Kapitel 14

Quentin kauerte am Waldrand und starrte auf die dunkle Ebene hinaus, als glaubte er, dass sie sich jederzeit erheben und angreifen könnte. Nach allem, was bis jetzt geschehen war, hätte mich das auch nicht sonderlich überrascht. Meine Kerze steckte in seiner rechten Hand. Die Flamme brannte in einem sanften Grün und wechselte prompt zu Kobaltblau, als ich näher kam. Offenbar reagierte sie auch, wenn sich Verbündete näherten das war gut zu wissen.

Er war so auf den Horizont konzentriert, dass er mich nicht kommen hörte. Ich legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte: »Quentin.« Er sprang auf die Füße, schaffte es aber, nicht aufzuschreien, als er herumwirbelte. Gut, er lernte dazu.

Ich verschränkte die Hände hinter dem Rücken und grinste ihn an. »Na? Hab ich dir gefehlt?« Spike zirpte zur Begrüßung und rasselte mit den Dornen.

»Ich du ich «, stammelte er.

»Ja, ich hab mich an dich rangeschlichen, und du hast nichts gemerkt«, sagte ich und versuchte mir nicht anmerken zu lassen, wie froh ich war, ihn lebendig und unversehrt vorzufinden. »Wäre ich etwas Feindliches gewesen, wärst du jetzt tot. Hast du alles vergessen, was ich dich gelehrt habe? Jetzt gib mir meine Kerze wieder.«

Er starrte mich mit großen Augen an, dann schlang er die Arme um mich und drückte mich so fest, dass ich fürchtete, etwas könnte zerbrechen. Zum Beispiel mein Genick. »Hey! Quentin, komm, lass los «

»Ich dachte, du wärst tot!«, schluchzte er. »Du bist hingefallen, und dann kam diese Frau aus dem Wald, und ich versuchte dir zu folgen, aber die Bäume wurden immer dichter, und ich konnte nichts mehr sehen «

»Ach, Quentin.« Ich nahm ihn in die Arme, so gut das bei dem Größenunterschied ging, und hielt ihn fest, bis das Zittern aufhörte. »Ist ja gut, ich hatte auch Angst.« Er war ein tapferes, großmäuliges, lästiges, eigenwilliges Kind, das mit mir schon eine Menge durchgemacht hatte, aber er war immer noch ein Kind. Wenn er ein paar Minuten brauchte, um sich zu beruhigen, sollte er die haben. Auch wenn ich ihm gesagt hatte, er solle zu Hause bleiben.

Schließlich trat er zurück und rieb sich die Augen. Ich sah ihn an und fragte: »Alles in Ordnung?« Als er nickte, tat ich das auch. »Gut. Was ist passiert? Wie bist du ihnen entwischt?«

»Nachdem du mir die Kerze gegeben hast, war es, als könnten sie mich nicht mehr sehen.«

»Gut, das bedeutet, dass der Zauber der Luidaeg nicht nur mich schützt. Wenn irgendwas passiert, kannst du die Kerze nehmen und nach Hause kommen.«

»Nicht ohne dich«, sagte er stur, »und nicht ohne Katie.«

»Meinetwegen«, sagte ich und unterdrückte einen Seufzer. »Trotzdem gut zu wissen, dass es geht, wenn es nötig werden sollte.«

»Bist du verletzt? Du wurdest getroffen. Ich hab es gesehen.« Quentin bückte sich, um mein Bein zu betrachten und seinen unbeholfenen Themawechsel zu kaschieren. Ich ließ ihm das durchgehen, schnappte ihm aber die Kerze aus der Hand. »Hey!«

»Selber hey«, sagte ich. »Es ist meine Kerze, und es geht mir gut. Acacia hat mich geheilt.«

»Acacia?«

»Die Frau, die du gesehen hast, als sie mich wegtrug. Sie hat mich geheilt und mir gesagt, wo ich dich finde.«

»Aber warum?«

»Damit wir die anderen retten können. Komm jetzt. Wenn wir uns noch ein bisschen bei den Bäumen halten, kommen wir nachher besser über die Ebene, ohne gesehen zu werden.« Ich ging los, um die Unterhaltung zu beenden, wenigstens fürs Erste. Wenn er mir zu viele Fragen stellte, erzählte ich ihm am Ende noch, was ich über Luna erfahren hatte, und dazu war ich nun wirklich nicht befugt.

