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Naval Air Station Annex Dam Neck
24. September, 02 Uhr 43
Ihr zweiter Abend im Gebäude der Special Operations brachte noch weniger als der erste. Luther war am Abend zuvor im Intranet des Navy-Marine Corps schließlich auf eine Übersicht der abhanden gekommenen Waffen gestoßen, samt Beschreibungen, Seriennummern sowie aller Daten und Umstände der Raubzüge. Er hatte Kopien von den Informationen gezogen und zur persönlichen Verwendung auf seinem Organizer gespeichert.
Die Analyse der Daten ergab, dass SEALs sowohl von der Ost- als auch von der Westküste mit dem Auftrag, Waffen abzufangen, in Gegenden wie den Golf von Siam, den Golf von Oman und die Beringstraße geschickt worden waren. Doch wie sie feststellen mussten, hatte sich stets bereits jemand anders diese Waffen unter den Nagel gerissen. Allerdings wies nichts darauf hin, dass Lovitt im Voraus von diesen Einsätzen gewusst hatte, sodass er in der Lage gewesen wäre, die Waffen vor den SEALs in seinen Besitz zu bringen.
»Das ist verrückt«, meinte Luther nach drei Stunden vergeblicher Suche. Damit drehte er sich auf dem Bürostuhl zu Hannah herum, die über einen Aktenschrank gebeugt stand und den Inhalt eines Kartons durchging.
Sie trug heute einen wadenlangen Leinenrock, dazu Strumpfhosen sowie eine langärmelige, weiße Bluse. Kein Zentimeter ihrer hellen Haut blitzte hervor. Trotzdem fand er den Blick, den sie ihm über den Rand ihrer Brille zuwarf, sehr erotisch.
»Was genau ist verrückt?«, fragte sie und richtete sich auf. »Die ganze Nacht aufzubleiben oder dass wir mit dem Kopf durch die Wand wollen?« Sie reckte sich, bog sich grazil wie eine Katze.
»Beides.« Luther massierte seinen steifen Nacken, während er versuchte, nicht darauf zu achten, wie der Stoff von Hannahs Bluse sich so über ihren Brüsten spannte, dass er sogar ihre Nippel ausmachen konnte. »Finden Sie es nicht merkwürdig, dass Lovitts Name nirgendwo auftaucht? Sieht fast so aus, als wäre er höchstpersönlich hier reinspaziert und hätte seinen Namen aus sämtlichen Dokumenten gelöscht, die wir uns ansehen.« Er hielt nachdenklich inne. »Moment mal. Wenn es so wäre, müsste ein Administrator ihn doch im Benutzerprotokoll ausfindig machen können.«
Hannah schloss den Aktenschrank und ging zu ihm. »Wir hätten mehr davon, ihn direkt mit den Diebstählen in Verbindung bringen zu können. Ich sag Ihnen was, Luther, wir müssen zum Northern Neck fahren und herausfinden, was Ernie herausgefunden hat.« Beim Klang ihrer erstickten Stimme blickte er abrupt auf. Hinter den Brillengläsern meinte er Tränen in ihren Augen glänzen zu sehen.
»Sie sind eigentlich seinetwegen hier, nicht wahr?«, fragte Luther, als er über ihre Beweggründe nachdachte. Warum sonst sollte sie sich die Nächte um die Ohren schlagen? »Wie war Forrester denn so?«, erkundigte er sich und rätselte, ob Hannah wohl etwas mit ihrem Kollegen gehabt hatte.
Sie überlegte kurz. »Fett«, antwortete sie mit einem angestrengten Kichern. »Der arme Kerl hat gegessen wie ein Kaninchen und trotzdem nicht abgenommen. Er liebte seine Arbeit, ist ganz darin aufgegangen und hat immer alle Erwartungen übertroffen, wahrscheinlich ist es ihm vor allem deshalb gelungen, Lovitts Machenschaften aufzudecken. Wissen Sie, es bringt mich echt auf die Palme, wenn jemand stirbt, bevor er zu Ende bringen kann, was er sich vorgenommen hatte«, sagte sie dann, während sie sich einen zweiten Bürostuhl heranzog und sich daraufplumpsen ließ.
