17
Städtisches Krankenhaus Virginia Beach
2. Oktober, 10 Uhr 18
Sogar mit geschlossenen Augen konnte Hannah das Sonnenlicht, das durch das Fenster ihres Krankenzimmers hereinfiel, spüren. Allmählich kam sie wieder zu Bewusstsein und drehte ganz langsam den Kopf, um den pochenden Schmerz in ihrer Schläfe nicht zu verschlimmern. Der fest um ihre Stirn gewickelte Verband schien es nicht gerade besser zu machen. Abgesehen von einem Dröhnen in ihren Ohren vernahm sie die Geräusche der Krankenhausangestellten, die sich geschäftig um ihre Patienten kümmerten. Vermutlich war es Vormittag, was bedeutete, dass der zweite Tag von Jaguars Gerichtsverhandlung bereits angefangen hatte.
Der Gedanke daran ließ sie die Augen aufschlagen. Ihr fiel sofort auf, dass der Stuhl, den Luther an ihr Bett geschoben hatte, nun wieder verwaist in seiner Ecke des etwas steril wirkenden Krankenzimmers stand. Er war von dem Moment an, da die Sanitäter sie wieder zu Bewusstsein gebracht hatten, bis in die frühen Morgenstunden, als man sie endlich hatte schlafen lassen, bei ihr geblieben. Seine Gegenwart war sehr beruhigend gewesen und hatte das ganze Prozedere fast erträglich gemacht. Zunächst war sie von einem der medizinisch-technischen Assistenten geröntgt worden, anschließend hatte ein Arzt ihr in die Augen geleuchtet und ihr Fragen gestellt, während eine Krankenschwester tierisch brennende Lösungen in ihre Kopfwunde träufelte. Dann konnte sie sich an Polizisten vor ihrer Zimmertür erinnern, die unbedingt mit ihr hatten sprechen wollen. Gott sei Dank war Luther dagewesen, um sie mit ihren Fragen abzuwimmeln und sie sogar als nächtliche Türwachen einzusetzen.
Als Hannah schließlich endlich erlaubt worden war, zu schlafen, hatte sich Luther über die Besuchsregelungen hinweggesetzt und war bei ihr geblieben, ohne vom Personal aufgefordert zu werden, zu gehen. Er hatte den Lehnstuhl an ihr Bett geschoben und sich zu ihr gesetzt, während sie langsam eingeschlafen war, in Gedanken bei ihrer Unterredung vor der Schießerei. Er hatte aufrichtige Worte gefunden und gesagt, sie sei umwerfend, dass er sein Leben mit ihr verbringen wolle. Und als er wie ein geduldiger Schutzengel an ihrem Bett gesessen hatte, war zu spüren gewesen, dass er auf eine Antwort von ihr wartete.
Nun, in diesem Augenblick, wohnte er wahrscheinlich der Verhandlung bei und verteidigte gerade Jaguars Unschuld. Er sah es als seine Pflicht an, seine Kameraden zu unterstützen, und konnte seine Zeit nicht mit einer Frau vergeuden, die sich zu Größerem berufen fühlte, als mit ihm gemeinsam eine Familie zu gründen. Doch das Gefühl der Einsamkeit, das sie nun überkam, schnürte ihr regelrecht die Kehle zu.
Und der Einsamkeit folgte Angst. War sie überhaupt sicher, wenn Luther nicht bei ihr war? Doch dann fiel ihr wieder ein, dass die Polizei sowie Galworth und Stone vor ihrer Tür Wache hielten. Mehr noch, einem Anruf zufolge, der Luther während ihrer Untersuchungen auf dem Handy erreicht hatte, war Tanya Obradovic inzwischen festgenommen worden.
Hannah schlug die Decke zurück, da sie ihre volle Blase aus dem Bett trieb, und stellte fest, dass ihr Kopf im Sitzen weit weniger wehtat als noch im Liegen. Erleichtert setzte sie die Füße auf den Boden. Auf dem Korridor konnte sie die Leibwächter ihres Onkels über eine Bemerkung des wachhabenden Polizisten kichern hören.
