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Northern Neck, Virginia
24. September, 16 Uhr 36
Als Luther, Hannah und Westy in dessen Wagen zum Northern Neck aufbrachen, hatte die Sonne den Zenit bereits überschritten und erfüllte die Luft mit spätsommerlicher Wärme. Hannahs Ausweis war erst mittags gekommen, was Luther jedoch überhaupt nicht gestört hatte. Das gab ihm Zeit, sich auf alle Eventualitäten ihrer Mission vorzubereiten.
Mit dem Ergebnis, dass Westys Nissan 300ZX nun bis unters Dach mit Taucherausrüstung, Aufklärungsausstattung und ihren Schlafsäcken beladen war. Hannahs neuer Ausweis lag sicher verwahrt in dem Portemonnaie, das Luther auf dem Weg aus Virginia Beach heraus besorgt hatte. So wie sie da auf der Rückbank saß, wieder einmal vollständig verkleidet und mit der trutschigen Geldbörse in den Händen, wirkte sie kein bisschen mehr wie die Frau, die heute Morgen in seinen Armen aufgewacht war, sondern vielmehr wie eine Lehrerin von einer katholischen Schule mit einer geheimen Leidenschaft für sexy Dessous.
Nach dem Aufwachen, mit zerzaustem Haar und ohne die dick aufgetragene Schminke, die sie in Rebecca Lindstrom verwandelte, hatte sie ihm besser gefallen. Als das morgendliche Sonnenlicht durch Westys Fenster gefallen war, hatte er sich von der Farbe ihrer Haare und davon, wie ihre Wimpern über den sommersprossigen Wangen lagen, überwältigen lassen. Beim Anblick ihres Mundes, der im Schlaf so groß und weich wirkte, war er an den Kuss erinnert worden, den sie ihm am Abend aufgedrückt hatte.
Was sollte dieser Kuss?, war es ihm durch den Kopf gegangen. Hatte sie herausgefunden, dass er viel Geld besaß? War sie genau wie Veronica nur hinter seinem Geld her? Oder hatte sie zur Beruhigung einfach menschliche Nähe gebraucht?
Er musste annehmen, dass es ihr um Beruhigung gegangen war. Warum sonst hätte sie ihn darum bitten sollen, sich zu ihr aufs Sofa zu legen, um kurz darauf neben ihm einzuschlafen? Sie mochte ihn, so wie er jetzt war, und nicht das, was er einmal dargestellt hatte. Aber wusste sie auch, dass seine Entschlossenheit, ihrer Anziehungskraft zu widerstehen, schwand, wenn sie Zeit miteinander verbrachten? Wie oft musste er sich noch vorbeten, dass sie nicht die umgängliche, unkomplizierte Frau war, die er suchte?
Luther riss sich zusammen und konzentrierte sich auf die Gegenwart und die vor ihnen liegende Aufgabe. Sie waren nun schon seit einigen Stunden unterwegs und hatten den Verkehrsstau auf der Küstenstraße hinter sich gelassen. Es gab keinerlei Anzeichen, dass sie verfolgt wurden. Wenn Lovitt in der Nacht an Hannah herangeschlichen war, dann hatten sie ihn offenbar davon überzeugt, Abstand zu halten.
Und um ihn zusätzlich in die Irre zu führen, hatten sie Luthers Truck stehen lassen.
Im Verlauf des Nachmittags überquerten sie mehrere Gewässer wie den James River und den York River. Je weiter sie kamen, desto mehr ließ der Verkehr auf der Route 17 nach, bis sie, so weit das Auge reichte, außer welken Maisstängeln nur noch Maniok- und Erdnusspflanzen sahen. Hier und da wurde die Einöde von einem Bauernhaus oder einem Traktor bei der Erntearbeit unterbrochen.
»Oh Mann, wir sind hier mitten in der Provinz!«, bemerkte Westy plötzlich fröhlich.
Hannah erwachte auf dem beengten Rücksitz aus dem Halbschlaf. »Erinnert Sie bestimmt an zu Hause«, bemerkte sie mit schläfriger Stimme.
Westy stammte aus Oklahoma. Das war so ziemlich alles, was Luther über dessen Vergangenheit wusste. Der Chief erzählte nicht gerade viel über sich, woher also wusste Hannah über ihn Bescheid? »Aus welchem Teil von Oklahoma kommen Sie, Chief?«, hakte er nach, seine Neugierde war auf einmal geweckt.
»Broken Arrow«, teilte Westy kurz angebunden mit.
