Kapitel 11
Ich erwachte mit dem Gesicht nach unten mitten auf einem marmornen Fußboden, der einst weiß gewesen war, bevor Schichten von Schlamm und Blut ihn unter sich begruben. Mein Schädel hämmerte im Rhythmus einer unsichtbaren Sambakapelle. Ich machte eine schnelle geistige Bestandsaufnahme, die bestätigte, dass mein schmerzender Kopf noch mit dem Rest von mir verbunden war, dann rappelte ich mich auf.
Ich spürte das Blut, das die Luidaeg zur Herstellung meiner Kerze benutzt hatte, noch ehe ich merkte, dass meine Finger sie immer noch umklammert hielten. Sobald ich sie ansah, flammte sie auf. Die Flamme wuchs auf etwa dreißig Zentimeter Höhe und brannte leuchtend rot. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Raj war nirgends zu sehen. Das konnte heißen, dass es ihm gelungen war, der Jagdtruppe zu entwischen, aber ich glaubte es eher nicht. Vermutlich gab es irgendeine Zeremonie, die er bereits durchlaufen hatte, und der ich – in meiner neuen Rolle als eines von Blind Michaels gefangenen Kindern – noch unterzogen werden musste. In Faerie gibt es immer und überall Zeremonien, selbst in den Teilen, die wir lieber übersehen.
Die Ruine, in der ich mich befand, war wahrscheinlich einst ein Ballsaal gewesen, ehe sie zum Gefängnis wurde. Die Wände waren ab etwa drei Metern Höhe weggebrochen, und das Dach fehlte ganz. Dornige Ranken bedeckten die Mauern auf drei Seiten und verbargen, ob es Türen gab. Zerfetzte Wandteppiche hingen zwischen dem Dornengestrüpp, ihre Muster verblichen von Dreck und Zeit. Der Himmel war noch finsterer geworden, während ich bewusstlos war, aber es gab immer noch keine Sterne. Überhaupt keine Sterne.
Schatten, zu dunkel, um sie mit den Augen eines Wechselbalgs zu durchdringen, lauerten am Fuß der Wände, und aus ihrem Inneren drang Kichern und Rascheln. Das verhieß nichts Gutes. Ich habe gelernt, Wesen zu misstrauen, die in solcher Lage lachen. Sie sind entweder wahnsinnig oder aufrichtig beglückt angesichts von Angst und Schmerz, und so oder so bieten sie Grund zur Sorge.
Ich stand auf und versuchte die zitternde Schwäche in meinen Knien zu ignorieren. Der Reiter, der mich niedergeschlagen hatte, besaß offenbar Routine darin, denn ich war nicht tot – es ist eine Kunst, jemanden von hinten bewusstlos zu schlagen, ohne seinen Schädel zu zertrümmern. Wenn ich Glück hatte, klang der Schmerz ab, bevor ich weglaufen musste. Ich schien mich in letzter Zeit ziemlich oft auf mein Glück zu verlassen.
Ich brauchte einen Moment, um mich zu versichern, dass ich nicht wieder hinfallen würde. Als ich meinem Gleichgewicht halbwegs traute, rief ich: »In Ordnung, ich weiß, dass ihr da seid. Jetzt kommt raus und lasst euch sehen.« Es klang fast wie ein Echo von Acacias Worten, und das lockte ein schiefes Lächeln auf meine Lippen. Ich fragte mich sogar flüchtig, ob May wohl wusste, wo sie mich fand. Wofür ist ein Holing gut, der nicht da ist, wenn’s ans Sterben geht?
Meine Stimme hallte von den Wänden wider. Als das Echo verklungen war, kamen die Kinder ins Freie gekrochen. Erst kamen sie in kleinen Grüppchen, immer zwei oder drei, die dicht beisammenblieben, doch die Gruppen wuchsen, als sie dreister wurden, bis sie in Haufen von fünf, sechs und sogar acht anrückten. Sie reichten von Kleinkindern bis zu Teenagern kurz vor dem Erwachsenwerden, und es waren viele, die sich zu schnell bewegten, als dass ich sie zählen konnte. Ich musterte sie und erstarrte. Etwas war verkehrt. Die Kinder waren …
Die Kinder waren verkehrt. Es war schwer, ihre Herkunft zu erkennen, und meine Augen begriffen nicht, was ich sah. Manche von ihnen waren noch zu identifizieren – der da ein Daoine Sidhe, die da eine Bannick, er dort ein Grabunhold – aber leicht verändert, sodass sie mehr wie Parodien ihrer Rasse wirkten als wie echte Fae. Andere waren völlig verfremdet und verunstaltet, entstellt zu verrückten Farcen ihrer selbst. Spitze Ohren und Katzenaugen, Schuppen und Fell, Flügel und lange, muskulöse Schwänze waren ohne sichtbare Logik kombiniert und schufen Kreaturen, die völlig neu waren und völlig falsch.