Was immer Acacia genau war, ich wusste genug, um mir Sorgen zu machen. Ich wusste, sie war eine Erstgeborene, sie war alt, vielleicht so alt wie die Luidaeg, und sie nannte eine meiner besten Freundinnen »Tochter«. Die Folgerungen aus all dem bereiteten mir ziemliches Kopfzerbrechen. Ich versuchte mich an das Wenige zu erinnern, was ich über Lunas Vergangenheit wusste wo sie herkam, wo sie gewesen war, bevor ich sie kannte. Das war nicht viel. Der allgemeinen Legende zufolge war sie bereits da gewesen, hatte ihre Rosen gepflegt und gewartet, als Sylvester kam, um das Herzogtum Schattenhügel zu begründen. Als er auftauchte, hatte sie angeblich nur gelächelt und gesagt: »Ihr kommt infrage.« Sie heirateten am selben Tag, an dem der Mugel geöffnet wurde.

Gab es sonst noch etwas? Sie hatte ein- oder zweimal ihre Eltern erwähnt, aber nie etwas Genaueres über ihre Vergangenheit gesagt. Allenfalls so etwas wie: »Ich war die Jüngste, die anderen waren schon erwachsen, als ich kam«, oder: »Meine Mutter hat mich den Umgang mit Rosen gelehrt.« Japan hatte sie niemals erwähnt, nicht ein Mal, obwohl die Kitsune dort herstammten. Sie war auch keine Japanerin. Luna war die einzige weiße Kitsune, die ich je gesehen hatte. Lily konnte eine perfekte Teezeremonie durchführen, Luna hatte das nie getan. Sie servierte Rosenwein, ja, und Milch mit Honig, aber niemals Tee.

»Bei Maeves Knochen«, murmelte ich. »Sie brauchte nie zu lügen.«

»Was?«

Ich sah über die Schulter »Nichts. Ich lege mir nur zurecht, was ich der Luidaeg sage, wenn wir nach Hause kommen.«

»Oh«, sagte er und schloss auf an meine Seite. »Ja.«

Eine Zeit lang gingen wir schweigend nebeneinanderher, dann fragte ich: »Was hat sie von dir verlangt?«

»Verlangt?«, fragte er und klang zu unschuldig.

»Ja, als Gegenleistung.« Ich ging weiter. »Die Luidaeg arbeitet nie umsonst. Ich glaube, dass kann sie gar nicht. Ich habe dein Wort, dass du tust, was ich sage, wenn du bleiben darfst, und jetzt will ich Antworten von dir. Wie hast du sie gefunden, und was hast du ihr bezahlt?«

»Oh.« Das Kerzenlicht spielte auf seiner Stirn und seinen Wangen und verwandelte ihn in einen Geist aus irgendeiner Erinnerung. Nicht meiner. Für einen Augenblick war er nicht mein. »Ich bin dir gefolgt, als du Schattenhügel verlassen hast.«

»Du bist mir gefolgt? Wie? Du kannst nicht fahren.«

»Ich hab deinen Ersatzautoschlüssel eingesteckt, als du telefoniert hast.« Er besaß den Anstand, verlegen auszusehen und den Kopf einzuziehen, als er fortfuhr: »Ich hab mich auf dem Rücksitz versteckt und mit einen Sieh-nicht-her-Zauber verhindert, dass du mich siehst.«

Ich hörte auf, ihn anzustarren. »Du hast dich in meinem Auto versteckt, damit ich dich mit zur Luidaeg nehme?«, fragte ich ungläubig und setzte nach: »Du hast meinen Autoschlüssel gestohlen?« Ich wusste nicht, was mich mehr aufregte.

»So ungefähr«, sagte er peinlich berührt. »Es tut mir leid.«

»Dir ist hoffentlich klar, wie dumm das war, oder?«

»Doch, schon. Aber ich hatte keine Wahl.«

»Es gibt immer eine Wahl, Quentin. Ich hatte dir doch gesagt, dass ich mich darum kümmere.«

»Dir war es völlig egal, dass ich sie liebe! Wie sollte ich mich darauf verlassen, dass du sie nach Hause bringst?« Er sah mich mit schmerzerfüllter Miene an. »Ich musste mit.«

»Quentin «

»Ich weiß, du bist hier die Heldin. Bedeutet das, dass es niemand sonst versuchen darf?«

»Ich bin keine «

»Du kannst es leugnen. Ist mir egal. Kümmert es dich überhaupt noch, was passiert, oder bist du nur hier, weil du denkst, du musst?«