»Sein Großvater war ein waschechter Creek«, meldete sich Hannah.
Westy sah weiter auf die Straße und sagte nichts.
Luther betrachtete ihn von der Seite. »Davon haben Sie mir nie was erzählt«, sagte er vorwurfsvoll.
Westy zuckte mit den Schultern. »Noch drei Kilometer bis Sabena«, verkündete er.
Luther nahm die Straßenkarte aus dem Handschuhfach und schüttelte sie auseinander. »Fahren Sie rechts auf die Country Road 110. Dann links auf die 45.«
Westy bog rechts in die nächste Straße ein, woraufhin sie in ein dichtes Waldstück gelangten und an einer großen, weißen Kirche mit einem weitläufigen Friedhof vorbeikamen. Luther blickte zurück. Niemand folgte ihnen.
Dann hörte der Baumbestand abrupt auf und die Straße führte sie auf eine zweispurige Brücke. Der Karte zufolge war der Wasserweg unter ihnen eine der zahlreichen Verästelungen des Rappahannock und tief genug für große Schiffe. Das Ruckeln der Autoreifen verriet, dass es sich um eine Drehbrücke handelte.
Dann kam die malerische Ortschaft Sabena ins Blickfeld. Am gegenüberliegenden Ufer lag ein Jachthafen mit einem Restaurant. Die Straßen waren von Geschäften und Wohnhäusern aus dem neunzehnten Jahrhundert gesäumt, von denen sich jedes auf hübsche Weise vom anderen abhob, dazwischen standen jahrhundertealter Buchsbaum sowie Eichen und Ahorne, die gerade erst herbstlich zu leuchten begannen.
Hannah zwängte sich zwischen die Vordersitze, um besser sehen zu können. »Da ist das Schild des Magnolia Manor«, zeigte sie, als sie die Pension ein Stück weiter vorn entdeckte.
Westy lenkte den Wagen in eine schattige Seitenstraße. Im Licht des beginnenden Sonnenuntergangs wirkten die viktorianischen Häuser mit all ihren Erkern, Türmchen und dunklen Fenstern geradezu unheimlich.
Die Straße endete vor einer von Backsteinpfeilern flankierten Auffahrt. Die weiß getünchten Ziegel zierte ein Schild.
Dem Artikel zufolge, auf den sie im Internet gestoßen waren, hatte Ernest Forrester hier zuletzt übernachtet. Auf der von Bäumen beschatteten Tafel stand Magnolia Manor, darunter in kleinerer Schrift, die im Dämmerlicht kaum lesbar war: Liebesnest.
Oh-oh. Luther warf Hannah, die das Schild gerade ebenfalls mit halb offenem Mund studierte, einen alarmierten Blick zu. »Forrester hatte doch keine Freundin, oder?«, erkundigte er sich.
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Ganz sicher nicht. Er muss aus einem anderen Grund hier abgestiegen sein.«
Westy schaltete in den Leerlauf und zog die Handbremse an. »Dann lasse ich euch Turteltäubchen mal allein«, bemerkte er grinsend und nahm seine Waffe aus dem Handschuhfach.
Sie hatten zuvor besprochen, dass Westy auf eigene Faust agieren und vorgeben sollte, in den hiesigen Lagerhäusern Arbeit zu suchen. »Ihr Handy wird hier draußen nicht immer funktionieren, Sir«, erinnerte er Luther, ehe er den Kofferraum öffnete und seinen Seesack herausholte. Als er seine Waffe darin verstaute, erhaschte er Hannahs Blick und zwinkerte ihr zu.
Dann wandte er sich ab und schlenderte mit dem Seesack über der Schulter die Straße hinunter. Mit der Flanelljacke, dem Loch im Hosenboden und den ausgelatschten Arbeitsstiefeln sah er absolut wie ein Tramp aus.
Hannah sah ihm beeindruckt nach, bis Luther ausstieg und den Sitz nach vorn klappte, um sie hinauszulassen.
Mit unerklärlichen Schmetterlingen im Bauch kletterte sie aus dem Wagen und streckte sich, während Luther den Fahrersitz für sich einstellte. Sie atmete tief durch und nahm dann neben ihm Platz.
Einen Moment lang blieben sie sitzen und konzentrierten sich auf ihre Aufgabe, die ihnen mit einem Mal, nachdem die Frühstückspension sich als Liebesnest entpuppt hatte, etwas heikler vorkam.
»Besser, wir teilen uns ein Zimmer«, stellte sie fest und schaute ihn kurz an. Die Kiefern warfen ihre Schatten inzwischen über den Wagen, sodass sie Luthers Gesicht nicht erkennen konnte.
