Auseinanderkommen
I.
Im Zimmer riß er sofort ein
Fenster auf und hörte dem
Geräuschgemenge zu wie einer
Botschaft. Daß die Fenster des
Flughafenhotels sich öffnen ließen,
machte ihm den Hotelkasten
sympathisch. Jenseits der weiten
Betonpisten, der abgestellten Flugzeuge,
der hohen Zäune das Meer.
Wenigstens der Teil, der San
Francisco Bay heißt. Die far
bigen Flugzeuge, Riesenvögel, aber kein bißchen zu groß für
die Wasserweite. Obwohl sich die
Bay keine Brandung gestattete, war
das Ufer an diesem Mittagsaugenblick
von einer weißen Schaumrüsche
geziert. Bräutlich, dachte Gottlieb.
Von seinen zehntausend Dollar versorgte er gleich einmal neuntausendfünfhundert im Safe. Und kam sich vor wie im 19. Jahrhundert. Nach einem Code gefragt, fiel ihm nur Annas Geburtsdatum ein. Im Flugzeug, beim Ausfüllen der Fragebögen für die Einreise, hatte er die Zehntausend, die er bei der Bank aufgenommen hatte, nicht angegeben. Seinen Bankherren hatte er ein Geschäft in Kalifornien vorgegau kelt. Landkauf im Sonoma Valley. Zukunftsreichstes Wein land der Welt. Er fliegt da für einen Kunden hin. Sogar Anna gegenüber hatte er getan, als werde er in den drei Wochen nebenbei noch einen Angebotskatalog für deutsche Anleger aufreißen. Das mußte er auch sich selber vormachen. Selbst wenn man weiß, daß das, was man sich vormacht, nur etwas Vorgemachtes ist, wird aus dem Vorgemachten etwas Spür bares, Fastreales. Man kann überhaupt nicht lügen, ohne an das, was man lügt, zu glauben. Ein bißchen. Man kann nicht andere hereinlegen, ohne sich selbst hereinzulegen. Zumindest Gottlieb konnte das nicht. Schau lieber hinaus auf die bräutliche Rüsche. Das ist doch die reine Möglichkeit. Und dieses Hotelzimmer in seiner grandiosen Vermeidung von allem Persönlichen! Auch der geringste Anhauch von Persönlichem, gar Geschmack, könnte falsch sein, könnte stören. Dieses Zimmer aber, in seiner blaßgrünen Dien lichkeit, diese Nichteinengung in Persönliches, diese Nicht behauptung, dieses Nichtsbeweisenwollen! Dieses dich ganz und gar gelten lassende Zimmer ist der Aufbruch. Und war so aufgeregt, daß er nicht im Zimmer bleiben konnte. In dreieinhalb Stunden würde er drüben im Flughafen vor Gate 68 stehen, bis sie auftauchte.
Im Aufzug wieder ein paar von diesen FezTrägern, durch die er sich schon bei der Ankunft den Weg zum Empfang gebahnt hatte. Was daheim eine Fasnachtsgesellschaft gewe sen wäre, war hier, laut Informationstafel, ein altägyptischer Orden und hieß SCIOTS. Roter Fez, schwarzer Fez, glit zernde Kinkerlitzchen, alles ältere Männer beziehungsweise Herren, sie staksten mehr als sie gingen. Aber jeder stakste anders als der andere. Keine zwei litten unter der selben Beeinträchtigung. Das fand Gottlieb interessant. Im Aufzug sagte ein solcher FezTräger zu den anderen FezTrägern: This is the best chance we ever had to paint these bastards into a corner. Gottlieb war gierig darauf, möglichst viel von Amerika mitzukriegen. Wovon redeten die? Er vermutete, von Feinden der USA, die man nicht länger schonen durfte. Er fühlte sich angeschaut von einem mexikanisch ausse henden Buben, vier oder fünf Jahre alt. Der hatte eine fast zu große Puppe im Arm, die Gottlieb vom Fernsehen her zu kennen glaubte. Gottlieb mußte das Puppenmonster an schauen statt den Buben. Er hatte den Eindruck, das Puppen monster habe den Vierjährigen im Arm.
Als er in der Halle einen Sessel suchte, der ein wenig Abstand erlaubte, blieb eine Dame, die einen FezTräger führte, seinetwegen kurz stehen und rief: I am ninetytwo and I love you. Wahrscheinlich hatte er ihr leid getan, weil er weder den roten noch den schwarzen Fez trug und auch sonst mit keinerlei Kinkerlitzchen ausgezeichnet war. Einige FezTräger hingen in Sesseln, streckten die Beine von sich und schliefen mit klaffenden Mündern. Gottlieb fühlte sich mit allen, die er sah und hörte, solidarisch. Im Stim mengeräusch gaben Frauenstimmen den Ton an. Er fand einen Sessel, der mehr als einen Meter von der nächsten Sitzgelegenheit weg war. Er streckte die Beine auch von sich. Er spürte sich. Wahrscheinlich würde, bevor Beate landen konnte, San Francisco in einem Erdbeben untergehen. Wie 1905. Er spürte, wie sich in der unteren Mitte Wärme sammelte. Sie floß förmlich zusammen. Die Muskulatur schwoll. Sein Geschlechtsteil wollte auf sich aufmerksam machen. Außer ihm sollte nichts mehr spürbar sein. Der angenehme Schmerz des übersteifen Teils. Endlich wieder einmal. Ihm war nach Fortpflanzung. Anfallartig. Drastisch buchstabierte sich in ihm die durch nichts gehemmte Fortpflanzungssucht. Die Wörter droschen auf ihn ein. Beate, kleiderlos und fortpflanzungssüchtig wie er. Das, von beiden empfunden, als Steigerung dessen, was zwischen ihnen, mit ihnen stattfinden konnte. Schluß mit dem grotesken Ver hinderungs und Verhütungszirkus. Scheiden schlämmen. In das schwarzrote Dunkel ihrer Scheidenschlucht den tag hellen milchigen Samen träufen, bis von allen Rändern und Wänden nur noch die lichten Samenschwaden flössen, die Schlucht überschwemmten und schlämmten. Nicht Koitieren macht traurig, sondern der Betrug, das Sichnichtfort pflanzendürfen.
Gottlieb konnte sich wieder loslassen. Der Anfall war zu Ende. Er stakste zur Bar. Bourbon on the rocks. Drei nachein ander. Sollte er Kaltblütigkeit imitieren, hinauf ins Zimmer, den Samen verschleudern, daß dann der Ernstfall keiner Übereilung zum Opfer fiele?
Vor zehn Jahren, ja. Aber jetzt? Sechzig vorbei! Aber einen alkoholischen Dämpfer schon. Keine Details mehr. Wir sind ein Orchester, das keines Dirigenten bedarf. Und warum nicht alles auf Englisch stattfinden lassen? Sie gleich so begrüßen. Und holte sich sofort einen Stoß Zeitungen und jagte nach starken Wörtern. New wavers in skinny tights and fluorescent high heels. Lipstick lesbians in biker chic. Crowds of backstage sycophants with their perpetual condescending sneers. A white buttondown collar oxford cloth shirt open at the neck. The possible validity of TA (transactional analysis). Cardcarrying highbrows. Viciously homophobic stereotypes. Dogeared quotations from the gurus of yesteryear. Zu spät. Diese Verbalarena schaffst du nicht mehr. Allenfalls ein paar flabby clichés. Self consciously hip.
Dann las er sich noch fest im Investors Business Daily. Den würde er, solange er im Land war, täglich kaufen. US. A Safe Bet. Und zwar im Real Estate Geschäft. Schon daß hier die Immobilie Real Estate hieß! Estate, ein Wort, in dem nur Feines mitschwingt: Klasse, Eigentum, Besitz, Landbesitz. Dank des schwachen Dollars sind Real Estate Geschäfte für, zum Beispiel, Deutsche 35 Prozent billiger als vor zwei Jahren. I see a lot of German money Coming over this year, sagte gerade der Präsident der Prudential Property Company. Gott lieb interessierte sich nur Annas wegen für die USImmo bilien. Ach nein. Ach doch. Jetzt die Seite Real Estate Business aus dem heutigen Investor¹s Business Daily heimfaxen, daß Anna sähe, er denkt ans Geschäft, das wär¹s. Aber das schaffte er nicht. Anna könnte die Kartei durchblättern und die Seite gezielt weiterfaxen. Ach, Anna. Er verbrauchte hier Geld, das Anna verdient hatte. Und es ist spürbar toll, Anna, hier dein Geld zu verbrauchen. Jawohl. Er investiert ins Leben. Versteh¹s, wer will. Daß dieses Mädchen ihn liebt und wie sie ihn liebt, das ist doch ein Wunder. Und über Wunder muß man nicht nachdenken. Man muß sie pflücken, basta. Sorry, Anna. Was hatte er gerade noch im Investor¹s Business Daily gelesen? Das war doch sein Satz, sein ReiseMotto! Auf der Titelseite des Investor¹s Business Daily, einer ist verurteilt zu zwei Jahren, Spitzenfigur des WallstreetRings für verbotene InsiderGeschäfte, und, bitteschön: In a clear firm voice, Kowalski told the judge he «abused the System I believed in and I will never forgive myself». Und kriegt statt möglicher zwölf Jahre nur zwei, weil durch seine Kooperation der ganze Ring aufflog. Fabelhaft. Dieses Schuldgefühl. Groß artig. Das läßt sich noch lernen. 12,6 Millionen hat er ge macht. Bewundernswert. Und dafür zwei Jahre, Anna, sei deinem Gottlieb gnädig, he will abuse the System he believes in, but he will never forgive himself, never, Anna. Die Wör ter sind Huren. Zum Glück. Ach ja, Meine Gedanken sind meine Dirnen. Diderot. Nicht umsonst hat Dostojewsky einen seiner begabten Lügner, nämlich den KaramasowVater Fjodor Pawlowitsch, verkünden lassen, Diderot sei zum Metropoliten gepilgert, sei dem Kirchenfürsten zu Füßen gefallen und habe geschrieen: Ich will mich taufen lassen. Diderot, den Gottlieb nicht liebt. La Mettrie liebt er ... ich werde nichts, was meine Sinne nicht erreicht, als ein uner forschbares Geheimnis gelten lassen. Meine Sinne. Und mit denen ist kein Bund zu schließen. Wir sind ein Schiffbruch, der sich als Stapellauf gibt. Großartig.
Als Reiselektüre hatte er den XV. Band der Werke Rous seaus dabei. Ein Bändchen mehr als ein Band. Es hatte zum Nachlaß eines homosexuellen Barons gehört. Gottlieb hatte den Nachlaß erworben, als er die Villa dieses Barons vor vielen Jahren an einen Käufer vermittelt hatte, der von der Bibliothek nichts wissen wollte. Auf der Seite vor dem Titelblatt war mit einer breit ausfallenden Feder eingetragen worden: Von Dr. Wiedersheim aus dem Schloß Sassoz, Marg., Argonner Wald, am 28. IX. 1914 «requiriert» & mir am 1.Nov. 1914 geschenkt. V.v.L. Das Bändchen, verlegt 1823, wurde eröffnet mit den Lettres a Sara. Sara ist dreißig Jahre jünger als der, der ihr vier Briefe schreibt. Der Autor im Vorwort: Auch ein alter Knacker könne bis zu vier Liebesbriefe schreiben und immer noch aller Ehren wert sein, aber sechs Liebesbriefe könne er, ohne sein Gesicht zu verlieren, nicht schreiben. Gottlieb hatte sich die Stellen anstreichen müssen, die ihn ganz direkt angingen.
Die
schlimmste Folter für mich ist, mich zu sehen,
wie Du mich siehst.
Seine Themire hatte ihm in
keinem Brief das WARUM
erständlich machen können, warum sie ihn angeblich liebe. Und sein französischer Vorgänger war erst fünfzig gewesen. Die unglaubwürdigen Zärtlichkeiten der Zwanzigjährigen seien für ihn nichts als eine weitere Demütigung. Ich liebe in der furchtbaren Gewißheit, nicht geliebt werden zu können. Gott iebs Reiselektüre. Er stimmte zu. Und widersprach. Wehrte sich. Forderte für sich die Ausnahme. Das Wunder. Je mehr er dem Rousseauschen Briefschreiber zustimmen mußte, desto heftiger widersprach er ihm. Und kramte in seiner Tasche nach dem Blatt mit der La MettrieStelle, die jetzt seine Lieblingsstelle war. Hier darfst du dich zwanglos dem willkommenen Drängen der Natur überlassen. Dort mußt du dich verkrampfen, mußt die Natur bekämpfen. Hier genügt es, sich nach sich selbst zu richten, zu sein, was man ist, und gewissermaßen sich selbst zu ähneln; dort mußt du, ob du willst oder nicht, den anderen ähneln; leben und bald auch noch denken wie sie. Was für ein Affentheater! Und er hatte sich für das HIER entschieden: Se laisser doucement aller aux agréables impulsions de la nature. Aber auch dazu paßt (in seinem Fall) der Ausruf: Quelle comédie!
2.
Fast als letzte kam sie. Also
nicht mehr zwischen Pas sagieren.
Fast allein kam sie aus der
Tiefe eines langen,
breiten Gangs. Das Kosmetikköfferchen hatte sie in der Lin
ken, angewinkelt vor der Brust.
Wahrscheinlich aus Gleich
gewichtsgründen, weil sie mit der Rechten ein Gepäckstück
am ausgefahrenen Griff hinter sich
herzog. War das so
schwer? Schleppte sie? Oder spielte sie eine, die schleppt? Sie
spielte die Schwache, Kleine, die
vor Schleppenmüssen gleich Ohnmächtige.
Ihre Hand, in seiner Hand.
Nicht
quetschen wie Rick Hardy. Aber auch nicht so lasch fingern
wie Glen O. Rosenne. Zeig, was du gelernt hast. Er zog sie an
sich, nahm dann ihren Kopf in
seine Hände wie etwas
Kostbares und küßte sie eher andächtig auf die linke und auf
die rechte Schläfe. Keine wilde
Küsserei. Andacht. Andacht empfand
er, wollte er ausdrücken, vielleicht
sogar noch mehr, als er
empfand. Ihr wollte er grell
zeigen, daß er aus sanftester
Andacht bestand. Alles, was gezeigt
wird, ver selbständigt sich doch. Die
Mischung zwischen Inhalt und Form
kann bei keinem Schauspieler anders
sein. Er hatte ja nichts
vorgehabt, aber jetzt, da er
ihren Kopf in seinen
Händen hatte, überwältigte ihn diese Andacht. Und machte
sich eben selbständig. Dann hielt
er ihren Kopf weiter weg.
Offenbar zur Betrachtung. Sie ließ
sich betrachten. Er betrachtete sie.
Sie ihn eben nicht. Sie war
ganz in seinen Händen. Das war
eine Rolle. Die füllte ihn ganz
schön aus. Mein Gott. Wer war
er, daß er ein Mädchen
betrachten
durfte, als habe er es gemacht! Ihre Nase hatte er vergessen
gehabt. Die hatte es schwer,
sich zwischen den großen Augen
und dem fast geschwollenen Großmund
zu be
haupten. Ach, du, sagte er. Und ließ es erstaunt klingen. Du
auch, sagte sie. Und wie sie
das sagte. Universell. All umfassend.
Und schloß nach dem auch den Mund nicht
mehr. Die ziemlich großen Lippen
hingen auseinander, die Zähne zeigten
sich, das wirkte in diesem
Augenblick kühn.
Mit dem Coach Service zum Hotel. Da war man, zum Glück,
nicht allein.
Er hatte, zum Glück, bevor er das Zimmer verlassen hatte, die Vorhänge so weit zugezogen, daß ein Zwielicht entstand. Sie sehe bestimmt aus wie Wum, sagte sie. Er wußte nicht, wer Wum ist. Der Hund, den Loriot erfunden hat. Das haue sie doch glatt um, die ganze Welt kennt den melancholisch witzigdümmlichen LoriotHund. Vor lauter Verwunderung ließ sie sich auf das Bett fallen, schlüpfte dann aus den Schuhen, drehte sich und imitierte, auf dem Bett kniend, den Kopf in Schieflage, diesen Hund. Er hatte das Gefühl, er müsse Beifall klatschen. Und tat¹s. Sie sagte, sie sei Loriot Fan. Und fügte hinzu: Gewesen. Und produzierte gleich ein paar Figuren und Gesten und Witze, die sie zum Fan dieses ComicVirtuosen hatten werden lassen. Und unterstützte, was sie sagte und zitierte, durch Mimik und Gestik. War sie wirklich so hingerissen oder wollte sie ihm vorführen, wie hingerissen sie sein konnte? Er mußte Beifall spenden. Sie konnte ja noch ganze Sketche von dem auswendig. Es wurde ihre Show. Er setzte sich. Als Zuschauer. Dann sprang sie plötzlich vom Bett, schlüpfte aus ihrem Kleid, ließ es auf den Boden rutschen, und setzte sich auf ihn und umschlang ihn und küßte ihn. Da konnte er wieder mitmachen. Er mußte die sogenannte Initiative übernehmen. Sie mußte noch sagen, sie geniere sich nicht, zuzugeben, daß sie LoriotFan gewesen sei. Er tat so, als begriffe er nicht, wieso sich jemand genieren sollte, LoriotFan gewesen zu sein. Er sagte aber nicht, daß er das Wort Fan überhaupt nicht schätzen könne. Offenbar war er schon zu alt gewesen, als es zum ersten Mal bei ihm auftauchte; Scharen oder Massen meist junger Menschen strecken ihre Hände in die Höhe, immer einem oder einer Angebeteten entgegen, Augen und Münder gleichermaßen irre aufgerissen, Ekstase als Massenwahn, so hatte er das Wort Fan kennengelernt. Dieses kreischende Außersichsein blieb ihm fremd. Jetzt war sie also auch ein Fan gewesen. Er hatte das Gefühl, er müsse sie zurückküssen. Beim Küssen gewann er wieder Präsenz, das spürte er. Ihre Münder gingen in einander auf. Wie für immer. Es gab wirklich keinen Grund, das je zu beenden. Das waren auch schon längst keine zwei Münder mehr. Das war ein Drittes. Ein bei keinem von beiden so Vorkommendes. Das waren sie, beide, als Einzahl. Als ein Einziges. Aber da es noch andere Körper teile gab, die drankommen wollten, lagen sie dann doch im Bett. Da wollte er alles richtig machen. Je mehr sie davon haben würde, desto mehr hatte er davon. Er hielt es sogar für möglich, daß sie auch so dachte. Das hätte er als eine Minderung des Möglichen empfunden. Sie sollte nichts sein als eine, der es gut ging. Sie sollte nur sich empfinden. Natürlich durch ihn. Er mußte ihr möglichst unaufwendig verwehren, daß sie sich gleich mit dem Mund seiner be mächtige. So nah waren die Leiber einander noch nicht. Sie führte. Das konnte ihm nicht recht sein. Er übernahm. Wenn sie führte, lagen sie in zehn Minuten neben einander wie zwei abgebrannte Feuerwerkskörper. Das kann doch nicht der Sinn dieser quälend langsamen Annäherung gewesen sein. Sollten sie nicht zuerst einen Wörterabtausch durch spielen? Wie heißt bei dir das, wie nennst du das? Sie waren doch Sprachmenschen. Und schon der erste Versuch glückte. Er nannte, was er zur Verfügung stellte, Ding und fragte, wie sie sein Ding nenne. Und sie: Ding an sich. Schließlich seien sie Philosophen. Und dann genießerisch weiter: Du weißt, wie Schopenhauer, bekanntlich kein KantFan, das Ding an sich nennt? Gottlieb wußte es nicht. Sie streichelte ihn und sagte: Amateurliga muß das nicht wissen, geträumtes Un ding, so Schopenhauer zum Ding an sich. Gottlieb: Das nehmen wir. Sie wechselte jäh in die Aktivsprache: This is no time for talk, it¹s time for Performance. Let¹s have it in English. Und als wären sie im Studio und sie die Regisseurin, rief sie: Action! Ihm gelang es trotzdem, den bloßen Aktio nismus zu steuern. Als es dann so weit war oder als sie beide gleich so weit sein würden, fühlte er sich vorbereitet, den ersten Wortbeitrag auf Englisch zu liefern, und zwar mit einem Zitat aus ihrem Briefwerk, und das war jetzt, da das Gelingen ja schon begonnen hatte, eher eine Floskel fröh licher Ironie: It ain¹t over till the fat lady sings. Sie schrie auf, fuhr hoch, warf sich weg von ihm, riß, was sie an Decke kriegen konnte, über sich. In ihr wurde offenbar weder die opera noch die Briefstelle wach, sie war bestürzt, getroffen, beleidigt, because of the fat lady. Sie fühlt sich fat. Und dann sagt er¹s ihr auch noch in diesem Augenblick ins Gesicht. In dem Augenblick, dem sie seit Monaten entgegenlebt. Und selbst wenn ER das nicht so gemeint hat, ES war so gemeint. ES hat es so gemeint. Ein Freudian slip.
