Kapitel 30

Der Wald war voller Seufzer. Es wehte kein Lüftchen, und dennoch bogen sich die Zweige, rieben sich aneinander, wisperten von Schmerz und Blut und Verlust. Ich war wieder zurück in Acacias Wald, und das war mir ganz recht. Sie war das Einzige in Blind Michaels Landen, was ich mit Bedauern hinter mir lassen würde. Ich schaute mich um, versuchte mich zu orientieren. Als sich die Dunkelheit zu lichten begann, hatte ich schon wach im Wald gestanden. Der Blutpfad war bisher von allen drei Passagen die schnellste und schmerzloseste gewesen. Das lag vermutlich daran, dass er letztendlich die meisten Schmerzen bereitete.

Etwas war hier faul. Die Dunkelheit rings um die Bäume hatte zugenommen, und das Unterholz kümmerte welk. Der Wald war der einzige Ort in diesen Landen gewesen, der sich lebendig anfühlte, jetzt jedoch fühlte es sich an, als ob er starb. »Acacia?«, rief ich. Niemand antwortete.

Oh, Wurzel und Zweig. Sie hatte mir vor dem Ritt geholfen, und als der Ritt abgebrochen wurde, war sie dageblieben, um mit ihrer Tochter zu sprechen. Blind Michael musste das bemerkt haben. Dies waren seine Lande, und er war ohne Frage mächtiger als sie. Der Verlust der Kinder dürfte sein Prestige geschwächt haben. Er würde jemanden brauchen egal wen , um ein Exempel zu statuieren. Acacia war keine Unschuldige, aber sie war auch keine Schuldige, diesmal nicht.

Ich nahm das Schwert von meiner Schulter und wollte es aus der Scheide ziehen, um die Ebene nicht ohne eine Waffe in der Hand überqueren zu müssen. Meine Finger rutschten am Knauf ab, und ich schaute hinunter. Blut lief über meine rechte Hand. Es quoll aus einem hauchfeinen Schnitt, der sich völlig schmerzlos an meinem Handgelenk geöffnet hatte. Es machte keinerlei Anstalten zu gerinnen oder aufzuhören, es blutete einfach vor sich hin.

»Der Blutpfad«, sagte ich und verstand. Es würde noch mehr Schnitte geben, noch viel mehr, bis ich schließlich verblutete, wo ich gerade ging und stand. Das hatte ich zwar nicht kommen sehen, aber es war auch keine große Überraschung. Meine Zeit war begrenzt. Das wusste ich schon. Mir hatte nie eine Ewigkeit zur Verfügung gestanden die Ewigkeit ist nichts für Wechselbälger , und jetzt verrann die Zeit endgültig. Aber Blind Michael musste dennoch sterben.

Die verbleibende Zeit war kurz, die Nacht war lang, und er hatte sämtliche Vorteile auf seiner Seite. Alles sprach für ihn. Alles, bis auf mich, und das Blut. Blut hatte mir den Weg gewiesen, als es mit Wachs vermischt und zu einer Kerze gezogen war. Warum sollte es mir nicht helfen, wenn es rein war? »Wie viele Meilen nach Babylon?«, flüsterte ich und strich etwas Blut auf meine Lippen, dann eilte ich zum Waldrand, schlüpfte zwischen den Bäumen hindurch und rannte in die nebelverschleierte Nacht hinaus. Das Blut kannte den Weg, und ich vertraute dem Blut und hinterfragte meine Schritte nicht, als ich in die graue Weite vorstieß. Ich war noch nicht weit gelaufen, da sah ich vor mir den glühenden Schein der Feuer auf dem Platz in Blind Michaels Dorf. Die Reiter sammelten sich erneut. Gut. Das hieß, dass er da war und ich ihn finden konnte.

Wenigstens tat die Landschaft nichts, um mich ernstlich zu behindern. Ein paar Mal stolperte ich über kleine Felsen, aber damit musste ich rechnen: Schließlich rannte ich, ohne den Untergrund richtig zu sehen. Wenn ich nicht gelegentlich gestolpert wäre, hätte ich angenommen, dass ich direkt in eine Falle lief.