»Klar.«
»Und vergessen Sie nicht, mich Rebecca zu nennen«, schärfte sie ihm ein. »Vielleicht sollten wir behaupten, wir hätten gerade erst geheiratet.«
»Klingt jedenfalls überzeugender, als Sie als meine Schwester auszugeben«, pflichtete er ihr gedehnt bei.
»Aber wir tragen keine Ringe«, sagte sie und betrachtete ihre nackte linke Hand.
»Wir haben eben noch nicht die passenden gefunden«, schlug er vor. »Deshalb wollen wir uns in den Antiquitätenläden hier umschauen.«
»Das haut hin.«
Luther legte den ersten Gang ein und der Wagen rollte langsam die lange, baumbestandene Auffahrt hinauf. Auf dem Teppich aus Kiefernnadeln verursachten die Autoreifen fast kein Geräusch.
Hannah machte große Augen, als das herrschaftliche Wohnhaus in Sicht kam, dessen von Scheinwerfern angestrahlte Fassade im Dunkeln gespenstisch leuchtete. Das zweistöckige Gebäude aus der Gründungszeit der Vereinigten Staaten schien mit seinen hohen dorischen Säulen samt Portikus Vom Winde verweht entsprungen zu sein. Fehlten bloß die Virginia-Eichen, von denen Spanisches Moos herabhing. Aber dafür waren sie hier zu weit im Norden.
Luther lenkte den Wagen auf den Parkplatz und holte ihr Gepäck aus dem Kofferraum, ohne auf ihr Angebot zu helfen einzugehen.
Hannah sog schnuppernd die kühle Luft ein. »Riechen Sie das?«, fragte sie leise. »Wir sind nah am Wasser.« In der Luft lag der Schwefelgeruch von Uferschlamm.
Einige Minuten später schnaufte die Inhaberin des Magnolia Manor vor ihnen die weit geschwungene Treppe hinauf und tadelte sie verhalten, weil sie nicht reserviert hatten. Die Laterne in ihrer Hand warf flackerndes Licht auf die getünchten Wände. »Die Flitterwochensuite hätte Ihnen sicher gefallen«, lamentierte sie und schwang ihre ausladenden Hüften hin und her. »Aber die ist jetzt natürlich belegt. Die Leute rufen bis zu zwei Jahre im Voraus an, um sie zu reservieren.«
»Wir haben ziemlich spontan geheiratet«, sagte Hannah vertraulich. »Zum Glück ist überhaupt noch ein Zimmer frei. Ich hoffe bloß, dass es da drin nicht spukt.« Die Inhaberin hatte sie gewarnt, dass in dem einzigen freien Zimmer zuletzt ein Gast geschlafen hatte, der während seines Aufenthalts hier ums Leben gekommen war.
»Oh, das tut es bestimmt nicht«, gab die Frau zurück.
»Hat man herausgefunden, weshalb der Mann von der Straße abgekommen ist?«
»Nein, aber es war schon ziemlich spät. Der arme Kerl muss wohl am Steuer eingeschlafen sein. Eine Schande«, fügte sie noch hinzu und verschnaufte am Ende der Treppe. Die Laterne tauchte ihre Hängebacken in unvorteilhaftes Licht.
»Sie glauben also nicht, dass da jemand nachgeholfen hat«, sagte Hannah noch.
Vor Schreck hätte die Frau um ein Haar die Laterne fallen lassen. »Oh, um Himmels willen, nein«, kreischte sie. »Sie sind hier nicht in der Stadt, meine Liebe. Solche Verbrechen gibt es bei uns nicht.« Damit wandte sie sich abrupt ab und führte sie zum letzten Zimmer auf der rechten Seite. »Das Schloss klemmt ein bisschen«, gab sie zu und drehte den Schlüssel ruckelnd hin und her. Dann stieß sie die Tür auf und machte Licht. Hannah seufzte erleichtert. Sie hatte sich schon gefragt, ob es hier keinen Strom gab.
»Die Aussicht morgen früh wird Ihnen gefallen. Frühstück gibt’s von sechs bis zehn. Wenn Sie irgendwas brauchen, geben Sie uns Bescheid. Also, einen schönen Aufenthalt.«
Dann zog sich die Inhaberin mit ihrer Laterne zurück und machte die Tür hinter sich zu.