»Quentin, stehst du wirklich mit mir in der Mitte von Blind Michaels Reich und fragst, ob es mich kümmert? Denn wenn ja, dann brauchst du wirklich professionelle Hilfe.«

»Willst du wirklich wissen, was sie von mir verlangt hat?«

Mit schmalen Augen nickte ich. »Lass hören.«

»Schön.« Sein Gesicht war erfüllt von einer wütenden Entschlossenheit, die mir sehr vertraut war, auch wenn es mir nicht passte. »Ich komme mit dir raus. Nicht vor dir, nicht nach dir, mit.« Er machte eine Pause, dann fügte er etwas leiser hinzu: »Nicht ohne dich.«

Ich starrte ihn an. »Das ist nicht witzig.«

»Ich mache keinen Witz. Das war der Preis dafür, mir zu zeigen, wie ich dir folgen kann. Sie hat meine Einreise besorgt, aber ich komme nicht ohne dich wieder raus. Du bist meine Rückfahrkarte.« Sein Kinn war vorgereckt, und er sah sehr jung und sehr ängstlich aus. »Ich bin auf dem Kinderpfad, genau wie du, aber ich habe keine Kerze. Ich muss es mit deinem Licht nach Hause schaffen.«

»Oh, Wurzel und Zweig.« Ich starrte ihn an und kämpfte gegen das Zittern meiner Hände an. »Darauf hast du dich eingelassen? Damit hast du bezahlt?«

»Das hat sie verlangt«, sagte er. »Ich hatte sonst nichts.«

»Also bist du gekommen, um Katie zu retten, ohne auch nur zu wissen, ob ich überhaupt noch am Leben bin.«

»Und weil du mich brauchst.« Er sah mich an, eine komische Mischung aus Entschlossenheit und Hoffnung im Gesicht. »Du brauchst mich nämlich, weißt du.«

Ich stutzte, dann nickte ich langsam. »Du hast recht: Ich brauche dich.« Ich bot ihm meine Hand. »Komm, lass uns gehen.« Nach einem Augenblick glitt seine Hand in meine und drückte meine Finger. Ich lächelte ihn an, dann wandten wir uns um und traten aus den Schatten des Waldes.

Und blieben fassungslos stehen.

Die Landschaft hatte sich gewandelt, aber der Wandel war nicht sichtbar gewesen, ehe wir aus dem Schutz der Bäume traten. Die Berge waren jetzt kaum noch eine halbe Meile entfernt, violett-grau glommen sie vor dem düsteren Himmel. Ich konnte sogar die groben Umrisse von Blind Michaels Hallen erkennen, die wie verlassene Häuserblocks am Fuß der Berge verstreut lagen. Sie alle schienen zerfallene Wände oder eingestürzte Türme zu haben, äußerliche Zeichen des allgemeinen Verfalls.

Quentins Finger legten sich fester um meine, als er fragte: »Ist das

»Dort haust Blind Michael«, sagte ich nur. »Komm.« Ich merkte mir die Lage des einzigen weniger verfallenen Gebäudes es würde am ehesten ein Gefängnis abgeben , dann machten wir uns daran, die Ebene zu überqueren.

Ich möchte nie wieder eine Stunde erleben wie die, die nun folgte. Wir robbten über den Boden wie vorrückende Soldaten und versuchten möglichst tief unten zu bleiben. Das Licht meiner Kerze bot einen gewissen Schutz, aber ich wusste nicht genau, ob sie uns beide tarnen konnte, und ich wollte nicht herausfinden, was passierte, wenn wir ihre Macht überschätzten. Spike raste als verschwommener graugrüner Fleck voraus und wartete hinter jeder neuen Deckung, bis wir aufgeschlossen hatten. Quentin hatte die ersten Schritte der Erziehung zur Ritterschaft an Sylvesters Hof absolviert, er wusste, wie man still und geduldig unbemerkt vorankam. Meine Ausbildung war weniger formell gewesen, aber sie hatte weitgehend zu denselben Ergebnissen geführt, ich konnte durchaus sehr leise sein, wenn es nötig war. Und der Versuch, sich in den Landen eines wahnsinnigen Erstgeborenen praktisch auf einem Blatt Papier zu verstecken, machte es so nötig wie nie zuvor.

