Wurzel aus fünfundzwanzig
Verdammt, was für eine Hitze. Man kriegt kaum Luft. Der Teufel soll diesen Idioten von Fusco holen. Jetzt bekomm ich wegen dieses Schwachkopfs auch noch den Sonnenstich aller Sonnenstiche …
Das war das Einzige, woran Massimo zu denken in der Lage war, während er in Richtung Kommissariat schlurfte.
Um im Schatten zu bleiben, nahm er den Umweg durch das Pinienwäldchen. Automatisch fischte er eine Zigarette aus der Packung, nur um sie gleich wieder zurückzustecken, denn bei dieser Hitze, so überlegte er, würde er sie ohnehin nicht genießen können.
Er hielt den Blick gen Boden gesenkt und listete vor sich hin murmelnd den Abfall auf, mit dem das Pinienwäldchen reichlich gesegnet war: »Coladosen … Panini-Einwickelpapier … aha, wenigstens welche von mir, gut so, Leute … Kondomschächtelchen … aber wie können die hier … also ich hätte da Angst … außerdem pieksen einen doch die Piniennadeln in den Hintern, das tut doch weh … Rigatonireste … also wirklich … Rigatoni mit Tomatensoße am Meer, herrje, wie kann man nur … die nehmen garantiert auch noch Fischsuppe und Keramikteller mit an den Strand … und Wein … das waren bestimmt Florentiner, na ja, was kann man von denen anderes erwarten … die schießen wirklich den Vogel ab; als ginge es darum, eine Belagerung zu organisieren, schleppen alles Mögliche mit … Brot, Schinken, Schwimmflossen und Taucherbrille, aufblasbare Krokodile für die Kleinen und einen Doppelzentner Essen … kein Wunder, dass jeden Sommer zehn von ihnen ertrinken … im Gegenteil, man muss sich wundern, dass sie nicht schon an ihrem Picknickplatz an Verstopfung sterben … nur gut, dass mich hier niemand bei meinen Selbstgesprächen hört …«
Dennoch verstummte er.
Nachdem er das Pinienwäldchen verlassen hatte, waren es nur noch wenige hundert Meter bis zum Kommissariat: Doch die genügten, um ihn ordentlich ins Schwitzen zu bringen. Allein der Gedanke an Schweiß war Massimo verhasst und bereitete ihm körperliches Unbehagen.
Er betrat das Kommissariat und setzte sich auf eine Bank. Er streckte die Beine aus und machte sich auf eine lange Wartezeit gefasst.
Doch siehe da, schon trat Fusco aus seinem Büro und bat ihn herein. Dort saßen, ganz offensichtlich in der Rolle der Befragten, ein etwa siebzehnjähriges Mädchen in einem knappen grünen Top, das in Massimos Augen nur dazu diente, ihre Dinger zur Geltung zu bringen, und einem orangefarbenen Mikrorock – ein Aufzug, der sie wie die Enkelin von Cher aussehen ließ – sowie ein Junge, der nur unwesentlich älter war als sie.
Der Junge war mittelgroß und so gebräunt, dass seine strahlend weißen Zahnreihen im Kontrast dazu leuchteten, aber er sah müde aus, als hätte er seit Langem nicht mehr geschlafen. Trotz der Klimaanlage standen beiden Schweißperlen auf der Stirn, und das Mädchen musste vor Kurzem noch geweint haben.
Im Gegensatz zu den beiden Jugendlichen fühlte sich der Kommissar offensichtlich außerordentlich wohl in seiner Haut: Er setzte sich und bedeutete Massimo mit einer großzügigen Geste, es ihm gleichzutun.
»Gut, Signorina, fürs Erste brauche ich Sie nicht mehr. Wenn Sie bitte bei Agente Pardini noch Ihre Zeugenaussage zu Protokoll geben und sie dann unterschreiben. Ich muss Sie jedoch bitten, unseren Ort nicht zu verlassen, für den Fall, dass ich noch Fragen habe. Wann müssen Sie wieder nach Hause zurückkehren, Signorina Messa?«
Das Mädchen zog die Nase hoch und sagte: »Ich weiß nicht, ungefähr in einer Woche, glaube ich … Aber wenn Sie mich brauchen, kann ich auch den ganzen Sommer hierbleiben, ich … oder was immer Sie wünschen …« Wieder fing sie an zu weinen, lautlos, nur ihre Schultern zuckten. Der Junge vermied es, sie anzusehen, er schien vollauf damit beschäftigt, nicht ebenfalls in Tränen auszubrechen, auch wenn er eher verängstigt als erschüttert wirkte. Und dazu hast du auch allen Grund, dachte Massimo.