Hannah nahm Luther die Tasche ab, die Westy ihr geliehen hatte. »Das schlägt den Ort, an dem ich zuletzt einquartiert war, um Längen«, stellte sie fest, trat ein und sah sich munter um. »Oh, klasse, es gibt sogar einen Balkon.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob –«
Sie legte ihm einen Finger auf die Lippen und durchsuchte das Zimmer nach Wanzen, obwohl sie nicht damit rechnete, welche zu finden. Sie musste davon ausgehen, dass sie Lovitt einen Schritt voraus waren.
Das Zimmer war klein, aber geschmackvoll im Stil des frühen neunzehnten Jahrhunderts eingerichtet. Hannah fuhr mit der Hand über die Pfosten des Himmelbetts und blickte unter die Marmorplatte des Schminktischs. »Die Möbel sind alt«, bemerkte sie. »Frühes neunzehntes Jahrhundert.«
Luther, der ihr suchen geholfen hatte, warf ihr einen schiefen Blick zu. »Sie kennen sich auch mit Antiquitäten aus?«
»Das hier ist eine Reproduktion«, sagte sie und musterte den Nachttisch kritisch. »Die Schwalbenschwanznut an den Schubladen fehlt.«
Luther hob den preiselbeerrot-schwarzen kurdischen Teppich an, der auf dem Eichenholzfußboden lag. Dann spähte er unter die Kissen des plüschigen Ohrensessels, einem modernen Zugeständnis an die Bequemlichkeit.
»Das Zimmer ist sauber«, befand Hannah.
»Ich nehme den Sessel«, erbot sich Luther und verstaute seine Tasche zusammen mit der Waffe im Kleiderschrank.
Hannah warf einen Blick ins Badezimmer und registrierte die auf Füßen stehende, altmodische Badewanne, die Messingarmaturen und die verschnörkelte Tapete. Dann ging sie zum Fenster und sah hinaus. Der Fluss, falls er überhaupt dort lag, wurde von Bäumen verborgen. Es war jetzt fast dunkel. »Und was machen wir heute Abend?«, fragte sie.
»Wir gehen in die Stadt und spielen unsere Rollen«, schlug Luther vor.
»Wenn alle Einwohner so ahnungslos sind wie Mrs Dodd, werden wir danach kein bisschen schlauer sein«, seufzte Hannah. »Obwohl ich das Gefühl hatte, dass sie mehr weiß, als sie preisgibt.«
»Ja, ich auch. Wir kriegen schon was raus«, sagte er. »Ich vertraue da ganz auf Ihren Spürsinn.«
»Echt?« Seine Bemerkung entlockte ihr ein Lächeln.
»Westy war Ihnen gegenüber offenbar ganz redselig«, ergänzte er mit einem seltsamen Unterton in der Stimme.
Hannah verging das Lächeln. Warum hörte sich das nicht nach einem Kompliment an?
Draußen erklangen Schritte und sie blickten beide zur Tür. Tatsächlich, der unbekannte Besucher klopfte zaghaft an.
Luther deutete aufs Bett und Hannah warf sich auf die Matratze, während er sein Hemd auszog und sein Haar zerzauste. Dann schlich er zur Tür, machte sie einen Spaltbreit auf und sagte mit genau der richtigen Dosis Verärgerung: »Ja?«
»Entschuldigen Sie bitte die Störung«, rief Mrs Dodd überschwänglich, »aber ich habe vergessen, Ihnen unseren Gutschein zu geben. Den bekommen alle unsere Frischvermählten. Für ein Gratisdinner im Waterside Inn, dem Restaurant an der Brücke.«
»Vielen Dank«, sagte Luther und schloss mit einem aufgesetzten Lächeln die Tür. Dann ging er auf demselben Weg zurück durchs Zimmer, während er mit gerunzelter Stirn den Gutschein musterte.
Hannah machte sich seine Ablenkung zunutze und begaffte regelrecht seinen nackten Oberkörper. Die Beleuchtung betonte seine gewölbten Brustmuskeln, die in der Dunkelheit der letzten Nacht verborgen geblieben waren. Braunes Brusthaar verjüngte sich zu einem dünnen Flaum, der seinen straffen Bauch in der Mitte teilte. Keine Tätowierung, wie sie feststellte.
»Haben Sie Hunger?«, fragte er und bemerkte, wie sie ihn anstarrte.
Sie hob schnell den Blick. »Ja, und wie.« Allerdings nicht unbedingt auf etwas zu essen. Viel lieber wollte sie Luthers Arme um sich fühlen, und dieses Mal bitte bei vollem Bewusstsein.