Wir hielten an, als wir die Wand des ersten Gebäudes erreichten, schlüpften hinter ein paar Wasserfässer und sanken zu Boden. Die Wand war warm, als wäre dahinter eine Feuerstelle. »Also, Folgendes ist der Plan«, raunte ich mit gesenkter Stimme. »Die Kinder sind in einem dieser Gebäude. Wir spüren sie auf, schnappen sie uns und verschwinden.«

»Und Katie?«

»Katie « Sie zuerst zu holen könnte der leichtere Weg sein. Sie würde nicht bei den anderen sein. Wir konnten sie im Wald verstecken und dann zurückgehen und die anderen holen. Wenn sie versteckt blieb. Schrecken sorgt für unvorhersagbare Gemütszustände, und Katie war menschlich. Sie hatte weniger Erfahrung im Umgang mit Ungeheuern als ihre Fae-Leidensgenossen.

Katies Menschlichkeit warf eine weitere Frage auf. Die verunstalteten Kinder, die ich getroffen hatte, sagten, die Menschenkinder würden in Rösser verwandelt. Falls sie nicht mehr sie selbst war, wollte ich nicht, dass Quentin sie sah, ehe wir alles andere erledigt hatten, was zu tun war. »Wir könnten da auf Schwierigkeiten stoßen.« Als sich seine Augen weiteten, hob ich die Hand. »Du musst jetzt die Nerven behalten und ruhig bleiben, damit wir das durchgehen können, okay?« Er nickte. »Gut.«

Ich senkte die Hand und erklärte ihm, was ich in meiner kurzen Zeit als Gefangene von Blind Michael gesehen hatte und was sie mir erzählt hatten. Quentins Augen wurden schmal, während ich berichtete, und als ich fertig war, fragte er kalt: »Warum hast du das bisher nicht erwähnt?«

»Weil keine Zeit war. Es tut mir leid, und du kannst mich dafür hassen, wenn du willst. Aber selbst wenn ich es dir eher erzählt hätte, hätte das nichts an unserer Lage geändert. Wir sind jetzt hier, und wir müssen alle Gefangenen befreien. In Ordnung?« Er nickte widerstrebend. »Gut. Wir holen zuerst die anderen.«

Das hätte ich nicht sagen sollen. Er fuhr auf, zitternd vor Wut. »Wir lassen sie nicht zurück, nur weil sie ein Mensch ist! Wir «

»Sei still!«, fauchte ich. »Wir müssen erst die anderen holen, weil sie zu mehreren sind, und sie sind höchstwahrscheinlich nicht ganz so traumatisiert von alldem hier. Du hast doch selbst gesagt, dass Katie von den Fae gar nichts weiß. Was glaubst du, wie sie damit klarkommt?« Er sackte zusammen, und seine Miene wurde düster. Ich nickte. »Genau. Wir holen erst die anderen, weil sie uns vielleicht helfen können, sie zu finden, und wenn nicht, machen sie uns zumindest nicht noch mehr Schwierigkeiten.«

»Na gut«, murmelte er.

»Hinterher kannst du mich in Ruhe hassen«, sagte ich. Um Katie konnten wir uns immer noch sorgen, wenn wir die anderen Kinder gefunden hatten aber das war das eigentliche Problem. Wie sollten wir sie finden? Ich drehte die Kerze in der Hand und murmelte: »Du kommst hin und zurück mit der Kerze Licht «

»Toby?«

»Ich überlege nur, wie wir das machen. Wir wollen auf keinen Fall die falsche Tür öffnen.«

»Nein«, stimmte er zu. Keiner von uns wollte wissen, was für Leichen Blind Michael noch im Keller hatte.

Ich schüttelte den Kopf. »Es muss einen Weg geben, sie zu finden. Blind Michael muss fair spielen.«

»Warum?« Quentin runzelte die Stirn. »Wer sollte ihn zwingen?«

»Die Regeln. Es ist ein Kinderspiel, und die sind immer fair sonst würde der Sieg nicht zählen.« Ich drehte die Kerze wieder. »Es muss einen Weg geben.«

»Oh.« Er seufzte. »Ich hasse dich nicht wirklich.«

»Ich weiß.« Grübelnd starrte ich in die Kerze. Das Spiel war fair. Das Spiel musste fair sein. »Warte mal.«

»Was?«

Ich schüttelte den Kopf und hielt die Kerze hoch. Die Luidaeg hatte mein Blut benutzt, um sie zu erschaffen, und sie sang für mich. Mehr und mehr hatte ich herausgefunden, dass der größte Teil meiner Kraft in meinem Blut lag es musste einen Weg geben, das zu nutzen. Alles in Blind Michaels Landen schien auf abseitiger, kindlicher Logik zu beruhen, auf Knittelversen und Abzählreimen. Wenn die Verse bestimmten, dass ich hin und zurück mit der Kerze Licht kam, dann kam ich das auch, solange es die richtige Kerze war. Das war der einzige Hinweis, den ich hatte. Ich konnte genauso gut versuchen, ihm zu folgen.

