Zehn
»›Zu viele Lücken – Türsteher bleibt vorläufig in Haft. Ein Bericht von Pericle Bartolini.‹« Kurze Pause. »›Während eines vierstündigen Verhörs hat Piergiorgio Neri, genannt Pigi, seit Langem Animateur der VIP-Nächte von Pineta, der offiziell in die Liste der Verdächtigen aufgenommen wurde, Stellung bezogen. Die ortsbekannte Person, die gestern vom stellvertretenden Staatsanwalt Artemio Fioretto vernommen wurde, hat, unterstützt von seinem Anwalt Luigi Nicola Valenti, dargelegt, wo er sich zum Zeitpunkt des Verbrechens aufhielt.‹ Bestimmt ist das der Sohn von dem Valenti aus San Piero, dem, der immer die Fahrräder repariert hat. ›Die von Neri gelieferte Version der Fakten ist denkbar einfach: Der junge Mann behauptet, er habe, nachdem er von einem Bootsausflug mit ein paar Freunden zurückgekehrt sei, unter einer Magen-Darm-Verstimmung mit hohem Fieber gelitten, die er sich infolge des Verzehrs von verdorbenen Speisen zugezogen habe.‹ Und weil er nicht die Kraft hatte, den Telefonhörer in die Hand zu nehmen, und um nicht alles vollzukacken, hat er niemanden angerufen. Also wirklich. ›Da jedoch niemand Neris Aussage bezeugen kann, beschloss der stellvertretende Staatsanwalt, ihn weiterhin in Untersuchungshaft zu behalten‹, das ist ja wohl das Mindeste, ›zumindest bis die DNA-Ergebnisse vorliegen, die im Laufe des Tages erwartet werden. Anhand derer ist es möglich zu bestimmen, ob Neri der Vater des Kindes ist, das die Ermordete erwartete, und, falls ja, dass tatsächlich eine Beziehung zwischen dem Opfer und dem Verdächtigen bestand. Ein Verbindungsglied, das den zuständigen Behörden bislang noch fehlt, obwohl man der festen Überzeugung ist, dass Pigi mehr über die Tat weiß, als er zugibt. Tatsächlich gibt es einige Übereinstimmungen zwischen dem beliebten Animateur und dem Steckbrief des Mörders der jungen Frau: Zum einen hat er weder für die Zeitspanne zwischen elf und eins, in der sie ermordet wurde, noch für die Zeit zwischen halb fünf und sechs Uhr morgens, in der die Leiche im Müllcontainer versteckt wurde, ein Alibi. Zum anderen ist Neri ein Meter neunundachtzig groß, was wiederum den Erkenntnissen der Spurensicherung‹ – wenn man sich auf die hätte verlassen müssen, na dann gute Nacht – ›entspricht, denen zufolge der Fahrer des Fahrzeugs, mit dem das Mordopfer ihrem improvisierten grauenhaften Sarg zugeführt wurde, von großer Statur gewesen sein muss.‹ Wie du, Pilade …« Ampelio ließ die Zeitung sinken und nahm einen Schluck von seinem verhassten Eistee. Währenddessen hatte Del Tacca, der seinerzeit bei der Wehrdienstprüfung ausgemustert worden war, weil er die Mindestgröße von einssechzig nicht erreichte, sein Eis aufgegessen und schickte sich an, eine seiner allseits gefürchteten filterlosen Stop anzuzünden.
»Jetzt hör mir mal zu, du Nervensäge«, sagte er, nachdem er sich den Staatsmonopol-Glimmstängel zwischen die Lippen gesteckt hatte, »zunächst einmal bin ich deswegen klein, weil mein Gehirn so viel wiegt und mich all die Jahre über niedergedrückt hat, und zweitens, wenn du nicht aufhörst, beim Vorlesen dumme Kommentare abzugeben, dann warten wir lieber, bis Rimediotti da ist. So, wie du vorliest, versteht man ja kein Wort.«
»Ach so, du bist wohl Einstein, was? Oh, mein Gehirn ist so schwer, dass mir der Nacken wehtut. Aber wenn es nur schwer ist und sonst nichts …«
»Großvater«, sagte Massimo, »hin und wieder mal eine witzige Bemerkung zwischendurch mag ja ab und zu ein Schmunzeln hervorrufen, aber eine alle zehn Sekunden ist definitiv zu viel. Außerdem lenken deine Zwischenkommentare ab, und man konzentriert sich nicht mehr auf das, was du vorliest.«
Massimo hatte sich mittlerweile damit abgefunden, dass die Alten immer wieder über das Verbrechen diskutierten. Was soll’s, dachte er. Aber dann lest die Artikel wenigstens so vor, dass ich was verstehe, denn bei der vielen Arbeit hier komme ich überhaupt nicht mehr zum Lesen. Es ist schon irritierend genug, wenn Rimediotti jedes Wort, das er nicht kennt, beim Vorlesen buchstabiert.