Die Beamten würden sie an diesem Morgen vernehmen wollen. Und da sie die Männer nicht im Krankenhaushemd empfangen wollte, suchte sie nach ihren Klamotten. Sie fand ihren gelben Hosenanzug in dem kleinen Spind neben ihrem Bett und nahm ihn mit ins Bad. Nach einer belebenden Dusche zog sie sich an und stellte staunend fest, dass ihre Kleidung kaum in Mitleidenschaft gezogen worden war.
Die Anstrengung hatte sie einige Kraft gekostet. Noch etwas wackelig auf den Beinen trat Hannah nun aus dem Bad und blieb wie angewurzelt stehen. In ihrem Zimmer stand ein Mann, der sich umdrehte, als er sie bemerkte, und sie mit sorgenvoller Miene ansah. »Hannah, mein Mädchen.«
»Onkel Caleb. Was machst du denn hier?«
Er blickte auf ihren Verband und schüttelte schuldbewusst den Kopf. »Ich hätte niemals zulassen dürfen, dass du mit diesen SEALs mitgehst, nicht einmal mit meinen Leibwächtern als Aufpasser im Schlepptau. Die habe ich übrigens gerade gefeuert«, fügte er hinzu und umfasste mit kummervoll getrübtem Blick behutsam ihr Gesicht.
»Woher weißt du von der Sache?«
»Meine Leute haben mir Bericht erstattet. Oh, Hannah, es tut mir so leid.«
»Du kannst ja nichts dafür, Onkel Caleb«, beruhigte sie ihn und war gerührt, dass er sich trotz seines großen Arbeitspensums die Zeit nahm, sie besuchen zu kommen. »Wir waren unvorsichtig. Nach Bill Westmorelands Verhaftung dachten wir, nicht mehr so auf der Hut sein zu müssen.«
Newman ließ die Hände sinken. »Sicher habt ihr das, aber leider stimmt das nicht«, sagte er grimmig.
»Was soll das heißen?«
»Du musst sofort mit mir kommen, Hannah«, forderte er sie ebenso eindringlich auf, wie er sie vor drei Jahren angefleht hatte, der CIA den Rücken zu kehren. »Ich fürchte, du bist hier nicht sicher.«
Seine Bestimmtheit weckte neues Unbehagen in ihr. »Aber die Frau, die auf uns geschossen hat, ist gefasst worden.«
»Das hat nichts zu bedeuten. Söldner gibt es im Dutzend billiger«, widersprach Newman ihr. »Westmoreland muss nur mit den Fingern schnippen, und schon meldet sich der nächste Killer und tritt an die Stelle dieser Frau.«
Hannah spürte ein Prickeln auf der Kopfhaut. »Aber was hat Westmoreland denn gegen mich?«, wollte sie wissen, ohne die Feindseligkeit dieses Mannes begreifen zu können.
Newman schien angestrengt nachzudenken. »Also schön, ich sag’s dir«, beschloss er schließlich. »Ich habe mich ein wenig umgehört, Hannah. Das FBI hat es jahrelang geheim gehalten, aber das Flugzeug deines Vaters ist nicht einfach so abgestürzt. Jemand hatte sich am Triebwerk zu schaffen gemacht.«
Die Bedeutung dieser Worte sackte nur langsam zu ihr durch. Die Maschine ihres Vaters war sabotiert worden?
»Westmoreland wusste, dass er der nächste DCI werden würde«, fuhr Newman in ernstem Tonfall fort. »Also hatte er ein Motiv, Alfreds Flieger zum Absturz zu bringen. Und da du die Tochter deines Vaters bist, ist es nur natürlich, auch dich aus dem Weg räumen zu wollen. Und wenn es nur darum geht, dass du ihn nicht mehr verfolgen kannst.«
Hannah fühlte sich wie versteinert. Der Unfall, der sie dermaßen in die Knie gezwungen hatte, war schlussendlich überhaupt keiner gewesen! Ihr Vater war ermordet worden, damit Westmorelands Machthunger gestillt wurde. »Warum hast du mir das nicht früher erzählt?«, flüsterte sie und taumelte entsetzt zurück.