Da war ein Tuatha de Dannan, perfekt und unverändert bis auf die streifigen braunen Federn, die seine Arme in ausgefranste Flügel verwandelten. Hinter ihm stand ein kleiner Zentaur mit den Hinterbeinen eines Drachen. Er hatte irisierende grüne Schuppen anstelle seines Fells, und seine Hufe waren eher wie Klauen. Auf seinem Rücken saß eine Piskie mit Schwimmhäuten an den Händen und mit Beinen, die sich zu Flossen verjüngten. Ihr verfilztes Haar war mit einem dreckigen Leinenlumpen aus dem Gesicht gebunden.
Ich öffnete den Mund, um ihre Blutlinien zu erkunden, und würgte von der unvorstellbaren Mischung, die mir an den Gaumen schwappte. Vielleicht erinnerte sich ihr Blut noch, wer sie ursprünglich waren. Hätte ich Zeit, sie einzeln nacheinander zu erschmecken … Doch in der Gruppe waren sie erstickend. Er hatte sie nicht nur äußerlich verändert. Er hatte sie verwandelt bis ins Mark ihres Seins.
Faerie hat Bürger, und Faerie hat Ungeheuer, und manchmal ist beides dasselbe, aber sie alle sind Kinder der Schöpfung, keine Zufallsprodukte oder böswilligen Umbauten. Wir sind, was wir sein sollten, und jede Rasse hat ihre sinnvolle Rolle. Die Daoine Sidhe sind schön und launisch und so gebunden an Blut, dass wir niemals saubere Hände haben. Die Tuatha de Dannan überbrücken die Klüfte zwischen unseren verschiedenen Landen, als Hüter der Tore und Wächter. Die Nachtschatten mögen Monster sein, aber sie verrichten einen Dienst, der für den Rest von uns unentbehrlich ist. Sie essen unsere Toten und halten uns verborgen. Wir machen alle unsere Arbeit.
Sogar die Erstgeborenen, einzigartig wie sie sind, erfüllen eine Aufgabe. Sie schenken uns Legenden und nächtliche Schrecken, geben uns Anlass, etwas zu erstreben oder zu vermeiden. Ohne sie hätte Faerie keinen Mittelpunkt und keine Richtung. Es gäbe für Helden niemanden zum Herausfordern und für Schurken niemanden zum Nacheifern. Wir brauchen sie so sehr, wie wir uns gegenseitig brauchen.
Diese Kinder aber hatten keine solchen Aufgaben. Sie waren nichts Natürliches mehr, nicht einmal an den schrägsten Ufern von Faerie. Es kam nicht darauf an, wie es gemacht worden war oder warum. Dass es zu spät war, um sie noch zu retten, war alles, was zählte. Mir blieb nur zu hoffen, dass die Kinder, zu deren Rettung ich ausgeschickt war, nicht unter ihnen waren.
»Eine Neue«, sagte ein Urisk, dem lange Antennen aus seinen abgebrochenen Hornstummeln wuchsen. Er war in ein fleckiges Baumwolllaken gehüllt, mit Schlitzen für seine hauchdünnen Heuschreckenflügel. Das Haar an seinen Ziegenbeinen war spärlich und verfilzt.
»Eine Neue«, sagte der Zentaur. Die Piskie auf seinem Rücken lächelte und entblößte eine Reihe unnatürlich verankerter Fangzähne.
»Eine Neue«, sagte sie.
Die anderen nahmen den Ruf auf und flüsterten im Chor: »Eine Neue, eine Neue«, während sie herankrochen. Ich wich nicht zurück, krampfte nur die Finger um die Kerze, bis meine Knöchel weiß hervortraten. Luna hatte mich vor Blind Michaels Kindern gewarnt, mir gesagt, ich sollte mich in Acht nehmen und vor ihnen hüten. Aber ich konnte nicht. Ich konnte keine Angst vor ihnen haben. Ich konnte sie bedauern, und ich wusste, dass ich ihnen nicht trauen durfte, aber ich konnte sie nicht fürchten.