Luther spürte tiefe Trauer hinter ihrer Frustration. Ihn überkam der absolut verrückte Drang, sie auf seinen Schoß zu ziehen und in seine Arme zu nehmen, damit sie ihren mühsam unterdrückten Schmerz herauslassen konnte.
»Sie haben recht«, sagte er, wild entschlossen, ihr eine bessere Perspektive zu geben. »Wenn Lovitt Ihren Kollegen ermordet hat, müssen wir das beweisen. Machen wir hier Schluss. Lassen Sie uns zum Northern Neck fahren und herausfinden, was Forrester dort wollte. Wissen Sie, in welcher Unterkunft er dort war?«
»Nein«, antwortete sie und rückte näher heran.
Er gab Forresters Namen in eine Suchmaschine ein und fand einen Zeitungsbericht über seinen Tod, den Luther und Hannah gemeinsam überflogen.
»Da steht, dass er aus der Gegend von D.C. kam und im Magnolia in Sabena übernachtet hat«, stellte Hannah fest.
»Die Untersuchung des Vorfalls durch Sheriff James Blaylock«, las Luther vor, »ergab, dass es sich um einen Unfall handelte. Forrester verlor möglicherweise die Kontrolle über sein Fahrzeug, kam von der Straße ab und prallte gegen einen Baum. Sein Airbag ging nicht vollständig auf.« Luther betrachtete Hannah, die angespannt wirkte, von der Seite. Sie lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Über diesen Sheriff Blaylock würde ich gern mehr erfahren«, sagte sie barsch.
Luther tippte daraufhin dessen Namen ein. Erwartungsgemäß erhielt er Dutzende Treffer. »Wir müssen die Suche eingrenzen.«
»Fügen Sie Lovitts Namen hinzu«, schlug Hannah vor. »Wer weiß? Vielleicht haben wir ja Glück.«
Er folgte ihrem Vorschlag, ohne mit einem Ergebnis zu rechnen. Aber zu seiner Überraschung gab es einen Treffer – einen Eintrag, in dem die Namen Blaylock und Lovitt auftauchten. »Sehen Sie sich das an!«, rief er, als auf dem Monitor eine Heiratsanzeige erschien. »Sheriff James Blaylock heiratet Anna Lovitt. Die Anzeige ist zwei Jahre alt.«
Hannah beugte sich vor, ihre Miene hellte sich auf. »Meinen Sie, sie ist mit ihm verwandt?«
»Hier.« Er deutete auf einen Absatz gegen Ende des Artikels. »Die Braut ist die Tochter von Dotty und Marshall Lovitt, der leider verstorben ist, weshalb die Braut von ihrem älteren Bruder Edward, Commander der United States Navy, zum Traualtar geführt wurde. Jetzt haben wir dich, du Hundesohn.«
»Leider nein«, entgegnete Hannah und verhinderte so, dass er ihr siegessicher um den Hals fiel. »Das sind alles nur Indizien. Schön, Lovitts Schwager ist also der Sheriff von Sabena. Und was beweist das? Gar nichts.«
»Sie haben recht«, räumte er ein. »Wir fahren gleich morgen früh nach Sabena.«
»Glauben Sie, wir können in zwei Tagen etwas herausfinden?«, fragte sie skeptisch.
»Wir haben keine andere Wahl, oder?« Luther schloss das Browserfenster und fuhr den Rechner runter. Als er unter den Schreibtisch langte, um den Computer auszuschalten, streifte er mit der Schulter Hannahs Oberschenkel. Trotzdem schaffte er es, sich aufzurichten, als hätte ihn die kurze Berührung nicht wie ein Stromschlag getroffen.
Heiß und alles verzehrend sprang der Funke über.
