II

 

 

Aus allen Richtungen strömten die Gemeindebewohner zur Sonnwendfeier nach St. Alazara. Glückliche junge Menschen, teils in alten Autos, teils in Pferdewagen, viele mit Kindern. Sie winkten einander zu und begrüßten einander mit Zurufen. Ben fuhr den Studebaker.

»Es ist gutgegangen.«

»Dem Himmel sei Dank, es hat geklappt.«

»Wir haben es geschafft. Unser Glaube hat uns geholfen.«

»Und der Reverend. Und Ben.«

»Sieh mal! Du hast ja auch dein Haar wiederbekommen.«

»Das hört man gern. Hü!«

»Mensch, ich fühle mich wie neugeboren. Könnte es mit einer jungen Stute aufnehmen.«

»Halte dich lieber an deine Alte!«

»Die ist nicht alt. Nicht mehr.«

Auf den Feldern stand das Getreide grün in vollem Wuchs. Es hatte ausreichend geregnet, was für Mais, Weizen und Klee sehr günstig war und was sehr lautstark und hoffnungsvoll kommentiert wurde. Die wieder kraftvollen und lebensfrohen Männer standen auf dem Rasen gegenüber dem Wagonwheel und lachten und trieben anzügliche, harmlose Scherze, vor Glück in Schweiß geratend. Auf Bänken unter den Bäumen saßen die Frauen, beaufsichtigten die Kinder und schwatzten und klatschten.

Das Dorf war frisch und neu. Der Friedhof war erst zur Hälfte belegt. Nur die Grabsteine wirkten alt. Es waren die ältesten Steine. Katie sah das Dorf, die Kirche, sah Schule und Friedhof, und konnte es nicht begreifen: es war eine Mischung aus Wirklichkeit und Erinnerung, aus Gegenwart und Vergangenheit. Sie fühlte sich betäubt und verständnislos, wie in einem Wirbel von Tatsache und Illusion. Ihr Verstand gehorchte ihr nicht mehr und wurde zum Schlachtfeld entgegengesetzter Kräfte.

»Na, wie geht’s denn Katrin«, begrüßte ein junger Mann sie. Sein Gesicht zierte eine phantastisch große Nase, darunter sah man ein gelblich lückenhaftes Gebiß.

»Ich heiße doch …«, setzte sie an, doch der unverschämte junge Mann im Overall ließ sich nicht beirren.

»Sieht heuer nach einer guten Ernte aus, wie?« Er blinzelte und grinste. »Alles wächst wie wild, drinnen und draußen.«

»Jede Wette, daß Ben es ihr ordentlich zeigt, und sie genau das mag«, witzelte ein arrogant aussehender Mann in mittleren Jahren. Er hatte eine schwarze Ärztetasche bei sich. »Stimmt’s, Ben? Kann sie es überhaupt mit dir aufnehmen?«

Er stieß ein lüsternes Lachen aus und klopfte Ben Jasper auf die Schulter.

»He, Doc, jetzt reicht’s aber«, sagte Ben, dessen Sichelnarbe sich weiß von der errötenden Haut abhob.

»Schon gut. War nur ein Scherz. Um diese Jahreszeit kann man dutzendweise Söhne zeugen.«

»Hehe«, krächzte die Großnase.

»Nur weil du schon einen Jungen hast, brauchst du dich nicht so aufspielen, Otto«, murmelte Ben. »Du bist wieder bei deinen ersten paar Morgen angelangt und noch immer ein Lohnarbeiter.«

»Ach komm, Ben«, meinte Otto darauf. »Es war nicht so gemeint. Wir wollen uns heute mal amüsieren -«

»Du warst der einzige von denen, die zurückversetzt werden sollten, der nicht den richtigen Glauben aufbrachte«, mahnte Doc Bates.

»Stimmt gar nicht. Ich hatte den Glauben. Und wie ich glaubte!« legte Otto Protest ein.

»Jaja, aber du hast nicht aufgehört zu handeln und zu schachern, Wolltest die Letzten Vierzig von Ben. Dazu Aggies Besitz …«

»Ach was, ich kann eben nicht aus meiner Haut heraus. Aber das heißt nicht, daß ich mich nach zwei Seiten absichern wollte, daß ich beides haben wollte …«

Die Männer lachten. Der gute Otto würde sich wohl nie ändern.