»Massimo hat recht«, sagte Aldo. »Du bist wie diese Fußnoten in den alten Büchern. Lies doch zuerst vor, was da steht, und hinterher gibst du deine Kommentare ab.«
Großvater Ampelio murmelte etwas in seinen Bart – alle, ob Jung oder Alt, seien Faschisten oder so etwas in der Art –, nahm die Zeitung wieder auf und las den Artikel zu Ende vor, ohne weitere Zwischenkommentare abzugeben. Der Bericht förderte ohnehin keine neuen Erkenntnisse zutage, außer der, dass »die Ermittler bezüglich des möglichen Mordmotivs von Pigi äußerste Zurückhaltung« wahrten.
»Das heißt, sie haben keinen blassen Schimmer«, lautete Ampelios abschließender Kommentar, dem niemand widersprach.
»Weißt du vielleicht mehr?«, fragte Del Tacca polemisch.
»Nein, ich weiß gar nichts.«
»Aber es deutet tatsächlich einiges darauf hin, dass er es gewesen ist«, meinte Aldo. »Er ist auffällig groß, kein Mensch weiß, wo er am Abend der Tat gewesen ist, und wie es der Zufall will, hat der Täter gewartet, bis die Disco zugemacht hat, um die Leiche zu verstecken, also wirklich.«
»Ich gebe«, sagte Del Tacca. »Aber es wär nicht schlecht, wenn ich hin und wieder auch mal was bekäme … Ich frag mich nur, aus welchem Grund er sie hätte umbringen sollen?«
»Weil er sie dick gemacht hat!«, platzte Ampelio heraus. »Und weil sie nicht abtreiben wollte, hat er sie umgebracht.«
»Ja, genau, und dann ist Savonarola gekommen und hat ihm eine Medaille umgehängt«, sagte Del Tacca. »Also wirklich, Ampelio, wir leben schließlich nicht mehr im Mittelalter.«
»Ich halte es durchaus für plausibel«, meinte Aldo. »Nicht, dass er es kaltblütig getan hat, oh nein. Aber wie oft hört man von jungen Männern, die ihre Freundin umbringen, weil sie von ihr verlassen wurden? Wenn früher, als du noch jung warst, ein Mädchen aus heiterem Himmel zu dir gesagt hätte, dass sie schwanger von dir ist, wärst du da nicht in Panik geraten? Und erst einer wie Pigi, mit seinem Lebenswandel …«
»Aber auch wenn er sie dick gemacht hat, heißt das noch lange nicht, dass er sie deswegen umgebracht hat. Was meinst du, Tiziana?«, sagte Rimediotti, der eine Minute zuvor hereingekommen war und den Anfang der Diskussion verpasst hatte.
Tiziana fuhr ungerührt fort, Brötchen in zwei Hälften zu schneiden, und erwiderte mit säuerlicher Miene: »Ich bin der Ansicht, dass ›schwängern‹ ein Ausdruck ist, den man auch benutzen könnte und den jeder auf Anhieb verstehen würde, und wenn trotzdem jemand meint, so geistreiche Synonyme wie ›dick machen‹ gebrauchen zu müssen, vergifte ich ihm seinen Magenbitter.«
»Die ist vielleicht empfindlich«, murmelte Ampelio.
»Also, wir können noch lange spekulieren«, sagte Del Tacca, »aber, wenn ihr mich fragt, hat auch die Polizei kein Tatmotiv für Pigi.«
»Sehr richtig«, ließ sich Dr. Carli vernehmen, der gerade zur Tür hereinkam. »Nicht einmal das, von dem hier gerade die Rede war.«
Tatatata. Es tritt auf: der Dottore, und alle drehen sich um – typischer Fall von magnetischer Anziehungskraft –, nur um festzustellen, dass es doch nicht Claudia Schiffer ist.
»Einen guten Morgen an die Gerichtsmedizin«, sagte Massimo. »Wollen Sie was trinken?«
»Wenn ich selbst entscheiden darf, dann gerne.« Die Stimme des Arztes hatte einen leicht bitteren Unterton. Dem ist wohl ’ne Laus über die Leber gelaufen, dachte Massimo.