Ich muss wirklich lernen, gründlicher nachzudenken.

Ich hörte das Geschrei der Reiter schon, als ich erst halb über die Ebene war. Sie klangen stocksauer. Kein Wunder. Von ihrem Standpunkt betrachtet hatten die Luidaeg und Co. unbefugt ihre große Festtagsparade ruiniert. Natürlich basierte ihre Festtagsparade auf Kidnapping und Gehirnwäsche, aber was ist schon ein bisschen Folter unter Freunden?

Jetzt jedenfalls gab es nichts mehr, was mich ablenkte, und niemanden, den ich retten oder schützen musste. Das war eine Entlastung. Manchmal tut es gut, aufs Wesentliche zurückgeworfen zu sein. Ich würde Blind Michael umbringen oder bei dem Versuch umkommen. Töten oder getötet werden. Leben oder sterben.

Auf meiner Stirn hatte sich ein Schnitt geöffnet, und Blut lief mir in die Augen, als ich durchs Dorf rannte. Niemand hielt mich auf, nicht mal, als ich auf den Platz stürmte und brüllte: »Michael!«

Der ganze Hofstaat war versammelt, es schien, als würde irgendeine Festlichkeit vorbereitet, in die ich nun hineinplatzte. Es war alles zu viel auf einmal. Ich stolperte vor Verblüffung. Zwei Reiter traten aus der Menge und packten mich rechts und links an den Armen. »Kämpf mit mir, du Schwein!«, schrie ich und trat wild um mich, um freizukommen. Sie lachten nur.

Blind Michael saß hoch auf seinem Thron. Ich hatte es gewusst: Jener winzige Teil von mir, der sich wünschte, ich hätte den Ritt zu Ende gebracht, wusste immer, wo er war. Für diesen verräterischen kleinen Zipfel meiner selbst war er noch immer mein Gott.

Er musste diesen Zipfel meines Herzens in meinen Augen aufleuchten gespürt haben, denn er lachte und sagte erfreut: »So, die verlorene Tochter ist also heimgekehrt. Ich wusste, dass sie das tut. Ich hatte genug Zeit, sie zu formen. Lasst sie zu mir kommen.«

Die beiden Reiter ließen meine Arme los und traten zurück ins Glied. Dann bildeten alle gemeinsam einen weiten Kreis um ihren Herrn. Sehr vorausschauend. Wenn ich verlor, standen sie bereit, um sich über die Leiche herzumachen, und wenn ich gewann, konnten sie mich leicht niedermachen. Pessimismus ist meist wenig dazu angetan, die Aussichten zu verbessern.

Ich funkelte sie finster an und spuckte Blut auf den Boden, als ich auf Blind Michael zuschritt. Er trug noch die Rüstung, die er für den Ritt angelegt hatte, doch die spiegelnde Oberfläche war ruiniert, verschwunden unter Schichten von Dreck und verschmiertem und getrocknetem Blut. Auch seine übernatürliche Gefasstheit war dahin. An ihre Stelle war zornige Gereiztheit getreten.

Mein Blick blieb nur kurz an ihm hängen. Dann wandte ich mich dem Stuhl neben ihm zu. Dort saß Acacia, die gelben Augen riesig und leer. Man hatte ihre Haare eng mit der Korblehne des Stuhls verflochten, sodass sie sich nicht rühren konnte.

»Was hast du mit ihr gemacht?«, fragte ich laut.

Blind Michael runzelte die Stirn und zog die Brauen über den eisweißen Augen zusammen. »Sprich nicht so mit mir.« Seine Worte hatten die Wucht von Kommandos. Ich spürte, wie sich an meinem linken Arm ein neuer Schnitt auftat und ein weiteres stilles Rinnsal aus Blut entstand. »Sprich niemals so mit mir.«

Es war schwer, mich zu bewegen, solange er mich so anstarrte, aber ich schaffte es, eine Hand zum Mund zu heben und frisches Blut von meinen Fingern zu lecken. Die Wucht seiner Worte und die Last seines Blicks ließen nach, bis sie nur noch ein etwas nerviges Summen im Hintergrund meines Bewusstseins waren. Schon immer war all meine Macht vom Blut gekommen. Nicht einmal er konnte mir viel anhaben, während ich es zu mir nahm.