Die Piskie streckte den Arm aus, packte eine Strähne meiner Haare und drehte sie zwischen Fingern mit dicken Schwimmhäuten. Ihre Miene war höflich interessiert, sie war wahrscheinlich etwa zehn Jahre alt. »Menschliches Blut«, sagte sie schließlich und riss heftig.
Ich zuckte zusammen und schützte mit der freien Hand meinen Skalp. »Hey! Das tut weh!«
Sie beachtete mich nicht und hielt lachend die Haarsträhne hoch, die sie erbeutet hatte. »Reiter oder Ross?«, verlangte sie zu wissen. »Wie stark?«
Das schien eine wichtige Frage und auch ein besseres Spiel. Die Kinder begannen im Kreis um mich herumzuhüpfen und sangen »Reiter oder Ross, Reiter oder Ross«, wieder und wieder. Sie dehnten die Pause hinter »Ross« und erzeugten so einen Rhythmus im Singsang, der sich schmerzhaft mit dem Hämmern in meinem Kopf biss. Mir wurde ungemütlich bewusst, dass mindestens die Hälfte von ihnen größer war als ich, und dass der Rest entweder mit größeren Freunden oder mit einer Art Bewaffnung ausgestattet war. Ich musste unwillkürlich an Jabberwocky denken: »Sein Maul ist beiß, sein Griff ist bohr!« Ich hingegen, ich hatte mein Messer und meine Kerze, und das war’s.
Die Flamme brannte höher und höher, und sie schien etwas Gutes zu bewirken. Nur die Piskie hatte mich berührt. Der Kreis, den sie bildeten, zog sich zusammen, doch dann weitete er sich wieder, als versuchten die Kinder, dem Kerzenlicht fernzubleiben. Ich wartete, bis der Kreis sich wieder verengte, und hielt die Kerze auf Armeslänge von mir, um meine Theorie zu überprüfen. Das nächste Kind scheute sofort zurück und zerriss fast die Kette.
»Wie viele Meilen nach Babylon?«, fragte ich auf gut Glück. Der ganze Kreis wich so schnell zurück, dass einige der kleineren Kinder hinfielen. Das Jüngste, das ich ausmachen konnte, war ein schmächtiger Roan mit wund aussehenden Kiemen, die an den Seiten seines Halses flatterten. Er konnte nicht älter als drei gewesen sein, als er geholt wurde. Oberon allein wusste, wie lange das her war. Die Roan sind seit vielen Jahrhunderten ausgestorben. Eiche und Esche, wie viele Leben hatte dieser Mann zerstört? Warum hatte niemand ihn aufgehalten?
Für Hass war später noch Zeit. Jetzt ging es nur darum, hier rauszukommen. Ich machte einen Schritt nach vorne. »Erinnert ihr euch nicht an die Antwort? Fünf Dutzend und noch zehn.« Die Kinder wichen noch weiter zurück. Eins von ihnen fauchte. »Komm ich dorthin bei Kerzenlicht? Ja, auch zurück kannst du gehn.« Ich schritt durch ihre Reihen, und in ihrer Hast, dem Kerzenlicht auszuweichen, versuchte keiner mich aufzuhalten. Wo ich hintrat, flohen sie alle, bis auf den kleinen Roan-Jungen, der offenbar nicht mehr auf die Füße kam.
Ich blieb stehen, missachtete die Gefahr und bot ihm meine freie Hand an. Es war ja nicht seine Schuld. Keiner von ihnen hatte sich das hier ausgesucht. Er hob den Kopf und starrte mich an, die Augen weit und leer. Instinktiv riss ich die Hand zurück, als er zuschnappte, und seine rasiermesserscharfen Zähne verfehlten haarscharf meine Finger. Sie hackten ihm einen tiefen Schnitt in die Oberlippe, und das Blut, das daraus hervorquoll, war praktisch schwarz.
Das würde mich lehren, Monstern nicht die Hand zu reichen. Ich hielt meine Kerze wie einen Schild vor mich. »Ist dein Fuß klein und ohne Gewicht, kommst du hin und zurück mit der Kerze Licht«, sagte ich, so schnell ich konnte. »Wie viele Meilen nach Babylon? Fünf Dutzend und noch zehn …« Unermüdlich skandierte ich weiter und zog mich an die Wand zurück.