Aber wo dachte sie hin? In ihren Plänen war in den kommenden Jahren kein Platz für irgendeine intime Beziehung. Ihre Karriere würde ihr alles abverlangen.
»Ich mache mich nur schnell frisch«, sagte sie, rollte sich vom Bett und griff nach ihrer Tasche. Dann verschwand sie im Bad.
Die Frau, die sie aus dem Badezimmerspiegel ansah, brachte sie in die Wirklichkeit zurück. Falls sie auch nur für eine Sekunde davon ausging, dass Luther sie in diesem Aufzug anziehend finden könnte, war sie die Ahnungslose im Spiel.
Als sie über die Hauptstraße schlenderten, nahm Hannah wahr, wie sanft Luther ihre Hand hielt.
Die vertraute Geste stellten sie natürlich für die Einheimischen zur Schau. Trotzdem fühlte sich die Nähe seltsam angenehm an. Im Gegensatz zu der kühlen Luft war Luthers Hand warm. Die leicht schwielige Innenfläche erinnerte sie daran, dass sein Job jede Menge Knochenarbeit bedeutete. Wie sie hatte er sich für einen Beruf entschieden, bei dem er die freie Welt an vorderster Front verteidigte. Vielleicht bemühte er sich gerade deshalb, sie so sanft anzufassen, weil er sich seiner tödlichen Ausbildung bewusst war.
Auf dem Weg zu dem Restaurant am Flussufer fiel es ihr schwer, nicht der romantischen Stimmung zu verfallen. Uralte Zedern rahmten die bröckelnde Backsteinfassade des Gerichtsgebäudes von Sabena ein. Ein Sortiment an Tiffanylampen im Fenster eines Antiquitätengeschäfts verband sich zu einem Kaleidoskop aus Farben.
Wenn sie doch nur Zeit hätten, in den Läden herumzustöbern, dachte Hannah traurig. Andererseits war ihr Reihenhaus bereits mit Erbstücken von ihren Eltern und ihrer Großmutter vollgestellt. Für Neues blieb da kein Platz.
Der Wind trug ihnen Orgelmusik zu, irgendwo fand ein Freitagsgottesdienst statt. Dieses malerische, altmodische Städtchen wirkte wie der ideale Ort, um Kinder großzuziehen, und nicht wie eine Brutstätte der Korruption – vermutlich hatte Lovitt seine Waffen genau aus dem Grund hier so lange verstecken können.
Als sie um die Ecke zum Restaurant bogen, wurde Luthers Griff fester. Hannah sah sich um und entdeckte sechs unter den Laternenpfählen abgestellte Streifenwagen.
»Kommt es Ihnen auch so vor, als würden die uns erwarten?«, fragte Luther leise.
»Mrs Dodd hat uns mit Sicherheit absichtlich hierher gelockt«, meinte sie zustimmend. »Aber wir müssen das jetzt durchziehen.«
»Wenn irgendwas schiefläuft, gehen Sie hinter mir in Deckung«, warnte er sie.
Sie schnalzte ärgerlich mit der Zunge. »Wenn Sie mir eine Waffe gegeben hätten, müsste ich das nicht«, gab sie flüsternd zurück.
»Wozu brauchen Sie eine Waffe, wenn Sie mich haben?«, murmelte er und hielt ihr die Tür auf. Sein Blick ruhte auf ihrem ihm zugewandten Gesicht, als er in die Rolle des unsterblich verliebten Ehemanns schlüpfte.
Hannah glitt an ihm vorbei ins Restaurant und sah sich beiläufig um. Das Waterside Inn prunkte mit altmodischem Teppichboden, kitschigen Lampen und laminierten Möbeln, die dringend ersetzt werden mussten. Doch der appetitanregende Duft und die wenigen freien Tische ließen vermuten, dass man nirgendwo in Sabena besser essen konnte. Das große Fenster mit Blick auf den Fluss verlieh dem Restaurant das Zeug zur Feinschmeckeradresse.
»Einen Tisch für zwei, bitte«, wandte sich Hannah an das Mädchen am Empfang.
Während sie ihm zu einem Tisch in der Ecke folgte, zählte sie die in der Mitte des Raums sitzenden Polizeibeamten. Es waren acht an der Zahl und alle gaben sie vor, ihr Erscheinen nicht zu bemerken, was nur gespielt sein konnte, denn Luther war nicht der Mann, der einen Raum betrat, ohne aufzufallen.
»Da sind wir«, sagte die Empfangsdame und legte die Speisekarten auf den Zweiertisch.