»Ich rede mit dir, wie es mir passt«, sagte ich. »Und jetzt komm da runter und kämpf mit mir.«

»Warum?« Er kniff die Augen zusammen. Mein Sichtfeld spaltete sich auf und zeigte mir alle Richtungen gleichzeitig, als er mich zwang, durch die Augen seiner Jagdtruppe zu schauen. »Du bist mein. Warum sollte ich gegen etwas kämpfen, was mir gehört?«

»Ich gehöre dir nicht!«, schrie ich. Es gab einen kurzen, scharfen Schmerz, und meine Sicht wurde wieder normal. Ich konnte mich allerdings nicht darauf verlassen, dass das so blieb, er war mir zu nahe.

»Du bist geritten. Du bist mein.«

»Ich bin vor dem Ende ausgeschieden.«

»Das macht nichts, du gehörst mir trotzdem. Alles hier gehört mir.« Er drehte sich zur Seite und fuhr mit einer Hand über Acacias Wange, fast zärtlich. Da war einmal Liebe gewesen, bevor er sie verbogen und verstümmelt hatte. »Wo soll ich sie diesmal verunstalten? Als sie mich das letzte Mal betrogen hat, zeichnete ich ihr Gesicht. Was soll es diesmal sein? Sie leidet für dich. Du darfst bei ihrem Schmerz mitreden.«

»Lass sie gehen, Michael.«

Er wandte sich wieder mir zu und lächelte. »Warum sollte ich?«

»Tu es freiwillig, damit ich dich nicht zwingen muss.«

Er lachte tatsächlich los. »Oh, kleiner Wechselbalg, Amandines unreine Tochter. Was bringt dich nur zu der Annahme, du könntest mich zu irgendetwas nötigen? Siehst du, hättest du mein gütiges Angebot wahrgenommen und wärst meine liebliche Braut geworden, so hättest du vielleicht gewissen Einfluss haben können. Doch du hast das Angebot ausgeschlagen. Der Geleitschutz meiner Schwester wacht jetzt nicht mehr über dich. Sie kann dich nicht retten.«

»Dann rette ich mich selbst.« Ich sah ihn finster an und spuckte noch einen Mundvoll Blut aus. »Ich bin nicht ihretwegen hier.«

»Nein, du kamst um deiner selbst willen. Dummer kleiner Held.« Er griff zwischen die Kissen seines Throns und zog mein Messer hervor. Er zeigte es mir, dann presste er es unbeirrt lächelnd gegen Acacias unvernarbte Wange. »Es ist geradezu ein Wunder, dass überhaupt welche von meines Vaters Kindern und Enkeln überlebt haben.«

»Gib mir mein Messer zurück und lass sie gehen.«

»Warum sollte ich?« Er machte sich nicht die Mühe, mich anzusehen. »Knie nieder.«

Ich war auf den Knien, noch ehe ich mitbekam, was er gesagt hatte. Beim Aufprall auf dem Boden öffneten sich weitere klaffende Schnitte an meinen Schienbeinen und Knien. Herrlich. Wir veranstalteten hier ein Geplänkel, während ich verblutete. »Du kriegst mich nicht klein«, knirschte ich und zwang mich wieder hoch. Es war nicht leicht, meine Beine wollten dauernd unter mir nachgeben.

»Schöne Worte, aber du hast nicht die Kraft. Geh und stirb woanders.«

»Zwing mich doch«, knurrte ich, biss die Zähne zusammen und schaffte es, aufrecht stehen zu bleiben. Ständig lief mir Blut in die Augen. Ich wischte es mit einer Hand weg, aber plötzlich hielt ich inne und starrte ungläubig auf den Boden.

Da, nahe am Fuß seines Throns, lag meine Kerze. Unter all dem frischeren Blut hatte ich sie nicht zu mir singen hören, doch als ich sie sah, wusste ich sofort, dass es meine war. Auf eine verdrehte, kranke Art war das auch völlig plausibel: Ganz offensichtlich wurde hier nicht viel sauber gemacht, und als ich sie weggeworfen hatte, wurde sie einfach zu einem Teil des herumliegenden Mülls. Ich hatte aufgegeben und ihren Schutz verschmäht doch das war damals, und jetzt war jetzt. Wenn ich an sie herankam, konnte ich vielleicht immer noch mit der Kerze Licht zurückkommen.