Die Tür des neben der Kirche gelegenen Pfarrhauses schwang auf, und ein stämmiger, triumphierender Geistlicher mit kaum angegrautem Haar trat hervor, umgeben von Ministranten. Auf dem prächtigen, golden und silbern bestickten Gewand prangte ein Ährenkreuz. In der Kirche ließ Christ Gorman die Glocken der Freude und des Wunders ertönen. Der Geistliche trat hinaus auf die Wiese, und die Menschen kamen aus allen Richtungen und scharten sich um ihn.

Der junge Mann mit der Wangennarbe nahm die Hand der jungen Frau, die er Katrin nannte, und zog sie mit sich.

»Wir haben es erreicht«, verkündete der Priester, nachdem die Schar der Gläubigen verstummt war. »Als Ben sein Einverständnis gab, als Handlanger unseres gemeinsamen Willens zu fungieren, hatte ich eigentlich keinerlei Zweifel mehr. Es fiel ihm gewiß nicht leicht, die erste im Einklang mit den alten Gebräuchen zu opfern. Alle anderen sind zurückgekehrt. Sie aber wird nie wiederkehren. Es war ein schwerer Entschluß. Alle sollen Ben dafür danken.«

Sie hörte, wie die Menschen Ben hochleben ließen. In ihrem Kopf drehte sich alles, sie nahm kaum wahr, was jetzt geschah und was bereits geschehen war.

»Ben hätte einen Augenblick lang fast die Nerven verloren«, fühlte Doc Bates sich gedrängt zu betonen, »aber er überwand sich.«

»Nun denn«, hörte man Ben murmeln, »sie wurde geopfert, aber nicht richtig getötet, wenn ihr wißt, was ich meine. Diese Vögel …«

»Aber du wußtest um ihre Angst, Ben«, sagte Mauslocher, »und wir mußten uns auf dich verlassen können.«

»Sicherlich« – »Er hat es getan« – »Jede Wette«, riefen die Menschen überglücklich, »und wir waren das Saatgut.«

»Die Leiber der Lebenden und der Toten«, intonierte der Geistliche, »vereint, wie ich immer predigte, und dann, wie ich immer predigte, erneuert.«

Er hielt inne und sah die junge Frau neben Ben Jasper an. Sein Lächeln war leicht amüsiert, so als teilten sie insgeheim einen Scherz.

»Und natürlich haben wir alle zusammengeholfen, um die Zweite, die Junge, hier zu behalten. Was gar nicht einfach war. Sie hat Mut und Verstand bewiesen.«

Die Leute lachten und beglückwünschten einander dazu.

Sie versuchte sich Klarheit zu verschaffen – war von ihr oder von jemandem anderen die Rede? »Sie mußte die erste, die Alte, ersetzen, deren Leib Grab und Weg zur Jugend war. Der Weg war bereitet. Und da sie die einzige war, die nicht von den geweihten Lichtern geweckt wurde und nicht von Kerzen umgeben in der Erde geschlafen hatte – blieb sie, die Junge, genauso wie sie war. Als Ausgleich. Die Junge anstelle der Alten. Vollkommen. Bens junge Frau bildet den Schlüssel – sie paßt im Alter genau zu ihm. Es war – es ist – eine Zeit des Glücks, der Jugend«, murmelte er und hob sein glattes Gesicht der Sonne entgegen. »Gleichgewicht und Opfer und Glauben an die Erde und das Licht. Die Erde ist Erneuerung und hält den Samen der Auferstehung bereit, wie es unser gemeinsamer Glaube ist.«

Die Leute waren überwältigt. »Amen«, rief einer.

Mauslocher sah sie gebieterisch an. Alazara hatte den Beweis erbracht.

Aus dem Hause der Rasmussens hörte man dünnes Babygeschrei.

»Herc klingt aber wie immer«, erlaubte sich Otto Ronsky die Bemerkung.

Die Leute lachten lauthals.

Dann rollte ein uralter Ford ins Dorf und hielt vor dem Laden an. Eine hübsche, ein wenig mollige Frau stieg lächelnd aus. Kinder liefen ihr entgegen. Sie empfing sie mit ausgebreiteten Armen. Ihre grünen Augen blickten sanft und strahlend. Sie ging auf die Schar der Gläubigen zu.

»Ich kann’s nicht fassen!« rief Aggie Jensen aus.

»Ja, das war eines unserer großen Probleme«, erklärte Doc Bates. »Jetzt bist du überglücklich, aber beinahe hättest du alles verraten und die Junge verschreckt und in die Flucht gejagt.«

»Es hieß, alle, die wir Land besitzen, oder keiner«, sagte Mauslocher.