Nach zwei Nächten Arbeit auf engstem Raum spürte er ihre Gegenwart nur umso deutlicher. Wie sie sich bewegte, ihre Intelligenz und ihr Einfühlungsvermögen, dieser feminine Duft, der von ihr ausging, das alles untergrub allmählich seine Entschlossenheit, sie auf Abstand zu halten.
Und jetzt war er im Begriff, sich auch noch zusammen mit Hannah ins Zentrum von Lovitts kriminellen Machenschaften zu begeben. Um sich ein Bild von den letzten Stunden des DIA-Beamten zu machen, würden sie wahrscheinlich sogar in der Frühstückspension übernachten müssen, in der sich auch Forrester ein Zimmer genommen hatte.
Wie sollte er das machen, ohne Hannah die Perücke vom Kopf zu reißen? Er hatte sich bereits mehr als einmal vorgestellt, mit den Fingern durch ihre herrlichen, weichen Haare zu fahren, ihr die Brille abzunehmen und das Verlangen in ihren Augen aufflammen zu sehen.
Es würde ein Test werden, wie entschlossen er wirklich war – so viel stand fest.
Hannah stöhnte in ihr Kissen. War es denn möglich, in den vergangenen zweiundsiebzig Stunden so wenig geschlafen zu haben und jetzt dennoch hellwach zu sein?
Sie setzte sich auf, strich sich das Haar aus dem Gesicht und starrte vor sich hin. Die vier Wände von Westys Gästeschlafzimmer kamen ihr mittlerweile vertraut vor.
Sie konnte nur raten, wie spät es war – drei Uhr früh möglicherweise. In wenigen Stunden würden sie nach Sabena aufbrechen und ihre Nachforschungen auf ein neues Level bringen. Da war es so nötig wie nie, dass sie ihre Batterien auflud.
Doch sie hatte Bilder von Ernies Flucht aus Sabena vor Augen. Vielleicht war er, nachdem er Beweise für Lovitts Verbrechen gefunden hatte, zu seiner Frühstückspension geeilt, um seine Sachen zu packen, und dann von der Straße abgedrängt worden, während er aus der Stadt gerast war.
Da es sich beim Sheriff von Sabena um Lovitts Schwager handelte, hatte sich womöglich ein Polizeiauto an Ernies Fersen geheftet und ihn von der Fahrbahn gestoßen. In dem Sekundenbruchteil, bevor er gegen den Baum geprallt war, musste er ähnliches Entsetzen erfahren haben wie ihre Eltern. Nur hatte deren Flugzeugabsturz länger gedauert.
Daran darfst du nicht denken! Aber es war schon zu spät. Wenn sie jetzt noch einschlafen sollte, würde sie garantiert von dem Absturz träumen.
Sie seufzte erschöpft. Ich brauche Hilfe, dachte sie. Luther döste im Wohnzimmer direkt unter ihr auf dem Sofa. Sie wusste mit niederschmetternder Sicherheit, dass sie in seinen Armen wunderbar schlafen würde. Aber was wäre sie für eine Nachrichtenoffizierin, wenn sie nicht allein einschlafen konnte?
Sie zögerte den unabwendbaren Albtraum hinaus, indem sie ihr zerwühltes Bettzeug aufschüttelte. Da ertönte ein dumpfes Geräusch auf dem Dach und ließ sie erstarren. Vielleicht war nur eine Eichel von dem mächtigen Baum, dessen Zweige sich über Westys Haus erstreckten, heruntergefallen. Doch dann hörte sie es wieder, zu regelmäßig für eine Eichel.
Und dieses Mal schien es näher zu sein.
Hannah rollte sich aus dem Bett. Mit zwei Schritten hatte sie das kleine Zimmer durchquert, drückte sich mit dem Rücken gegen die Wand und spähte durch die dünnen Vorhänge des Dachfensters.
Draußen duckte sich eine schattenhafte Gestalt weg, die sie möglicherweise gesehen hatte. Angst durchzuckte Hannah und trieb sie auf den Gang hinaus. Sie schnappte vor Schreck nach Luft, als sie mit Westy zusammenprallte, dessen kräftiger Körper praktisch nackt war.
