IV
Der Krug mit dem Apfelschnaps stand noch auf dem Tisch neben der Petroleumlampe. Katie goß sich mit zitternden Händen ein Gläschen ein. Das flackernde Licht warf unheimliche Schatten an Wände und Decke. Als sie das elektrische Licht anknipsen wollte, geschah nichts.
»Verdammt«, sagte sie laut. Papa! Fast wäre sie wieder in Tränen ausgebrochen. »Aggie … warum nur …?«
Was für eine Dorfgemeinschaft war das, die ein Wesen wie Butch Ronsky frei herumlaufen ließ?
Und was für Menschen lebten hier in dieser Gegend?
Und Aggie …!
Aggies Tod hatte sie mehr erschüttert, als sie sich selbst eingestand. Die natürliche Abwehrreaktion, die sofortige Schutzreaktion auf eine Tragödie umhüllte und beschützte sie.
Sie sah bei Mama hinein. Sie schlief.
Katie setzte sich an den Küchentisch, nippte an ihrem Apfelschnaps und verlor sich in Gedanken an David. Lange lauschte sie ihrem eigenen Herzschlag und den tiefen, hypnotisch-regelmäßigen Schlägen der Uhr im Oberstock. Im Moment waren keine anderen Geräusche zu hören.
Und dann kam Papa zurück. Kurz vor zwei. Er nahm den Hut ab, zog die Jacke aus und hängte beides in den Waschraum. Er goß sich ein letztes Glas Schnaps ein und trank es aus. Dabei sagte er kein Wort.
»Na?«
»Wir haben ihn.«
»Und wie war er?«
»Butterweich. Lammfromm. Er war irgendwie an Ottos Selbstgebrannten geraten. War total besoffen. Zuerst spielte er verrückt, und dann klappte er zusammen.«
Der Geruch bei Aggie! Natürlich, dieser süßliche Geruch. Alkohol.
»Wie hat Otto es aufgenommen?«
»Es geht«, murmelte Papa. »Weiter kein Problem.«
Katie war nicht wenig verwundert: Ein Vater, der es mit aller Ruhe aufnahm, wenn …?
Beide schwiegen.
»Eigentlich ein Unfall«, sagte Papa. »Der gute Butch hat einfach durchgedreht.«
»Aber Papa! Das hätte man doch schon längst wissen und etwas unternehmen müssen …«
»Hm …«
»Man hätte ihn weggeben sollen. Er hätte in eine Anstalt gehört.«
Papa zuckte die Achseln. »Sicher verwahrt ist er jetzt. In der Zelle schläft er seinen Rausch aus. Ja, sicher, man hätte ihn längst schon einsperren sollen, aber wer sperrt schon sein eigenes Kind ein? Noch dazu, wenn es nichts angestellt hat. Du würdest es verstehen, wenn du ein eigenes Kind hättest«, sagte er leise und sah weg.
Katie hatte nicht mehr die Energie, sich auch diesem Problem noch zu stellen.
»Sollte Barney Butch nicht nach St. Cloud schaffen? Dort ist das Distriktgericht.«
»Mach dir bloß kein Kopfzerbrechen wegen Barney. Der weiß schon, was er zu tun hat.«
Die beiden saßen schweigend da.
»Ach … es ist so traurig …«, begann Katie zu schluchzen. »Alles. Der ganze Ort ist … verdreht … gräßlich. Sogar hier ist alles so sonderbar. Die Beleuchtung hier im Haus. Alle im Dorf sind verrückt … und Mama und … du!«
Er schwieg dazu.
»Papa, wie war das bei der Versammlung im April? Im Beerdigungsinstitut?«
Er erstarrte und faßte sich gleich darauf.
»Ach, die Wahl«, sagte er. »Wir haben Barney für die nächste Amtsperiode wiedergewählt. Und ich glaube, da haben wir gut getan. Nach den Vorfällen von heute abend …«
»Die Wahl fand bei Pelser statt?«
»Warum nicht? Er hat genügend Platz.«
Er sah sie an. Sie sah ihn an.
Er hatte nicht die Absicht, mehr zu sagen.
»Ach, Papa.«
Papa stand auf und legte die Arme um sie.
Er sagte nichts, doch sie fühlte sich gleich ein wenig besser. Die alte Kraft. Ihre Erinnerungen. Wie hatte sie ihn mit den anderen in einem Atemzug nennen können? Die Gefühlsbindungen eines ganzen Lebens erweisen sich trotz aller Widersprüche und Ungereimtheiten stärker als die Schrecken des Augenblicks.
»Gehen wir zu Bett. Doc Bates kommt früh am Morgen.«
»Und David.«
»Ja, David.«
Wäre David nicht …
Katie fiel etwas ein. »Und der Hund? Wie konnte Butch den großen Hund töten? Dazu hat er doch nicht das Brennholzscheit genommen? Die Kehle war durchschnitten.«
»Wie: Ach, der Bernhardiner … Also … ich weiß nicht. Hab’ gar nicht daran gedacht. Und der gute Butch kann uns nichts darüber sagen. Schätze, wir werden es nie erfahren.«