Gottlieb eilte zur Minibar, holte sämtliche verfügbaren Martinis und flößte ihr ein, soviel sie bereit war, sich ein flößen zu lassen. Und entschuldigte sich ernsthaft. Eins wisse er sicher: Wenn er sie für fat hielte oder wenn sie ihm so vor käme, wäre ein Zitat, das dieses Wort mit sich führte, nie nie nie über seine Lippen gekommen. Aber als er sich das so sagen hörte, merkte er, daß es nicht ganz so war, wie er das sagte. Aber es war auch nicht so, wie sie das gesagt hatte. Also küßte er innig drauflos, spielte Themire und Sylvandre mit ihr, bis sie so weit waren, das vorher Begonnene fortzusetzen und zu einem glücklichen Ende zu bringen. Dann lagen sie aneinandergeschmiegt und flüsterten ihr Schicksal ins grünliche Zwielicht dieses alles ermög lichenden Zimmers. Er flüsterte, er habe, als er drunten in der Lounge die Minuten bis zu ihrer Ankunft gezählt habe, zum geträumten Unding gesagt − nebenbei, er halte das für eine brauchbare Startbezeichnung, das heißt, von da aus gehe es weiter zu immer besseren, das heißt brauchbareren Wörtern −, da habe er also, hingefläzt im Loungesessel, seinem ungeduldigen Unding gesagt: Heute noch wirst du im Paradiese sein. Und jetzt könne er im Namen seines Undings melden, daß ihm nicht zuviel versprochen worden war. Sie flüsterte zurück: Sag noch was Schönes, Sylvandre. Er: Danke, Themire. Sie: Ist Danke was Schönes? Und als ihm nicht gleich eine Antwort einfiel, sagte sie, und das sollte offensichtlich lustig klingen: Are you all set, Sir? Daß das eine Kellnerfloskel war, begriff er. Und antwortete: Not at all. Und sagte, was alles er noch nicht habe, also, was alles er noch wolle und wünsche. Nämlich sie, sie, sie. Also gleich dreimal, sagte sie. Er erschrak ein bißchen, weil er es so konkret nicht gemeint hatte. Er tat aber so, als gebe es keine Grenzen. Und tatsächlich gab es die im Augenblick noch nicht.
Dessen versicherten sie sich noch vor dem Abendessen. Aber da setzte sie ihre Mündlichkeit ein. Nahm ihm, was er noch hatte, so ab und sagte dazu, sie beide seien doch Katho liken, also sei das ihre Kommunion. Da sie so hymnisch dran war, konnte er nicht sagen, er sei gerade nicht so hymnisch gestimmt, könne also ein so weitgehendes Zusammenkom men nicht so natürlich praktizieren, im Gegenteil, er fühle, das gehe zu weit, noch oder überhaupt, aber das war nicht aussprechbar, er mußte, was ihr möglich war oder gar notwendig war, geschehen lassen, er mußte es mitmachen. Um ihretwillen. Obwohl ihm nicht danach war. Am liebsten hätte er, als sie ihn so bediente, gesagt: Sprich doch mit mir. Aber wenn er gesagt hätte: Sprich mit mir! hätte sie sagen können: Mit vollem Mund spricht man nicht. Und schon war er in der Assoziationsfalle. Philipp, Rosas Pastor, sprach nur mit vollem Mund. Sobald er nicht mehr aß, war er ein stiller, in sich gekehrter Mensch. Aß er, sprach er. Und nicht mit vollem, sondern mit vollstem Mund. Er schaufelte Essen in den Mund, bis die Backen platzen wollten, dann sprach er, sprach, als wolle er beweisen, daß er auch mit vollstem Mund sich immer noch verständlich machen konnte. Und das konnte er. Das war sogar das Gemeinste, daß er seine radikal dialektische Theologie so mampfend verkündete. Und ruderte dabei mit Messer und Gabel wild durch die Luft. Gott, kein Kamerad, sondern eine Zumutung. Das war seine Verkündigung. Und das im vollsten fränkischen Dialekt, als solle auch noch dieser sonst so herbschöne Dialekt geschunden werden. Als das zum ersten Mal im Hause stattfand, hatte Gottlieb aufstehen und hinausgehen müssen. Natürlich so, daß nicht deutlich wurde, warum er ging. Inzwischen stand er, wenn Rosa mit dem Mampfer zu Besuch war, nicht mehr auf, aber dabei sitzen bleiben zu müssen, war jedes Mal eine Nerven aufreibende Anstren gung. Daß Rosa, die Feinfühligste von allen, ihrem Philipp, wenn er mampfend dialektische Theologie predigte, förmlich am Mund hing, konnte er nicht begreifen. Komm zurück! Sprechen ist hier im Augenblick nicht angesagt. Mitmachen ist dran. Rise to the occasion. Aber in ihm fragte es sich doch: Ist das jetzt das Kind, das alles in den Mund nimmt, oder die amerikanisch gestimmte Frau, die die Rolle spielt, die hier die Frau zu spielen hat? Angenommen, die Frau habe von diesem Munddienst weniger als der Mann, dann hieße das, in diesem freiheitsberühmten Land hätten es die Männer gern, daß die Frauen ihnen etwas leisten, wovon die Frauen weniger haben als die Männer. Aber ein Mann hat doch von diesem Munddienst auch weniger, als wenn er sein Teil dahin bewegt und darin bewegt, wo es hingehört. Das hieße, beide haben weniger davon, aber eine Unterwerfung oder gar Erniedrigung der Frau wird erlebbar beim Munddienst. Für beide. Könnte es dann sein, daß die Frau etwas davon hat, daß sie diesen Dienst tut? Sie hätte dann etwas davon, weil sie ihm etwas zuliebe tut, wovon sie nichts hat. Und er hätte als seinen Genuß auch hauptsächlich ihre unterwürfige Dienstbarkeit. War er hier bei einem fremden Volksstamm, dessen Praktiken er zu studieren hatte? Ist also bei denen hier der Geschlechtsverkehr eine Veranstaltung haupt sächlich zu Gunsten des Mannes? Aber wenn es zu seinem Genuß gehört, daß sie auch genießt, muß sie doch auch genießen oder, wenn sie das nicht kann, so tun, als genösse sie. Wehe ihr, wenn sie, falls er es genießen will, ihr Genuß zu verschaffen, diesen Genuß nicht zeigen kann. Aber vielleicht soll hier die Frau, um den Mann zu steigern, beweisen, daß sie ihn mehr liebt als sich selbst. Und: daß sie ihn mehr liebt als er sich selbst! Das war¹s überhaupt. Da könnte er sich strecken und recken und räkeln, der hiesige Mann. Auf jeden Fall eine Vormachorgie, ein Täuschungs zirkus. Da träumt man unwillkürlich von etwas Gemein samem. Daß sich die beiden, was das Dabeisein angeht, nicht mehr von einander unterschieden, nicht mehr einer des anderen Besorger wäre, ein Gemeinsamkeitsgenuß eben. Gottlieb fand, daß er, wenn er so dachte, ihren für ihn tätigen Mund schon in einer verheißungsreichen Art erlebte. Irgendetwas mußte er ja denken, wenn sie sich so heftig mit ihm beschäftigte. Warum dann nicht etwas Schönes, Zukünftiges. Nachher beim Essen konnte er das ja zur Sprache bringen. Dann also die Vollendung, die wirkliche Kommunion, er würde es nachher Ausschüttung nennen. Schließlich war er auch ein Geschäftsmann. Und Aus schüttung ist ein Wort für geglückt Ergebnishaftes. So dachte er sich über den Höhepunkt hinweg. An der religiösen Sprachanleihe wollte er sich nicht beteiligen. Das bringt nichts. Dachte er. Ausschüttung. Basta.
Als sie merkte, daß er Mühe hatte, so hoch zu fliegen, wie sie flog, sagte sie: Bei einer Gefangenenbefreiung bestimmt der Befreier, was geschieht. Und als er nichts sagte, sagte sie noch: Auch wenn der Befreier eine Befreierin ist.
Er hätte beinahe wieder Danke gesagt. Aber er konnte nicht schon wieder Danke sagen. Also zog er sie heftig zu sich herauf, preßte, drückte und küßte sie, als sei er außer sich. Erst jetzt. Als begriffe er erst jetzt, was sie für ihn getan hatte. Sie hatte ES geschluckt. Sie schmeckte noch danach. Ja, da muß man doch außer sich sein. Wo denn sonst? In ihr, bitte. Dann sagte sie: In der letzten halben Stunde seien die Jahreszahlen überhaupt nicht mehr spürbar gewesen. Und als er nicht wußte, wie er darauf reagieren sollte, sagte sie: Das war jetzt frech, gell. Um sie vor weiterem Übermut zu bewahren, küßte er sie. Das konnte falsch sein. Dann fing er einfach von Rosa an. Die älteste Tochter, bald zehn Jahre älter als Beate, ja. Wieso jetzt Rosa, sagte Beate. Er habe gerade an sie denken müssen, sagte er, weil sie auch eine Abtreibung hinter sich habe. Das zog. Das wollte sie genauer wissen. Zuerst als komische Eröffnung: Max Stöckl, Kamera, Regie, Urbayer beziehungsweise viech. Wenn der da war und Gottlieb ging früher ins Bett und bat Rosa, daß sie nicht vergessen solle, nachher die Lichter zu löschen, sprang der auf, tanzte auf der Terrasse herum und brüllte: Genau wia mei Oidda. Auf jeden Versuch, anderer Meinung zu sein als er, lief Bayerisch ab. Sie senga jo dees net vu Ehnarem hiesigen Standpunkt aus, naa, wirkli, gengas zua, lossns Ehna des song, di Rosa, des Madl is z¹schood firs Studiern. Dann war sie schwanger, er benimmt sich so, daß Schluß sein muß, Rosa treibt ab, tritt über, studiert, heimlich, Theologie, meldet sich eines Tages als fertige Theologin, heiratet einen Pastor, ist Pastorin, beide in Ingolstadt, er schlägt sie manchmal, dafür verlangt er aber jedes Mal, daß sie ihn bestrafe. Daß der Pastor seine Rosa gelegentlich schlägt, kann Gottlieb ertragen, es sind eher Ringkämpfe als Schlägereien, und Rosa ist dem dünnen Pastor durchaus gewachsen, aber daß der, wenn er am Familientisch sitzt, nur mit vollem, nein, mit vollstem Mund spricht, breitestes Fränkisch, und Rosa bemerkt es nicht, das läßt Gottlieb manchmal einfach aufspringen und hinausrennen. Gottlieb kann Rosa von seinen Töchtern für die Versorgteste halten. Da muß man fränkisches Mampfen eben in Kauf nehmen. Rosa muß ja nicht ihren Mann ernähren, wie Julia, wie Regina. Daß auch Anna ihren Mann ernähren muß, ver schwieg er. Julia, Regina, Anna. Frauen für Männer, die Unterschlupf suchen. Beate war, zum Glück, eingeschlafen, er konnte aufhören.
3.
Jetzt wisse er, warum sie so zu schleppen hatte, sagte er, als
sie den voluminösen Webster aus
ihrem Gepäck hob. Drei Tage
lang bot sie WebsterWörter an,
er sollte wählen. Und
wies hin auf die Schwächen ihrer englischen Sätze, die ihren
Grund hätten in den deutschen
Sätzen. Immer wenn die
deutschen Sätze mehr wollten, als sie könnten, und dies auch
ausdrückten, also gestünden, daß sie
mehr ausdrücken
wollten, als sie könnten, immer dann sei dieses Mehrwollen
als Können im Englischen nicht mehr spürbar.
Rise to the occasion, das, hoffe sie, sei ihr gelungen. Sein Entsprechen ist alles geht im Englischen nur in der Be fehlsform. Sprechen kommt nicht mehr vor, das zeigt schon, welche Sprachkörperlichkeiten beim Übersetzen verschwin den. Aber sie gibt noch nicht auf. Drei Tage lang wird sie jetzt mit ihm Sprachrettung treiben. Daß sie die Sprachrettung betreibt, um ihn zu retten, nicht nur hier, jetzt, sondern überhaupt, das müsse er, um den Grad ihres Dabeiseins zu begreifen, wissen. Er werde es schon noch merken. Also, los jetzt.
Wie soll sie denn das, bitte, übersetzen: Shakespearisierend kannst du dir in deinen Träumen vorkommen} Oder, wenn der Gefangene erwacht: Der Sturz des Gefangenen in sein Zeug} Ist das Heidegger oder was? Zum Glück hat sie im letzten Sommer diesen Kurs Deutsch für Philosophen gegeben, sonst wäre sie noch ratloser gewesen. Als sie dem Professor andeutete, daß die Übersetzung kein Spaziergang sei, habe der geraten, Rick Hardy zuzuziehen. Das sei geschehen. Der habe gegrinst wie die Sphinx persönlich. Dann habe er gesagt, da er ja in Berkeley die Veranstaltung mit Mr. Krall zu moderieren habe, werde er sich jetzt nur zu den Fragen, die Übersetzung betreffend, äußern. Das habe er getan. Sie müsse zugeben, ihr sei, was er dazu zu sagen gehabt habe, nichts als hilfreich gewesen. Intelligent sei der. Manchmal fast zum Fürchten intelligent. Erfahrungsgesättigte Kennt lichkeit hätte sie ohne Rick kaum geschafft. Vor allem hat er für alle deutschen und französischen La MettrieStellen die in Amerika vorliegenden englischen Übersetzungen beige bracht. Und dann auch noch die Manfred EigenSätze! Die gibt¹s natürlich auch schon auf Englisch. Und Rick schaffte sie her.
Gottlieb genoß es, daß er nicht leicht zu übersetzen war. Er vermutete allerdings, daß Beate J. (so wollte sie mindestens genannt werden) zu vorsichtig, zu bedenkensüchtig sei. Aber seine Versuche, sie bedenkenloser zu stimmen, blieben erfolglos. Er würde dort stehen, Berkeley, Dwinelle Hall, Hörsaal soundsoviel, und vor ihm säßen einhundertsiebzig Zuhörer, darunter Professor Glen O. Rosenne, Patricia Best, Rick Hardy und dann noch die notorischen BerkeleyIntel lektuellen, sophisticated bis Zum Gehtnichtmehr. Sie wollte ihm Angst machen und ihn so zwingen, das Übersetzen nicht nur als einen Spaß Zu erleben, sondern als ein Spiel um alles oder nichts. Er solle sich doch vorstellen, wie er da stünde, wenn er erlebte, daß er an denen vorbeiredete, über die hinweg! Also sie habe vor jedem Referat Angst. Deshalb rackere sie sich dann so ab, daß das Schlimmste jedesmal gerade noch vermieden worden sei. Sie wollte nicht begreifen, daß für Gottlieb nicht soviel auf dem Spiel stehe. Er war Amateur. Er spielte in einer anderen Liga. Er hat La Mettrie dargestellt, wie er ihn erlebt hat, und er hat La Mettries Wichtigstes, sich selbst auf¹s Papier zu bringen, wichtig genommen. Und das ist geworden: Der Gefangene wird sich durch La Mettrie seines Gefangenseins bewußt und fliegt nach Kalifornien, um dort Zeugnis abzulegen für eine Wirkung La Mettries, die diesen Philosophen mehr ehrt und erklärt als alle Wissenschaftelei. Und sie: Wenn er das in der Diskussion nach seinem Referat sage, riskiere er, daß das Auditorium ihn auspfeife. Einmal abgesehen davon, daß sie als seine Dolmetscherin sich unfähig fühle, Wissenschaftelei englisch auszudrücken. Das allerdings wäre ein Glück, denn er spräche ja zu Wissenschaftlern und solchen, die es werden wollten.
Er hatte vorgeschlagen,
einen der drei Tage am Meer
zu verbringen. Sie lehnte das
ab. Mit jedem Wort, für das
sie
eine erlebbare englische Entsprechung fänden, werde es den
hiesigen Highbrows schwerer gemacht,
den Amateur aus Germany zu
belächeln oder gar zu beschimpfen.
Letzteres glaube sie allerdings
nicht. Ein Campus sei ja kein
Bierzelt.
Aber sie habe eben diesen Gast vorgeschlagen, also wäre sein
Nichterfolg ihr Mißerfolg. Also kein
Tag am Meer, sondern
ein Ringen um jedes Wort, jede Nuance.
Diese Beate J. war viel stärker, als er geahnt hatte. Ihre Angstbereitschaft war Stärke. Ihr Ernst, ihr Genauigkeits wille, ihre Niezufriedenheit, ihre Vollkommenheitsvorstel lungen, alles nichts als Stärke. Sobald wieder ein Ausdruck gelungen war, jubelte sie. Wenn das nur nie aufhörte, konnte sie dann sagen. Immer so weiter. Immer und ewig mit dir um Wörter ringen, Bedeutungen retten, Nuancen leuchten lassen.