»Natürlich können Sie selbst entscheiden. Was für eine Frage. Sie können bestellen, was Sie wollen«, erwiderte Massimo, ganz der professionelle Barista. »Ob das Bestellte dann in einer Zeit kommt, die Ihnen annehmbar erscheint, steht auf einem anderen Blatt.«
»Na gut. Aber bedenken Sie, dass ich einen trockenen Mund habe, und mit trockenem Mund lässt es sich nicht so gut reden. Und das wäre schade, denn ich hätte einiges zu erzählen. Einen Cappuccino, bitte.«
Massimo ging schweigend zur Kaffeemaschine und schäumte die Milch auf.
»Oh, gutes Argument, das muss ich auch mal ausprobieren«, sagte Ampelio.
»Das würde nichts nützen.« Massimos Stimme klang ungerührt, während er die Tasse mit dem Cappuccino auf den Unterteller stellte. »Es kommt nämlich nur selten vor, dass mich interessiert, was du zu sagen hast.«
Einen Moment lang herrschte neugiergeschwängertes Schweigen. Ein Schweigen, das sich anhörte wie: »Uns liegt allen dieselbe Frage auf der Zunge. Wer ist der Erste, der damit herausrückt? Will nicht endlich jemand was sagen? Warum, zum Teufel, tun wir plötzlich alle so vornehm?«
»Also« – Aldos sanfte, aber bestimmte Stimme opferte sich auf –, »was hat es mit dem Mordmotiv auf sich?«
Der Dottore nippte genüsslich an seinem Cappuccino, kostete den Augenblick förmlich aus. Dann stellte er die Tasse auf den Unterteller und setzte sich auf einen Barhocker.
»Tja, das Motiv. Ich verrate es Ihnen nur, weil Sie es spätestens morgen ohnehin erfahren würden, denn das Analyselabor wurde von Reportern belagert. Und der Dummkopf von einem Auszubildenden hat sich die Gelegenheit natürlich nicht entgehen lassen, das Ergebnis bei erstbester Gelegenheit auszuplaudern.«
Kurze, spannungssteigernde Pause. Einen kleinen Schluck vom Cappuccino, Tasse mit zufriedenem Ausdruck zurück auf den Unterteller, mit der Serviette die Lippen abgetupft, wie es sich gehört, dann die Beine übereinandergeschlagen. So, nun kann man wieder sprechen.
»Das Mädchen war schwanger, was bereits hinlänglich bekannt sein dürfte. Und Sie haben ja auch schon festgestellt, wer der Vater des Ungeborenen war, nicht wahr? Piergiorgio Neri, richtig?«
Kleine Kunstpause. Ein mit dem Zeigefinger gewedeltes Nein.
»Aber Sie irren. Das Ungeborene des Mordopfers und Neri sind nicht im Entferntesten miteinander verwandt. Doch es liegt ja auch der genetische Code des zuerst Verdächtigten vor, und der wurde ebenfalls untersucht …«
Ungläubige Gesichter im Senat, der auf Anhieb begriffen hat.
»… und da hat’s klick gemacht! Die beiden DNAs stimmen perfekt überein, so gut, dass es fast nicht wahr sein kann. Sie sind absolut identisch, daran gibt es nichts zu rütteln.«
Allgemeine Bestürzung.
»Bruno Messa?«, fragte Aldo.
Der Dottore nickte feierlich und trank seinen wohlverdienten Cappuccino aus.
»Genau der. Was die Sachlage verkompliziert. Sie werden nun verstehen, dass es immer schwieriger wird, eine Verbindung zwischen Alina und Pigi herzustellen. Im Übrigen kommt jetzt ans Licht, dass dieser andere Kerl keineswegs alles gesagt hat, was er wusste. Kann ja mal vorkommen, dass man ein bisschen zerstreut ist, aber wenn man eine Zeugenaussage macht, sollte man sich an gewisse Dinge doch besser erinnern. Kurz und gut, man hat zwar nicht gehofft, dass das ungeborene Kind des Pudels Kern ist, aber verdammt, hätte ich eine Wette darüber abgeben sollen, wer der Vater ist …«
»… wären Sie sicher gewesen, sie zu gewinnen?«
Der Ton, der Ton. Es ist immer der Ton, der die Musik macht. Die gleiche Frage in zwei verschiedenen Tonlagen gestellt, und man bekommt entweder eine Antwort, oder das Ganze artet in eine Schlägerei aus. In diesem Fall ließ Ampelios Ton kein wirkliches Interesse an Dr. Carlis Überzeugungen erkennen, sondern eine nicht zu überhörende Andeutung hinsichtlich der Tugendhaftigkeit des Opfers, insbesondere in puncto »Keuschheit und Enthaltsamkeit«. Und deswegen war es nur der guten Erziehung des Dottore sowie dem Umstand geschuldet, dass es sich nicht gehörte einem Achtzigjährigen nach Westernart einen Stuhl über den Kopf zu hauen, dass Ampelios Frage keine schlimmeren Konsequenzen nach sich zog.