Onkel Caleb gab ihr Halt. »Weil ich dich schützen wollte«, entgegnete er mit Tränen in den Augen. »Jetzt weißt du, warum ich es nicht zulassen konnte, dass du zur CIA gehst.«
Sie nickte benommen. Dort hätte sie für den Mann gearbeitet, der ihre Eltern auf dem Gewissen hatte. Sie musterte das attraktive Gesicht ihres Patenonkels. »Und seit wann weißt du es?«
»Den Verdacht hatte ich von Anfang an«, gab er zurück. »Die Vermutungen des FBI wurden allerdings erst kürzlich, nach Westmorelands Verhaftung, öffentlich. Hannah, du musst mich begleiten«, drängte er sie aufs Neue. »Jetzt sofort. Ich lasse dich auf die Halbinsel Yucatán ausfliegen. Dort kannst du bleiben, bis das alles hier vorbei ist. Du musst nichts mitnehmen. Ich besorge dir, was immer du benötigst.«
Unentschlossen hielt sie sich an ihm fest. Jetzt sofort? Ohne den Ausgang von Jaguars Prozess abzuwarten? Und ohne sich von Luther zu verabschieden?
Sie konnte Angst in Onkel Calebs Blick erkennen – Angst davor, dass sie ihren Eltern in den Tod folgen würde, wenn sie nun nicht handelte. Tief in ihrem Inneren verspürte sie ebenfalls Angst. Aber sie fürchtete sich nicht davor zu sterben, sondern davor, Luther zu enttäuschen, wenn sie sich selbst wichtiger nahm als seinen selbstlosen Kompromiss. Er war bereit, Zugeständnisse zu machen, sie nicht. Zu lange hatte sie sich nach Freiheit gesehnt, um jetzt noch ihre Pläne über den Haufen zu werfen.
»Also gut«, beschloss sie und zitterte vor Erleichterung und Abscheu darüber, so feige zu sein. »Ich komme mit.«
Komplett verspannt und äußerst frustriert saß Luther im Zeugenstand. Ihn quälten nicht nur der Gedanke an Valentinos Warnung und die Tatsache, Hannah im Krankenhaus allein gelassen zu haben; zu allem Überfluss führte die Befragung durch Jaguars Verteidigerin geradewegs ins Nichts.
Eigentlich hatte er fest damit gerechnet, die im Lagerhaus geschossenen Fotos würden die Verhandlung in die richtigen Bahnen lenken. Doch keine fünf Minuten, nachdem er den Zeugenstand betreten hatte, war der Ankläger Commander Curew bereits ins Wort gefallen und hatte Einspruch erhoben.
»Euer Ehren«, rief Captain Garret bissig, nachdem er aufgesprungen war, »machen Sie die Verteidigung freundlicherweise darauf aufmerksam, wer hier vor Gericht steht. Diese Befragung zielt in keiner Weise auf den Angeklagten und die ihm zur Last gelegten Verbrechen ab.«
»Einspruch stattgegeben!« Admiral Pease nickte. »Die Verteidigung schweift erneut vom Thema ab«, mahnte er sichtlich genervt.
»Aber, Euer Ehren, diese Fotos beweisen, dass Commander Lovitts Geschäftsgebaren alles andere als ehrbar ist und dass er demzufolge ein Motiv –«
»Das reicht!«, wetterte der Admiral. »Solange Commander Lovitt nicht unter Anklage steht, werde ich derartige Unterstellungen und Verleumdungen nicht tolerieren. Bleiben Sie bei den Vorwürfen, die gegen Ihren Mandanten erhoben worden sind, und verschwenden Sie nicht länger die Zeit des Gerichts!«
Commander Curew ließ Luther einen erschöpften und entschuldigenden Blick zukommen. »Sie sind entlassen«, wandte sie sich dann direkt an ihn. »Danke.« An der Art, wie sie den Kopf hängen ließ, war erschreckend deutlich zu sehen, dass sie bereits aufgegeben hatte.
Luther verließ mit schleppenden Schritten den Zeugenstand und warf einen Blick zu Commander Lovitt herüber, der im Unterschied zu seinem selbstsicheren Auftritt am Tag zuvor mit hängenden Schultern in der dritten Reihe auf Seiten der Anklage hockte und sich sichtlich unwohl fühlte. Zweifelsohne war ihm bewusst geworden, dass seine Verbrechen ihn einholen und unweigerlich zu Fall bringen würden. Ihn dermaßen fassungslos zu erleben, milderte Luthers Kummer ein wenig.