»Psst«, machte er und zog sie rasch um die Ecke. »Laufen Sie zur Treppe, und bleiben Sie da«, befahl er und drückte ihren Kopf runter.
Hannah gehorchte, sie wünschte sich sehnlichst, eine Waffe wie seine zu haben. Westys SIG Sauer schimmerte in der Dunkelheit, als er lautlos in ihrem Zimmer verschwand.
In dem Moment bellte unten der Hund. Luther beruhigte ihn. Schnelle Schritte signalisierten, dass auch er alarmiert war.
Wieder ertönte das Geräusch auf dem Dach, jetzt wurde es jedoch leiser. »Scheiße.« Westy stieß das Fenster auf und riss den Vorhang zur Seite, um sich den Eindringling zu schnappen, bevor dieser entkam. Doch offensichtlich schlug der Versuch fehl. Im nächsten Moment sauste der SEAL an ihr vorbei, seine Schritte verursachten auf den knarrenden Stufen fast keine Geräusche. »Nicht bewegen«, befahl er.
»Okay.« Hannahs Herz schlug unnatürlich laut. Sie konnte nicht verstehen, was Westy zu Luther sagte, vermutlich dass sie sich aufteilen und jeder sich eine Eingangstür vornehmen sollte. Aber dann wäre sie hier mutterseelenallein. Ohne eine Waffe.
Doch tatsächlich hörte sie, wie die Küchentür quietschend geöffnet wurde. Es musste Luther sein, der da hinten hinausschlich, denn Westy ging unauffälliger vor.
Ein Scharren drang zu ihr hinauf. Hannah straffte sich, doch es war bloß Jesse. Der schwarze Labrador kam zu dem Treppenabsatz und winselte mitleiderregend.
Du glaubst, du hättest Angst?, übermittelte sie ihm in Gedanken. Frag mich mal. Die haben mich hier unbewaffnet zurückgelassen.
Wenn der Eindringling nicht allein war, wenn es sich um ein Paar wie die Obradovics handelte, dann würde einer Luther und Westy ablenken, während der andere durch ein Fenster im Obergeschoss hereinkletterte und ihr das Gehirn wegpustete.
Nein, so lief das nicht. Also rutschte Hannah auf ihrem Hinterteil die Treppenstufen hinunter. Sie musste sich bewaffnen und ein Messer war besser als nichts.
In der Küche wimmelte es von Schatten. Durch die Verandatür des Anbaus, den Westy an der Rückseite des Hauses hochgezogen hatte, konnte sie hinaus in den Garten blicken, wo die schattigen Bäume Scharfschützen perfekte Verstecke boten.
Sie krabbelte auf allen vieren über den Kiefernholzboden, ohne sich oberhalb der Arbeitsplatte sehen zu lassen, und steuerte schnurstracks auf Westys Küchenmessersortiment zu.
Sie spähte nach oben und suchte sich die größte Klinge aus. Mit dem Griff in der Hand fühlte sie sich schon ruhiger. Bei der CIA war sie auch im Kampf Mann gegen Mann ausgebildet worden.
Es schien eine qualvolle Ewigkeit zu vergehen, während sie in der Küche kauerte und mit dem Schlimmsten rechnete. Wenn das Individuum hinter ihr her war, würde es sie diesmal, nachdem sie seine kubanische Präsidentschaftshoffnung getötet hatte, nicht lebend davonkommen lassen.
Plötzlich flog die Hintertür auf. Hannah sprang hoch und startete einen Überraschungsangriff, gegen den eine Schusswaffe nichts hätte ausrichten können.
»Hey, hey, hey.«
Es war Luther, nicht der etwa gleich große Misalov Obradovic. Mit drei schnellen Bewegungen hatte er sie entwaffnet. Dann warf er das Messer auf die Arbeitsplatte und riss sie an sich, die Muskeln unter seiner Haut vor Wut angespannt. »Was zum Teufel sollte das werden?«, presste er durch zusammengebissene Zähne wütend hervor.