Luther bot Hannah den Platz mit dem Rücken zur Wand an.
»Möchtest du denn nicht lieber in den Raum blicken, Schatz?«, fragte sie ihn.
Er sah zum Fenster. »Ich habe eine wunderbare Aussicht.«
Sie bemerkte, dass sich alles, was sich im Restaurant abspielte, im Fenster hinter ihr spiegelte. So konnte Luther den Gentleman mimen und gleichzeitig die Polizisten im Auge behalten.
Während sie Platz nahmen, füllte die Empfangsdame ihre Gläser mit Eiswasser und teilte ihnen mit, dass die Bedienung gleich kommen würde.
»Hier gibt’s sicher frischen Fisch und Meeresfrüchte«, meinte Luther.
Vermutlich – bei dem Gedanken, dass einer dieser Polizisten Ernie von der Straße abgedrängt hatte, war Hannah allerdings der Appetit vergangen. Trotzdem traf sie rasch ihre Wahl und legte die Speisekarte beiseite. Einer der Polizisten beobachtete sie über den Rand seiner Kaffeetasse hinweg.
Mit einem Brotkorb in der Hand erschien die Bedienung. »Was darf ich Ihnen bringen?«, fragte sie freundlich.
Während Hannah die Flunder nahm, entschied Luther sich für mit Krabben gefüllte Venusmuscheln. Er gab der Bedienung Mrs Dodds Gutschein, die daraufhin irritiert dreinschaute und sich entfernte.
Hannah nahm die Verwirrung des Mädchens zur Kenntnis.
»Wieso hat Westy mir nie etwas über seinen Großvater erzählt?«, fragte Luther und nahm damit die Unterhaltung wieder auf, bei der sie zuvor unterbrochen worden waren.
»Wahrscheinlich, weil Sie ihn nie gefragt haben«, gab sie zurück.
Er sah sie nur an. »Ich arbeite seit drei Jahren mit ihm zusammen«, sagte er dann. »Er spricht nie von sich.«
»Weil es so einiges gibt, mit dem er sich nicht auseinandersetzen will.«
Luther betrachtete sie nachdenklich. »Sie haben wahrscheinlich recht.«
»Wie lautet Ihr Codename?«, fragte sie ihn unvermittelt. Ihr war eingefallen, dass Lieutenant Renault Jaguar genannt wurde und Chief McCaffrey Westy. Wie also lautete Luthers Codename?
»Little John.« Er nahm sich ein Brötchen aus dem Korb.
»Little John?« Mit großen Augen musterte sie ihn. »Ist denn überhaupt irgendwas an Ihnen klein?«, erkundigte sie sich mit hochgezogenen Augenbrauen.
Luther bestrich die untere Hälfte des Brötchens sorgfältig mit Butter und gab sich große Mühe, jeden Blickkontakt zu vermeiden, doch zu ihrer Verblüffung schien er trotzdem rot zu werden.
»Also?«, hakte sie nach.
»John ist mein Vorname«, erklärte er. »John Luther Lindstrom. Da ich der Jüngste im Team war, wurde ich Little John genannt, wie der aus Robin Hood, Sie wissen schon. Nachdem ich zum Lieutenant befördert wurde, hat der Name seine Bedeutung verloren.«
Hannah runzelte konzentriert die Stirn. »Wieso kommt mir Ihr Name bekannt vor?«, fragte sie. »John Lindstrom.«
Er beugte sich vor und senkte diskret die Stimme. »Das müsstest du eigentlich wissen, Süße. Schließlich sind wir verheiratet.«
Sie versank in Luthers tiefblauen Augen und beugte sich ebenfalls vor, sodass ihre Gesichter nur noch Zentimeter voneinander entfernt waren. »Was müsste ich wissen?«, fragte sie und gestattete sich selbst, sein markantes Gesicht und die schön geschwungenen Lippen eingehend zu betrachten. Sie wusste noch genau, wie sie sich angefühlt hatten: sanft und angespannt.
»Ich habe Football gespielt, bei den Dallas Cowboys. Deshalb hab ich mich auch mit dem Rücken zum Raum gesetzt.«
Hannah starrte ihn an und hatte Westys Bemerkung von vor ein paar Tagen wieder im Ohr. Sie haben keine Ahnung, wer er ist, oder?, hatte er gemeint. »Dann habe ich wohl einen lausigen Partner für verdeckte Ermittlungen erwischt«, murmelte sie. Daraufhin zeichnete sie mit einem Finger Luthers kantiges Kinn nach, denn sie wusste, dass sie damit durchkommen würde.