Sobald das NCIS eingreifen und Lovitt festnehmen würde, könnte Jaguar Berufung einlegen und den Ausgang dieses Prozesses aller Wahrscheinlichkeit nach ins Gegenteil verkehren. Doch fürs Erste würde er wohl mit einem Schuldspruch leben müssen, denn seine Verteidigerin war gerade dabei, den Fall zu verlieren.
»Hiermit schließe ich meine Beweisführung ab, Euer Ehren«, murmelte sie und warf Jaguar einen schuldbewussten Blick zu, den dieser mit stoischer Gelassenheit quittierte.
Plötzlich flog eine der Türen zum Gerichtssaal auf. »Verzeihen Sie, Admiral!« Luther erkannte Commander Curews Assistentin, eine junge Offizierin. »Ich habe hier eine Eilsendung für die Verteidigung.«
Admiral Pease blickte mürrisch auf, winkte die Frau jedoch herein.
Commander Curew nahm ihrer Hilfskraft den FedEx-Umschlag ab, riss ihn auf und studierte mit zitternden Händen den Inhalt. Alle Anwesenden im Gerichtssaal schienen den Atem anzuhalten.
»Nun?«, fragte Admiral Pease. »Ist die Beweisführung nun abgeschlossen oder nicht?«
»Euer Ehren«, erwiderte Commander Curew und ihre Stimme klang vor Aufregung über die Neuigkeiten ganz schrill, »hiermit beantrage ich, dass die Anschuldigungen gegen meinen Mandanten fallen gelassen werden!«
Admiral Pease rollte fast mit den Augen. »Und mit welcher Begründung, Commander?«, verlangte er zu wissen.
»Es liegt kein Corpus Delicti vor«, gab Commander Curew zurück und wedelte mit den Dokumenten in ihrer Hand.
Admiral Pease sah sie herablassend an. »Die beiden vermissten Matrosen wurden für tot erklärt, Commander«, erwiderte er gelangweilt.
»Ja, Euer Ehren«, pflichtete Curew ihm bei und näherte sich der Richterbank. »Die beiden Matrosen, die mein Mandant angeblich am neunzehnten August von Bord der USS Nor’easter gestoßen haben soll, gelten als vermisst und sind vermutlich tot.« Sie hielt ihm die Dokumente unter die Nase. »Genau genommen sind die Marineunteroffiziere Daniels, Smith und Keyes sogar schon seit über zehn Jahren tot! Ich halte hier ihre Sterbeurkunden in den Händen.«
Admiral Pease griff nach den Papieren, die Curew ihm triumphierend entgegenhielt, und überflog sie mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Einspruch, Admiral!«, schrie Captain Garret. »Die Verteidigung hatte ihre Beweisführung bereits abgeschlossen. Diese Beweismittel sind unzulässig!«
»Abgewiesen!«, herrschte Admiral Pease zurück und funkelte den Ankläger gereizt an. »Sie wissen ebenso gut wie ich, dass man niemanden für ein Verbrechen vor Gericht stellen kann, das gar nicht begangen worden ist.«
»Dann zweifle ich die Echtheit der vorgelegten Dokumente an«, setzte Garret nach und stürmte zur Richterbank, um Admiral Pease die Papiere abzunehmen.
»Jede der Sterbeurkunden ist von der zuständigen Gesundheitsbehörde beglaubigt worden«, untermauerte Commander Curew ihre Erkenntnisse.
Captain Garret studierte die Urkunden peinlich genau, nahm sie sogar mit zum Tisch der Anklage und verglich sie dort mit seinen eigenen Aufzeichnungen, um sich letzten Endes, die hohlen Wangen vor Beschämung leicht gerötet und mit finsterem Blick, Lovitt zuzuwenden, der seine Schultern mittlerweile fast bis zu den Ohren hochgezogen hatte.