Dann die Sprechproben. Er mußte seine Mund, seine Gesichtsnerven und seine Seele mit diesen englischen Sätzen so vertraut machen, daß er jede gleich zu produzierende Tonnuance schon im voraus wußte, einen Sekunden bruchteil, bevor dieser Ton fällig war. Alles wie von selbst: So sollte Englisch aus ihm kommen. Intonation! Und die größte Schwierigkeit: die französischen Sätze. Die verlangten doch einen ganz anderen Laut. Die französischen und die englischen Vokale sind einander so fremd wie eine Mondnacht und ein Diamantcollier. Beides blitzt, aber wie verschieden! Da heißt es, das ganze Nervensystem in Nullkommanichts umzustellen. Hier gewölbte Mondschein laute und da vor Energie blitzendes Gesteinsfeuer. Eine Sprache ist ja zuerst eine Melodie und erst dann ein System aus Grammatik und Wortbedeutungen. Jetzt war es an ihm, nicht nachzugeben. Jetzt war er unersättlich genau. Ihm war die Performance dort in der Dwinelle Hall wichtiger als die Übersetzung. Er wollte die überraschen, eine flawless Performance wollte er, die sollten staunen. Zehn Seiten, zu lesen in dreißig Minuten. Fünfzehnmal hatte er die zehn Seiten sicher gelesen, bis er, von Beate J. kritisch abgehört, alle Töne so herausbrachte, daß die englische Sprache nicht aller wunderbaren Laute beraubt zu sein schien. Er hätte noch weitergelesen, aber die Regisseurin warnte: Dann bringe er zwar die Intonation, aber die Stimmbänder schlügen nicht mehr an. Er ging sofort auf Flüstern über. In diesem Augenblick, sagte sie, sei sie so glücklich wie noch nie in ihrem Leben. Der Text funktioniere jetzt auch auf Englisch, Gottlieb W. sei ziemlich musikalisch, das heißt, seine Aussprache sei nicht mehr barbarisch.
In der letzten Nacht vor Berkeley träumte Gottlieb, daß Professor Rosenne zu ihm sagte: Ihr Englisch ist so exzellent, daß ich Sie nicht mehr für einen Ausländer halten kann. Das sagte er vor allen Zuhörern. Gottlieb bedankte sich für dieses Kompliment mit einem englischen Satz, in dem ihm ein grober Fehler unterlief. Die Zuhörer lachten laut, Professor Rosenne lachte auch, aber er lachte so, daß klar wurde, er habe das Kompliment nur gemacht, um Gottlieb zu dieser Selbstentlarvung zu provozieren. Gottlieb erzählte den Traum Beate J. Themire, bat aber darum, von Dr. Douglas¹ Auslegungen verschont zu bleiben. Und sie: Hättest du¹s lieber ä la Goethe? Wieso, wie geht¹s á la Goethe? Na ja, sagte sie fast genießerisch, Frau Herder hat einmal nichts Besseres zu tun gewußt, als Goethe einen närrischen Traum zu erzählen, und er rät ihr überhaupt ab, so zu träumen, wie sie träumt, und sagt, das Schlimmste sei, die Träume machten den Verstand krank. Und bevor Gottlieb reagieren konnte, sagte sie energisch, daß Goethe hier wohl Ursache und Wirkung verwechselt habe. Ja, sagte Gottlieb, er hing dann sehr am Beherrschbaren.
Sie stand jetzt schon vor dem Spiegel, sie kämmte sich, sah sich an und sagte: Immer wenn du mit mir geschlafen hast, bin ich doppelt so schön wie vorher. Immer? sagte er. Und sie: Jetzt schon viermal, Sylvandre. Und gab ihm einen kleinen Schubs, der genügte, ihn aufs Bett zu werfen. Und sofort war sie neben ihm und halb auf ihm und, als gäbe es keine Termine, fuhr sie mit ihrem Zeigefinger seine Ohren nach, die Augenbrauen, die Nase, die Lippen. Die Lippen immer wieder. Da ihm das guttat, fuhr er ihr auch so sachte mit dem Zeigefinger ihren Gesichtsplan nach. Ihm blieb nichts anderes übrig als zu sagen, so habe er, als seine Töchter noch Kinder waren, auch deren Profile mit einem liebenden Zeigefinger nachgefahren. Wahrscheinlich nur bei Julia, sagte sie, weil sie auf die, vom selben Jahrgang, eifersüchtig zu sein vorgab. Er griff nach Julias Namen wie nach einem Rettungsring und spulte vaterschmerzbewegt die Julialegende herunter. Fährt neuerdings mit Bus und Boot durch Berlin und erklärt Ausländern die Museumsinsel, die Nationalgalerie, den Potsdamer Platz und den Reichs tagsbau plus Geschichte, die Kuppel. Auf Englisch. Hat ja zwei Jahre mit und bei einem irischen Alkoholiker in Dublin gelebt. Sie hat den nicht ernähren können in Irland, also mußte sie gehen. Ihren jetzigen Alkoholiker, und es ist wieder ein Ire, kann sie ernähren, aber eben in Berlin. Die Verbindung hält. Sie hat in ihrem Leben noch keinen Tropfen Alkohol getrunken. Wahrscheinlich zieht das die Alko holiker an. Der Jetzige hat noch nie etwas gearbeitet. Und ist stolz darauf. Er werde, sagt er, sich nie ausbeuten lassen und werde nie andere ausbeuten. Und da das bei Arbeit immer die Gefahr ist, meidet er Arbeit. Weil Beate wissen wollte, wie der seine Zeit verbringe, mußte er ihr erklären, daß dieser Ire Tag und Nacht lese und schreibe, also keinesfalls untätig oder gar faul sei. Dann wäre ja alles einfach. Aber er lese und schreibe eben ununterbrochen, sage allerdings, es habe keinen Sinn, sein Geschriebenes jetzt anzubieten, da es so viel besser sei als all der Mist, der zur Zeit die Szene be herrsche, daß das Seine mit keinerlei Verständnis rechnen könne. Noch nicht! Wann, das wisse allein Gott, und den gebe es bekanntlich nicht. Da in Julia die Botschaft einge brannt war, Iren seien genial, glaubt sie, hofft sie, hebt sie und erklärt weiterhin das Reichstagsufer und lernt jetzt nebenher Japanisch. Sie will es so weit bringen, japanischen Reisegruppen Berlin in deren Muttersprache zu erklären. Das gäbe einige Euro mehr.
Beate, die vielleicht
nicht mehr zugehört, auf jeden
Fall
spürbar von ihm abgelassen hatte, sagte: Wir müssen gehen.
Oh ja, sagte er und sprang auf und zog sie hoch und war fast
froh darüber, daß es ihm nicht gelungen war, sie für Julia zu
interessieren.
4.
Durch San Francisco, über die
Bay Bridge, hinüber nach Berkeley.
Gottlieb wußte, daß er nicht
wichtig war. Ande rerseits: Warum
bauen sie Städte, die nichts
demonstrieren als deine Unwichtigkeit.
Diese Bankmonsterflanken, die spiegelnden,
und spiegeln doch nichts als
ihresgleichen. Dann diese lächerliche
Pseudovertrautheit mit all dem,
hundertmal im Film gesehen. Der farbige Taxifahrer machte
klar, daß das auch ein
Dschungel ist, in dem Menschen
zu
unliebsamen Wesen gedrillt werden. Hotel Durant hatte Beate
J. geordert. Der reagierte gereizt. Berkeley, was ist denn das
wieder für ein Scheißhotel, können
Sie nicht in was
Besserem, also Bekannterem absteigen, wahrscheinlich keine
Knete, und so was muß ich
kutschieren, an mir bleibt¹s
hängen, Hotel Durant, oh boy. So etwa reagierte der. Gottlieb
nahm sich vor, ihn nachher
durch ein Trinkgeld zu
beschämen. Der nahm das Trinkgeld ganzungerührt. Beate J.
schimpfte.
Im Durant hatten sie zwei Zimmer. Und die auf zwei verschiedenen Etagen. Als sie sich eintrugen, zeigte Gottlieb ihr, was er als Beruf angab: Privatgelehrter. Ach, Herr Krall, sagte sie. Probeweise. Alle, die einem jetzt begegneten, konnten La MettrieReferenten sein. Das hieß: Ab sofort striktes per Sie. Zum Glück hatten sich Rosenne, Patricia Best und Rick Hardy bei Freunden untergebracht. Mit denen frühstücken! Lieber nicht. Sie fürchtete sich ohnehin vor dem Augenblick, in dem sie Gottlieb Patricia Best vorstellen mußte. Sie würde rot werden, Patricia sähe, spürte sofort, was zwischen ihr und Gottlieb passiert war.
In der Eingangshalle von Dwinelle Hall wartete schon Rick Hardy. Beate J. stellte die Herren einander vor. Patricia war zum Glück schon im Saal. Gottlieb war darauf vorbereitet, daß dieser Hardy beim Händedruck alles gibt, was er hat. Dachte der Drücker jetzt daran, daß er einmal Beates Hals im Griff gehalten hatte? Beate hatte berichtet, von den Herren hege keiner auch nur den leisesten Verdacht, sie könne Herrn Krall aus anderen als wissenschaftlichen Gründen für ein Referat vorgeschlagen haben. Davor schütze sie, ihn und sie, schon der Altersunterschied.
So raste es in Gottliebs Kopf, als er die von Rick Hardy gequetschte Hand demonstrativ besah und murmelte: Nothing broken, so far. Das wurde beifällig aufgenommen. Dann sah er dem Quetscher ins Gesicht. Eine eisige Freund lichkeit, der es nicht darauf ankam, glaubwürdig zu sein. Gottlieb spürte, daß ihm eine Gänsehaut rückenabwärts wanderte. Rick Hardy, das war ein Totenkopf. Augenhöhlen, tief drin, große Augen, eingefallene Wangen und ein ebenes Lächeln um einen eher unsichtbaren Mund. So würde einem der Tod die Hand geben. Um zu demonstrieren, daß man von jetzt an in seiner Hand sei.
Also, wie lange wird Mr. Krall vortragen? Nicht über dreißig Minuten. Sehr gut. Dann die Diskussion. Kann Mr. Krall die in Englisch bestreiten? Er will es versuchen und hofft, falls er einen Diskussionsbeitrag nicht zur Gänze versteht, auf Beate Gutbrods Hilfe. Die wird ihm zugesagt. Und, ergänzte Mr. Hardy, Beate sei ja jetzt sowohl eine La Mettrie wie auch eine KrallSpezialistin.
Daß der mit keinem Laut verriet, wie er den Vortrag finde, beunruhigte Gottlieb jetzt doch. Unglaublich, du erarbeitest einen Vortrag, fliegst um die halbe Welt, und dieser Unischnösel tut so, als komme da einer aus der Nachbar schaft und lese zum hundertsten Mal vor, was ihm gerade zu La Mettrie eingefallen ist. Wenigstens die Übersetzung könnte er loben. Aber das hatte ja Beate schon verraten, daß der Herr sich jeder Reaktion enthalten habe. Machtaus übung, dachte Gottlieb. Das hat der schon voll drauf. Wahrscheinlich ist es ihm jahrelang so gegangen. Der, dem etwas vorgelegt wird, kann den, der etwas vorlegen muß, schon durch Nichtreagieren förmlich zermürben. Wenn man das übersteht und dann selber der ist, dem etwas vorgelegt werden muß, zermürbt man den, der jetzt von einem abhängig ist, genau so, wie man selber immer zermürbt worden ist. Gottlieb dachte: Du zermürbst mich nicht. Das hatte er hinter sich. Irgendwann muß Schluß sein mit diesem Abhängigsein von anderen. Sonst hast du umsonst gelebt. Daß er umsonst gelebt habe, mußte er sich allerdings dann und wann eingestehen. Aber, bitte, nicht hier, zehn Flug stunden von daheim. Hier kommt es auf nichts an. Die wissen doch alle nicht, daß du nicht ihretwegen hier bist. Du bist hier wegen dieser viel zu jungen Frau. Das ist alles so gekommen, wie es keiner wissen darf. Und das ist deine Stärke, dein Schutz und Schirm, die können dir alle egal sein, dir kommt es nur auf sie an, Themire. Du bist hier nur als Sylvandre. Laß alles schief gehen, aber es wird nicht alles schief gehen, nie geht alles schief, aber selbst wenn alles schief ginge, Themire und Sylvandre sind ein Paar, La Mettrie ist Zeuge.
Dr. Wendelin Krall war der erste Referent der La Mettrie Tagung in Kalifornien. Vielleicht war Gottlieb der Un wichtigste, vielleicht der Wichtigste. Beate hatte aus weichend geantwortet. Sie war zum Programmaufbau nicht befragt worden. Offenbar waren alle, die zur Tagung gekom men waren oder kommen würden, schon zum ersten Referat erschienen. Der Hörsaal war gut besetzt. Gottlieb zählte im Hineingehen die Reihen, multiplizierte mit zwanzig, soviel etwa saßen in einer Reihe, also, dreihundert Plätze, davon zirka zweihundert besetzt. Vorne erwartete ihn der Profes sor, die Vorstellung besorgte jetzt Mr. Hardy, Beate hatte sich schon im Hineingehen von Gottlieb getrennt, hatte irgendwo Platz genommen. Der Händedruck des Professors war so lasch weich unspürbar, wie der von Rick Hardy krass und aggressiv war. Man hätte wieder die Hand besehen und sie fragen können: War was? Und Frau Professor Patricia Best! Gottlieb behielt ihre Hand viel länger in der seinen, als es üblich war, und sagte aus vollem Herzen, daß er sich sehr freue, Frau Professor Best kennenzulernen. Daß er von ihr gehört und zwar nur Schönes gehört habe, konnte er, wollte er nicht verbergen. Dr. Krall durfte in der ersten Reihe zwischen Patricia Best und Rick Hardy Platz nehmen. Professor Dr. Glen O. Rosenne eröffnete die erste La Mettrie Tagung auf amerikanischem Boden mit einem Satzfragment La Mettries: Armezvous du flambeau de l¹Expérience! Gottlieb fand, daß der Herr Professor den Rest des Satzes nicht hätte weglassen dürfen. In ihm ergänzte es sich automatisch: ... et vous ferez á la Nature l¹Honneur qu¹elle merite. Aber dann hätte der Professor den Trompetenton nicht geschafft, den er für den Anfang brauchte. Sieh das, bitte, ein. Gottlieb sah¹s ein. Referenten aus fünf Ländern seien dazu erschienen, sagte der Professor. Und da Julien Offray de La Mettrie seit Diderot immer noch verrufen sei als der bis zu de Sade unan ständigste Philosoph, sei es sicher kein Zufall, daß die Refe renten eher aus katholischen als aus protestantischen Län dern kämen. Daß aber auch protestantische Gegenden aus ihrem Anstandsschatten heraustreten können, beweise das Gastgeberland, die USA.
Einen Satz des Professors notierte Gottlieb sofort und verbarg nicht, daß er das tat. Deutsch zitierte der Professor einen Satz von Nietzsche: Der Glaube an den Leib ist funda mentaler als der Glaube an die Seele: letzterer ist entstanden aus der unwissenschaftlichen Betrachtung der Agonien des Leibes (etwas, das ihn verläßt). Dann also, Herr Dr. Wendelin Krall. Sein Thema: Rise to the occasion. Bitte, Herr Dr. Krall.
Wenn ein Amerikaner deinen Namen mit Herr versieht, klingt das wie ein Distanzierung. Wenn du daheim einen als Mr. Rosenne ankündigen würdest, klänge das nicht kritisch. Vielleicht liegt es an diesem Herr. Vielleicht wissen die Ausländer, was für ein Wort das ist. Vielleicht denken sie tatsächlich an Herrenrasse. Gottlieb mußte anfangen. Rise to the occasion. Er fing vorsichtig an, versuchte aber zu zeigen, daß es die Fremdsprache war, die ihn vorsichtig machte. Der Schwung würde dann schon kommen. Der La Mettrie Schwung: á la Nature l¹Honneur qu¹elle merite. Noch redete er vor sich hin. Gab den Schüchternen. Schonte er sich? War etwas mit seiner Stimme? Wagte er schon gar nicht mehr, draufloszusprechen? Und bei der ersten Umschaltung ms Französische, la douceur de mon caractére, spürte er einen Stich im Hals, sprach aber weiter, konzentrierte sich weniger darauf, ob der Stich schärfer werde, als auf den Text, versprach sich aber gleich zum ersten Mal. Der Stich nahm zu. Wenn der so zunehmen würde, könnte er bald nicht mehr weiterlesen. Aber wegen eines Stichs würde er nicht aufhören. Sollte es wehtun, das ging ihn nichts an. Er hatte einen Nagel im Hals. Bitte, dann sprichst du eben mit einem Nagel im Hals. Es gibt Schlimmeres als einen Nagel im Hals. Kein Schmerz der Welt würde ihn zwingen, das Referat, das ihn ganz enthielt, abzubrechen! Es war ihm weder schwind lig noch schlecht. Er hatte nur diesen Nagel im Hals, der bei jedem Wort zustach. Sollte er! Das tat weh. Bitte, sollte es wehtun! Nachher würde er Beate genau schildern, was das für eine Qual war, bei jedem Wort dieser Stich, und wenn er nicht das Gefühl gehabt hätte, er spreche für sie nur für sie, hätte er diese Tortur nicht überstanden. Er sprach für Beate! Aber als er zum ersten Zitat aus dem Dictionnaire Universel kam, machte die Stimme nicht mehr mit. Es gab sie nicht mehr. Er konnte seiner Kehle, den Stimmbändern, dem Mund befehlen, was er wollte. Nichts als ein Krächzen. Das klang grotesk. Lieber nichts mehr als dieses Krächzen. Erledigt. Aus. Da stand schon Rick Hardy vor ihm, der hatte schon Kontakt mit Beate, der sagte schon an, solange der Referent nicht bei Stimme sei, werde Beate Gutbrod, sowohl Übersetzerin dieses Textes wie gerade beim Schreiben einer Doktorarbeit über La Mettrie, den ihr durchs Übersetzen geläufigen Text vorlesen.
Bitte, Beate.
Beate sprechen die hier tatsächlich
ziemlich schräg aus,
dachte Gottlieb und ging, den Blick auf dem Boden, zu dem
Stuhl, auf dem er schon gesessen hatte. Beate las, er
konnte nicht zuhören. Sie las
das Englische perfekt. Perfekt ameri
kanisch. Aber er konnte nicht
folgen. Er schluckte, er ver suchte,
in der Stimmbandgegend eine
Empfindung zu wecken. Er spürte
nichts als den Nagel. Auch ohne
daß er sprach, stach in seiner
Kehle ein Nagel. Als Beate
geendet hatte, wurde, auf akademische
Art, ein höflicher Beifall gespendet.
Aber als sie auf ihren Platz
zurückging, gab¹s
noch Extrabeifall. Deutlich für ihre Vortragsleistung.
Rick Hardy rief hell und
lebhaft zur Diskussion auf. Als
sich niemand meldete, sagte er, er werde einmal den Anfang
machen. Vielleicht sei der Referent
inzwischen wieder bei
Stimme. Schon flüstern könne bei der vorzüglichen Verstär
keranlage von Dwinelle Hall eine
Kommunikation ermög
lichen. Gottlieb sah und hörte und spürte, wie unvollständig
Beate ihm diesen Rick Hardy geschildert hatte. Eine Stimme
wie ein italienischer Tenor. Eine
gelbe Lederweste, aus der ein
weißer Rollkragen unmäßig herausquillt.