»Ich werde nicht sterben«, sagte ich.

»Nicht?« Er grinste höhnisch. »Zu schade. Wenn du nicht stirbst, ist es reine Zeitverschwendung, dich zu töten.« Er wandte sich wieder Acacia zu und fuhr mit meinem Messer über ihr Gesicht. Ihre Augen blieben glasig und blicklos, auch als Blut über ihre Wange lief.

Blut rann über meine Hände und an der Klinge von Sylvesters Schwert entlang, als ich es hob. Das Metall blinkte purpurn und golden im Feuerschein auf. »Lass sie in Ruhe und kämpf mit mir!«, rief ich. »Sei ein Mann, du Dreckskerl, und kein Gott! Oder bist du dafür zu feige?« Das letzte Wort dröhnte über den Platz wie ein Schlachtruf. Es war eine Herausforderung, die er nach dem gescheiterten Ritt nicht einfach übergehen konnte.

Blind Michael ließ mein Messer in Acacias Schoß fallen und stand auf, die blinden Augen leicht zusammengekniffen. »Glaubst du im Ernst, du könntest mich herausfordern?«, polterte er. »Du, die ihr Erbe mit Füßen tritt, um als ein Nichts zu leben? Du bist eine Närrin, October, Tochter der Amandine. Hast du deinen Gott vergessen?«

»Ich bin eigentlich Atheistin«, sagte ich.

»Ich verstehe.« Er lächelte tückisch und streckte mir eine leere Hand entgegen. Ich glaubte die Reiter um uns herum in ein Triumphgeheul ausbrechen zu hören, dann waren sie fort, und ihre Stimmen verklangen, als die Nebel aufwallten und die Umgebung ausblendeten. »Dabei ist eine Kirche doch so ein stiller, heimeliger Ort. Da gibt es keinen Schmerz, kleiner Wechselbalg. Keinen Tod. Da braucht man kein Schwert.«

Das Schwert verschwand aus meinen Händen, verschluckt von den Nebeln. Ich krampfte die Finger zusammen, versuchte es zu packen, doch ich griff nur Luft. Wütend schaute ich hoch und begegnete Blind Michaels leerem Blick. Er lächelte unverwandt. Ich konnte nicht wegsehen.

»Kein Schmerz«, flüsterte er. »Kein Tod, keine Notwendigkeit zu kämpfen. Komm zurück, kleiner Wechselbalg. Komm zu mir zurück und bleib für immer bei mir.«

Das Weiß seiner Augen wuchs und breitete sich aus, wie bei seiner Schwester, und ich ertrank darin. »Ich bin nicht dein«, sagte ich, zwang die Worte einzeln aus mir heraus. Es wurde immer schwerer, mich zu bewegen oder zu denken, und etwas im Hintergrund meines Bewusstseins jubelte dauernd und wollte sich am liebsten in seine Arme stürzen.

Wie viel von mir gehörte ihm? Wie viel von mir war bereit, den Rest zu verraten? Ich biss mir heftig auf die Innenseite meiner Wange, wollte das Blut nutzen, von dem ich wusste, dass es da war, doch ich schmeckte nichts davon. Sein Zauber war jetzt zu stark, und er würde sich kein zweites Mal auf dieselbe Art überrumpeln lassen.

»Ich will das nicht«, flüsterte ich und merkte deutlich, wie schwach es klang. Er kam noch einen Schritt auf mich zu, und ich sank auf die Knie und starrte zu ihm hoch. Diesmal spürte ich keinen Schmerz. Entweder hatte ich schon mehr Blut verloren, als mir bewusst war, oder er war einfach so stark und in beiden Fällen sprach so ziemlich alles dafür, dass ich geliefert war.