Im Anschluss eilte der Anwalt nach vorn und gab dem Richter die Dokumente zurück, wobei seine auf Hochglanz polierten Schuhe auf dem Hartholzboden laut klackten. »Euer Ehren«, begann er widerwillig. »Da diese Sterbeurkunden echt zu sein scheinen, kann der Angeklagte unmöglich des Mordes an Daniels, Keyes und Smith schuldig sein; die Anklage wegen Zerstörung von Marineeigentum bleibt allerdings auch weiterhin bestehen –«
»Es war Commander Lovitt, der mit dem Maschinengewehr geschossen hat«, gab Admiral Pease zurück. »Glauben Sie wirklich, er hätte den Helikopter bei einem Schussfeld von zweihundertsiebzig Grad getroffen, wenn er es nicht darauf angelegt hätte?« Er ließ krachend seinen Hammer niederfahren. »Das Verfahren die Marine der Vereinigten Staaten gegen Lieutenant Renault wird aus Mangel an Beweisen eingestellt!«, sagte er mit donnernder Stimme über das verblüffte Gemurmel der Zuschauer hinweg. »Wachen!«, fügte er hinzu und gab den Sicherheitsbeamten, die Jaguar in den Saal gebracht hatten, ein Zeichen. »Nehmen Sie Commander Lovitt in Gewahrsam!«
Aus den Reihen der Navy SEALs war Jubel zu hören. Geschlossen strömten sie nach vorn und umringten Commander Curew, die in aller Bescheidenheit hastig vor ihnen zurückwich. Luther legte einen Arm um Westys Schultern und zog ihn triumphierend an sich. Sie hatten es geschafft! Jaguar war ein freier Mann!
Dem Chief war die Umarmung sichtlich unangenehm. »Entschuldigen Sie bitte, Sir«, sagte er und drückte sich an Luther vorbei, der ihm nachsah, wie er sich im Fahrwasser von Mrs Garret einen Weg zum Hinterausgang bahnte. Großer Gott, Westy lief der Frau tatsächlich hinterher.
Plötzlich erregten Jubelrufe vorn im Gerichtssaal Luthers Aufmerksamkeit. Eine Horde junger SEALs hatte Commander Curew auf die Schultern gehoben und marschierte nun mit ihr durch den Saal, ohne ihren Drohungen, sie mit Prozessen zu überziehen, Gehör zu schenken.
Wie aus dem Nichts tauchte Sebastian auf und drückte Luther die Hand. »Wir haben es geschafft, Sir. Kommen Sie, reden wir mit Jaguar.«
Gabe, dem sichtlich eine Last von den Schultern gefallen war, umarmte gerade seine glückstrunkene Familie und wirkte mehr als zehn Jahre verjüngt. Als Luther und Sebastian auf ihn zusteuerten, löste er sich von seinen Lieben und nahm ihre Glückwünsche entgegen. Hinter ihnen stellten sich weitere SEALs an, um es den beiden gleichzutun.
Luther konnte den unverhofft errungenen Sieg noch immer nicht fassen und drehte sich einmal im Kreis. Warum nur fühlte er sich alles andere als siegreich? Vinny klopfte ihm auf die Schulter. Teddy wischte sich Tränen aus dem Gesicht. »Ich muss weg«, sagte Luther und wandte sich dem Ausgang zu.
Als er das Foyer betrat, stellten sich ihm zwei Männer in marinefarbenen Windjacken in den Weg. Am Logo auf ihrer linken Brust erkannte er, dass sie vom FBI waren. Luther nahm an, dass sie Tanya Obradovic abholen und in diesem Zusammenhang mit ihm reden wollten, doch dann fiel ihm der junge Mann hinter den beiden auf, den er von Fotos in Hannahs Schlafzimmer her kannte.
»Lieutenant Lindstrom?«, erkundigte sich der kleinere der beiden FBI-Männer.
»Ja.«
»Agent Crawford«, stellte er sich vor. »Und dies sind Special Agent Hearn und Kevin Geary.«
Luther schüttelte ihnen die Hände, wobei er feststellte, dass Kevin ebensolche Pranken besaß wie er selbst.
»Wir haben von dem Zwischenfall gestern Abend gehört«, fuhr Agent Crawford fort und schaute an Luther vorbei in den Gerichtssaal. »Wir sind hier, um Miss Geary in unsere Obhut zu nehmen.«
Luther fühlte sich unmittelbar angegriffen. Andererseits, warum so abwehrend reagieren, wenn es hier um Hannahs Sicherheit ging?
»Wo ist sie?«, fragte Kevin besorgt.