Ein vorne aufknöpfbarer Rollkragen.
Wahrscheinlich aus Seide oder
feinster Baumwolle. Und diese
Lachbereitschaft! Er lachte seinen
eigenen Sätzen hinterher. I like
your attempt to con
ceptualize your misere propre. Und lachte. Er wolle, sagte er,
mit einem Zitat von T. S. Eliot beginnen. Bad poets copy, great
poets steal. Und lachte. Warum
er jetzt Eliot zitiere, sei ihm
selber unbekannt. Aber Eliot paßt
immer. Und lachte. Die Unlust
des Auditoriums, sich zu Wort
zu melden, könne
damit zu tun haben, daß Mr. Krall weniger über La Mettrie
und mehr über sich selbst
gesprochen habe. Let me try to
elucidate what Mr. Krall was trying to say. Und spezialisierte
sich auf ein Wort: Schuldgefühle. Ein deutscher Intellektueller
kommt an eine USEliteUniversität und versucht unter dem
Vorwand, er spreche über La
Mettrie, den Deutschen einen
Freispruch zu erschwindeln. Zweifellos
sei der späte La
Mettrie eine Art Verführung zur Gewissenlosigkeit. Aber er
hat aus allzu einsichtigen Gründen nicht daran gedacht, die
Deutschen aus ihrer von ihnen
selbst verschuldeten Schuld zu
erlösen. Schluß mit Schuldgefühlen!
Das aus dem Mund eines
Deutschen! La Mettrie hat, als
er die Menschheit von Schuldgefühlen
befreien wollte, nicht an Völkermord
ge
dacht, sondern an Ehebruch und dergleichen. Insofern ist der
Coup, den ein konvertierter
Altachtundsechziger hier zu landen
versuche, fast schon jenseits des
akademisch Tole rierbaren. Massage gegen
Gewissensbisse! Und das via
Nietzsche! Wer Professor Rosennes
NietzscheVorlesung gehört habe, könne
einen so unreflektierten NietzscheGe
brauch nicht ohne Gänsehaut zur Kenntnis nehmen. Sollte er
in seinem Versuch, die Diskussion
zu entfesseln, zu weit gegangen
sein, bitte er um Widerlegung
dessen, was er gesagt habe und
was er allerdings unter allen
Umständen
sagen würde. Kräftiger Beifall.
Das war eine vorbereitete, geplante,
vielleicht sogar mit dem Professor
abgesprochene Diskussionseröffnung. Gott
lieb stand auf, ließ sich, zur Sicherheit, von Beate den Hardy
Text noch einmal zusammenfassen, dann
flüsterte er Beate ins Ohr und
sie sagte es laut auf Englisch
weiter: Er sei
überrascht. An all das, was Mr. Hardy in seinem Vortrag ent
deckt habe, habe er nicht
gedacht. Trotzdem seien Mr. Hardy¹s
Bemerkungen ernst zu nehmen. Für
einen Deut schen ganz besonders.
Remords nennt La Mettrie, was
deutsch Gewissensbisse oder Schuldgefühle
heißt, und auf Englisch vielleicht
bad conscience oder feeling guilty
oder
selfreproach. Wie auch immer man¹s übersetze, La Mettries
Versuch, Schuldgefühle zu demontieren,
stehe im Discours
sur le Bonheur. Und das ist nicht die witzige Abrechnung mit
remords, wie sie die Boulevardkomödie
pflegt. Autre reli gion, autre
remords, heißt es da zwar, aber
dann wird gründlich gefragt, wozu
remords überhaupt gut sind. Für
den Menschen. Für die Gesellschaft.
Es geht um die Glückseligkeit
der Menschheit, die nicht gestört,
zerstört werden soll durch
nichtsnutzige Schuldgefühle. La Mettrie
fragt furchtbar nüchtern und
vielleicht auch erschreckend sachlich
nach dem Nutzen der remords.
Sie nützen nichts.
Sie verhindern nichts. Weder vor, noch während, noch nach
dem Verbrechen. Von den remords geplagt werden ohnehin
nicht die Bösen, sondern die Guten. Man kann sagen, er habe
die Kritik des schlechten Gewissens geschrieben. Diese Kritik
war für ihn das, was er für die Menschheit tun konnte. Sein
größtmögliches Verdienst. Also mit
Seitensprungerleich terung darf das nicht
abgetan werden. Und jetzt kommt
einer hierher, der erkannt hat:
Wer nur ÜBER
La Mettrie schreibt, ohne dabei
über sich zu schreiben, der
entspricht ihm nicht. Also folgt
er dem von Montaigne stammenden,
durch La Mettrie überbrachten Rat
und macht sich selbst, auch
sich selbst, zum Thema. Dann
erfährt er hier in Kali fornien,
daß ein Deutscher immer zuerst
ein Deutscher ist und erst dann
ein Mensch. Zu Hause ist er
zuerst ein Mensch, so und so
alt und ein Mann. Hier ist
er offenbar zuerst ein Deutscher.
La Mettrie hat seine Gewissenskritik
nicht für eine Gesellschaft
geschrieben, die sich gerade in
einen Völkermord verstrickt hat. Aber
er hätte wahr scheinlich in seiner
furchtbaren Nüchternheit, in der Be
schreibung dessen, was das menschliche Gewissen zu leisten
vermag, er hätte seine Gewissenskritik nicht von Grund auf
anders geschrieben. Aber zweifellos
kann ein Deutscher
davon keinen sein Gewissen entlastenden Gebrauch machen.
Das war auch nicht im mindesten
die Absicht des
Referenten. Obwohl der Sachlage nach nicht ausgeschlossen
werden kann, daß ein deutscher Referent die La Mettriesche
Gewissenskritik auf den Fall Deutschland anwenden könnte.
Vielleicht darf erwähnt werden, daß
dem Deutschen
Gedächtnis zu einem Synonym für Gewissen geworden ist.
Der Referent hat sich als einen
Gefangenen seines Ge
wissens gesehen und ist nach Kalifornien geflogen, um hier
zu bekunden, daß von La Mettrie
eine Befreiungskraft
ausgehe. Und, hat er gedacht, kein Land der Welt eigne sich
so gut wie Amerika, diese
Befreiungskraft zu feiern und nicht
bloß zu feiern, sondern sie
ganz praktisch wirken zu
lassen, ganz praktisch, hier und jetzt. Wie das dann aussähe,
muß jeder Tagungsteilnehmer für sich
entscheiden. Dem
Referenten hätte es genügt, wenn er ein wenig hätte erlebbar
machen können, wie La Mettrie
in sein Leben eingegriffen habe.
La Mettrie plus Amerika, das
hat sich im Referenten aufgeladen
zur Befreiungshoffnung schlechthin. Leider
hat er dabei einfach übersehen,
daß ein Deutscher alles, was er
denkt und sagt, zuerst daraufhin
überprüfen muß, wie es, von
einem Deutschen gesagt, wirkt. Daß
der Referent diese
Selbstüberprüfung versäumt hat, war ein furchtbarer Fehler.
Den bedauert er sehr. Er hätte bedenken müssen, daß er im
Ausland spricht. In den USA! Er bittet die Versammlung um
Entschuldigung. Und er hofft, er habe gelernt, spät genug ge
lernt, aber doch noch gelernt, er als Deutscher, vor allem im
Ausland, hat immer daran zu
denken, daß er zuerst ein
Deutscher ist und erst dann, falls sein EinDeutschersein das
noch zuläßt, erst dann ein Mensch.
Eher zaghafter, aber aus ein
paar hinteren Reihen dann doch
deutlicher Beifall. Gottlieb schaute
nicht hin. Er be dankte sich,
immer noch flüsternd, bei seiner
Übersetzerin. Das ergab einen
allgemeinen, sogar heftigen Beifall.
Beate verneigte sich. Rick Hardy,
der während Gottliebs Erwi
derung deutlich geduldig auf dem Podium stehen geblieben
war, übernahm die Leitung der
jetzt einsetzenden Diskus sion. Gottlieb
setzte sich auf seinen Platz,
Beate auf ihren.
Gottlieb konnte nicht mehr folgen. Er kriegte mit, daß hinten
ein paar Frauenstimmen für ihn
sprachen und daß die Mehrheit
dann diese Sympathisantinnen eines
Besseren zu
belehren suchte: moralisch, politisch, philosophisch. Es ging
um die Wörter. Guilt, debt,
selfreproach, bad conscience, hypocrisy.
Gottlieb war nicht mehr gefragt,
das kriegte er mit. Denen, die
ihn verteidigen wollten, konnte er
nicht helfen. Beate beteiligte sich
auch nicht. Seine Verteidi
erinnen, das hörte er, ohne sich umzudrehen, mußten ältere
Damen sein; eine wies darauf hin, daß sie aus einer Familie
von Holocaustüberlebenden stamme. Es wurde ihr gesagt, es
sei ihre Sache, ganz und gar ihre Privatsache, wenn sie sich
mit einem deutschen Entlastungsmanöver
dieser Art befreunden könne, kein
Mensch könne ihr daraus einen
Vorwurf machen, solange sie nicht
versuche, ihrer Privat
sache universale Gültigkeit zu erstreiten. Rick Hardy hatte so
gut wie nichts mehr zu tun, so gut lief die Diskussion. Dann
und wann mußte er sagen: Keep
your remarks brief, und schließlich:
Die Kaffeepause sei ein MUST, also noch eine
letzte Wortmeldung. Die kam von
Patricia Best. Sie stand
auf, sprach ebenso zu Gottlieb wie zum Saal. Die kleine, eher
rundliche Person wuchs mit jedem Wort. Sie wuchs wirklich.
Sie sprach nicht einmal besonders laut. Mußte sie auch nicht.
Ihre hohe, eigentlich sehr hohe
Stimme schwebte über dem ganzen
Saal. Das sah man. Gottlieb
hatte tatsächlich den
Eindruck, als wüchsen auch die Zuhörer. Alle Hälse wurden
lang, alle Köpfe hoben sich. I
liked your speech. So begann
sie. Dann sagte sie, daß auch heute noch das Gewissen eines
jeden Menschen von der Religion
gebildet werde, in der er
aufwachse. Das Gewissen sei das
Kostbarste, was unsere Kindheit in
jedem von uns lebendig erhalte.
Und, bitte, der Atheismus sei
ja nichts anderes als eine
Religion, die sich zutraue, ohne
Gott auszukommen. Tatsächlich sei
jede praktizierte, gar herrschende
Religion in Gefahr, das kostbare
Kindheitsgut Gewissen zur Rezeptur
verkommen zu lassen. Daß die
Philosophie darauf kritisch zu
reagieren habe, verstehe sich
inzwischen von selbst. La Mettrie
habe das getan. Einzigartig.
Großartig. Nachträglich seiner
Gewissenskritik Reservate anzuweisen, in
denen allein sie angewendet werden
dürfe, komme ihr vor wie
freiwillige
Kurzsichtigkeit, die gebe es aber in der Natur nicht, und die
Wissenschaft sollte nicht versuchen,
gerade darin die Natur zu
korrigieren. Dann wolle sie, müsse
und könne sie dem Herrn
Referenten versichern, daß das
Problem der
Transzendenz vom Deutschen zum Menschen ganz und gar
nicht nur sein Problem ist.
Solange es noch Nationen gibt,
und es wird sie ganz sicher
nicht ewig geben, muß es und
wird es diese Einladung zur Überwindung des nur Angebo
renen geben. Die herzliche Theatralik
mit der der Referent den
Emanzipationskitzel vor uns ausgelebt
hat, hat mich gerührt.
Aus verschiedenen Saalquartieren heftiger Beifall. Aber da
und dort gab es auch Zischen.
Rick Hardy übernahm: Er sei
immer wieder glücklich, wenn er
Patricia Best in ihrer sibyllinischen
Laune erlebe.
Und lachte. Vielen Dank, Patricia!
Jetzt Professor Rosenne. Er sei
auch glücklich über diesen
Anfang der Tagung. Daß La Mettrie immer noch ein Unruhe
stifter sei, mache ihn glücklich.
Gestern Abend habe er
drüben in San Francisco in Chinatown Abend gegessen. Die
Chinesen lieferten ja zu jedem Dinner ein Cookie, ein fortune
Cookie, das man, wenn man
Sprachliches nicht wegwerfen kann,
einstecke, in der Hoffnung, eine
Situation zu erleben, in die
der Spruch passe. Daß das schon
heute der Fall sein würde, habe
er nicht zu hoffen gewagt. Aber
daß ihm der Spruch für Mr.
Krall mitgegeben worden sei, sei
jetzt nicht mehr zu bezweifeln.
So gebe er ihn also weiter.
Er reichte
Gottlieb einen winzigen Papierstreifen, las aber vorher noch
vor, was darauf stand: Redecorating will be in your
plans.
Helles Gelächter. Da hinein Rick Hardy¹s Stimme, daß es um
vier Uhr weitergehe mit William
Blondel: Machine and
Morality. Dann rief er noch das Tagungsmotto: Armezvous du
flambeau de l¹Expérience!
Im Hinausgehen wurde Gottlieb aufgehalten von den zwei
oder drei Damen, die ihn hatten
verteidigen wollen. Sie
boten ihm Kaffee an und sagten alles noch einmal. Er konnte
keinen Kaffee trinken. Er deutete
auf seine Kehle. Sie verstanden
und bedauerten. Eine sagte mehr
als einmal:
Your speech was great. Er durfte gehen. In der Eingangshalle
holte ihn Beate ein. Er bat sie, sofort zurückzugehen, dort zu
bleiben, er gehe ins Hotel und
warte auf sie. Sie dürfe kein
Referat, keine Diskussion, keine
Kaffeepause versäumen.
Schon daß sie ihm nachgeeilt sei, sei ein Fehler. Also schnell,
schnell. Ab. Sie schluchzte fast. Sagte nur noch: Aber Patricia
war toll.
Im Zimmer griff er, bevor
irgendeine Ratlosigkeit sich
seiner bemächtigen konnte, zur Fernbedienung. Da erschien
eine blaue Mütze, mit glänzendem
Schild, schief auf dem Kopf
eines Grauschwarzbärtigen, da erschien
im Lederjak kenglanz ein als Kapitän
kostümierter Prediger. I¹m God¹s
University on the air ... not just another church ... my belief ...
god wants me ... er braucht
bis Mittwoch nächste
Woche
780 000 Dollar. If we don¹t
get it we are off. 780000
bis
Mittwoch, 130 000 bis Montag, er ist im Augenblick näher bei
300 000 als bei 200 000,
aber bis Mittwoch 780 000. If
you
want me on 24 hours a day, pay the bill and if you don¹t do
this till Wednesday we will be off, I¹ve got to have 780 000 by
Wednesday, this satellite may be the only free satellite in the
sky, I¹m gonna have 780 000
by Wednesday, you¹re not tel ling
me what you¹r gonna give, if
you can¹t give a iooo
dollars we will never be back on NCN, we have four million
households, king dollar rules down
here ... in this ruthless
jungle, God is in control, I
want to be on His side
... NCN could
sell their time to nonchristian
ministries which pay
more than we can ... I am just tired of being spit on by some
people who are not worth my spit... put me 24 hours a day
on a satellite, I am a
one man university on the air
... God
wants me alone ... where is all the accusation of fraud ... I am
the news ... I am on every night ... I told you so ... this church
has never done anything wrong ... I love to spend money for
Jesus ... give me ten million dollars a day, I¹ll spend ten mil
lion a day, I¹m happy, I¹m the true university in the sky, have
you all understood what I
have said? It¹s time to move and
shut up.
Dann sangen vier Schwarze
leidenschaftlich innig ihre Gospels.
Schnitt auf die Telephonierer, die
jetzt die Anrufe
derer, die tausend oder mehr Dollar spenden wollen, entge
gennehmen. Die Telephonierer sind
fast uniformiert, haben
blauweiße oder rotweiße Mützen auf. Auf den Mützen kann
man lesen: The Doc is in.
Und an der Rückwand erscheint
groß die Schrift: It¹s
not rock around the clock, it¹s
Doc around the clock. Und
noch einmal groß
der Prediger, mit tiefer,
ruhiger Stimme: Where are the 1000dollar pledges, I need 50
of them ...
Gottlieb schaffte den befreienden
Knopfdruck. Dann konnte er Anna
anrufen und sie bitten, daß sie
ihn anrufe.
Kaum, daß er noch die Hotelnummer herausbrachte. Sie rief
sofort zurück. Der Hals also.
Sie war gerade am Heimkom men.
Sie hat endlich einen seriösen
Interessenten für das
Bauernhaus in Wintersulgen. Aber am Anfang wirke ja jeder
Interessent seriös. Also, sein Hals. Kein Wort mehr, bitte. In
die Apotheke. Bienenwachscreme,
Eisentabletten, Fichten
nadelsaft. Und dreimal die Essigwasserwaschung, von Kopf
bis Fuß, besonders die Fußsohlen.
Nachts einen dicken,
engen Krautwickel um den Hals. Dann ist das morgen weg.
Daß er erst anruft, wenn ihm etwas fehlt, ist schlimm genug.
Schlimm genug, Gottlieb! Bitte, jetzt
kein Wort von ihm!
Sobald die Stimme wieder da ist, soll er anrufen. Aber wenn
ihm nichts mehr fehlt, warum sollte er dann anrufen! Wenn
sie also nichts mehr hört von
ihm, weiß sie, es geht ihm
besser. Mach¹s gut. Du furchtbarer
Mensch. Sie wäre ihm dankbar,
wenn er, weil er doch so
schlau ist, wenn er ihr
erklären könnte, warum sie ihn noch hebt. Das ist ein Leiden,
gegen das sie immer noch kein
Mittel gefunden hat. Aber
Wintersulgen hat geklappt. Droben,
hinter Heiligenberg. Weißt du noch?
Im Winter, wir beim Langlauf im
verschneiten Gelände, dann plötzlich quer über den sanften
Hügel das Rudel Wildschweine, und
wir standen und
schauten zu, wie die durch den
Schnee stoben. Wir müssen da
ziemlich fromm ausgesehen haben.
Adieu. Gottlieb
konnte gerade noch Adieu krächzen, dann legte sie auf.
5.
Sie rief an wie aus dem Grab. Und auch noch so, als hörten
die Toten gierig mit, sie müsse
also ganz leise sprechen. In
zehn Minuten kommt sie mit dem
Taxi, er soll, bitte, dann
schon unten sein, vor dem Hotel. Also ins Krankenhaus.
Der Arzt, der alles schon
wußte, plauderte aus seiner
Geschichte, was jetzt paßte.