»Warum nicht?«, fragte er und drückte seine Hand gegen meine Wange. Mein Sichtfeld rang darum, sich wieder in die Facettenvielfalt des Ritts aufspalten zu dürfen. Ich erhaschte flüchtige Blickausschnitte durch die Augen anderer und sah einen Wechselbalg verbluten, während sie huldigend vor ihrem Herrn und Meister kniete. »Du bist doch verloren ohne mich.«

Oh, Eiche und Esche, Luidaeg, Sylvester, Quentin, es tut mir leid. Ich dachte, diesmal tue ich das Richtige. Ich dachte, es wäre wichtig.

»Ich bin nicht verloren « Er füllte die Welt aus. Es gab nichts mehr außer Blind Michael und dem Nebel und den kurzen, zerhackten Bildern, die ich aus den Augen anderer empfing.

»Oh, doch, das bist du«, sagte er. »Du bist verloren. Du kannst weder hin noch zurück, jetzt nicht mehr. Nun schließ die Augen, und lass mich dich nach Hause holen.«

Nach Hause? Nach Hause. Es klang wundervoll, ich musste nur die Augen schließen, und er würde sich um alles kümmern. Er würde die Welt zu dem machen, was sie sein sollte. Ich wusste, dass ich blutete. Ich wusste, sein »nach Hause« war nichts als Verhexung und Lüge. Und doch klang es so richtig, und ich war so müde

Ich senkte den Kopf und erschauerte. Ich hatte nur noch die Kraft für einen Versuch. Wenn ich es verpatzte, war die Sache gelaufen. »Ja«, flüsterte ich. »Hol mich nach Hause.« Blind Michael richtete sich auf und nahm die Hand von meiner Wange, zuversichtlich, dass es ihm gelungen war, mich zurückzuerobern.

Darauf hatte ich gewartet.

Er trat beiseite, und ich hechtete vorwärts und tastete im Dreck. Der Boden hatte keine Oberfläche, er bestand nur aus Nebel. Hinter mir lachte er. »Was treibst du da, kleiner Wechselbalg? Was hoffst du denn zu finden?«

Meine Hand traf auf etwas, und ich packte blindlings zu, voller Hoffnung. Ein wilder, kurzer Schmerz zuckte durch meine Stirn, und Blutgeschmack füllte meinen Mund, dann loderte meine Kerze auf, brannte leuchtend blau und strahlte wie ein Stern durch den Nebel, der sich rasch aufzulösen begann. Bingo! Ich erhob mich und baute mich vor Blind Michael auf, mit der freien Hand wischte ich mir das Blut aus den Augen.

Jeder sichtbare Zentimeter von mir war voller Blut. Es lief aus den fast nicht mehr zählbaren Schnitten, die meinen Körper bedeckten. Ich hatte Mühe, mich zu konzentrieren, und das lag nicht daran, dass er irgendetwas machte. Der Blutpfad verlangte seinen Tribut. »Ich gehöre nicht zu dir«, fauchte ich.

Er sah beinahe ängstlich aus. Klug von ihm. Sylvesters Schwert lag zwischen uns im Staub. Er machte einen Schritt darauf zu, und ich trat ihm entgegen, die Kerze hielt ich wie einen Schild vor mich. »Glaubst du wirklich, dass du mir drohen kannst?«, fragte er.

Es wäre überzeugender gewesen, wenn seine Stimme nicht gezittert hätte. »Ja«, sagte ich laut und lächelte. Mein Mund war voller Blutgeschmack, und zur Abwechslung war das ausgesprochen beruhigend. Solange ich das Blut schmecken konnte, würde er mich nicht kriegen.

Blind Michael machte einen Satz nach vorn und suchte an das Schwert zu kommen. Er war viel näher dran als ich, deshalb versuchte ich gar nicht erst, ihm zuvorzukommen, stattdessen trat ich rasch einen Schritt zurück und fischte mein Messer aus Acacias Schoß. »Na, komm schon, Michael. Es ist ja nicht mal ein fairer Kampf. Du bist viel älter und stärker als ich. Na los, mach mich nieder!«

Er umklammerte Sylvesters Schwert, und das Unbehagen stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Wann hatte er sich zum letzten Mal ernstlich gefürchtet? Die Reiter tuschelten in der Dunkelheit, doch nicht einer trat vor, um ihm beizustehen. Er musste allein gegen mich kämpfen. »Du stehst zu weit unter mir«, sagte er und versuchte, sich zuversichtlich anzuhören.