Die Kinder schlichen wieder zu einem Haufen zusammen und beobachteten mich mit zornigen, leeren Augen. Sich geliebt zu fühlen ist immer schön. Ich setzte meinen Rückzug fort, bis mein Rücken die Mauer berührte. Ich blickte von einer Seite zur anderen. Es gab keine Türen. Keinen Ausweg.
Ermutigt von meinem plötzlichen Stillstehen pirschten die Kinder wieder näher. Sie umringten mich in einem lockeren Halbkreis, hielten sich aber außer Reichweite. Die Piskie sah mich an und sagte: »Oh, du wirst nicht gehen.« Sie schien die inoffizielle Sprecherin der Gruppe zu sein. Die meisten der anderen brachten wohl ohne Vorsagen nichts Komplizierteres als »eine Neue« zustande. »Es gibt keinen Abschied vor der Zeit.«
»Ich verstehe«, sagte ich, ohne mich zu rühren. »Gut zu wissen.«
»Gut und schlecht spielen keine Rolle – weglaufen hat keinen Sinn. Reiter oder Ross, das ist nicht deine Entscheidung. Wenn es das Zweite ist, kommst du in die Ställe. Ist es das Erste, so kommst du zu uns … für eine Weile.« Es war nichts Sanftes in ihrem Lächeln. »Die einzigen Freunde, die du hier finden kannst, zu Feinden machen, das ist nicht schlau.«
»Vielleicht will sie Feinde«, sagte der Zentaur.
»Niemand, der schlau ist, will Feinde«, erwiderte die Piskie.
Wenn ich bedachte, dass ich freiwillig in Blind Michaels Lande gekommen war, hatte ich so meine Zweifel, ob ich als »schlau« gelten konnte. »Was passiert jetzt?«, fragte ich mit bemüht fester Stimme. Sie mieden das Licht meiner Kerze, aber Kerzen halten nicht ewig. Irgendwann würde das Wachs heruntergebrannt sein, und dann würden sie mich schnappen.
»Jetzt warten wir«, sagte die Piskie.
»Wir warten auf Ihn«, fügte der Urisk zischend hinzu.
»Er wird kommen.«
»Weil du hier bist.«
»Eine Neue.«
»Reiter oder Ross.«
»Und vielleicht nimmt Er einen von uns mit, wenn Er dich holt.«
»Auf den Ritt –«
»– die Jagd –«
»– dorthin, wo die Dunkelheit wartet –«
»Er holt uns nach Hause.« Das Letzte sagte der Roan und steckte den Daumen in den Mund, nachdem er gesprochen hatte. Seine Reißzähne passten genau drumherum, berührten kaum die Haut, obwohl das Blut aus seiner aufgeschlitzten Lippe es schwer machte, das genau zu erkennen.
»Wie lange seid ihr alle schon hier?«, fragte ich, die Schultern wohlweislich eng an die Mauer gedrückt. Ihre scheinbare Unschuld hatte mich einmal abgelenkt, ich würde das kein zweites Mal riskieren. An diesem Ort konnte Unschuld tödlich sein.
Die Antworten kamen von allen Seiten, zu schnell durcheinandergerufen, um zu sehen, wer welche gab. »Eine lange Zeit.«
»Lange Zeit.«
»Viele neue Kinder.«
»Ich war auch mal neu.«
»Wir waren alle mal neu.«
Die Piskie umarmte sich selbst und sagte: »Manchmal kommt Er und wählt einen von uns aus, auch wenn keine Neuen da sind. Er nimmt uns mit, dann sind wir bei Ihm, und wir kommen nie wieder hierher zurück.«
»Was ist das hier?« Kinder lieben erzählen – sogar Monsterkinder. Wenn ich sie am Reden halten konnte, erzählten sie mir vielleicht etwas, was ich wissen musste.
»Zu Hause«, sagte eine Stimme aus dem Hintergrund der Menge. Die Piskie warf einen finsteren Blick über ihre Schulter, bevor sie mich wieder ansah, die Augen leicht zusammengekniffen.
»Der Kindersaal«, sagte sie. »Hier warten wir. Du wirst auch warten, wenn du ein Reiter bist.«
»Und wenn nicht?« Ich war sicher, die Antwort würde mir nicht gefallen.
