufgelegt.  Gottlieb  steuerte  bei:  Als  das  letzte  Mal  alle  dagewesen  waren, hatte Julia ihn zum Essen gerufen, er war gekommen,  Regina fehlte noch, also hatte er gesagt: Du hast eine schöne  Stimme, ruf Regina zum Essen. Da sie sich weigerte, rief er,  Julia  imitierend,  Regina  zum  Essen.  Regina  kam,  Julia  ging.  In ihr Zimmer. Am Essen nahm sie nicht teil. Als sie an ihm  vorbeigegangen  war,  hatte  sie  gesagt:  Kabarettist.  Ja,  sagte  Anna  und  übernahm.  Am  letzten  Sonntag,  unsere  Erlangerin.  Zwei  Tage  davor  ein  Brief,  ein  echter  Magda Brief,  du  mußt  ihn  lesen.  Dann  steht  sie  vor  der  Tür,  bleibt  eine  kurze  Nacht.  Redet  nicht  viel.  Du  kennst  sie  ja.  Inhalt:  Sie  habe  zum  Glück,  seit  sie  aus  der  Schule  sei,  kein  Glück  mehr  gehabt.  Also  auch  keine  Enttäuschung  mehr.  Ihre  Arbeit  sei  zum  Glück  so  spannend,  daß  sie  nicht  dazu  komme, irgend etwas zu vermissen. Die Mehrwertsteuerent wicklung  sei  ein  einziges  Abenteuer.  Und  daran  mitzuwir ken, erlebe sie als Privileg. Und zweimal pro Woche im Chor  zu singen sei Levitation pur. Sie habe den Chor gewechselt.  Nicht  mehr  im  MatthäusChor,  sondern  im  Altstädter.  Von  ihrem  Schwarzen  nichts.  Und  Regina,  sagte  Anna.  Gottlieb  mußte also fragen: Ja. Was ist mit Regina? Jetzt bleibt mir nur  noch der Zirkus selbst, habe Regina gesagt. Sie trainiere, weil  die Agentur andauernd am Kippen war und jetzt gekippt ist,  seit zwei Jahren eine Nummer. Mit einem Chinesen. Regina  an  einem  aufrecht  stehenden  Sarg,  der  Chinese  wirft,  als  Indianer  kostümiert,  mit  verbundenen  Augen  siebenund zwanzig Messer auf Regina. Sie ist, daß sie nicht hin und her  zucken  kann,  an  den  Sarg  gefesselt.  Sie  singt  eine  Melodie,  eine  in  dreizehn  Tönen  aufsteigende,  auf  einem  Höhepunkt  ankommende  und  dann  in  dreizehn  Tönen  absteigende  Melodie, Vorbild: der Sterbegesang der Apachen. Der India nerChinese wirft die Messer Ton für Ton, er wirft also nach  dem Gehör. 

Unglaublich, sagte Gottlieb. 

 

Und Anna: Stimmt. 

Die   Szene  erinnerte  Gottlieb  an  die  RattlerFolterung  in  Winnetou I und daran, daß er der immerzu mit Mandelent zündungen  bettlägerigen  Regina  am  liebsten  Karl  May  vor gelesen hatte. Wie hatten die drüben Eliot zitiert? Great poets  steal, bad poets copy. 

Und   Rosa,  sagte  Gottlieb.  Von  Rosa  nichts.  Das  hatte  er  nicht  anders  erwartet,  aber  eine  Art  Schmerz  war  dieses  VonRosanichts  doch.  Er  hatte  sich  angewöhnt,  sie  in  einem  unaufhörlichen  Sibirien  zu  sehen.  Ach  ja,  sagte  Anna,  Paul  Schatz ist tot. Wie bitte, du meinst, seine Frau sei ... Nein. Der  Frau  geht  es  überraschend  gut,  aber  er  steht  morgens  auf,  fällt  um,  ist  tot.  Infarkt.  Und  vorher  nichts,  was  darauf  hinwies.  Gottlieb  sagte:  Unglaublich.  Und  dachte:  Wenn  es  den Kaltammer auch noch putzt, dann geh ich zurück in den  Handel. Aber den Kaltammer putzt es nicht. Solche Hyänen  werden hundert. Paul Schatz steht auf, fällt um, ist tot. Und  Beate hatte gesagt: Wenn du mal morgens aufstehst und tot  umfällst,  wissen  wir,  daß  Anna  aufgehört  hat,  an  dich  zu  denken.  Wunderbare  Beate.  Gab  es  überhaupt  etwas,  das  nicht wunderbar war? 