»Klingt nicht, als würdest du daran glauben«, gab ich zurück. Ihn zu hänseln machte Spaß, aber ich hatte keine Zeit für Spaß. Ich erschlaffte so weit, dass seine geborgten Augen ihm das Bild übermittelten, ich sei nicht kampfbereit, dann sprang ich ihn an.

Es ist schwer, gegen etwas zu kämpfen, was man nicht sieht, und Blind Michael konnte mich ja nicht wirklich sehen. Er hatte hundert geborgte Blickwinkel zur Verfügung, aber der wichtigste von allem fehlte ihm: sein eigener. Er schlug wild um sich, als ich herankam, und ich machte mir gar nicht erst die Mühe, seine Hiebe zu blocken. Das Schwert traf meinen linken Oberarm und schlug eine lange, oberflächliche Fleischwunde von meiner Schulter bis zum Ellbogen. Er hatte mich nur gestreift: Es tat weh, aber nicht sehr, und es beeinträchtigte mich kaum. Gut. Meine eigene Strategie war darauf angewiesen, dass er glaubte, er könnte gewinnen, und sei es nur für einen Augenblick. Er nahm an, die Oberhand zu haben, ich sah es an der Art, wie er die Klinge senkte, statt sich für den Gegenschlag zu wappnen.

Meine Schulter traf ihn mit Wucht gegen die Brust und brachte ihn zu Fall. Damit hatte er nicht gerechnet. Idiot. Ich hatte nichts als ein Messer, wohingegen er über Rüstung und Schwert verfügte also wo lag der Vorteil, wenn ich ihn frontal angriff? Ihn zu entwaffnen war wesentlich aussichtsreicher.

Er schlug schwer zu Boden, und Sylvesters Schwert rutschte ihm aus der Hand. Ich landete auf seiner Brust, stemmte die Knie gegen seine Oberarme und drückte ihm die Klinge meines Messers gegen die Kehle. »Was braucht man, um einen Gott zu töten?«, fragte ich kalt.

»Du kannst mir nichts anhaben«, sagte er.

»Zu dumm, dass du das selber nicht glaubst.« Ich stieß auf ihn herab, presste die Schneide fester gegen seine Haut. Mein Blut tropfte überallhin und machte es schwer, zu erkennen, ob ich ihn wirklich verletzte oder nicht. »Wie lange hast du nicht mehr selbst gekämpft, Michael? Wie lange schon hast du dich feige hinter Kindern versteckt?«

»Ich «

»Wie lange?«, brüllte ich. Er hörte auf sich zu wehren und schloss die Augen, und ich blickte auf und sah, wie die ganze Jagdtruppe mich mit einhelligem Entsetzen anstarrte. Jetzt glaubten sie endlich, dass ich es tun würde. Dass ich ihren Herrn töten würde

Und ich konnte es nicht. Nichts, was ich ihm antun konnte, würde genügend schmerzen, nichts. Er musste leiden, eine Ewigkeit lang. Ich schauderte und ließ den Kopf hängen, versuchte mich so weit zu sammeln, dass ich es schaffte, ihm die Kehle aufzuschlitzen.

Da legte sich Acacias Hand auf meine Schulter, und ein Messer landete neben mir im Staub. »Töte ihn oder lass ihn gehen, Tochter der Amandine, aber quäle ihn nicht«, sagte sie. »Triff deine Wahl. Dir bleibt nicht viel Zeit.«

Ich sah auf. »Acacia «

Sie schaute auf mich herunter, abgerissene Haarsträhnen umrankten ihr Gesicht wie kurze Locken. Als ich Blind Michael ablenkte, musste das seinen Bann gebrochen und ihr ermöglicht haben, sich loszureißen. »Nein. Du lässt viel zu oft Andere Entscheidungen für dich treffen. Töte ihn oder lass ihn am Leben, aber tu es jetzt. Keine Spielchen mehr.«

»Ich weiß nicht, was ich tun soll.«

»Du weißt es immer. Du hörst nur nicht auf dich.« Sie schüttelte den Kopf, wandte sich ab und ging davon. Die Reiter traten beiseite, um sie durchzulassen. Noch immer schwiegen sie, starrten mich nur an.