Die junge Frau neben Ben Jasper starrte Aggie an. Alles drehte sich, die Gesichter der Menschen, die ganze Umgebung, der Kirchturm geriet ins Schwanken und drohte auf die Bäume zu stürzen.

»Achtung, Ben, sie …«

Aggie war sofort zur Stelle, mitfühlend und hilfsbereit wie immer.

»Fühlst dich ein wenig schwach, Katrin?« fragte sie.

»Nein, ich heiße doch …«, setzte sie an und versuchte sich von der Frau loszumachen. Aggie Jensen war tot!

Und dann geschah es.

Ein Kräftefeld teilte sich irgendwo, eine Schranke fiel, in der Ferne stieg Nebel auf, und nur einen Augenblick lang öffneten sich die Tore der Zeit, elastisch, pulsierend, ehe sie auf ewig hinter dem Dorf der Illusion und der Sehnsucht zufielen.

Ein rassiger roter Wagen brauste heran, ein seltsamer Gegensatz zu all den Oldtimern. Hühner flatterten auf, dösende Hunde wurden aufgescheucht, und der Wagen hielt unvermittelt vor der Dorfwiese an. Die Leute wichen erst zurück und gingen dann gemeinsam auf den Wagen zu.

»Sieht aber prima aus, dieser Schlitten«, äußerte der junge Willis, der mit der Andeutung eines Hinkens ging.

Die Tür des roten Wagens öffnete sich, der Fahrer stieg aus und sah sich um. Er kam allen bekannt vor. Er war wütend, aber auch erschrocken, ja entsetzt. Das dichte braune Haar fiel ihm mit einer Locke in die Stirn.

»Mein Gott«, stieß er hervor.

»Sprich den Namen Gottes nicht unnütz aus«, ermahnte Reverend Mauslocher ihn. »Dergleichen Redereien dulden wir hier im Dorf nicht.«

Der Neuankömmling überblickte suchend die Schar, suchte die Gesichter ab. Dann hatte er sie gesehen und arbeitete sich zu ihr durch.

Er sah so bekannt aus, so bekannt und so sehnsüchtig erwartet. Aber sie konnte sich nicht erinnern.

»Es war also doch möglich! Ihr habt es geschafft. Ihr Idioten habt es geschafft«, rief er in höchster Angst und umfaßte ihre Schultern.

Der Mann mit der Narbe auf der Wange trat in drohender Haltung auf ihn zu.

»Wer sind Sie, junger Mann?« fragte er herausfordernd.

»Soll das heißen, daß Sie so weit zurückgegangen sind, daß Sie sich nicht mehr an mich erinnern? Ich bin ihr Mann, ja, das bin ich«, gab der Fahrer des Wagens entschlossen zurück.

Die Schar der Umstehenden schien belustigt. Ben Jasper lächelte geringschätzig.

»Katie, begreifst du denn nicht?« bat der junge Mann und sah sich nervös nach dem roten Wagen um, um den sich die Menge bedrohlich scharte. Sie versetzten dem Wagen Tritte und rüttelten an ihm. Und er würde ihn brauchen, um hier wegzukommen. »Begreifst du nicht, was da vor sich geht? Man bemächtigt sich deines Bewußtseins. In wenigen Augenblicken wirst du dich nicht mehr erinnern können, was geschehen ist. Schüttele alles ab! Mach dich frei. Komm, du schaffst es noch. Du darfst nicht nachgeben. Gebrauche deinen Verstand!«

Sie sah ihn an und versuchte ihn einzuordnen.

»Ich, glaubte nicht, sie würden es schaffen, auch nicht, nachdem ich mir alles zusammengereimt hatte.«

»Was schaffen?« fragte der junge Geistliche. »Sehen Sie …«

»Sie sollen mal sehen! Sie haben alles umgedreht. Irgendwie haben Sie die Zeit verkehrt ablaufen lassen, Sie verrückter …«

Der Geistliche lächelte geringschätzig und selbstzufrieden. »Du warst ja niemals gläubig. Du hast dich über mich lustig gemacht. Du wolltest nicht glauben. Aber diejenigen, die sich inmitten geweihter Kerzen zur Ruhe begeben, werden auch durch deren Licht erweckt.«

»Und jetzt sind wohl alle glücklich?« höhnte David. »Ein Neubeginn. Ben hat die Chance, einen Sohn zu bekommen, von neuem anzufangen und sein Land zu behalten. Und Otto wird nächstes Mal vorsichtiger mit seiner Mistgabel umgehen.«

»Da haben Sie verdammt recht«, sagte Otto, »und wer würde sich eine solche Chance wohl entgehen lassen?«

»… und Sie, Pastor, bekommen die Chance, Ihre eigenen Fehler zu vermeiden oder wiedergutzumachen. Diesmal wird niemand das Dorf im Stich lassen und in die Stadt ziehen. Und Ihre Gemeinde wird nicht zusammenschrumpfen …«

»Schweig«, sagte der Priester, dem die Erinnerung Unbehagen bereitete.