Wievielen Tenören er schon geholfen
hatte. Aber zuerst mußte Gottlieb
sich ausziehen, seine Kleider auf
einen Bügel hängen, der auch
die Schuhe aufnehmen konnte, mußte
in einen grünlichen Pa tientenkittel
schlüpfen und in ebensolche Hosen,
ums
Handgelenk kriegte er ein Bändchen, an dem ein Schildchen
mit seinem Namen hing. Der
Arzt, der die ankommenden Patienten
auf die dafür geeigneten Ärzte
verteilte, wollte selber einmal
Sänger werden, plauderte über Bei
Canto Technik und war ganz sicher,
daß er für den stimmlosen
Herrn aus Deutschland den richtigen Doktor im Haus habe.
Sie sollten sich entspannen, beide. Bis gleich.
Beate hatte begriffen, daß das
die Vorbereitung war für einen
stationären Aufenthalt. Sie eroberte
die Kleidung zurück, Gottlieb mußte
sich sofort umziehen, sie entkamen,
bevor der Verteiler zurück war.
Und Beate hatte aus einem
jungen vorbeikommenden Arzt auch noch
einen HNOArzt
herausgefragt. In Berkeley. Dr. Matusaka. Ein Japaner. Beate
bezahlte das Taxi, drückte die siebte Etage, verhandelte mit
dem Empfangsmädchen, sie sollten sich
setzen. Es waren
gerade noch zwei Stühle frei. Allerdings zwei schöne Stühle.
Weiß, und geschwungen und geknickt, dann wieder gerade.
Es war eng. Gottlieb schob¹s auf die Quadratmeterpreise. Er
und Beate würden unter solchen Umständen nicht sprechen.
Aber Beate suchte seine Hand. Niemand sagte etwas, nur das
Mädchen mit dem verbundenen Ohr.
Sie sprach ungeniert
laut. We have seen Indian houses. Totems. Seals floating on
icebergs. Dolphins. Mating. All
exciting. Was für eine Sprache!
Dolphins. Mating. Dieses Mädchen war
so beson
ders, wie die Frau, der sie erzählte, gewöhnlich war. Miche
langelo hätte aus diesem großäugigen,
schlaksigen, lang gliedriegen Ding einen
unsterblichen Buben gemacht. Aber,
dachte Gottlieb, das wäre schade
um dieses Mädchen. Wie beschränkt
ist das Leben. Dolphins. Mating.
Und nie wirst
du mit diesem Mädchen auf der hier üblichen Holzveranda
sitzen, nie mit ihr durch die
Eukalyptuswälder traben ...
Beate signalisierte an seiner Hand, daß sie auch noch da sei.
Also löste er seinen Blick von diesem langen Hals und dem
halblangen Haargewell. Zum Glück
wurde sie jetzt hin
eingerufen. Catherine. Und wie sie hineinging. Drei Schritte.
Aber die wie auf einem Sandstrand. Als sinke sie bei jedem
Schritt ein und müsse sich dann hochstemmen, strecken. Als
sie wieder herauskam, ging sie,
alle grüßend, hinaus. Gott
lieb durfte sich auch gegrüßt fühlen. Dann wurden, obwohl
sie noch nicht dran waren, er und Beate hineingerufen.
Dr. Matusakas Sprechzimmer war eine
überfüllte Kabine.
Der Doktor war entsprechend klein und zart und leise. Eine
Art Astronautensitz nahm Gottlieb
auf. Dr. Matusaka dik
tierte, was er feststellte, in ein Mikrophon, das er als schwar
zen Knopf an seinem
eierschalenfarbenen Mäntelchen trug.
Als er dem Mikrophon alles gesagt hatte, sagte er alles noch
einmal in unärztlichem Englisch. Und immer sprach er auch
zu Beate, weil er gemerkt
hatte, daß sie ohnehin dem
Patienten nachher alles noch einmal in seiner Sprache sagen
mußte. Daß der Patient über
seine Stimmbänder so gut wie
nichts wußte, hatte er sofort
erkannt. Also: Eine adoptive
Asymmetrie des linken Stimmbandknorpels und eine inkom
plette Lähmung der linken
Stimmbandlippe. Vielleicht sind
von einer Grippe Toxine zurückgeblieben, vergiftete Eiweiß
stoffe, und haben den langen
Stimmbandnerv angegriffen.
Vielleicht war eine Verletzung die Ursache. Der Stimmband
nerv, Recurrens genannt, sei mehr
oder weniger funktions unfähig. Dieser
Nerv reicht vom Kopf herab und
um das Herz herum; das Embryo
hat das Herz noch im Hals,
dann
senkt sich das Herz und nimmt den Recurrensnerv mit. Der
geht dann um das Herz, um
die Aorta, um die Speiseröhre
herum, bis er den Muskel des Stimmbands bedient. Für eine
Lähmung oder Teilweiselähmung kann es
viele Ursachen geben: von einer
Schilddrüsenvergrößerung bis zum Carci
nom. Was tun ? Antibiotika auf jeden Fall. Eine Thoraxrönt
gung auch auf jeden Fall. Eine Computertomographie auch.
An der Universitätsklinik hat ein
Professor ein Verfahren entwickelt,
das es ermöglicht, in den
Stimmbandmuskel einen Sender einzusetzen,
der genau meldet, wieviel das
Stimmband noch bringt. Dr. Matusaka hält das hier nicht für
nötig. Das rechte Stimmband des
Patienten ist erstaunlich
gut trainiert, es kommt mit seinen Schwingungen bis an das
linke hin. Aber natürlich sind, um die Carzinomvariante zu
klären, Aufnahmen, Röntgen und Tomographie, unerläßlich.
Und sofort Antibiotika, um die
möglicherweise von einer Virusgrippe
verursachte Sekundärinfektion zu stoppen.
Der Patient soll jetzt nicht
nichts reden. Er soll sich um
Gottes willen jetzt nicht aufs
Flüstern reduzieren. Weder brüllen
noch flüstern. Einfach reden. Er,
Dr. Matusaka, habe unter seinen
Patienten einen Pfarrer, der an
ähnlichen Beschwer den leide, der
sich aber jede Aufklärung über
seine Symp
tome verbiete. Er will darüber nichts hören. Er tritt für seine
Kirche dreimal pro Woche im
Fernsehen auf. Vor jedem Auftritt
läßt er sich eine leichte
Strychninspritze geben, die
tonisiert dann die Stimmbänder so, daß sie ein paar Stunden
funktionieren.
Gottlieb war sicher, daß der
Arzt von dem bärtigen Geld
forderer mit der schief sitzenden Mütze sprach.
Mr. Krall, sagte der Arzt, muß
um eine rasche und voll kommene
Aufklärung bemüht sein. Er, Dr.
Matusaka, kann das organisieren.
Seine Diagnose bis dahin: eine
idiopathi sche, kryptogenetische Recurrensparese.
Beate sagte, das
müßten sie und ihr Freund erst einmal verdauen. In Gottlieb
war inzwischen ein solches Zutrauen
zu diesem zarten Japaner gewachsen,
daß es ihn richtig schmerzte,
sich jetzt einfach und für
immer verabschieden zu müssen. Der
gab
noch den Rat, einen halben Ton tiefer zu sprechen, sich das
anzugewöhnen, immer einen halben Ton
tiefer, und er werde sich
wundern, wie heilsam das sei.
Wir sprächen ja alle andauernd
viel zu hoch. Und lächelte.
Gottlieb hatte sofort das Gefühl,
dieser Rat sei überhaupt das
Wichtigste gewesen. Draußen bezahlte
er die bescheidene Rechnung. Das
Mädchen am Computer druckte, was
der Doktor
verschrieben hatte, aus und überreichte Beate das Rezept.
Als sie unten auf der Straße
waren, bat Gottlieb, Beate möge
Passanten nach einem Gemüsesupermarkt
fragen.
Dazu das Geständnis, daß er Anna angerufen habe. Dazu das
Geständnis, daß sich Anna schon
vor zehn Jahren zur
Heilpraktikerin habe ausbilden lassen, die Prüfung gemacht
habe, aber nicht praktiziere. Sie
sei einfach neugierig ge
wesen, habe das Gefühl gehabt, in der Schule das Wichtigste
nicht erfahren zu haben. Sie
werde inzwischen von immer mehr
Leuten um Rat gefragt. Irgendwann
werde sie dafür Honorar nehmen.
Der Immobilienhandel profitiere von
der
Naturheilkunde. Das ist Annas Begabung: zu entdecken, wie
Immobilienhandel und Naturheilkunde
zusammenpassen. Jeder zweite Kunde
ist krank, sagt Anna. Koliken, Magen
bluten, Blutspucken, kommt alles vom
Penicillin. Und ohne vorherige
Auspendelung der Wasseradern, der Kreuzungs
quadrate, der Globalgitter und der
Diagonalgitter und der HartmannStrahlen
übernehme Anna sowieso keinen Auftrag
mehr. Jetzt also eine Nacht mit
Krautwickel. Das
habe Anna, sagte Beate, gegen sie verordnet. Daß er und sie
nicht mit einander schlafen können. Eine Nacht weniger. Er
mußte Beate aufklären, daß sie
wenigstens ahne, wer Anna
auch noch ist: Anna hat irgendwann gemerkt, daß sie durch
die Schwächen ihres Privatgelehrten
genötigt worden war,
den Immobilienhandel ernst zu nehmen. Und als das passiert
war, ist in ihr per Dialektik
die Rettungskraft erwacht und
gewachsen: die Naturheilkunde. Völkle
und Krezdorn, das
sind ihre Herkunftsfamilien, in beiden Familien gab es über
die Gegend hinaus bekannte
Naturheilkundige. Der letzte,
ein Vetter Leonhard aus Simmerberg oder, wie er sich selber
nannte, Leonhard von Simmerberg, der ist ins Haus gekom
men, hat die verstörte Regina
geheilt, Anna hat sich, bevor
sie ihre Ausbildung begann, für
drei Wochen bei ihrem Vetter
Leonhard in Simmerberg einquartiert
und hat von dem alles
übernommen, was sich bei dem
aus den Natur
heiltraditionen ihrer und seiner Familie angesammelt hat. Sie
hat von ihm, weil er sich
zu alt fühlte, den Leinensack
und die Kupferrute übernommen. Hat
aber vom PendelLehr
gang in Einsiedeln die TechnoVersion der Rute mitgebracht:
Doppelantenne mit Kugelgelenk. Und
als sie beobachtet
hatte, daß Magda nur noch kauernd schlief, die Beine ange
zogen, Knie fast am Kinn, hat sie gependelt, danach das Bett
einen Meter verschoben, Magda schlief
ab sofort gestreckt.
Es gehört sicher nicht zum Beweisbaren und trotzdem ist es
Faktum: Anna hält andere dadurch am Leben, daß sie an sie
denkt. Beate lachte und sagte:
Dann kann sie durch
Darandenken auch töten. Gottlieb sagte: Logisch.
Es war dann eine gewaltige
Halle, japanisch geleitet,
Gemüse und Früchte in farbigen Bergen. Dazwischen Kraut
zu finden, war nicht leicht.
Daß es so viele Früchte und
Gemüsearten gibt, die er noch nie gesehen, deren Namen er
noch nie gehört hat! Aber sie
fanden das Kraut. Und keine
Apotheke gesucht. Ihm genügte es, Bescheid zu wissen. Aber
im Hotel suchte er im Webster
idiopathic. Da stand:
Gr. Idiopatheia, feeling
for oneself alone, designating or
of a disease
whose cause is unknown or uncertain. Beate bat er, daß sie zum
Abendessen in den Faculty Club gehe. Sie gehört zum staff.
Das muß sie demonstrieren. Sie
darf nicht als Kranken wärterin des
deutschen Durchgefallenen figurieren. Er
werde, egal, wie seine Stimmbänder
sich benähmen, an keiner
Veranstaltung, auch an keinem Essen
mehr teilneh men. Bitte, keine
Mitleidsgesten jetzt. Er fühlt sich
im Zim mer wohl, vielleicht geht
er noch über die Straße in
ein Bistro. Sie soll dort
bleiben, solange das dort geht.
Beate
wollte das nicht einsehen. Wenn er fernbleibe, demonstriere
er eine Niederlage, die es
nicht gab, dank Patricia. Er
muß mit hinüber, Patricia umarmen,
hellauf lachen über die
dümmliche Polemik dieses und jenes Teilnehmers, vor allem
über die unfaire Moderationspolitik
Rick Hardy¹s. Gottlieb
deutete auf seinen Hals. Lachen, hellauf, womit?!
Sie ging, sagte aber, daß sie
sich nur noch darauf freue,
zurückzukommen. Sobald sie in ihrem
Zimmer sei, rufe sie an und
bitte ihn dann, flehe ihn dann
an, sofort zu ihr hinüberzukommen.
Zur Hauptsache, sagte sie und
lächelte lasziv, aber so, daß
klar wurde, sie parodiere eine Film
prostituierte, aber es sei ihr auch danach.
Er konnte sich nicht entschließen,
sich jetzt einen Kraut
wickel anzutun. Er rief das LufthansaBüro an und verlegte
den Rückflug vom 13. April auf
den 6. April. Exchange fee
150 Dollar. Es war, als habe er eine Last abgeworfen. Er hätte
fast übermütig werden können. Am
liebsten hätte er gepfiffen. Aber
summen mußte er. Anna informieren,
nein, das noch nicht. Zuerst
mußte er Beate mit diesem Datum
vertraut machen. Sie würde
protestieren. Mehr als protes tieren.
Diese Umbuchung war aber notwendig
geworden. Wenn er je mit sich
selber übereinstimmte, dann jetzt. Er
würde mit Beate am Sonntagabend nach Chapel Hill fliegen,
wie geplant. Aber dann, statt
zwei Wochen, eine. Diese Woche
würde ihm schwer genug fallen.
Das hatte nichts oder wenig zu
tun mit der Reaktion auf seinen
Vortrag. Auch wenn sie ihm
zugejubelt hätten, hätte er umbuchen
müssen. Die Niederlage in der
Dwinelle Hall kann er ertragen,
er muß sie nicht mildern. Ein
Deutscher will den
Deutschen mit Hilfe des radikalen Moralrealisten La Mettrie
einen Freispruch erschwindeln! Daß La
Mettrie auch für Deutsche in
Frage kommen muß, darf er gar
nicht denken.
Hat er auch gar nicht gedacht. Darauf hat ihn erst Mr. Hardy
gebracht. La Mettrie behauptet, es
gebe nichts Unmensch licheres, nichts
Lebensfeindlicheres als remords. Das
würde natürlich auch für den
Umgang der Deutschen mit ihrer
Vergangenheit gelten. Aber das hat er nicht gesagt. Er müßte
dann nachweisen, daß es eine
Schuld gibt ohne Schuld gefühle. Kein
bißchen weglügen, nichts verkleinern,
und trotzdem kein Schuldgefühl, keine
remords. Das ist ein
anderer Vortrag. Ein Vortrag, den er nicht gehalten hat, den
zu halten er nicht wagen kann.
La Mettrie hatte keine Erfahrung
mit dem Gedächtnis. Inzwischen wacht
das
Gedächtnis über das Gewissen. Ob das lebensfeindlich ist, ist
dem Gedächtnis egal.
Im Bistro aß er eine Salatplatte und ein PastramiSandwich
und trank ziemlich viel Bier.
Dann kaufte er sich noch eine
Flasche Bourbon. Den würde er
an diesem Abend trinken. Ihm
war nach Bewußtlosigkeit. Er war
zwar ganz und gar einverstanden
mit sich, aber er wußte nicht,
wie er sich
anderen verständlich machen sollte. Beate, zum Beispiel. Am
liebsten hätte er Beate jetzt
einen Abend lang, eine Nacht
lang von Anna erzählt. Er mußte
ihr den Traum erzählen,
den er noch in der letzten Nacht daheim geträumt hatte: Er
sah sich scheißen, sollte in
ein tuchenes Gefäß treffen, verfehlte
es, aber Anna zog seine
Kotstange durch die
Tuchwand durch, alle Unreinlichkeit war vermieden. Sobald
sie sein Zeug durch die bereitwillig sich öffnende Tuchwand
durch hatte, fing sie an, mit
ihren Händen in dem Kot zu
fingern, zu suchen und dazu
sagte sie: Oh, was haben wir
denn da? Bei wem war er
denn jetzt wieder? Und hatte
offenbar Beweise in ihren Händen,
Beweise für seine
Untreue mit einer Frau, die zu nennen nicht mehr nötig war.
Nach diesem Traum war Gottlieb
in einer Stimmung vollkommener
Trostlosigkeit aufgewacht. Er fieberte sozu
sagen Tag und Nacht seinem Abflug entgegen. Dann dieser
Traum. Dieser Traum vernichtete alles.
Jede Zukunft. Jede Gegenwart. Er
wußte nicht, warum.
Aber er fühlte sich vernichtet. Anna hatte das bemerkt, hatte
gefragt, was ihm fehle. Welch
eine Frage, hatte er gedacht.
Gesagt hatte er: Ein Traum, den ich dir nicht erzählen kann.
Sie hatte gesagt, sie habe auch
geträumt. Da er nicht nach
ihrem Traum fragte, hatte sie gesagt, sie wisse, daß ihn ihre
Träume nicht mehr interessierten, da
er jetzt auf andere
Träume abonniert sei − womit sie bewies, wie erfolgreich sie
ihn überwachte −, aber sie sage
ihm trotzdem, was sie geträumt
habe. Sie sei im Traum
geohrfeigt worden. Von einer ihr
unbekannten Frau. Und als sie
gefragt habe,
warum, habe diese Frau gesagt: Weil sie sich von dem habe
heiraten lassen. Gottlieb hatte
gesagt, genauer könne man nicht
träumen. Bis zu den ten o¹clock
news hatte er die
Flasche Jim Beam fast ausgetrunken. Er hatte das Gefühl, der
Bourbon gebe ihm die Kraft,
allein zu sein. Er konnte sich
gehen lassen. Er hatte nichts
dagegen zu denken, wie er
dachte. Wie es dachte. In ihm.
Bitte. Ich lasse euch alle
köpfen. Nicht gleich. Aber später.
Bis dahin schmeichle ich euch.
Auf eine begabte Art. Ich will
den äußersten Effekt. Kein Argwohn
mehr. Ihr müßt mich für total
gezähmt
halten. Ich gehöre dazu. Auf mich kann man sich verlassen.
Ich trage dazu bei, daß das
System erfolgreich ist. Immer noch
erfolgreicher. Immer noch legitimer.
Vor allem das: legitimer. Das
ist meine Hauptarbeit: Legitimitätsbeschaf
fung. So gut ich eben kann.
Davon lebt ja das System, daß
jeder da, wo er leibt und
lebt, das Großeganze legitimiert.
Dann laß ich euch alle köpfen. Das wird eine Überraschung.
Das hättet ihr nicht gedacht.
Andererseits gibt es nichts
Konformeres, Typischeres als mich.
Macht alles mit und sinnt auf
Vernichtung dessen, was ihn gemacht
hat. Ich
glaube, ich bin der Inbegriff dieses Systems. Dieser Westwelt.