Ihre Berührung bereitete ihm ganz offensichtlich Unbehagen. Es trat ein wachsamer Ausdruck auf sein Gesicht, der Bände sprach. Als Hannah sah, dass die Bedienung zurückkam, zog sie widerwillig ihre Hand zurück.
»Wir spendieren allen frisch verheirateten Paaren, die im Magnolia Manor übernachten, eine Flasche Wein«, verkündete das Mädchen, präsentierte ihnen einen Weißwein und machte sich daran, ihre leeren Gläser zu füllen.
»Für mich nicht, danke«, sagte Luther, wobei er sein Weinglas zur Wand schob.
»Darf ich Ihnen etwas anderes bringen?«, erkundigte sich die Bedienung.
»Nein. Wasser genügt.«
»Ihr Essen wird gleich serviert«, sagte sie lächelnd.
Hannah probierte den Wein, der nichts Besonderes war und säuerlich schmeckte. »Verraten Sie mir, warum Sie zu den SEALs gegangen sind«, forderte sie ihn auf.
Er betrachtete die Spiegelung des Restaurants im Fenster. Die Polizisten aßen noch.
»Na los, ich bin Ihre Frau«, redete sie auf ihn ein, was ihn noch mehr verunsicherte. »Football ist doch so lukrativ und glamourös. Warum haben Sie damit aufgehört?«
»Ich hatte einen Autounfall«, teilte er ihr kurz angebunden mit.
Hannah sah ihn bekümmert an und wartete auf mehr.
»Ich hatte zu viel getrunken«, fügte er mit einem Blick auf sein leeres Weinglas hinzu. »Deshalb rühre ich auch keinen Tropfen mehr an. Ich bekam keine Luft mehr. Eine Rippe hatte sich in einen Lungenflügel gebohrt. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich sterben würde, bin ich aber nicht. Ich saß stundenlang eingeklemmt im Wagen. Da hatte ich genug Zeit, darüber nachzudenken … was ich mit meinem Leben anfangen sollte.«
Hannah überkam der beinahe überwältigende Drang, nach seiner Hand zu greifen. »Was ist dann passiert?«, wollte sie wissen.
»Ich nahm mir vor, mein Leben zu ändern und etwas zu tun, das die Welt etwas besser machen würde.«
Sie nickte anerkennend. »Also wurden Sie ein SEAL.«
Er lächelte bitter. »Nicht ganz. Erst mal habe ich sechs Monate im Streckverband gelegen und danach ein Jahr lang trainiert. Anschließend ging ich zur Marine, auf die Offiziersschule in Pensacola. Darauf folgte die Basic Underwater Demolition- und SEAL-Ausbildung in Coronado. Den ersten Versuch musste ich abbrechen, weil mein Rücken noch nicht so weit war. Schließlich habe ich mit Klasse 235 abgeschlossen. Erst dann wurde ich ein SEAL.«
»Bereuen Sie es?«, fragte sie.
Sein Blick verdunkelte sich angesichts einiger unerfreulicher Erinnerungen, doch trotzdem schüttelte er den Kopf. »Nein, jedenfalls nicht, dass ich mit dem Footballspielen aufgehört habe.«
Sie verstummten, da die Bedienung mit ihrer Bestellung kam. »Flunder und gefüllte Venusmuscheln«, verkündete sie. »Wie schmeckt der Wein?«
»Köstlich«, gab Hannah mit unschuldigem Lächeln zurück.
Das Mädchen wünschte »Guten Appetit« und entfernte sich.
»Wissen Sie, wenn Sie nicht so berühmt wären«, bemerkte Hannah und zerteilte ihren Fisch, »würden Sie sich gut in der Agency machen.«
»Danke«, sagte Luther, »aber ich bleibe, wo ich bin.« Seine Miene verfinsterte sich. »Es sei denn, Jaguar verliert sein Verfahren.«
»Das wird er nicht«, versprach sie.
Dann genossen sie schweigend ihr Essen. Plötzlich stupste Luther sie unter dem Tisch an, sodass sie unvermittelt aufblickte. Einer der Polizisten kam auf sie zu. Hannah blieb prompt eine Gräte im Hals stecken. Sie griff nach ihrem Glas Wasser und spülte sie hinunter.
»’N Abend, Leute«, grüßte der schnurrbärtige Cop fade lächelnd. »Wie geht’s denn so?«
»Sehr gut, Officer. Und selbst?« Luther tupfte sich mit der Serviette den Mund ab.