»Entschuldigung, ich dachte, Sie wären –«
»Nein. Ich bin hier, um Sie zu beschützen.« Seine Arme glichen Stahlbändern, die sie an seine nackte Brust fesselten. »Halten Sie in Zukunft die Füße still und lassen Sie mich meine Arbeit machen«, fügte er hinzu.
Seine Brust fühlte sich warm, glatt und aufgrund der schwülen Luft draußen ein wenig feucht an. Ihre Gesichter waren einander so nah, dass Hannah sich mühelos einen Kuss hätte stehlen können.
Und das tat sie, ohne es eigentlich zu wollen. Der Drang, ihn zu besänftigen und sich selbst zu trösten, setzte ihren gesunden Menschenverstand für einen Moment außer Kraft.
Seine Lippen waren warm und weich. Sie wusste genau, wie es sich anfühlen würde, wenn er ihren Kuss erwiderte. Als das Verlangen sie einhüllte, holte sie tief Luft. »Tut mir leid«, hauchte sie und wich zurück.
Eigentlich tat es ihr gar nicht leid, aber das musste er ja nicht unbedingt wissen.
Luther lockerte seinen Griff nicht. Stattdessen blickte er fassungslos auf sie hinunter. Sie spürte, dass er erregt war und wie er steif wurde.
Doch dann ließ er sie los, sodass ihre Fersen auf den Boden klatschten. Er blickte schnell zum Fenster. »Gehen wir rüber«, brummte er und zog sie ins Wohnzimmer, wo er die Vorhänge zuzog, damit sie von draußen nicht zu sehen waren.
»Haben Sie gesehen, wer auf dem Dach war?«
»Ja, aber er ist abgehauen und mit einem Auto weggefahren. Westy hat hinter einem Gebüsch Stellung bezogen, denn vielleicht kommt der Typ ja noch mal wieder, aber ich denke, wir können davon ausgehen, dass es das war.«
»Ist es Misalov Obradovic gewesen?« Bei dem Gedanken an den teilnahmslosen Blick des Europäers wurde ihr angst und bange. Die Vorstellung, dass er und seine skrupellose Frau hinter ihr her waren, brachte sie völlig aus der Fassung.
»Ich glaube nicht. Dieser Mann war schlank, leichtfüßig. Seine Art zu laufen kam mir irgendwie bekannt vor, aber ich konnte sein Gesicht nicht erkennen.«
»Jemand weiß, wer ich bin«, schlussfolgerte sie. Ihre Knie gaben plötzlich nach und sie fiel aufs Sofa.
Luther drehte sich zu ihr um. »Wie?«, fragte er mit vor Enttäuschung brüchiger Stimme. »Wie sollten Sie so schnell aufgeflogen sein?«
»Es muss eine undichte Stelle geben«, meinte sie.
Luther schüttelte den Kopf.
»Ihre Verlobte«, vermutete Hannah.
»Nennen Sie sie nicht so.« Sein schroffer Ton verriet ihr, dass sie einen wunden Punkt getroffen hatte. »Sie ist nicht meine Verlobte. Und sie wäre es besser nie gewesen.«
Bei seinen Worten fiel ihr eine Last vom Herzen. »Könnte sie herausgefunden haben, wer ich wirklich bin? Weiß sie, was los ist?«, ließ Hannah nicht locker.