Ich bin wahrscheinlich längst
Amerikaner. Nicht wirklicher Amerikaner,
der daheim ein liebwerter, begabter
Nachbar
ist, sondern SystemAmerikaner, IdeologieFuzzi. Im Reprä
sentanten verliert sich nach oben
hin alles, was an Ort und
Stelle liebenswürdig war. In mir kommt das System zu sich
selbst. Die vom System in jedem produzierte Feindseligkeit,
in mir erscheint sie, bricht
sie heraus. Ich werde das
Signal geben, auf das hin alle
losstürmen, die, ohne sich mit
einander verständigen zu müssen,
gewartet haben. Und in einem
einzigen Augenblick liegt alles in
seinem Blut. Ein
Riesenmord in Nullkommanichts. Die Flasche war jetzt leer.
Wieder dieser Wunsch, Alkoholiker zu sein. Das, was er jetzt
fühlte, immer zu fühlen. Diese uneingeschränkte Sichselbst
überlassenheit. Nichts Verlogeneres als
das Gerede von der
Verantwortung. Damit halten sie uns unter der Fuchtel, und
selber leben sie drauflos. Das
ist das Schöne, das Drauf losleben.
Photographiert wird die
Verantwortungsvisage in
Hochglanz oder achtbändig.
Als sie anrief, ihn hinüberrief zu sich, kam er sich betäubt
vor. Oder wie betäubt. Er lächelte zwar, als er eintrat bei ihr,
aber lebloser als dieses Lächeln
konnte nichts sein. Das
spürte er. Und sie sah es auch. Er hatte die BourbonFlasche
in der Hand. Hielt sie gegen
das Licht. Da war noch etwas
drin. Eine BourbonFlasche ist nie
ganz leer. Beate lag auf
dem Bett. Im Kimono. Er setzte sich auf den Bettrand, nahm
ihre Hand wie ein Arzt. Ihr
Mund schien jeder Fassung
entglitten. Zorn oder Tränen, etwas anderes konnte er wohl
nicht produzieren in ihr. Lieber
Zorn. Er dachte an Anna.
Das war ihm, als er allein in seinem Zimmer war, gar nicht
so deutlich geworden: Er wollte zu Anna. Die im Kimono, da
auf dem Bett, diese junge Frau
produzierte in ihm den Wunsch,
bei Anna zu sein. Seine Sinne
sind seine Philo sophen!
Und, sagte er.
Beim Essen sei nicht mehr über
Mr. Krall gesprochen worden, kein
Wort mehr über Rise to the
occasion. Zum Glück. William Blondel
sei gefeiert worden, Machine and
Moral. Nur Rick habe, neben ihr
sitzend, schnell einmal
herübergefragt: Lebt er noch.
Als Gottlieb nach der Flasche greifen wollte, die er auf dem
Nachttisch abgestellt hatte, war sie schneller als er. Sie setzte
die Flasche an den Mund, trank
sie aus, als sei es Mine
ralwasser, und sagte: Du kriegst
nichts mehr von diesem
Zeug.
Er sagte: Zu spät.
Aber jetzt hatte er eine Rolle.
Der Betrunkene. Von lauter
Mißlichkeiten getroffen, hat er zur
Flasche gegriffen, und jetzt ist
er eben betrunken. Sie zog ihn
zu sich. Schließlich
hatte er dann doch nichts mehr an. Sie glaubte offenbar fest
daran, daß ein Mundbehandelter zu allem, was man so von
ihm verlange, im Stande sei. Er konnte sich nicht verkneifen,
das mit Hiesigem zu kommentieren.
Gottlieb war ja gierig auf
amerikanische Prägungen, die im
Deutschen nicht zu schaffen waren.
Tatsächlich interessierte er sich
hier weder
für Gebäude noch für Brücken, sondern nur für das, was die
Menschen zu sagen vermochten. Daß
er keinmal den Investor¹s Business Daily
ausließ, war er Anna schuldig.
Gerade hatte er im Fernsehen
einen Ausdruck aufge schnappt,
den er, als Beate sich
in ihrer Zuwendung verlor,
einfach aufsagen mußte: Oral communication skills.
Sie ließ sich nicht stören.
Also probierte er selber weiter:
Oral proficiency. Sie bewies ihm, daß im Augenblick Sprache
nicht gefragt war. Es siegte
das amerikanischerotische
Leistungsprinzip. Rücklings auf ihm lag sie jetzt. Als komme
es darauf an, daß sie beide
vom selben Punkt aus in den
Himmel beziehungsweise zur Zimmerdecke hinauf starrten.
Und darauf kam es eigentlich
auch an. Wie zur Justierung,
daß sie wirklich von einem Punkt aus hinaufstarrten, steckte
sie sich das geträumte Unding
hinein. Jetzt waren sie
aufeinandergenagelt, sahen gemeinsam nach
oben. Al lerdings gab es da
oben in der weißen Zimmerdecke
nichts
zu sehen. Aber das war doch auch etwas. Fand Gottlieb. Und
als alles offenbar gut ausging,
sagte sie: Know the score.
Gottlieb war zu wenig Sportsmann,
um jetzt sofort mit
Zahlen reagieren zu können, also sagte sie: Fünf zu vier. Für
sie. Als man wieder bei Atem
war und immer noch zur Decke
statt einander in die Augen
schaute, sagte sie, ihre
Organisiertheit, La Mettriesch gesprochen,
sei schon ein
Jammer, ausgerechnet bei ihrer Lieblingsbeschäftigung habe
sie immer Schwitzhände und diese
kalten Füße. Gottlieb
holte sie schnell neben sich, drehte sich zu ihr hin und küßte
ihr den Mund zu, daß sie
nicht weitere Nachrichten dieser
Art spenden konnte. Aber er war auch hingerissen vom Tat
sächlichkeitsniveau dieser Mitteilung. Er mußte ihr das auch
sagen.
Ich bewundere dich, sagte er.
Sie: Das darfst du. Besonders
wenn du noch dazusagst,
warum.
Wenn er es ihr auseinanderlege, Gründe formuliere, bleibe
von der fühlbaren Wucht seiner
augenblicklichen Bewun
derung nur noch eine Inhaltsangabe. Er bewundere sie, weil
sie durch eine solche glanzlose Mitteilung ihn und sich selber
geradezu zusammenschmelze. Mehr Intimität als durch eine
solche Schwitzhände und KalteFüßeMitteilung
gibt es überhaupt nicht.
Als er ihr und sich seine
Hingerissenheit und Rührung so
aufsagte, riß er sich noch
einmal hin und sie dann auch.
Diesmal war er es, der sagte:
Know the score. Er fand al
lerdings, es sei höchste Zeit, daß sie wisse, was er hier brin
ge, sei nicht seine Normalform,
sondern das Ergebnis eines fast
schon epochalen Staus. Also eine
Ausschüttung von
Angespartem, aber dann Hochverzinstem.
Diese Mitteilung war auch eine Folge ihrer Mitteilung über
Schwitzhände und kalte Füße. Er hatte zwar ihre Mitteilung
stürmisch begrüßt, aber ihm selber war der Eifer, mit dem er
die Begeisterung über soviel
Offenheit ist gleich Nähe
produziert hatte, verdächtig. Er hatte den Schrecken nieder
reden müssen, den ihre Mitteilung
auch bewirkt hatte. Wirklich nicht
nur Schrecken. Sie lag inzwischen
daumen lutschend an ihm. Wie hätte
er da nicht an Regina denken
müssen! Und sagen mußte er ihr
das auch. Auf Regina, die zwei
Jahre jünger war als sie, war
sie nicht eifersüchtig. Er brauchte
jetzt das Reginaleben. Er floh
ins Reginaschicksal.
Von Julia wußte Beate soviel, von Regina so gut wie nichts.
Du kannst ruhig weiter
daumenlutschen. Regina hat von allen
seinen Kindern am längsten und
heftigsten daumen gelutscht. Jetzt ernährt
sie einen Künstler, einen Bildhauer,
der sich weigert, Aufträge
anzunehmen. Für ihn wäre das
Prostitution. Er formt nur Kugeln, setzt alles, was er macht,
aus Kugeln zusammen. Menschen, Pferde, Wale, Geier oder
Ideen, er kann alles aus Kugeln
bilden. Er nennt sich: mystischer
Bildhauer und Sphärist. Eines Tages
wird die Welt sein Atelier
stürmen und ihm alles aus den
Händen reißen, bevor es fertig
ist. Bis dahin muß Regina ihn
ernähren. In einer Agentur für
Zirkusartisten arbeitet sie. Und das
in Wien. Am Telephon klingt
sie, als mache es nichts als
Spaß, ein Genie zu ernähren. Er
hält es für eine Auszeichnung,
ihn ernähren zu dürfen. Und
Regina fühlt
sich ausgezeichnet. Der Sphärismus wird für eine noch nicht
absehbare Zeit die Kunstszene
beherrschen. Die Kugel ist nun
einmal das einzige Vollkommene
überhaupt, Leben konnte nur auf
einer Kugel entstehen, Uwe Seeler
hat es
goldrichtig formuliert: Das Geheimnis des Fußballs ist ja der
Ball. Gottlieb hatte dem Sphäristen einmal einen Abend lang
zugehört, seitdem begriff er, warum
Regina bereit war, ihr Leben im
Leben des Sphäristen beziehungsweise
im Sphärismus auf oder vielleicht
auch untergehen zu lassen. Die
Unbedingtheit, mit der der an
sich glaubte. Nein, nicht an
sich, sondern an den Sphärismus.
Er ist nur das
Werkzeug. Das Unbedingte wirkt. Ohne Inhaltskram. Regina
sagt, wenn sie nach ihrem Beruf
gefragt wird: Himmel stürmerin. Rosa
hat Theologie studiert, Magda Mehrwert
steuer, Julia Japanisch. Errungen
wurden ein Sphärist, ein
Pastor, ein fahnenflüchtiger USFarbiger und einer, der außer
Alkohol alles verweigert. Als er
merkte, daß Beate einge
schlafen war, konnte er aufhören.
6.
Das hat sie geschafft. Sie hat ihn und sich von Berkeley nach
Chapel Hill in die Rosemary
Street gebracht, ohne daß sie
von einem anderen La MettrieMenschen gesehen
worden sind. Sie hat geglüht
vor logistischer Konzentra tion. Gesehen
zu werden mit ihm wäre für
sie sozusagen tödlich. Sie flöge
aus dem Ph.D.Programm, verlöre ihre
sowieso andauernd gefährdete Lehrstelle
und so weiter. Jetzt, nachdem
er als deutscher Schuldleugner
entlarvt ist, erst recht.
Als sie in ihrem EinzimmerApartment die Türe hinter sich
zugemacht hatten, ließ sich Beate auf ihr hellbeiges Sofa, das
von einer Mörderin gekaufte, fallen
und sagte: Dich vor hundert
Jahren durch ein Indianergebiet zu
bringen wäre sicher ein Kinderspiel
gewesen dagegen. In welche Risiken
sie seinetwegen geriet! Und? Fühlt er sich jetzt, bitte, daheim
hier? Und das sofort, bitte! Und ganz und gar! Schau, das ist
Schwesterlein Bettina. Die, die den besseren Namen erwischt
hat. Aber sie werde jetzt über Beate J. allmählich zu Juliette
B. übergehen. Aber das erst nach der Diss, oder mit der Diss.
Bettina am Hochzeitstag. Die schönste Verlegenheit der Welt,
der Gesichtsausdruck auf dem Hochzeitsbild. Wann heiraten
wir, Sylvandre? Der ostwestfälische
Samenhändler, jetzt Progammierer bei
Star Money, Hamburg,
schaut, verglichen mit Bettinchen,
ganz plattplanfrech in die Welt.
Hallo!!
Gottlieb nickte so eifrig, wie er immer nickte, wenn er mehr
Eifer zeigen mußte, als er hatte. Daß er das blaue Cordhemd
nicht mitgebracht habe, bleibe
unverzeihlich. Und sah ihn
theatralisch kritisch an. Graduate
Studentin erschießt deut schen Referenten,
sagte sie in der Tonart, in
der sie immer ihre Schlagzeilen
intonierte. Er mußte mitspielen, also
sagte
er: Grund? Sie: Rohes Vergessen des Augenblicks der Liebe.
Vergessen des Sonnenblumenaugenblicks. Er
dachte daran, daß die runde
umflammte Sonnenblumendunkelheit ihn an
Annas Augen erinnert hatte. Seitdem
waren Annas Augen nicht mehr
das Meer, sie waren die
Sonnenblumendunkel heit.
Dein hellblaues Cordhemd und meine
Sonnenblume, das
war¹s überhaupt, sagte Beate. Das war doch van Gogh. Daß
er in der Zeit der Trennung
gelegentlich gesagt habe, die
Sonnenblume sei immer noch nicht im Müll, habe in ihr jedes
Mal wie ein Gefühlsschub gewirkt.
Zu solchen poetischen
Erfindungen sei nur die Liebe fähig.
Jetzt mußte er ihr doch sagen,
daß ihre Sonnenblume wirklich noch
im Wasserkrug stehe und auch
noch leuchte.
Auf der Fensterbank. Die Terrasse sei ja doch eine warme ins
Haus hineingebaute Nische. Den Rest
müsse Anna bewirkt
haben. Natürlich, sagte sie, Anna, die Hexe. Daß du sie, war¹s
an dir gewesen, verbrannt hättest,
ist mir klar, sagte er. Er
habe sich gehütet, sich über das Fortleben der Sonnenblume
zu deutlich zu wundern. Bitte,
wenn Anna träumt, daß es
Julia schlecht gehe, ruft sie morgens an und hört, Julia wisse
vor Magenschmerzen nicht mehr ein
noch aus, überhaupt
nicht mehr liegen könne sie, nur noch in der Hocke kauern,
Anna diktiert: RingelblumenTee, dreimal
Heilerde, und
geheilt ist Julia. Anna, die Zaubererin, sagte Beate. Und gab
ihm eine sanfte Ohrfeige. Ja,
sagte er, schlag mich ruhig.
Aber ich glaube, Anna hält
deine Sonnenblume am Leben,
solange wir, du und ich, einander lieben. Und wenn du mal
morgens vom Bett aufstehst und
tot umfällst, wissen wir, daß
Anna aufgehört hat, an dich zu
denken, sagte sie. Und
grinste. Und sagte: Der schönste Augenblick dort sei der an
der Gartentür gewesen, als die Tür so grell kreischte. Ob er
die inzwischen geölt habe, daß sie nicht mehr kreische? Hat
er nicht. Sie hätte ihn, wenn er dieses Kreischen aus der Welt
geschafft hätte, jetzt sofort hinausgeschubst, daß er die Nacht
im University Motor Inn verbringe.
Was denkt sie eigentlich von ihm! Sie habe doch gesagt, das
Kreischen sei so schön schrill und habe bei schrill drei l¹s lang
ihre Zungenspitze so entblößt, daß
er sofort an ihr hinunterschauen
mußte und erst wieder Halt fand
an dem Schlangeniedermuster ihrer
Schuhe. Was heißt schon Halt.
Er fühlte sich hineingestoßen in
den Dschungel des Lebens. Aber in
einen raffinierten Dschungel. Nachher
habe er versucht, ihre
hochmanierierten Absätze zu zeichnen.
Das
ging nicht. Nicht weil er zu unbegabt sei, sondern weil Anna
in jedem Augenblick hereinkommen
konnte. Und auf alles,
was nicht eingeführt ist zwischen ihr und ihm, reagiert Anna
mit Fragen. Und vor denen, sagte Beate, hatte mein Feigling
Angst. Ich liebe dich trotzdem,
sagte sie. Und wie! Wann
heiraten wir?
Jetzt packen wir zuerst einmal
aus, sagte er. Aber dann
packte nur sie aus. Er konnte nicht. Er hätte ihr doch längst
den Traum mit dem Anwaltmädchen erzählen müssen. Den
Traum in der Nacht, bevor sie
kam. Dazu war es jetzt zu
spät. Er sah zu, wie sie die Kleider und Kleidungen, die sie in
Kalifornien nicht getragen hatte,
wieder dem Schrank
anvertraute. Er hätte jetzt am liebsten gesagt, dieses Kleider
aufhängen erinnere ihn an Anna. Er mußte sich beherrschen.
Anna und Beate hatten einiges
mit einander gemein. Das
Lichtbrennenlassen, das Wasserlaufenlassen,
den Herd und
das Bügeleisen eingeschaltet lassen auch. Und Anna konnte
soviel, was sie nie gelernt
hatte. Beate auch. Da waren sie
einander näher als ihm. Er konnte soviel nicht von dem, was
er gelernt hatte. Er mußte
jetzt sagen − und er intonierte
deutlich tiefer −, er habe in Kalifornien etwas versäumt. Sie:
Jetzt sag es schon. Er habe,
sagte er, im Fernsehen gehört,
daß Selbstmord in Kalifornien noch
nie als strafbar galt. Er mußte
jetzt einfach düster daherreden. Er
wollte ihr
mitteilen, daß er den Rückflug eine Woche vorverlegt habe,
also nur eine Woche in Chapel
Hill bleiben könne. Und
schaffte es nicht. Nahm einen zweiten Anlauf: Was wollte ihr
Mr. Hardy mit dem EliotZitat,
große Dichter stehlen,
schlechte kopieren, was hatte das mit seinem Vortrag zu tun?
Und sie: Weiß der Geier. Ihm
fiel auf, daß er sagen würde:
Weiß Gott ... Gott durch Geier
zu ersetzen, hielt er für
übertrieben. Dazu fiel ihm ein, weiß Gott, warum, daß sie in
der Stunde ihrer Ankunft gesagt
hatte, sie sähe jetzt sicher
aus wie Wum, sie sei eben
ein LoriotFan gewesen, und in
der ersten Nacht, das fiel ihm jetzt auch, Gott weiß, warum,
ein, als sie auf ihm saß und zum ersten Mal diesem Zwang,
alles in Schlagzeilen auszudrücken, nachgab, hatte sie gesagt:
Frivole Studentin fickt Forscher zu
Tode. Sein Gedanken
zwang produzierte jetzt, daß Anna niemals Gott durch Geier
ersetzen würde. Dazu kann man
doch nur sagen: Na und?