Hannahs Blick fiel auf das Namensschild des Beamten. Duffy.
»Sie sind nicht von hier«, tippte der Polizist.
»Richtig«, gab Luther freundlich zurück.
»Woher kommen Sie?«, fragte der Mann beharrlich weiter.
»Aus der Gegend von Virginia Beach.« Im Restaurant schien es mit einem Mal furchtbar still geworden zu sein. »Wir sind in den Flitterwochen.«
»Glückwunsch. Ich nehme an, der kleine Nissan vor dem Magnolia Manor gehört nicht Ihnen?«
Luther zeigte keine Reaktion auf die Frage, obwohl offensichtlich war, dass der Polizist etwas aus ihnen herauskriegen wollte. »Nein, der Wagen gehört einem Freund von mir.«
»Ah, gut. Zufällig lasse ich alle Fahrzeuge, die neu in die Stadt kommen, überprüfen, und dabei habe ich festgestellt, dass bei dem Wagen noch ein Strafzettel wegen Geschwindigkeitsüberschreitung offen ist.«
»Echt? Dann muss ich meinen Freund wohl daran erinnern, ihn zu bezahlen.«
»Machen Sie das. Wir nehmen so was hier nämlich sehr genau. Als Angehöriger der Marine wissen Sie das sicher zu schätzen.«
»Marine?« Luther schüttelte den Kopf.
»Ihr Freund hat Aufkleber vom Militär am Auto«, erklärte der Beamte.
»Ah«, machte Luther, ohne irgendwas zuzugeben.
»Würden Sie beide mir mal Ihre Führerscheine zeigen?« Damit hatten sie den springenden Punkt ihrer Unterhaltung erreicht. »Nur für den Fall, dass Sie doch der Fahrzeughalter sind und sich bloß nicht trauen, es mir zu sagen«, ergänzte der Mann mit einem schmierigen Lächeln.
Luther zog seine Brieftasche hervor und gab dem Polizisten seinen Führerschein, wobei er darauf achtete, dass der Mann seinen Militärausweis nicht zu sehen bekam. Aber der schien sich mehr für Hannahs Ausweis zu interessieren. Sie war froh, dass sie doch noch darauf gewartet hatten. Als der Beamte zuerst ihr Foto, dann ihr Gesicht, und schließlich wieder das Foto betrachtete, bevor er den Ausweis umdrehte, um seine Echtheit zu prüfen, hielt sie den Atem an.
»Gutes Bild, Miss Lindstrom«, sagte er schließlich und gab ihnen die Ausweise zurück. »Was ich von Ihrem leider nicht behaupten kann«, setzte er an Luther gewandt provozierend hinzu. »Genießen Sie Ihren Aufenthalt. Ma’am.« Er nickte und kehrte dann zu seinen Kollegen zurück, die sich darauf einträchtig erhoben und gingen.
Luther behielt das Fenster im Auge.
Um sich nicht anmerken zu lassen, dass ihr Herz raste, schnitt sich Hannah noch ein Stück Fischfilet ab und kaute bedächtig. Sie warteten, bis das Geplapper im Restaurant wieder eine normale Lautstärke angenommen hatte, bevor sie die Auseinandersetzung besprachen.
»Was meinen Sie?«, fragte Hannah.
»Lovitt hat sie gewarnt, aber was Sie angeht, waren sie sich nicht sicher«, vermutete Luther.
»Wir müssen uns beeilen«, folgerte Hannah.
»Nein. Die werden uns heute Nacht beobachten. Wir kehren direkt in die Pension zurück und bleiben dort. Und morgen schauen wir uns den Ort an«, meinte er, »und halten die Augen offen. Vergessen Sie nicht, dass Westy auch da draußen Nachforschungen anstellt.«
»Sie haben wahrscheinlich recht«, räumte Hannah ein.
Doch im selben Moment ging ihr durch den Kopf, dass es womöglich noch gefährlicher war, sich – allein zu zweit – in ihrem Zimmer zu verbarrikadieren, anstatt draußen herumzulaufen und Beweise aufzutreiben. Die Zweisamkeit mit Luther würde nur etwas in ihr beflügeln, das ihre Aufmerksamkeit vereinnahmte. Wenn sie nicht aufpasste, würden ihre Gefühle für ihn die Pläne gefährden, die sie seit Jahren hegte. Es kam ihr immer weniger darauf an, zur CIA zurückzukehren, vielmehr wollte sie Zeit mit Luther verbringen. Schon jetzt hätte sie alles für einen zweiten Kuss gegeben.