»Wenn du kein Reiter bist, wirst du ein Ross«, sagte der Zentaur mit dünnem Lächeln. »Du kommst nicht wieder her, wenn du ein Ross wirst. Dann kommst du in die Ställe und wartest da.«
Das klang nicht gerade verheißungsvoll. »Und was –« Ein lautes Knirschen erfüllte auf einmal die Luft. Die Flamme meiner Kerze loderte auf, legte noch mal dreißig Zentimeter Höhe zu und erstrahlte in blendendem Weiß. Die Kinder traten zurück und lachten, plötzlich vollkommen unbeschwert. »Was zum Henker?«
»Gleich verstehst du alles«, sagte die Piskie lachend.
Und alles veränderte sich. Die Wände des Kindersaals versanken, und der zertrümmerte Ballsaal verwandelte sich in eine Lichtung, umstanden von knotigen, bedrohlichen Bäumen. Reiter lauerten im Schatten ihrer Äste. Die Kerzenflamme schrumpfte ganz plötzlich auf einen winzigen blauen Funken zusammen, und im nächsten Moment waren die Kinder über mir, umringten mich, kniffen und stießen mich von allen Seiten. Ich versuchte auszubrechen, doch sie zogen mich in ihren Kreis zurück und johlten höhnisch angesichts meiner Bedrängnis.
Von weit her dröhnte eine tiefe Stimme und übertönte die Stimmen der Kinder: »Holt mir den Eindringling. Lasst uns sie sehen.«
Immer noch lachend stießen die Kinder mich vorwärts, und dann sah ich Blind Michael.
Er war groß – nein, er war mehr als groß, er füllte den Himmel aus. Seine Arme waren Baumstämme, und seine Füße waren die Wurzeln der Erde. Ich stand vor ihm und war weniger als nichts. Ich war Staub und trockenes Laub, die über den Himmel huschten, und meine einzige Hoffnung war, dass er diese gewaltigen Arme öffnen würde und ich mich darunter verstecken konnte, bis die Welt zu Ende war. Sein Lächeln war das Lächeln eines mildtätigen Gottes, freundlich und gnädig und willens, alle meine Sünden zu vergeben. Nur seine Augen störten die Illusion von Frieden: Sie waren milchig weiß, wie Eis oder Marmor, und schienen auch fast so kalt. Für einen Augenblick riss es mich in mich selbst zurück, und ich erinnerte mich fast, wer ich war und warum ich hier war. Für einen Moment wusste ich, wonach ich suchte.
Dann wogte der Zauber wieder über mich in einer Welle der Pracht, und Er war meine ganze Welt. Die Kinder gaben den Weg frei, als ich vorwärtsschritt, und ließen mich passieren. Ich war nicht mehr ihr Folteropfer – ich gehörte unserem gemeinsamen Gott, ich war Sein, und Sein allein. Ich atmete kaum noch, als ich die Größe meiner Hingabe erkannte. Ich würde für Ihn leben. Ich würde für Ihn sterben. Ich würde töten im Namen Seiner Herrlichkeit.
Ein plötzlicher Windstoß fuhr mir ins Haar und peitschte es mir ins Gesicht, als die Kerze nochmals weiß aufloderte. Die Luft war sofort erfüllt vom beißenden Gestank brennender Haare. Ich riss die Kerze weg, bereit, sie von mir zu werfen – ich brauchte sie nicht mehr, ich war zu Hause –, da löste sich ein Tröpfchen flüssiges Wachs, spritzte mir auf die Lippe und füllte meinen Mund mit dem Geschmack des Bluts.
Es war nicht viel Blut im Wachs, doch es genügte, um den Zauber zu brechen, den er über mich geworfen hatte. Blind Michael war kein Gott, er war nur ein Mann auf einem Thron, der aus altem Holz geschnitzt und mit vergilbten Knochen verziert war. Er konnte den Himmel nicht ausfüllen, selbst wenn er es sich wünschte. Eiche und Esche, was hatte ich da gerade tun wollen?