»Wie viele Meilen nach Babylon? Der Kinder Spur wir verloren«, begann ich zu singen und ignorierte Quentins spöttischen Blick. »Könn’ wir hin und zurück mit der Kerze Licht? « Ich blieb hängen und fluchte innerlich. Stegreifgedichte waren nicht gerade meine Stärke.

»Und entkommen ungeschoren?«, vervollständigte Quentin den Reim und legte seine Hand auf meine. Ich warf ihm einen dankbaren Blick zu, da wechselte die Flamme unvermittelt vom Blau zu einem heißen Bernsteingold.

Das war nicht die einzige Veränderung. Rinnsale aus Wachs liefen an den Seiten herab und riffelten die bisher völlig glatte Oberfläche. Es war kein echtes Blut zu sehen, und doch spürte ich das prickelnde Brennen von Blutmagie um mich herum. »Das ist unser Stichwort«, sagte ich und stand auf. »Komm mit.«

»Wo gehen wir hin?«

»Wenn das klappt, zu den Kindern.« Und wenn nicht, fügte ich im Stillen hinzu, direkt ins Verderben.

Die Flamme wurde heller, als wir von Ruine zu Ruine rannten. Wir mussten schneller sein als das schmelzende Wachs und etwaige unsichtbare Verfolger. Die Flamme schrumpfte, wann immer wir falsch abbogen, sie führte uns und verbrauchte eine erschreckende Menge Wachs dabei. Wir rannten, bis ich nicht mehr weiterkonnte. Ich wollte gerade das Tempo drosseln, als die Flamme auf einmal flackerte und wieder blau wurde. Ich blieb abrupt stehen, aber Quentin bremste nicht ganz so schnell und rannte mich fast über den Haufen. »Hey!«, protestierte ich. »Denk dran, du bist größer als ich!«

»Entschuldige«, sagte er und richtete sich auf. »Warum bleibst du stehen?«

»Ich glaube, wir sind da.« Ich wies auf die nächste Tür. Sie war aus rohem Holz, hing in einem grob zusammengehauenen Rahmen, und die Mauer drum herum schien in einem besseren Zustand als die der meisten Gemäuer. Das Wachs schmolz nicht mehr weiter. Ich nahm das als gutes Zeichen.

»Was machen wir jetzt?«

»Wir brechen ein. Hier, halt das.« Ich gab ihm die Kerze und drehte mich um, um die Tür zu untersuchen. Spaßeshalber versuchte ich die Klinke. Es war abgeschlossen. Ich hatte nichts anderes erwartet. Ich zog mein Messer und schob es ins Schlüsselloch, bis es nach einigem Drehen nicht tiefer hineinging.

»Was machst du da?«, fragte Quentin.

»Wart’s ab.« Devin hat mir viele Dinge beigebracht, darunter auch das Öffnen verschlossener Türen. Er nannte mich einen seiner besten Schüler. Ich rüttelte noch ein wenig am Messer, bis ich es da hatte, wo ich es haben wollte, dann schlug ich mit dem Handballen gegen den Griff. Das Schloss gab nach, und die Tür ließ sich leicht aufstoßen.

Quentin starrte mich offenen Mundes an. Ich stand auf, schob das Messer wieder in meinen Gürtel und nahm die Kerze zurück. »Eine der vielen Fähigkeiten, die man in einer gründlich vergeudeten Jugend lernt«, sagte ich und trat ein.