Wie anders verliefe jedes Leben, wenn man jedem den Text,
der ihm gerade durch den Kopf geht, ansehen würde. Nicht
nur ungefähr, sondern exakt im
Wortlaut. Da würde man
wahrscheinlich ganz anders denken. Vielleicht sogar freund
licher. Man würde schon in Gedanken lügen. Das muß man,
wenn man sich zu hüten hat,
ohnehin tun. Beim ersten
Frühstück im Durant, das sie, um nicht gesehen zu werden,
auf sein Zimmer kommen ließen, hatte sie, als er sie anschau
te, gesagt: I can read your mind. Darauf hatte er tatsächlich
mehr als einen Augenblick lang
nicht mehr gewußt, was er
denken sollte. Wenn wenigstens die
Augen so angebracht
wären, daß man sich auch selber andauernd sähe, vor allem
das eigene Gesicht, beim Sprechen,
dann unterbliebe viel. Andererseits
hat Rousseaus dreißig Jahre älterer
barbou mit
Recht die schlimmste Folter darin gesehen, sich selber so zu
sehen, wie Sara ihn sieht. Und Anna mutet er sich zu. Noch
und noch. So gut wie nie denkt er daran, daß er, wenn sie ihn
anschaut, genau so alt ist, wie wenn Beate ihn anschaut. Laß
mich gehen, hätte er jetzt an
liebsten zu Beate gesagt. Zum
Glück hatte er auf dem Flughafen RaleighDurham noch eine
Flasche Bourbon gekauft. Man sah ihr an, daß sie, als sie ihn
zum Bourbon übergehen sah, daran dachte, ihm die Flasche
wegzutrinken. Sie spürte, daß er
sich wieder in die alkoho lische
Unbelangbarkeit retten wollte. Er
hätte ihr gern die
Stellen aus den Briefen an Sara vorgelesen. Statt dessen sagte
er, dieser Bourbon überrasche ihn jedes Mal wieder, der sei
einfach gut. Und sie: Calvados ist besser. Das war die falsche
Fährte. Die WeißtdunochFährte. Allein
sein, und nichts anderes wollen.
Das schwebte ihm vor als
Stimmung. Und ganz akut beherrschte
ihn das Wort Studentenbude. Das
Zimmer war durchaus ein Zimmer, aber die Liege war kein
Bett, das Sofa Trödel, das
Sofatischchen ein aus einem
Schiffbruch stammendes Brett auf
Pionierzeitklötzen, der
Arbeitstisch ein romantisches Gestell. Ausschlaggebend war
immer das Klo. Als er noch mäkelte. Zeige mir dein Klo, und
ich sage dir, wer du bist. Davon kam er nicht los. Ihr Klo war
simpel, sauber, ambitioniert, roch
leicht nach Zimt: wollte letzten
Endes kein Klo sein. Gesamteindruck:
lieb. Gottlieb
Zürn in einer Studenten ... nein, in einer Studentinnenbude.
Er wollte sagen: Wir tun einander weh, nur weil wir sind. Er
war froh, daß er das nicht sagen mußte. Turpe senilis amor.
Das konnte er auch nicht sagen.
Alles, was er sagen wollte,
würde, wenn er es sagte, wie eine Ausrede klingen. Er wollte
das Ende verschwiemeln, wegschummeln, schönfärben. Dise
Rotzveredler, diese Fallenvergolder, diese
als Philosophen
geschminkten Lügenbarone! Deren Wortweisungen sollte er
jetzt folgen. Alles, was er sagen konnte, war wahrhaft wert
los. Hier, in diesem Zimmer,
zählte jetzt nur Empfindung. Und
die fehlte ihm. Jetzt. Lieblos
sein, das läßt sich nicht
sagen. Und schon bildete sich
flugs die Rechtfertigung. Symmetrie
als moralische Qualität. Er muß
hier lügen, darf hier lügen,
weil er zu Hause auch gelogen
hat. Durch Verschweigen hat er
Anna belogen. Durch Verschweigen
belügt er jetzt Beate. Durch Verschweigen hat er Beate schon
während der Schreib und
Telephonierzeit belogen. Beate
mußte glauben, er schlafe nicht mehr mit Anna. Sonst hätte
sie die Schreib und Telephonierzeit
nicht überstanden. Sie brauchte diese
Meldung; daß eine Zeit lang
genau das Ge
genteil der Fall war, war nicht sagbar. Er hatte sich eine Zeit
lang verpflichtet gefühlt, Anna auch
etwas zukommen zu lassen von
seiner Beate zu verdankenden
Lebhaftigkeit. Könnte man wirklich
sprechen mit einander, dann hätte
er Beate als einen Beweis ihrer
Wirkung melden können, daß
das Ehepaar Zürn, nachdem sie erschienen war, lebhafter mit
einander verkehre als vordem. Aber
so wie alles ist und zu
sein hat, war es für Beate
lebenswichtig zu erfahren, ihre
Wirkung habe die Ehe außer
Kraft gesetzt. Tatsächlich war die
Lüge, daß mit Anna nichts mehr
sei, dann immer mehr Wahrheit
geworden. Auch wenn noch etwas
stattfand zwi schen ihnen, waren es
für ihn bloße Beatebeschwörungen
geworden. Beate hatte sozusagen gesiegt. Er hatte, als er ihr
das beteuert hatte, die sogenannte
Wahrheit gesagt. Wahr
heit gibt es. Augenblicksweise.
Diese Augenblicke heißen Glück. Und
sobald wieder die Verheimlichungspflicht
regiert, herrscht das normale
Unglück. Dafür zahlt man. Also ist dem Unglücklichen kein
Vorwurf zu machen. Mit keinem
Vokabular der Welt. Der
Unglückliche ist quitt.
Beate sagte: Das war jetzt frech, gell.
Er hatte aber nicht gehört, was
sie gesagt hatte. Sie hatte,
was frech gewesen sein sollte, von der Kochecke aus gesagt.
Er sagte: Überhaupt nicht. Und
er war sicher, daß er das
sagen konnte. Sie hatte schon ein paar Male so auf etwas von
ihr Gesagtes reagiert. Jetzt paßte es, jetzt konnte er ihr Das
warjetztfrechgell darstellen als Reaktion
auf den Alters unterschied. Jetzt
konnte er den Unterschied verkaufen
als
die Unmöglichkeit schlechthin. Ihre Angst, frech gewesen zu
sein, sagte alles. Es war von
Anfang an eine Illusion, von
beiden gefühlt, von beiden geleugnet,
von beiden ausge stattet mit
Wahrheitswut und so weiter. Er
habe sich von Anfang an als
Hochstapler gefühlt. Aber der
Hochstapler
leistet mehr als er zu leisten glaubt. Sich als Hochstapler zu
empfinden ist eine Form der Bescheidenheit. Vielleicht sogar
der Schüchternheit. La Mettrie hätte zu keinem anderen Er
gebnis kommen können. Und wo wir schon so weit sind, laß
uns gestehen die Austauschbarkeit eines jeden Mannes, einer
jeden Frau. Sie hat ihn zwar
in ihren Briefen phantastisch
ausgezeichnet mit Notwendigkeit, hat
sich und ihn in ein Schicksal
hineingeredet, das hat ihn so
belebt, daß er die prinzipielle
Austauschbarkeit glatt vergessen hat,
also fing
auch er an zu schwärmen, hat nicht anders gekonnt, als sie in
eine Einzigartigkeitsgloriole zu hüllen,
ihr eine Unver
gleichlichkeitsaura anzutun, das war doch schön ... Sie hielt
ihm den Mund zu. Wir sind keine grief party, sagte sie und
fuhr fort im Schlagzeilenton: Auf
dem Sofa der Mörderin vergewaltigt.
Wer von wem, sagte er und
griff nach dem Glas. Sie war
schneller, sie trank es aus und
zeigte ihm so, daß sie jedes
Glas, das er einschenken würde,
vor ihm
austrinken werde. Das hieß: Keine Flucht in die Besoffenheit.
Das hieß: Dageblieben! Er sollte
ihr lieber sagen, wie sie
gelebt hat ohne ihn. Sie hat
es vergessen. Sie kann sich an
nichts mehr erinnern. Als sie zu ihm kam, auf die Terrasse, er
im hellblauen Cordhemd, wie hat
sie da auf ihn gewirkt? Das
war ja die, die bis dahin
ohne ihn hat leben können.
Bitte, er soll ihr die schildern, vielleicht kann sie sich dann an
die erinnern, die sie war, bevor sie ihn kannte. Aber er hörte
auch der Waschmaschine zu, die aus dem Bad hereindröhnte
und stöhnte, dann wieder innehielt,
als sei es ihr zu anstrengend,
als müsse man ihr zu Hilfe
kommen, dann legte sie aber
wieder los, klang wie ein
Flugzeug, das die Triebwerke
aufgedreht hat, gleich starten will,
noch einmal
zerfällt, wie von vorne anfängt, auf die höchste Umdrehung
zurast, aber mühelos jetzt, hört
sich an wie Leerlauf, die
Waschmaschine landet, läuft aus, es
kann wirklich nichts
mehr kommen. Bitte, bitte, würdige doch endlich, was Beate
inzwischen hergezaubert hat, ja,
gezaubert, aus dem Kühl schrank ein
SpaghettiEssen, und er hatte
zugeschaut und dahin und
dahergeredet. Er mußte sie in
seine Stimmung hineinreden! Und
schaffte es nicht. Also, BeateJuliette
Themire, hör zu.
Hübsch, diese Servietten, wirklich. Wenn er sich die antue,
sehe er sicher aus wie ein
Pflegefall an seinem Geburtstag. Aber
bitte. Es kommt nicht mehr
darauf an. Lach ruhig. Es gibt
null Ernstes. Das ist das
einzige, was sie ihm glauben
kann. Sie hat das Geschirr in
der Spülmaschine unterge bracht, hat
zuerst, was noch vor ihrer
Abreise gespült worden war,
ausgeräumt und versorgt. Das sei
raffiniert,
sagte er, diese Geschäftigkeit, dieser Eifer, dieser Fleiß, diese
offenbar unverbrauchbare Bewegungskapazität. Und er, der
Parasit ... Pascha reicht, rief
sie dazwischen. Er bat noch
einmal, La Mettrie herbitten zu
dürfen. Sie bat, von La
Mettrie verschont zu bleiben. Morgen, bitte, aber nicht jetzt,
am ersten Abend in ihrer Wohnung, am ersten Abend ohne
Hotel, ohne Professor Rosenne und
so weiter, am ersten
Abend der Zukunft. Gegenwart genügt, sagte er hartnäckig.
Aber sie wollte jetzt mit ihm
im Bett liegen, obwohl ihre
Liege kein Bett sei, aber je enger sie lägen, um so schöner sei
es.
Sobald sie lagen, knipste sie
das Fernsehen an, zur Um
stimmung, sagte sie und verbesserte sich: Zur Einstimmung.
Und da sie keine Kleidung
zugelassen hatte, wußte er, was
das hieß. Auf dem Bildschirm
lag ein amerikanisches Ehepaar im
Bett, das ein Fernsehprogramm
anschaute. Das fand Beate super.
Wir liegen im Trend, rief sie.
Und griff nach ihm. Er
sagte, die − und meinte
die auf dem Schirm −
seien aber noch nicht so weit. Wir sind Avantgarde, sagte sie
und machte weiter an ihm herum.
Themire, sagte er, du
darfst gleich weitermachen, wenn dir nach dem, was ich dir
sagen muß, noch danach ist. Sie
zog ihre Hände weg, die Augen
meldeten Angst. Also, die Umbuchung
konnte er in diese erschrockenen
Augen hinein nicht melden. Themire,
sagte er noch einmal, ich
glaube, ich muß einen Vortrag
halten. Ich weiß, sagte sie. Was weißt du, fragte er. Du willst
irgendwas sagen, was mir erklären soll, warum
du dich bei
mir nicht wohl fühlst. Du langweilst dich. Etwas geht dir auf
die Nerven. Wahrscheinlich ich.
Du willst nichts wissen von mir, sagte er. Du sagst, was du
sagst, nur um zu verhindern, daß ich dir etwas sage.
Bitte, sagte sie, sprich. Sie
sagte das so, als wisse sie
alles,
was er sagen könne, im voraus.
Er sagte, es ist, als sei
vor ihm noch nie ein Mensch
alt
geworden. Was er erlebe, scheine noch nie erlebt worden zu
sein. Auf jeden Fall hat es ihm keiner gesagt, wie schlimm es
sein würde. Auf jeden Fall hat auf ihn, was er bisher über das
Altsein gehört hat, keinen Eindruck gemacht. Man kann nur
jung oder alt sein. Er habe
seit längerem geglaubt, er sei
schon alt. Das war, wie er jetzt wisse, ein naseweises Anem
pfinden. Das einzige, was ein wenig in die richtige Richtung
ging, war eine Art Mitleid mit Alten. Jetzt weiß er, der Junge
kann nichts empfinden von dem, was der Alte empfindet. Es
gibt kein Verständnis für einander.
Der Alte versteht den
Jungen so wenig wie der ihn. Es gibt keine Stelle, wo Jugend
an Alter rührt oder in Alter übergeht. Es gibt nur den Sturz.
Aus. Nachher bist du drunten und kannst tun, was du willst,
du reichst nicht zurück. Mit
nichts. Durch nichts. Ob du
lachst oder schreist, ist gleichgültig. So zu tun, als könne man
sich auf diesen Sturz vorbereiten,
ist unsinnig. Dieser Sturz
gestattet kein Verhältnis. Der einzige Mensch, der ihn, wenn
es darauf ankäme, verstünde, wäre Magda. Er habe nie den
Mut gehabt, Magda seine
Lebensschwierigkeit vorzutragen, sie wäre
die einzige, die ihm, ohne
urteilen zu müssen, zuhören könnte.
Was macht sie, fragte Beate.
Sie arbeitet in einem Steuerbüro,
sagte Gottlieb, hat sich
spezialisiert auf Umsatzsteuer. Lebt
mit einem schwarzen Amerikaner
zusammen. Der ist, als seine
Einheit auf dem Balkan Krieg
führen sollte, bei ihr
untergeschlüpft. Will bei ihr
bleiben. Für immer. Hat nichts
gelernt, außer vier Jahre Army. Vor
her in San Antonio Telephonverkäufer
für ein Reinigungs mittel, sechs
Dollar die Stunde, zweihundert
Stunden pro
Monat am Apparat. Sieben Jahre jünger als sie. Man hat sie
nicht gefragt, warum sie diesen
Bob aufgenommen hat, sie
hat von sich aus gesagt: Er hing in der Luft.
Schweigen.
Ach, Beate, sagte er dann,
wohin flieht man, wenn das
Ende sich aufdrängt? Dahin, wo es am krassesten klar wird,
daß man am Ende ist, zu
Beate, nach Amerika. Das sind
seine Empfindungsdaten. Geliefert von
seinen Philosophen, von seinen Sinnen
also. Er habe den Rückflug um
eine Woche vorverlegt.
Er hätte sowieso nicht
weitergesprochen. Aber sie schrie
auf, sprang auf, übrig blieb ein längeres Nein.
Auf dem Bildschirm lag das Paar immer noch im Bett, aber
der Mann hatte sich zur Seite
gedreht, weg von der Frau,
offenbar weinte er, es schüttelte
ihn geradezu vor Weinen, die
Frau kniete hinter ihm, machte
ein ratloses Gesicht und
streichelte ihn wie einen Kranken. Gottlieb beneidete diesen
Mann.
Sie hatte den Kimono an, dessen Schwarz und Silber noch
nie so gut gepaßt hatten wie jetzt, als sie sich krümmte und
bog und mit den Fäusten auf das Sofa eintrommelte.
Sie würde die Nacht auf dem Sofa verbringen, er würde auf
der Liege ausharren. Er trank die Flasche Bourbon leer.
Plötzlich stand er auf, ging
hinüber zu ihr, legte sich eng
neben sie, zwischen sie, sagte,
er sei genau so erschrocken
wie sie, als er sich so reden hörte. Aber müsse nicht wenig
stens ein Tausendstel von dem,
was in einem passiere, her
aus? Zwischen zweien wie sie und er. Das Gerede vom Sturz
ist Wortstroh. Das Hinab so bremsen, daß es kein Sturz wird,
sondern ein Untergang. Jetzt, nach
dem schönen Bourbon, hat er
mehrere Bedürfnisse. Erstens will er
auf sie einplau dern von zu
Hause. Was er jetzt empfindet,
und sie wisse, daß La Mettrie
alle Erkenntnis mit Empfindung
beginnen läßt, möchte er eine
unschuldige Sehnsucht nennen. Nach
dort. Nach dieser Familie, die er seine Familie nennen muß.
Er möchte sie alle andauernd
aufzählen. Inklusive Anna. Und daß
er das Beate so hinsagen kann,
daß er das nicht finster
verheimlichen muß, das zieht ihn
hin zu Beate. Er kann gar
nicht sagen, wie. Er will jetzt
auch einmal
Schlagzeilen machen: Besoffener Gastreferent fickt Graduate
Studentin ins Leben.
Danach verschraubten sich beide auf der Liege in einander.
Beate löschte den Fernseher. Gottlieb
lag noch wach, als sie schon
schlief. Ihm war, weiß Gott,
warum, fromm zumute. Er hatte
dieses Hochgefühl der Biederkeit, es
allen recht
gemacht zu haben. Also auch sich selbst.
Am nächsten Vormittag, als Beate in ihrer Klasse war, rief
Gottlieb die Lufthansa an und
verlegte den Flug noch
einmal, und zwar auf den nächsten Tag. Das wird teuer. Er
muß die Fluglinie wechseln. Ihm egal. Oder nicht egal. Egal.
Als sie zurückkam, gab sie sich
erstaunt. Sie habe ge
fürchtet, geglaubt, er sei, wenn sie zurückkomme, nicht mehr
da. Und riß ihn an sich und aufs Sofa. Und entschuldigte sich
dafür, daß sie so etwas habe denken können. Aber dieser Tag
sei der Tag der Katastrophe,
was lag da näher, als zu
fürchten, daß die Katastrophe auch
vor ihr nicht Halt machen
werde. Wart, sagte sie, als sie
sah, daß er etwas
sagen wollte. Wart! Sie hat Dr. Douglas verloren. Für immer.
Tot? sagte Gottlieb. Sie schüttelte den Kopf. Rick Hardy habe
sie heute hinausgebeten in den
Park und habe sich, als sie
draußen waren, umgesehen und erst als weit und breit kein
Mensch zu entdecken war, habe
er angefangen. Sie sei da schon
halb ohnmächtig gewesen vor Angst,
weil sie sicher
war, daß er etwas Vernichtendes über Berkeley nachzutragen
habe oder − noch schlimmer − daß er, weiß der Geier, woher,
wisse, wo der Gastreferent untergeschlupft sei. Aber das war
es nicht. Allerdings, was der
Meisterspion dann ganz kühl
und leise mehr vor sich hin als zu ihr sagte, war fast genau
so schlimm. Kurzfassung OTon: Dr.
Douglas called housewives: Their
husbands, his patients, are in
danger of
comitting suicide. If the wives would have sex with another
man, that could cure the husbands. Of fifty women who now
called the sexual victims¹ unit
seven did everything the psychiatrist
asked. Eine der sieben Opferwilligen
war Sue Ann, die üppige blonde
RosenneGattin. Klar, ihr geliebter
Gatte stehe kurz vor dem Selbstmord, helfen könne nur noch
eine Therapie per Vitalschock und
sie, SueAnn, sei die
einzige, die diesen Vitalschock auszulösen im Stande sei. Sie
müsse mit einem anderen Mann schlafen, das ihrem Gatten
sagen, aber nicht sagen, mit
wem, sonst wäre die Schock wirkung
relativiert. Irgendwann, müsse sie
sagen, werde er es von ihr
erfahren. Die Wirkung werde absolut
fabelhaft sein. Dafür verbürge er
sich. Von Suizidgefahr könne dann
nicht mehr die Rede sein. Dr.