Ich holte tief Luft, würgte fast vom Geschmack verbrannter Haare und sagte: »Nein.« Mein Schädel dröhnte und pochte, aber dafür war jetzt keine Zeit. Meine Migräne konnte ich später kriegen, wenn nichts mehr zu tun war. »Ich bin nicht Euer. So leicht bekommt Ihr mich nicht.«
»Nicht?«, donnerte er, und sein Zauber überrollte mich wieder. Für einen Augenblick war seine Stimme wie ein Erdbeben. Der Augenblick verging, und der Zauber ging mit ihm, denn es ist schwerer, jemanden zu fangen, der schon mal entkommen ist, selbst wenn diese Flucht nicht bewusst herbeigeführt war. Oberon sei Dank. »Ich bin älter, als du träumen kannst, Kind. Alles ist leicht für mich.«
»Eigentlich bezweifle ich das«, sagte ich. Wenn ich nicht weglaufen kann, suche ich mein Heil in Großmäuligkeit. »Ich träume nämlich ein paar sehr alte Träume.«
»Tatsächlich?« Seine Trugzauber waren verschwunden, und ich konnte ihn jetzt klar erkennen. Er war groß und dünn, mit bräunlich-weiß gestreifter Haut wie Eschenrinde, bernsteinfarbenem Haar und Ohren, die gegabelt waren wie ein Hirschgeweih. Einfach nur ein Fae-Fürst, nicht weniger fremdartig als die Luidaeg und vielleicht sogar noch stärker, aber nicht die fleischgewordene Welt. Er war kein Gott, und ich war heilfroh. Mit Erstgeborenen und Reinblütern kann ich umgehen. Mit Göttern nicht.
»Ich will meine Kinder zurück«, sagte ich und gab mir Mühe, laut und fest zu klingen. Auch wenn er kein Gott war, die Luidaeg hatte Angst vor ihm, das musste ich berücksichtigen. Ebenso wie die Notwendigkeit, lebend hier rauszukommen. »Gebt sie heraus, dann werde ich gehen.«
»Deine ›Kinder‹? Du suchst Spielkameraden? Dann komm, die besten Spiele gibt es hier. Das allerfeinste Spielzeug gibt es hier.« Er griff hinter sich und holte eine kristallene Kugel hervor, in der ein gelber Schwalbenschwanz-Schmetterling gefangen war. Der Schmetterling schlug wie wahnsinnig mit den Flügeln gegen das Glas. »Bleib.«
»Ich kann nicht«, sagte ich mit gemessener Höflichkeit. »Ich habe einen Auftrag zu erledigen.«
»Sie haben dich so jung schon zu Diensten verpflichtet? Armes kleines Ding, du hast vergessen, wie man spielt. Ich kann es dich wieder lehren. Bleib.«
»Nein.«
»Nun denn. Wenn du so entschlossen bist – welche meiner neuen Freunde sind denn ›deine Kinder‹?«
»Die Kinder von Stacy und Mitch Brown. Die Kinder vom Hof der Katzen.« Ich machte eine Pause, dachte an Raj und fügte hinzu: »Und eine Hob namens Helen. Sie alle stehen unter meiner Verantwortung, und ich gehe nicht ohne sie. Gebt sie heraus und lasst uns ziehen.«
Blind Michael lachte. Er klang aufrichtig amüsiert, als er die kristallene Sphäre wieder hinter sich verstaute. »Warum sollte ich?«
Gute Frage. »Weil ich so nett darum bitte?«
»Du bist hier in meinen Landen, kleines Mädchen. Warum sollte ich dich gehen lassen, geschweige denn gestatten, dass du jemanden aus meiner neuen Familie mitnimmst?« Er drehte immer wieder den Kopf, als könnte er mich aus verschiedenen Winkeln betrachten. Ich blickte nach rechts und sah, dass die Kinder auf dieser Seite mich alle angespannt beobachteten, keins von ihnen schaute auf ihren Herrn. Die Reiter hingegen sahen nur zu Blind Michael hin, als wäre ich gar nicht da. Interessant.