»Aber Sie brauchten dazu jemanden. Jemand, den Sie opfern konnten. Komisch, wie die Religion alles verdreht. ›Setzt eure Liebe in das Land.‹ Eine blumige Umschreibung für Mord, aber Sie nennen es Opfer. Wie erhaben!«

In der Menge erhob sich Gezischel und Gemurmel. Der Priester war hochrot geworden.

»Sie konnten es sich leisten, sie umzubringen, weil Katie ihren Platz einnehmen würde und alles sich ›zum Guten wenden‹ würde.«

Sie spürte, wie sein Griff fester wurde und wie er sie durch die Menschenschar zum Wagen drängte.

»Ja«, rief er dem Priester zu, »sie war die einzige, die nicht in Erde gelegt wurde, nicht ersetzt wurde, nicht neugeboren …«

Ben Jasper rückte mit geballten Fäusten und zusammengekniffenen Augen näher. Die Geräusche der Menge wurden bedrohlicher. Ein dünnes, aber anschwellendes Summen der Erbitterung erhob sich.

»… und Sie glauben, die Rechnung ginge glatt auf. Dann lassen Sie sich eines gesagt sein: Der Leichnam Katrin Jaspers liegt unter der Erde, und alle sind so wie vor langer Zeit. Aber mit mir haben Sie nicht gerechnet!« schloß er siegesgewiß.

Der Lärm brach ab.

Sie war fasziniert von seinen Behauptungen – aber was meinte er eigentlich?

»Sehen Sie? Sie haben nicht damit gerechnet, daß ich noch auf der Szene auftauche.«

Er hielt inne und bedachte den Priester und dessen Gemeinde mit einem abschätzenden Blick.

»Fast hätte es geklappt. Aber da kam ich, und ich kann wieder fort. Ich werde euren ganzen feinen Plan außer Kraft setzen. Wir fahren jetzt weg, und in kürzester Zeit seid ihr wieder alte Knochensäcke. Und dann hetze ich euch allen ein halbes Dutzend Polizisten auf den Hals, die sich hier gründlich umsehen sollen.«

Die Menge lauschte reglos und schweigend.

Mauslocher trat einen halben Schritt zurück.

»Und jetzt nehme ich euch den Schlüssel weg«, sagte David. »Katie wir gehen.«

Er drückte sie an sich und drängte sich mit ihr durch die aufgebrachte Schar auf den roten Wagen zu. Sie ging mit ihm, unsicher, fast widerstrebend. Langsam setzte das Denken bei ihr ein. Sie wußte, was sie zu tun hatte.

»Katie, komm!« drängte er. Sie spürte, wie sie von ihm abrückte, wegwollte.

»Nein« hörte sie sich sagen. »Ich heiße … Katrin!«

Doch aus ihrem Inneren schrie eine andere Stimme: »David!«

Es war das letzte, was er sehen, das letzte, was er hören sollte: das Stoßen, das Gedränge, die verzerrten Gesichter der Umstehenden, Katies Stimme.

Denn ein wildaussehender junger Mann mit albernem bleistiftdünnem Schnurrbart und den Ansätzen eines Bierbauches schwang mit aller Kraft und beiden Armen einen Baseballschläger und traf Davids Schädel.

David riß die Augen auf und zuckte zurück. Dann sank er vornüber zu Boden.

»Das Rückgrat feinsäuberlich gebrochen«, stellte der junge Doc Bates fest. »Gut gemacht, Barney! Hoffentlich hältst du dich heute nachmittag beim Match nur halb so gut.«

Der Mann mit der Narbe auf der Wange legte seinen Arm um Katrin.

»Du bist in Sicherheit, Katrin«, besänftigte er sie. »Du bist nun für immer in Sicherheit, und wir lieben einander.«

»Und jetzt feiern wir die Sommersonnenwende«, verkündete Reverend Mauslocher.