Douglas besorgte den therapeutischen
Beischlaf. Honorarfrei. Dann schaffte
sie aber das Verschweigen nicht.
Oder der Gatte setzte Mittel
ein, die sie dazu brachten, alles zu gestehen. Dr. Douglas ist
verschwunden. Wahrscheinlich für immer.
Gottlieb streichelte Beate. Sie brach
jetzt richtig in Tränen aus. Je
mehr es sie schüttelte, desto
heftiger mußte er sie streicheln.
Sie müßte jetzt doch sofort zu
Glen O. Rosenne, ihn trösten,
unglücklicher als Rosenne jetzt sei,
könne doch kein Mensch sein.
Und sie, sie hat, als sie
zum ersten Mal gehört hatte,
der Professor liege bei Dr.
Douglas auf der Couch, gegrinst!
Dafür schämt sie sich jetzt.
Ihr war, als sie das gehört
hatte, eine Zeitungsnotiz eingefallen,
besagend, Krokodile träumen nicht,
weil sie sich zu einer Zeit
entwickelt hatten, als auf der
Erde noch nicht geträumt werden
konnte, was also konnte Professor
Lizard Dr.
Douglas erzählen! Und dann das! Sie weinte weiter.
Wie ihr jetzt offenbaren, daß
er den Rückflug auf den
nächsten Tag vorverlegt hatte?! Irgendwann, als sie gegessen
und getrunken hatten und aneinandergeschmiegt lagen, fing
er an, über Rick Hardy zu staunen. Lobte ihn. Eine CIAreife
Leistung.
Und was sie, Beate, betreffe, bitte, sie könne doch
froh sein, daß sie diesen Dr. Douglas los sei. Wahrscheinlich
sei Beate jetzt eifersüchtig. Mit
diesem therapeutischen Beischlaf habe
Dr. Douglas auch Beate betrogen.
Da sprang
sie auf, nannte das einen absurden beziehungsweise typisch
männlichen Kommentar. Wie und wo
sie diese Nachricht getroffen habe,
wisse sie selber noch nicht.
Wie bei einem
Todesfall werde sie wahrscheinlich erst im Lauf der Zeit den
Verlust empfinden. Da konnte er
sagen − und daß er das
sagen konnte, wunderte ihn selbst −, daß er das leider nicht
mehr miterleben dürfe. Sie schaute
erschreckt. Er hielt ihr
sofort die Augen zu und sagte: Ja, umgebucht, noch einmal,
morgen. Sie riß sich los, warf sich in die andere Sofaecke, zog
die Beine an, umfaßte ihre Knie und legte den Kopf auf ihre
Knie. Gottlieb fiel die kauernd
schlafende Magda ein, von Anna
geheilt. Beate weinte nicht, sagte
nichts, rührte sich nicht. Einmal
ein Wort: Verstoßen. Und irgendwann
zwei Wörter: Nie mehr. Auf dem
Sofatisch lag ein dickes Ringbuch:
The Graduate School.
Darunter: The University
of
North Carolina at Chapel Hill. Das hatte sie offenbar mitge bracht. Er hätte gern darin geblättert, gelesen, aber er wußte, daß er sich nicht rühren durfte, bevor sie sich nicht rührte. Nicht rühren durfte oder nicht rühren konnte? Um seiner menschlichen Zurechnungsfähigkeit willen entschied er sich für: nicht rühren konnte. Solange du dich nicht für einen guten Menschen hältst, ist dir nichts vorzuwerfen. In a clear, firm voice: I abused the System I believed in and I will never forgive myself. Dann ist ja alles gut. Schuldgefühl, bitte. Freie moralische Marktwirtschaft. Oh Gottlieb. Oh Wendelin. Oh Zürn. Oh Krall. Krümme dich, bis du dich wohlfühlst.
Sie rührte sich zuerst. Sie mußte aufs Klo. Sie tat das, was sie pinkeln nannte, bei offener Tür. Was zu hören war, klang tröstlich. In ihm buchstabierte es sich so: Die Sehnsucht, heimzukommen, scheint größer zu sein als die Sehnsucht, von daheim fortzukommen. Real Estate könnte man auch übersetzen mit Der wirkliche Stand.
Daß er sich nicht von ihr im rührend alten Pontiac zum Flughafen fahren ließ, deutete sie so: Er habe Angst, der Pontiac sei auf ihrer Seite, werde also die fünfzehn Meilen zwar angehen, dann aber plötzlich streiken, daß Herr Zürn das Flugzeug versäume. Er sagte, das sei die fast poetische Deutung einer eher realen Möglichkeit. Das letzte, was sie, als das Taxi schon wartete, sagte, war: Nie mehr. Das verspreche ich mir. Nie mehr.
Er sagte: Viel Glück bei La Mettrie. Sie bohrte ihr Zei gefingerchen an die Schläfe und drehte sich weg. Drehte sich wieder her und sagte: Die Diss geschmissen, auf die Diss geschissen, adieu, Herr Dr. Zürn.
Im Taxi beschäftigte ihn eine Utopie: Nach der Geburt eines Menschen wird das Datum in einer Datei gespeichert, die durch einen PINCode zugänglich ist, der nur den Eltern bekannt ist. Sie können ihn dem Kind weitergeben oder nicht. Sie können das Kind von Anfang an ohne Zahlengerüst aufwachsen lassen.
Der Wechsel der Luftlinie wurde nicht nur teuer, sondern auch schwierig. Die Deskdame in WashingtonDulles, die ihn endorsen sollte, wollte davon abschrecken mit dem Hinweis, das Gepäck könne, wenn er jetzt mit einer anderen Gesellschaft fliege, vielleicht zurückbleiben. Unidentifi ziertes Gepäck werde nicht befördert. Bei all den Terroristen. Aber er gab nicht nach. Sie mußte telephonieren, bis alles okay war. Er zahlte und zahlte und freute sich, als der Kapitän sagte, daß sie mit Rückenwind flögen. Extraservice: Manhattan bei Nacht. Der Kapitän: Seit Monaten kein so schöner Nachtflug. Die Avenues und die querlaufenden Straßen ergaben eine genaue Goldgeometrie. Manhattan ist ein Goldkäfig, in dem Schwärze gefangen gehalten wird.
Bevor er müde wurde, schaute er noch frühe AnnaBilder an, die er immer dabei hatte, aber fast nie mehr anschaute. Anna vor so vielen Jahren. Daß sie so schön war, hatte er, als sie noch so schön gewesen war, nicht bemerkt. Da Schönheit immer hieß, denen zu ähneln, die gerade als schön gehandelt werden, hatte sie sich nie schön gefunden. Wenn man eine Frau schön nennt, die, normenbesetzt, sich selber nicht schön findet, vermindert man dadurch nur die eigene Zurech nungsfähigkeit. Daß sie aber schön gewesen war, sah er jetzt auf diesen Bildern. Sie müssen eben alles universalisieren, die Moralnormen wie die Schönheitsnormen. Es gibt keine mächtigere Industrie als die der Normierer. Seine Sehnsucht nach Anna war immer mit dem verbunden, was sie erlebt hatten. Er flog auf sie zu. Er war das ganze Flugzeug und flog direkt auf Anna zu. Das spürte er. Die Anziehungskraft der unlösbaren Probleme. Am meisten bindet Leid. Er hätte singen können. Keine Spur mehr von dem Nagel in der Kehle. Und sagte sich vor: Ich liebe die faltigen Äpfel im Januar, alt, gelb, als wären sie leberkrank. Ekelhaft sind mir die polierten knackigen grünen. Wie wahr alles Unwahre ist. Er und Anna haben ein Geschlechtsleben entwickelt, das auch in Zeiten tiefster Niedergeschlagenheit ausgeübt werden kann. So. Darauf kann er sich verlassen.
Die Ankunft in Frankfurt um 7 Uhr 30 sagte der Kapitän mit größter Selbstverständlichkeit voraus. Um 8 Uhr 30 nach Stuttgart, Landung dort um neun. Und wenn das Gepäck da ist und Anna da ist, dann ist alles gut gegangen. Er würde nicht von diesem Ausflug träumen. Er träumte nur von Orten oder Personen, mit denen er jahrelang zu tun gehabt hat. Er war noch nie so direkt auf Anna zugereist. Anna würde nicht in der vordersten Reihe der Wartenden stehen. Sich durch Vordrängen auszudrücken, liegt ihr nicht. Als sie Gottlieb einmal nach einer Zehntagetour in der Autobahn raststätte Neckarburg abholte, um 11 Uhr nachts, erzählte sie, sobald sie im Auto saßen, was ihr am Nachmittag ein Kunde erzählt hatte. Der war von einer Zweiwochenreise zurückgekehrt, hatte bemerkt, daß seine Frau einen Mund geruch hatte. Hatte sie den immer schon gehabt? Nein. Der war neu. Wie sollte er jetzt davon anfangen. Er konnte nicht sagen: Dein Atem riecht nicht mehr so gut wie früher. Diesem Mann war sofort klar, daß er vorerst nichts sagen konnte. Und er fragte sich, was alles seine Frau an ihm bemerke und nicht ausspreche. Ein Ehepaar, zwei zuneh mende Verschwiegenheiten. Anna hatte dem Mann eine differenzierte TeeAnweisung für seine Frau gegeben, der Mann hat zwar die Wohnung, die Anna ihm angeboten hatte, nicht gekauft, aber er hatte sich bei Anna herzlich bedankt für den Rat, der Wunder gewirkt habe. Die Frau hatte keinen Mundgeruch mehr. Gottlieb holte diese Erinnerung herein, weil er jene nächtliche Heimkehr und Heimfahrt mehr erlitten als erlebt hatte. Daß Anna ihn nach einer Zehntagetour abholt, er übernimmt das Steuer, sie sitzt neben ihm und sie fahren durch eine mondhelle Nacht − es war Frühling wie jetzt −, und sie erzählt diese blödsinnige Mundgeruchsgeschichte als Erfolgsgeschichte und raucht dabei eine Zigarette nach der anderen. Das, Anna, dachte Gottlieb, als das Flugzeug sich auf Stuttgart hin senkte, das darf nicht noch einmal passieren. Er hätte sich durchsetzen müssen gegen die blöde Mundgeruchsgeschichte. Aber er war so enttäuscht gewesen. Die Ausführlichkeit Annas war das Enttäuschendste. Die nichtswürdige Genauigkeit. Auf ihn hatte das gewirkt wie eine geplante, inszenierte Abhal tung. Und selbst wenn es das nicht war, war es eine unbe wußte, La Mettriesch gesprochen, automatische Entziehung und Verhinderung. Heute durfte sie mit dergleichen nicht kommen. Ein Wiedersehen demonstriert jedes Mal, ob die beiden auf einander zugelebt oder an einander vorbeigelebt haben. Die erste Minute sagt es, entscheidet es. Man kann sich natürlich täuschen. Und getäuscht werden. Nichts ist so ungesichert wie ein Wiedersehen. Nichts müßte so einfach sein wie ein Wiedersehen.
Gottlieb konnte sich nicht vorstellen, daß dieses Wieder sehen am Flughafen in Stuttgart mißraten könnte. Schließlich hatte er zweimal umgebucht. Das mußte ihr doch etwas sagen. Und als er seine zwei Gepäckstücke abstellte, um ihr die Hand zu geben, sie dabei ein wenig zu sich herzog und dann umarmte und dann nicht links und rechts mit Lippen berührung abfertigte, sondern sie einigermaßen drückte und presste, fast schüttelte, da spürte er: Dieses Wiedersehen ist gelungen. Es herrschte unbesprochenes Einvernehmen darüber, daß jetzt nicht viel zu reden sei. Gottlieb präsen tierte ihr, was er im Flughafen Dulles gekauft hatte: Chanel Nr. 5. Dazu grinste er, damit sie sehe, daß er einen früheren Gottlieb imitiere, auch ein bißchen parodiere. Aber dann mußte er doch noch sagen: Ich liebe dich wieder einmal wie noch nie.
Die Fahrt in der Frühlingssonne empfand er als einen theatralischen, das heißt übertriebenen, das heißt sich ver selbständigenden Ausdruck einer Gemeinsamkeit. Fraglos einig. Aber Anna störte noch einmal. Mitten in die Musik, von der er sich jetzt ausgefüllt und bewegt fühlte, mußte sie die neuesten Kindernachrichten bekanntgeben. Gestern habe Julia angerufen. Mit der leblosen Stimme. Die Mutter sollte leiden unter dieser leblosen Stimme. Sie sollte nachfragen: Julia, was ist los, was fehlt dir. Das habe sie getan. Und Julia: Sie weiß nicht, wer sie ist. Mehr nicht. Schweigen. Aufgelegt. Gottlieb steuerte bei: Als das letzte Mal alle dagewesen waren, hatte Julia ihn zum Essen gerufen, er war gekommen, Regina fehlte noch, also hatte er gesagt: Du hast eine schöne Stimme, ruf Regina zum Essen. Da sie sich weigerte, rief er, Julia imitierend, Regina zum Essen. Regina kam, Julia ging. In ihr Zimmer. Am Essen nahm sie nicht teil. Als sie an ihm vorbeigegangen war, hatte sie gesagt: Kabarettist. Ja, sagte Anna und übernahm. Am letzten Sonntag, unsere Erlangerin. Zwei Tage davor ein Brief, ein echter Magda Brief, du mußt ihn lesen. Dann steht sie vor der Tür, bleibt eine kurze Nacht. Redet nicht viel. Du kennst sie ja. Inhalt: Sie habe zum Glück, seit sie aus der Schule sei, kein Glück mehr gehabt. Also auch keine Enttäuschung mehr. Ihre Arbeit sei zum Glück so spannend, daß sie nicht dazu komme, irgend etwas zu vermissen. Die Mehrwertsteuerent wicklung sei ein einziges Abenteuer. Und daran mitzuwir ken, erlebe sie als Privileg. Und zweimal pro Woche im Chor zu singen sei Levitation pur. Sie habe den Chor gewechselt. Nicht mehr im MatthäusChor, sondern im Altstädter. Von ihrem Schwarzen nichts. Und Regina, sagte Anna. Gottlieb mußte also fragen: Ja. Was ist mit Regina? Jetzt bleibt mir nur noch der Zirkus selbst, habe Regina gesagt. Sie trainiere, weil die Agentur andauernd am Kippen war und jetzt gekippt ist, seit zwei Jahren eine Nummer. Mit einem Chinesen. Regina an einem aufrecht stehenden Sarg, der Chinese wirft, als Indianer kostümiert, mit verbundenen Augen siebenund zwanzig Messer auf Regina. Sie ist, daß sie nicht hin und her zucken kann, an den Sarg gefesselt. Sie singt eine Melodie, eine in dreizehn Tönen aufsteigende, auf einem Höhepunkt ankommende und dann in dreizehn Tönen absteigende Melodie, Vorbild: der Sterbegesang der Apachen. Der India nerChinese wirft die Messer Ton für Ton, er wirft also nach dem Gehör.
Unglaublich, sagte Gottlieb.Und Anna: Stimmt.
Die Szene erinnerte Gottlieb an die RattlerFolterung in Winnetou I und daran, daß er der immerzu mit Mandelent zündungen bettlägerigen Regina am liebsten Karl May vor gelesen hatte. Wie hatten die drüben Eliot zitiert? Great poets steal, bad poets copy.
Und Rosa, sagte Gottlieb. Von Rosa nichts. Das hatte er nicht anders erwartet, aber eine Art Schmerz war dieses VonRosanichts doch. Er hatte sich angewöhnt, sie in einem unaufhörlichen Sibirien zu sehen. Ach ja, sagte Anna, Paul Schatz ist tot. Wie bitte, du meinst, seine Frau sei ... Nein. Der Frau geht es überraschend gut, aber er steht morgens auf, fällt um, ist tot. Infarkt. Und vorher nichts, was darauf hinwies. Gottlieb sagte: Unglaublich. Und dachte: Wenn es den Kaltammer auch noch putzt, dann geh ich zurück in den Handel. Aber den Kaltammer putzt es nicht. Solche Hyänen werden hundert. Paul Schatz steht auf, fällt um, ist tot. Und Beate hatte gesagt: Wenn du mal morgens aufstehst und tot umfällst, wissen wir, daß Anna aufgehört hat, an dich zu denken. Wunderbare Beate. Gab es überhaupt etwas, das nicht wunderbar war?
Gottlieb merkte, daß er plötzlich im Stand war, die Auto bahn zu genießen. Und plötzlich bog er auf einen Parkplatz ein, war an Annas Tür, bevor sie sie öffnen konnte, bat sie durch eine einladende Geste heraus, dann führte er sie, als kenne er sich aus, vom Parkplatz weg in den umgebenden Wald und ging deutlich hastig ein bißchen voraus, daß er Anna hinter sich herziehen konnte, und dachte, solange sie nichts sagt, ist alles gut. Sie sagte nichts. Bei einem Stapel gefällter Buchen, die da auf den Abtransport warteten, hielt er, lehnte Anna gegen die mächtigen Stämme, setzte sie fast ein bißchen auf die sich anbietenden, glatten Rundungen und fing an, Anna zu küssen, und zwar mit einem Ausdruck großer Dankbarkeit. Wie froh er sei. Und glücklich auf eine verschollen geglaubte Art. Daß alles, was dann passierte, überhaupt nicht bequem oder genußreich war, war ihm nicht nur recht, das forcierte er geradezu. Daß Anna im Kostüm gekommen war und nicht in Hosen, kann ausschlaggebend gewesen sein. Eine lange Hose wäre zuviel gewesen. Obwohl er vor allem zeigen wollte, daß er jetzt in aller Hast und Unbequemlichkeit mit ihr schlafen wolle. Je unbequemer, um so deutlicher wurde, was er wollte. Das Unbequeme als sein Geständnis. Als sein Heimkehrgeständnis. Als sein Einundalleszugeben. Deshalb mußte diese einvernehmliche Vergewaltigung stattfinden. Und gesagt werden mußte nichts. So gut wie nichts.
Und da Anna das alles deutlich genug erkannte und be antwortete, bewies, daß er sich nicht getäuscht hatte und daß sie einander nicht täuschten. Als er Anna von der Bu chenrundung herunterhalf, sagte er: Du weißt, beim Ge witter heißt es, Buchen mußt du suchen. Wir haben sie ge funden, sagte Anna.
Nicht ganz so leicht war dann der Weg zurück zum Parkplatz zu finden. Er hatte sich in all der Hast den Weg nicht gemerkt. Nach zweistündigen Irrwegen fanden sie zurück. Einigermaßen zerzaust. Er sagte, als er Anna die Autotür aufhielt, für den Rückweg entschuldige er sich. Anna sah ihn an, als sehe sie ihn heute zum ersten Mal. Dann sagte sie: Unglaublich. Und er dachte, als er jetzt Anna ansah, daß ein Gesicht, das man kennt seit es jung war, nie bloß alt werden kann. Das junge Gesicht schaut aus allen Jahren heraus. Gesichter, die man erst als ältere kennenlernt, sind dann wahrscheinlich nichts als ältere Gesichter. Anna, dachte er, ist und bleibt das Mädchen.