»Weil ich unter dem Schutz Eurer Schwester stehe.« Ich hielt meine Kerze hoch. Die Flamme war zu einem glühenden Funken geschrumpft, brannte aber noch. Ich versuchte daraus Zuversicht zu schöpfen. »Die Luidaeg hat mir freies Geleit versprochen.«
»Und du hattest freies Geleit durch meine Lande, und durch den Wald meiner Gefährtin. Jetzt bist du zu mir gekommen. Meine süße Schwester kann dir nicht freies Geleit an meinem Hof gewähren.«
Verdammt. »Dann, weil es nicht so lustig für Euch ist, wenn ihr uns nicht gehen lasst?«
»Hmmmm. Da ist etwas dran, Kind – aber du bist gar kein Kind, richtig?« Er beugte sich vor und runzelte die Stirn. »Du bist nicht mein. Du solltest es aber sein. Was bist du, kleines Mädchen, das nicht mein ist?«
»Ich bin hier unter dem Geleitschutz Eurer Schwester. Nichts sonst an mir ist von Bedeutung. Nun lasst mich gehen und meine Kinder mitnehmen. Ihr habt bereits zugegeben, dass ich Euch nicht gehöre.«
Sein Stirnrunzeln vertiefte sich für einen Augenblick, dann wurden seine Züge kalt und verwirrt. »Du bist Amandines Tochter, richtig? Ja, das bist du. Ich kann es an dir riechen. Warum bist du hier? Sie kam niemals, und wenn ein Pfad einmal verworfen wurde, soll kein anderer Fuß ihn beanspruchen.«
»Ich will meine Kinder«, wiederholte ich. Ich konnte mir später darüber den Kopf zerbrechen, woher er meine Mutter kannte.
»Nimm sie«, gab er zurück. »Spiel ein Spiel mit mir und rette sie, wenn du kannst.«
Bei seinen Worten klingelte etwas bei mir. Ich richtete mich auf und hoffte, er würde die Erregung in meiner Stimme nicht hören. »Aber ich bin Eure Gefangene. Das ist nicht fair.« Er war ein Kinderschreck, und das brachte eine enge Beziehung zu Spielen mit sich. Noch wichtiger, es hieß, er war darauf angewiesen, fair zu spielen. Kinderspiele scheren sich nicht um gut oder böse, entscheidend ist, dass man fair spielt und die Regeln befolgt. Wenn Blind Michael diesen Gesetzen folgte, würde er fair spielen müssen, denn sonst würde sein Sieg nicht zählen.
Wurzel und Zweig, hoffentlich hatte ich recht. Blind Michael nickte und richtete seine blicklosen Augen auf die Bäume. »Das ist wahr. Spiele müssen fair sein«, sagte er. »Sollen wir also einen Einsatz festlegen?«
»Was für einen Einsatz?«, fragte ich vorsichtig. Wir Fae mögen keine Seelen zum Verspielen haben, aber es gibt anderes, was wir verlieren können.
»Meine Jäger können dich nicht sehen, solange du das Zeichen meiner Schwester hältst.« Er zeigte auf die Kerze. Bingo. Sie konnten mich nicht direkt erkennen. Die Kinder konnten es aber. Darum beobachtete er mich durch sie. »Ich gebe dir einen Vorsprung, bevor ich meine Jäger loslasse. Wenn sie dich finden, wenn sie dich fangen können, dann gehörst du mir für immer. Wenn du deine Kinder befreien kannst, dann …«
»Wenn ich sie befreien kann, folgt Ihr uns nicht jenseits Eurer Lande.«
»Einverstanden. Die Kinder, die du beanspruchst, dürfen mit dir gehen, wenn du mir entkommen kannst.«
Ich musste irgendetwas übersehen haben, aber es war keine Zeit für Diskussionen. »Abgemacht.«
Sein Ausdruck wurde spöttisch. »Also lauf, kleines Mädchen, so weit dich deine Kerze bringt. Du hast etwas Zeit, bis ich meine Jagd loslasse, doch meine Geduld reicht nicht weit.« Er lehnte sich auf seinem Thron zurück. »Geh.«
Hinter mir raschelte etwas. Ich drehte mich um und sah, dass die Kinder auseinandergerückt waren und eine Gasse zu der Ebene hinter den Bäumen geöffnet hatten. Ohne einen Blick zurück rannte ich los. Die Kerze hielt ich dicht an meinen Leib gedrückt, um sie gegen den Wind abzuschirmen. Blind Michaels gesamter Hof heulte und johlte hinter mir her, sie versuchten mich abzulenken. Ich rannte stur weiter, bis ich durch die Kinder hindurch war, dann durch die Bäume, und dann versiegte der Lärm des Hofes. Plötzlich war ich wieder auf der dunklen Ebene, dort, wo ich angefangen hatte, umgeben von leerem Ödland und meilenweit entfernt von meinem Ziel.
Nur dass jetzt Blind Michaels gesamter Hof wusste, dass ich hier war. Und sie würden bald hinter mir her sein. Na, wunderbar.