Er zuckte kaum merklich zusammen. »Im Städtischen Krankenhaus«, musste er eingestehen. »Sie hat gestern einen Streifschuss abbekommen.«
Agent Crawford funkelte ihn an. »Das haben Sie gestern, als Sie in Valentinos Büro angerufen haben, aber nicht erzählt.«
»Hannah wollte nicht, dass ihr Bruder sich Sorgen macht.«
»Das wird dem Chef sicher nicht gefallen«, antwortete Crawford scharf. »Gehen wir!« Mit einem Kopfnicken Richtung Ausgang bedeutete er Luther voranzugehen. »Wie weit ist es zum Krankenhaus?«
»Es liegt quasi direkt vor der Tür. Was ist denn hier eigentlich los?« Er hatte eine böse Vorahnung, sodass sich seine Nackenhaare aufstellten, und blickte sich um, doch Westy war noch nicht wieder im Gerichtssaal erschienen.
»Schnell«, drängte Agent Crawford und schob ihn zur Tür.
Mit einem schlechten Gefühl im Magen und ohne den Chief brach Luther zum Parkplatz auf. »Jetzt sagen Sie mir endlich, was los ist«, verlangte er von den Männern.
Doch die Agenten schenkten ihm keinerlei Beachtung. »Wir fahren Ihnen nach«, antwortete Crawford nur knapp. »Kevin, Sie fahren bei dem Lieutenant mit und bringen ihn auf den neuesten Stand.«
Hannahs Bruder ließ sich auf den Beifahrersitz sinken, und Luther steuerte eilig das Krankenhaus an. »Also, was liegt an?«, fragte er.
Kevins Augen waren ebenso außergewöhnlich grün wie die seiner Schwester. »Westmoreland ist nicht das Individuum«, antwortete er leise.
»Nicht das Individuum.« Luther brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass der eigentliche Übeltäter damit immer noch auf freiem Fuß war. »Wer dann?«, wollte er wissen und trat aufs Gas.
Kevin schaute aus dem Seitenfenster, offenbar stand er unter Schock. »Unser Onkel Caleb.«
Fünf Minuten später bog Luther mit quietschenden Reifen und unter der Ausgehuniform in kalten Schweiß gebadet auf den Krankenhausparkplatz ein. Er erblickte Galworth und Stone, die gerade zu ihrem Winnebago liefen, und hielt, mit der Hand auf der Hupe, geradewegs auf sie zu.
»Wo ist Hannah?«, rief er aus dem Fenster seines Wagens.
Die Leibwächter wechselten Blicke. »Der Boss war hier und hat sie mitgenommen«, eröffnete ihm Stone. »Und er hat uns rausgeschmissen«, ergänzte er und funkelte Luther vorwurfsvoll an.
»Wohin mitgenommen?«, fragte Luther. Der Wunsch, die beiden anzuschreien, schnürte ihm schmerzhaft die Kehle zu.
Stone zuckte teilnahmslos mit den Schultern. »Weiß ich nicht. Er meinte, er wolle nach Oceana. Aber ich schätze, dort wird er auch nicht lange bleiben.«
Luther verkniff sich einen Fluch und trat das Gaspedal durch, sodass Kevin in seinen Sitz gedrückt wurde. Sie fuhren in dieselbe Richtung zurück, aus der sie gerade erst gekommen waren. Himmel, wahrscheinlich waren sie an Hannah vorbeigefahren und hatten es nicht einmal bemerkt.
»Wir müssen sie aufhalten«, sagte Kevin mit gepresster Stimme. Seine Sommersprossen hoben sich nun deutlich von seinem blassen Gesicht ab.
»Das werden wir«, versicherte Luther ihm, obwohl er keine Ahnung hatte, wie viel Vorsprung Newman bereits haben mochte. Er warf den FBI-Agenten, die sich an sie gehängt hatten, durch den Rückspiegel einen finsteren Blick zu. »Verdammt noch mal, warum hat Valentino mich nicht gewarnt, wer in Wahrheit das Individuum ist?«, knurrte er, ohne mit einer Antwort zu rechnen.
»Mir hat er auch nichts verraten«, räumte Kevin ein. »Er wollte wohl, dass Onkel Caleb unvorsichtig wird, um ihn sich dann schnappen zu können. Ich schätze, wenn Hannah und ich im Bilde gewesen wären, hätten wir uns auffällig verhalten und Onkel Caleb wäre alarmiert gewesen, aufzuhören.«
»Ich hätte die Wahrheit für mich behalten können«, beharrte Luther. »Valentino hätte mich darüber unterrichten müssen.« Doch dann fiel ihm wieder ein, wie der FBI-Agent ihn gewarnt hatte, und er schlug sich mit der Hand vor die Stirn. »Verdammt, das hat er ja auch! Ich hab’s bloß nicht kapiert. Aber was bezweckt Newman?«, fragte er sich grimmig.