Entscheidungen. Oh, bei Oberons Blut, Entscheidungen.

Ich nahm die Kerze zwischen die Zähne und hielt mein Messer fest an Blind Michaels Kehle gedrückt. Die Flamme leckte an meiner Wange und erfüllte die Luft um mich herum mit dem scharfen Geruch versengten Blutes, als ich die Hand ausstreckte und Acacias Klinge ergriff. Um ein Haar ließ ich sie fallen, als das Metall meine Hand berührte. Eisen sie war aus Eisen. Natürlich, das musste sie ja sein, oder hatte ich ernstlich geglaubt, ich könnte einen Erstgeborenen allein mit Silber töten? Die Möglichkeit hatte nie bestanden. Nicht wirklich.

Mein Vater war ein Mensch gewesen, daher kann ich die Berührung von Eisen ertragen, wenn auch nur mit Mühe. Ich zwang meine Hand, das Heft zu umschließen. Dann sah ich durch den Blutschleier hindurch, der meine Augen bedeckte, Blind Michael an. Ich suchte nach meinem Hass, doch ich konnte ihn nicht finden. Ich fand Bedauern und Zorn, aber keinen Hass. Er war wahnsinnig. Er fügte anderen Leid zu, weil er es nicht besser wusste, und er hatte es schon sehr lange nicht besser gewusst. Sprach ihn das frei von dem, was er getan hatte? Nein. Gab es mir das Recht, ihn zu quälen?

Nein. Auf keinen Fall.

»Es tut mir leid«, sagte ich. »Ich kann dir nicht vergeben.« Ich hob die Hände, legte beide Klingen aneinander und rammte sie gemeinsam in seine Gurgel.

Eisen durchschneidet Fae-Körper, als wären sie nichts als trockenes Laub und Luft. Genau dafür ist Eisen da: um uns zu töten. Silber kann fast das Gleiche leisten, wenn man es richtig einsetzt. Acacias Messer war aus Eisen und Dares Messer aus Silber, und ich hielt sie beide zusammengedrückt, als ich zustach.

Er schrie, als die Klingen seine Haut durchstießen. Es war ein hohes, kindliches Kreischen, der letzte Aufschrei eines Mannes, der sich für unbesiegbar gehalten hatte. Für einen Sekundenbruchteil spaltete sich mein Sichtfeld auf, teilte sich in hundert Paar Augen, ehe auch die Jagdtruppe fiel, die Hände an die Brust gekrallt, und ihre Augen sich schlossen. Für diesen Sekundenbruchteil war ich selbst Blind Michael, ich war besiegt, ich blutete, ich starb.

Und dann war da nichts mehr außer Blut. Die Gebühr war bezahlt: Ich wusste bloß nicht, wer sie entrichtet hatte und ob es rechtzeitig geschehen war. Er oder ich? Die ewige Frage. Ich fiel vornüber auf Blind Michaels Leiche und schloss die Augen. Es war nicht mehr so wichtig, er war tot, ich hatte gewonnen, und ich konnte nicht mehr.

Nie wieder würden Kinder seinetwegen leiden. Zu guter Letzt hatte ich mich doch als Spross aus Oberons Linie erwiesen, ganz gleich, wie sehr ich es auch zu leugnen versuchte. Ich war ein Held, und ich starb wie ein Held, und das war auch ganz in Ordnung, denn so liefen die Dinge nun mal. Ich stieß einen tiefen, langen Atemzug aus und entspannte mich schließlich, während das Blut über meine Wangen strömte wie schwere karmesinrote Tränen.

Ich war fertig.

Die Dunkelheit war beinahe gnädig, als sie über mich kam und sich um mein versiegendes Bewusstsein legte. Mir blieb noch Zeit, mich zu fragen, ob die Nachtschatten mich wohl in Blind Michaels Landen finden konnten, dann war da nur noch Dunkelheit und der süßliche Geschmack von Blut.

Ich war fertig.