Gottlieb   merkte,  daß  er  plötzlich  im  Stand  war,  die  Auto bahn zu genießen. Und plötzlich bog er auf einen Parkplatz  ein,  war  an  Annas  Tür,  bevor  sie  sie  öffnen  konnte,  bat  sie  durch  eine  einladende  Geste  heraus,  dann  führte  er  sie,  als  kenne  er  sich  aus,  vom  Parkplatz  weg  in  den  umgebenden  Wald  und  ging  deutlich  hastig  ein  bißchen  voraus,  daß  er  Anna  hinter  sich  herziehen  konnte,  und  dachte,  solange  sie  nichts  sagt,  ist  alles  gut.  Sie  sagte  nichts.  Bei  einem  Stapel  gefällter Buchen, die da auf den Abtransport warteten, hielt  er, lehnte Anna gegen die mächtigen Stämme, setzte sie fast  ein  bißchen  auf  die  sich  anbietenden,  glatten  Rundungen  und fing an, Anna zu küssen, und zwar mit einem Ausdruck  großer Dankbarkeit.  Wie froh er sei. Und glücklich auf eine  verschollen  geglaubte  Art.  Daß  alles,  was  dann  passierte,  überhaupt nicht bequem oder genußreich war, war ihm nicht  nur  recht,  das  forcierte  er  geradezu.  Daß  Anna  im  Kostüm  gekommen  war  und  nicht  in  Hosen,  kann  ausschlaggebend  gewesen sein. Eine lange Hose wäre zuviel gewesen. Obwohl  er  vor  allem  zeigen  wollte,  daß  er  jetzt  in  aller  Hast  und  Unbequemlichkeit  mit  ihr  schlafen  wolle.  Je  unbequemer,  um so deutlicher wurde, was er wollte. Das Unbequeme als  sein  Geständnis.  Als  sein  Heimkehrgeständnis.  Als  sein  Einundalleszugeben.  Deshalb  mußte  diese  einvernehmliche  Vergewaltigung  stattfinden.  Und  gesagt  werden  mußte  nichts. So gut wie nichts. 

Und   da  Anna  das  alles  deutlich  genug  erkannte  und  be antwortete, bewies, daß er sich nicht getäuscht hatte und daß  sie  einander  nicht  täuschten.  Als  er  Anna  von  der  Bu chenrundung  herunterhalf,  sagte  er:  Du  weißt,  beim  Ge witter  heißt  es,  Buchen  mußt  du  suchen.  Wir  haben  sie  ge funden, sagte Anna. 

Nicht   ganz  so  leicht  war  dann  der  Weg  zurück  zum  Parkplatz  zu  finden.  Er  hatte  sich  in  all  der  Hast  den  Weg  nicht  gemerkt.  Nach  zweistündigen  Irrwegen  fanden  sie  zurück.  Einigermaßen  zerzaust.  Er  sagte,  als  er  Anna  die  Autotür  aufhielt,  für  den  Rückweg  entschuldige  er  sich.  Anna sah ihn an, als sehe sie ihn heute zum ersten Mal. Dann  sagte  sie:  Unglaublich.  Und  er  dachte,  als  er  jetzt  Anna  ansah,  daß  ein  Gesicht,  das  man  kennt  seit  es  jung  war,  nie  bloß  alt  werden  kann.  Das  junge  Gesicht  schaut  aus  allen  Jahren heraus. Gesichter, die man erst als ältere kennenlernt,  sind  dann  wahrscheinlich  nichts  als  ältere  Gesichter.  Anna,  dachte er, ist und bleibt das Mädchen. 

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
   

  IV.