Kevin schüttelte den Kopf. »Das wissen wir nicht. Agent Crawford hat mir erst heute früh eröffnet, dass unser Onkel damals die Maschine unseres Vaters sabotiert hat.«
Was?! Luther blickte ihn ungläubig an. Newman hatte Hannahs Eltern auf dem Gewissen? Oh Gott, das war gar nicht gut! »Wir werden ihn aufhalten«, versprach Luther. Wie er es hasste, Kevins leeren Gesichtsausdruck zu sehen. Er konnte nicht sagen, wen er mehr zu beruhigen versuchte – Hannahs Bruder oder sich selbst.
Als Luther eine gelbe Ampel missachtete und an der Kreuzung links nach Oceana abbog, entdeckte er genau über sich, jenseits der Baumwipfel, ein zweimotoriges Turboprop-Flugzeug. Kevins Reaktion bestätigte seine schlimmsten Befürchtungen.
»Nein, werden wir nicht«, sagte der junge Mann und vergrub das Gesicht in den Händen. »Das da ist Onkel Calebs Maschine.«
Als Direktor der DIA verfügte Caleb Newman über zwei Flugzeuge: einen Jet vom Typ Cessna Citation wie jener, in dem Hannahs Eltern umgekommen waren, und eine zweimotorige Turboprop Beech King Air. Eine Maschine, die man auch an außergewöhnlichen Orten wie dem winzigen Rollfeld der Halbinsel Yucatán ohne Probleme landen konnte.
Hannah beobachtete, wie die Startbahn von Oceana unter ihnen immer kleiner wurde, und hatte das Gefühl, ihr Magen würde sich umdrehen. Bereits auf ihrem letzten Flug mit Luther an ihrer Seite war sie nervös gewesen. Doch nun, in dem viel kleineren Flugzeug, mit Brummschädel und innerlich komplett aufgewühlt, befürchtete sie, sich sogar übergeben zu müssen.
Dabei war es nicht nur ihre Flugangst, die sie leiden ließ. Irgendetwas stimmte nicht. Aber was? Lag es an der Neuigkeit, dass ihre Eltern ermordet worden waren? Sie wischte ihre feuchten, kalten Hände an den Hosenbeinen ab und umklammerte wieder die Armlehnen ihres Sitzes. Oh Gott, mit so schwerem Herzen konnte sie keinen klaren Gedanken fassen!
Newman tätschelte ihr den Unterarm. »Aufgeregt, Liebes?«
»Mir geht’s gut«, log sie.
»Das wird schon wieder«, versprach er. »Du musst nur an den Sandstrand und den blauen Himmel denken. Bald bist du außer Gefahr und liegst entspannt am Meer.«
Das Wort »Meer« erinnerte Hannah an Kuba. Sie hätte kein Problem damit, nie wieder eine Welle gegen den Strand branden zu hören. Aber es wäre unhöflich gewesen, ihn darauf hinzuweisen, schließlich wollte Onkel Caleb ihr bloß helfen. »Ich kann mich aber nicht ewig verstecken«, zeigte sie auf.
Bekümmert musterte er ihr Profil. »Ja, natürlich nicht, meine Liebe. Aber ich hoffe, dass du fürs Erste dort bleibst. Zumindest so lange, bis diese Geschichte mit Westmoreland vorbei ist.«
»Und sobald er nicht mehr im Amt ist«, überlegte sie laut, »kann ich ohne Gefahr zur CIA zurück.«
Er seufzte traurig. »Was hat die CIA, was ich dir nicht bieten kann?«, wollte er wissen. »Wir haben auch eine Auslandsabteilung. Wenn du unbedingt reisen willst, kann ich dich dorthin versetzen.«
»Stimmt.« Sie nickte und versuchte, nicht sarkastisch zu klingen. »Und darüber hinaus wirst du dafür sorgen, dass ich nur in die sichersten und denkbar ungefährlichsten Einsätze geschickt werde. Aber das ist nicht das, was ich will, Onkel Caleb. Ich möchte etwas bewegen.«
»Überlass das nur mir«, antwortete er und schaute wieder nach vorn.