Der Raum war dunkel, quadratisch und voll mit raschelnden Geräuschen und kleinen zusammengekauerten Schemen, die aussahen, als versuchten sie in die Wände zu kriechen. Ich hielt die Kerze hoch, um mehr zu erkennen. Aus dem Hintergrund des Raumes fragte eine zaghafte Stimme: »Toby? Bist du das?«

Oh, Maeve sei Dank, wir waren am richtigen Ort. »Raj?«, rief ich leise zurück. »Komm her, Kleiner. Ich bin’s.«

Die Schatten raschelten wieder und wurden zu Kindern. Sie klammerten sich aneinander, sichtlich verängstigt, und ich konnte es ihnen nicht verdenken. Einer trat jetzt vor, hob den Kopf und versuchte auszusehen, als hätte er keine Angst gehabt. Ich senkte die Kerze, um ihn nicht zu blenden, aber selbst dann war es unmöglich, die Prellungen und Blutergüsse zu übersehen, die sein Gesicht und seine Schultern bedeckten. Die Hob, mit der er geflüchtet war, stützte sich humpelnd auf seinen Arm und sah aus, als wäre sie noch schlimmer geschlagen worden als er.

Raj blieb stehen und sah mich feierlich an. »October. Du bist gekommen.«

»Ich bin gekommen«, sagte ich. Quentin stand still hinter mir und sah sich um.

»Tante Birdie, bist du es wirklich?« Die Stimme war leise und ängstlich, als befürchtete sie jeden Moment zum Schweigen gebracht zu werden. Ich erstarrte. Jessica war eines der selbstsichersten Kinder gewesen, die mir je begegnet waren. Zu hören, dass sie so klang

Blind Michael musste sterben. Es ging nicht mehr anders.

»Ja, Schätzchen«, sagte ich. »Ich bin’s.«

Das war alle Bestätigung, die sie brauchte. Mit Andrew im Schlepptau kam Jessica aus dem Hintergrund nach vorn gestürmt und schlang beide Arme um mich. Meine Größe oder vielmehr ihr Fehlen schien ohne Bedeutung, ich hatte die richtigen Worte gesagt. Sie vergrub ihr Gesicht an meiner Schulter und schluchzte: »Ich hatte solche Angst

»Ich weiß, Schätzchen«, sagte ich und streichelte ihr mit meiner freien Hand übers Haar. Dann sah ich auf Andrew hinunter, der seinen Griff von Jessicas Arm an meinen Gürtel verlagert hatte. »Alles klar bei dir?«

»Gehn wir nach Hause?«, fragte er. »Keine bösen Männer mehr?«

Ich nickte. »Ja, wir gehen nach Hause. Wir gehen alle nach Hause.« Ich blickte auf und fragte Raj: »Wie viele von euch sind hier?«

»Viele«, sagte er und gab sich keine Mühe, seine Erschöpfung zu verbergen. »Fünf vom Hof meines Onkels und mehr, die ich nicht kenne.«

»Es sind über zwanzig, Tante Birdie«, flüsterte Jessica. »Alle haben echt Angst.«

Oh, Wurzel und Zweig. Meine Abmachung mit Blind Michael betraf nur meine acht Kinder, das war alles, was er mir zugesagt hatte. Aber ich würde die anderen verdammt noch mal nicht hierlassen, um keinen Preis der Welt.

»Alles aufstehen und mitkommen«, sagte ich. »Wir verschwinden hier.«

Kinder sind Kinder, ob sie spitze Ohren haben oder nicht, und manchmal ist ein Anschein von Autorität alles, was sie brauchen. Sie lösten sich von den Wänden und kamen auf uns zu, viele schluchzten. Jessica hatte recht, es waren weit über zwanzig, eine bunte Mischung aus Reinblütern und Wechselbälgern. Sie waren allein und völlig zu Recht extrem verängstigt. Ich hätte sie nie zurücklassen können, selbst wenn ich es gewollt hätte.

»Quentin, Raj, jeder von euch nimmt eine Gruppe von ungefähr zehn«, sagte ich und sah die beiden an. Sie sahen noch am wenigsten so aus, als müssten sie gleich zusammenbrechen. »Ich kümmere mich um den Rest. Spike, halt nach Wachen Ausschau, ja?« Der Rosenkobold rasselte kurz mit den Dornen, sprang von meiner Schulter und flitzte aus dem Saal.

Das waren die einzigen Vorsichtsmaßnahmen, die ich treffen konnte. Ich schickte im Stillen ein rasches Stoßgebet an alle Götter, die gerade Zeit hatten, einen Wechselbalg zu erhören, der nicht wusste, wann man aufgibt. Dann führte ich unsere bunt gemischte Truppe in die Schatten von Blind Michaels künstlicher Nacht. Wenn wir Glück hatten, lebten wir lange genug, um den nächsten Morgen zu sehen.