Luther setzte sich neben sie. »Keine Ahnung.«
»Wer hat mich noch gesehen? Die Verteidigerin. Und die Männer Ihres Zugs.«
»Von denen hält keiner zu Lovitt«, versicherte er ihr. »Scheiße, es muss Veronica sein«, räumte er finster ein. »Vielleicht hat sie über den ID-Scanner herausgefunden, wer Sie sind.«
»Das kann nur ein Sicherheitsbeamter.«
Er ließ ein trockenes Lachen hören. »Oder die Sekretärin, die mit ihm bumst«, konterte er. »Ich traue ihr durchaus zu, dass sie irgendwelche Spielchen mit mir spielt. Sie hat keine Ahnung, wie ernst die Lage ist.« Mit einer Hand massierte er sich den Nacken. »Falls Veronica uns an Lovitt verraten hat, ist er jetzt vermutlich höchstpersönlich hinter Ihnen her. Ich schätze, er war da draußen«, sagte Luther und sah sie streng an. »Das war Lovitts Laufstil. Der kam mir ja gleich so bekannt vor.«
»Dann wird er dem Individuum stecken, wo ich bin«, ergänzte Hannah, die vor Angst plötzlich einen ganz trockenen Mund hatte.
»Ja, und er wird auch versuchen, in Sabena aufzuräumen.«
Sie saßen Schulter an Schulter nebeneinander, wie benommen von den absehbaren Folgen. »Wir müssen noch heute Nacht zum Northern Neck«, drängte Hannah.
»Nein, wir warten besser bis morgen, wenn Sie Ihren Ausweis bekommen«, widersprach er.
»Bis jetzt hat den noch keiner sehen wollen.«
»Aber ohne lässt man Sie nicht noch einmal ins Gerichtsgebäude«, beharrte Luther.
»Also gut.« Sie ließ sich in die Kissen sinken. Entweder das oder sie würde sich auf Luther stürzen und ihm noch einen Kuss aufdrücken.
»Gehen Sie doch nach oben und schlafen Sie noch ein bisschen, bevor wir aufbrechen«, schlug er vor.
»Klar, als ob ich da oben schlafen könnte, nachdem Lovitt gerade versucht hat, mich durchs Fenster zu erschießen.«
Zu ihrer Enttäuschung stand er auf. »Dann legen Sie sich hier hin«, bot er an, ging zum Fenster und spähte hinaus.
Hannah schwang die Füße aufs Sofa und kuschelte sich unter Luthers Decke. Die Wolle roch nach ihm, nach Sportlerseife und Wäschestärke. »Und was ist mit Ihnen?«, fragte sie in der Hoffnung, er würde sich zu ihr legen.
»Ich mach hier im Sessel ein Nickerchen.«
Hannah vergrub das Gesicht im Kissen und schloss die Augen. Sie würde bestimmt nicht schlafen. Vielmehr spitzte sie die Ohren, als Luther es sich im Sessel gemütlich machte, dessen Federn gegen sein Gewicht protestierten. Er streckte seine langen Beine vor sich aus.
»Würden Sie mir einen Gefallen tun?«, fragte Hannah zehn Minuten später aus purer Verzweiflung. Ihre Augen fühlten sich ganz verquollen an. Wenn sie nicht bald ein wenig Schlaf fand, würde sie einen Nervenzusammenbruch erleiden und die Männer in den weißen Kitteln müssten verständigt werden, um sie abzutransportieren.
»Kommt drauf an«, antwortete er misstrauisch.
»Würde es Ihnen was ausmachen, sich ein bisschen zu mir zu liegen?«
»Zu legen«, verbesserte er sie, ohne jedoch direkt auf ihre Frage einzugehen. Doch schließlich stand er auf. »Dann müssen Sie aber ein Stück rücken.«
Das tat sie und überließ ihm den größten Teil des Sofas. Als er endlich neben ihr auf dem Rücken lag, schmiegte sie sich an ihn und unterdrückte einen Seufzer der Erleichterung. Er war groß und muskulös, und sie passte zu ihm wie ein lange gesuchtes Puzzleteil, lag mit der Schulter in seiner Armbeuge und hatte den Kopf auf seiner Brust. Sie schloss die Augen und lauschte auf seinen regelmäßigen Herzschlag.
Die Erschöpfung zerrte an ihr. »Danke«, murmelte sie und glitt in den Schlaf.
Luther sagte gar nichts. Entweder er war selbst zu müde oder ihre Gegenwart passte ihm nicht.