Und damit war die Unterhaltung beendet, ohne dass sie ihn in irgendeiner Weise überzeugt hätte.
»Ich werde zurückgehen«, beharrte sie, wohl wissend, wie kindisch sie sich anhörte.
»Du bist stur«, sagte er und presste die Lippen aufeinander. »Genau wie deine Mutter.«
Seine seltsame Bemerkung machte sie stutzig. »Was hat denn meine Mutter damit zu tun?«, wollte sie wissen.
»Ich hatte sie gebeten, nicht in das Flugzeug einzusteigen. Und sieh dir an, was ihr zugestoßen ist«, sagte er seltsam schroff.
Hannah runzelte die Stirn. »Warum hättest du sie darum bitten sollen? Du konntest doch nicht wissen, dass etwas passieren würde.«
Oder etwa doch?
Er warf ihr einen kurzen, unergründlichen Blick zu. »Wenn man den Beruf deines Vaters ausübt, weiß man nie, mit welchen Feinden man es zu tun bekommt.«
Allmählich kam ihr ein schrecklicher Verdacht. Bill Westmoreland war nicht der Einzige, der ein Motiv gehabt hatte, sich an der Maschine ihres Vaters zu schaffen zu machen. Hätte Rebecca Geary ihren Mann nicht zu seiner Amtseinführung begleitet, wäre sie Witwe geworden, und Onkel Caleb hätte sie für sich allein gehabt.
Was für ein furchtbarer Gedanke – ihr geliebter Onkel sollte vorsätzlich seinen besten Freund umgebracht haben? So etwas würde er niemals tun.
»Mr Newman, Sir.« Der Pilot rief Newman ins Cockpit.
Hannah taxierte ihren Patenonkel, der nun seinen Sicherheitsgurt löste und Richtung Pilotenkabine verschwand. Ihr Leben lang war er ihr nur mit Liebe und Wärme begegnet, aber mit einem Mal schien etwas an der Art, wie er sie zu beeinflussen versuchte, nicht richtig zu sein.
Und die Worte des Piloten machten sie noch misstrauischer. »Sir, wir haben Anweisungen von Norfolk Departure, zum Oceana Air Field zurückzufliegen«, teilte er mit Nachdruck mit.
Sie wurden aufgefordert, umzukehren. Wieso?
»Halten Sie den Kurs«, beharrte ihr Patenonkel. »Bringen Sie uns so schnell wie möglich aus deren Luftraum.«
Der harte Unterton in seiner Stimme ließ Hannah nach ihrem Sicherheitsgurt greifen. Wovor floh Onkel Caleb? Und warum? Sie stand auf und rückte die Sitzreihen bis zum Cockpit auf, um zu lauschen.
»Norfolk Departure«, gab der Pilot weiter, »hier King Air NDI 02A. Ich kann Sie nicht richtig verstehen. Bitte wiederholen Sie.«
»Ich stelle Sie zum Kontrollturm in Oceana durch«, war eine Männerstimme zu vernehmen, es folgten Statikrauschen und ein schrilles Fiepen. »Hier Agent Crawford vom FBI. Spreche ich mit der DIA-Frachtmaschine?«
»Roger«, brummte der Pilot.
Hannah holte alarmiert Luft. FBI? Warum sollte das FBI wollen, dass ihr Onkel umkehrte, es sei denn … Es sei denn …
Plötzlich erkannte sie das Offensichtliche. Was, wenn Onkel Caleb das Individuum war? Was, wenn er sie unter dem verrückten Vorwand, sie beschützen zu wollen, nach Kuba verschleppt hatte? Und tat er jetzt nicht dasselbe, indem er sie nach Yucatán brachte? Damit sie nicht noch mehr in diese Sache verwickelt wurde, als sie es ohnehin schon war?
Wofür hielt er sich? Für einen wohlwollenden, allmächtigen Marionettenspieler?
Es wurde für sie mit einem Mal zur schrecklichen Gewissheit. Natürlich, so musste es sein! Onkel Caleb war das Individuum. Er versuchte nicht bloß, ihr Leben zu kontrollieren, er wollte, dass die ganze Welt nach seiner Pfeife tanzte.