Dennoch kam das Gespräch, wie nicht anders zu erwarten, für einen Moment ins Stocken. Einen Moment, den Tiziana nutzte, um sich zum ersten Mal seit Längerem wieder in die Diskussion einzuschalten: »Und nun?«
Der Dottore, ob als Provokation oder aus Verehrung, wandte sich mit seiner Antwort direkt an sie statt an den Chor wie bisher.
»Und nun sind wir genauso schlau wie zuvor. Es gibt zwei Verdächtige: Der eine kann die Tat mit Sicherheit nicht begangen haben, also hat man ihn wieder freigelassen. Der andere, der, in Klammern gesagt, der Schuldige ist (übertriebenes Beipflichten seitens der Alten, die sich wieder als das eigentliche Publikum in Erinnerung rufen wollten), hat kein Alibi, und die Art, wie er die fragliche Nacht verbracht haben möchte, schreit förmlich nach einer Anklage, doch da wir nun mal in Italien sind und nicht bei den Taliban oder in den Vereinigten Staaten, kann man ihn nicht ohne Beweise verurteilen. Und in diesem Fall ist weit und breit keiner in Sicht. Kein Einziger. Die Moral von der Geschichte: In ein paar Monaten werden sie ihn freilassen, und Tratschblätter wie Gente oder Novella duemila werden sich um ihn reißen, um ein Interview von ihm zu bekommen. Ich sehe ihn schon an einem Tischchen gegenüber einer dieser rattenscharfen und charakterfesten Journalistinnen sitzen, die ihn verständnisvoll anhimmelt, während sie einen Daiquiri schlürft und er erzählt, was er im Gefängnis durchgemacht hat und wie sehr diese Erlebnisse sein Leben zerstört haben.«
Der Dottore drehte sich wieder um und wandte sich erneut dem Kreis der Rentenempfänger zu, um sie abermals in den Genuss seiner Ausführungen kommen zu lassen: »Und damit ist die Sache gegessen, Sie werden schon sehen. Es ist unmöglich, eine Verbindung zwischen Alina und Pigi herzustellen, bei der Vielzahl von Menschen, die etwas dazu zu sagen hätten, was mindestens sechzig verschiedene Versionen der Geschichte ergäbe. Unter zahlreichen Entschuldigungen werden sie ihn freilassen, dann ein paar weitere Monate damit verbringen, so zu tun, als würden sie weiterhin ermitteln, um schließlich die Sache in der Schublade der ungelösten Fälle verschwinden zu lassen. Und eines Abends stoßen wir beim Zappen dann auf eine dieser Sendungen, in dem der Mordfall Costa detailgenau rekonstruiert wird und man die Protagonisten interviewt. Und erst dann wird uns endgültig bewusst, dass er zu den ungelösten Fällen zählt, dass Alina tot ist und wir nichts mehr daran ändern können und uns sogar die Lust daran vergangen ist, Ermittler zu spielen.«
»Mir ist sie aber noch nicht vergangen.« Massimos Stimme, der eine Zeit lang unsichtbar war, weil er sich auf der anderen Seite des Tresens am Boden zu schaffen machte, klang ruhig. Es war keine Verkündigung, sondern einfach nur eine Feststellung. »Abgesehen von dem ungewollten Kind, welches Motiv hätte Pigi haben können, Alina umzubringen?«
»Ich weiß es nicht, Massimo, ich weiß es nicht.«
»Ich auch nicht. Was jedoch nicht heißt, dass ich nicht die Möglichkeit hätte, es herauszufinden. Als man Newton fragte, wie er die äußerst komplizierten Fragestellungen löst, mit denen er es tagtäglich zu tun hatte, antwortete er, es sei ganz einfach, er denke ständig darüber nach. Ich bin zwar gewiss nicht Newton …« – eine kleine Pause, um sich Tee einzuschenken –, »aber wenn ich etwas nicht verstehe, kann ich nicht mehr aufhören, darüber nachzudenken, bis ich es endlich kapiere.«
»Und wenn Sie es nicht kapieren?«
»Ach, keine Sorge. Früher oder später kommt mir ein neues Problem in die Quere, und dann vergesse ich das alte.«