Das Mädchen hatte sich inzwischen wieder gefangen und sah ihn fragend an. Der Junge machte eine gequälte Handbewegung, um ihr zu sagen, dass er schon zurechtkomme. Sie gab ihm mit einem Zeichen zu verstehen, dass sie draußen auf ihn warten würde, was er jedoch mit einem Kopfschütteln ablehnte. Schließlich hob sie zaghaft die Hand, um ihm einen letzten, aufmunternden Gruß zuzuwerfen.
Massimo, der allmählich begann, sich unwohl zu fühlen, war drauf und dran, Fusco zu sagen, dass er später wiederkommen würde, doch der bedeutete ihm, sitzen zu bleiben. Er ging zur Tür, rief Agente Pardini zu sich und hieß ihn, das Mädchen hinauszubegleiten. Dann wandte er sich Massimo zu und sagte im Flüsterton: »Neuigkeiten?«
»Na ja. Heute Morgen ist Okay zu mir gekommen und hat mir etwas erzählt, was mir wichtig erscheint.«
»Und das wäre?«
»Dass er in dem Müllcontainer nach Essbarem gestöbert hat, und zwar um halb fünf morgens. Und er sagt, dass die Leiche um die Zeit noch nicht darin lag.«
»Aha. Um halb fünf, sagen Sie? Und wie kommt es, dass er die Uhrzeit so genau weiß?«
»Er hat sie auf der Laseruhr abgelesen.«
»Der Laseruhr?«
»Ja, die an der Mauer des Imperiale hängt.«
»Merkwürdig.«
Fusco setzte sich wieder und begann, mit einem Bleistift auf den Schreibtisch zu trommeln.
»Ziemlich merkwürdig. Was so viel heißt wie: Das Mädchen wurde zwischen halb fünf und fünf Uhr morgens dorthin geschafft. Ein ziemlich schmales Zeitfenster. Gut. Ferner«, fuhr er fort, »wissen wir aufgrund des Obduktionsberichts, dass das Mädchen zwischen Mitternacht und ein Uhr ermordet wurde – und in diesem Punkt ist der Befund absolut präzise –, was wiederum bedeutet, dass der Mord an einem Ort geschehen ist, der höchstens vier, fünf Stunden Autofahrt von dem Müllcontainer entfernt liegen kann. Was heißt, dass die ganze Toskana, Umbrien, Ligurien und der nördliche Teil von Latium infrage kämen.«
Ach so, mehr nicht?, dachte Massimo. Was hat der eigentlich für ein Auto? Einen Trabant mit einem Wohnwagen voller Steine hinten dran?
»Gut«, sagte Fusco, »ich danke Ihnen. Sie können dann an Ihre Arbeit zurückkehren. Aber vorher schauen Sie bitte bei Agente Tonfoni vorbei und unterschreiben Sie Ihre Aussage, denn das wurde letztes Mal vergessen. Einen schönen Nachmittag noch.«
Draußen erwartete ihn, neben dem üblichen Schwall kochender Luft, das Mädchen. Sie weinte nicht mehr. Als sie ihn erblickte, heftete sie sich an Massimos Seite, der es nicht erwarten konnte, das schattige Pinienwäldchen zu erreichen, und in großen Schritten davoneilte.
»Entschuldigen Sie, darf ich Sie etwas fragen?«
»Nur zu.«
Massimo verlangsamte seinen Schritt. Dennoch musste das Mädchen, das nicht besonders groß war, eilig neben ihm herstöckeln; sie tat dies jedoch mit einer Geschicklichkeit, die ihn sprachlos machte. Und auch wenn sie fast noch ein Kind zu sein schien, hatte sie mit ihrem Gang und ihrer Haltung eher das Zeug zum Model als die fünfundzwanzigjährigen Schaufensterpuppen, die zu den Aperitifzeiten seine Bar bevölkerten und Luft und Pommes frites konsumierten. Seine Exfrau, das Miststück, hatte sich nicht so elegant auf hochhackigen Schuhen bewegen können. Einmal hatte sie sich eigens für einen Theaterbesuch High Heels gekauft, mit den Worten: »Du wirst sehen, Massimo, wie gut sie zu dem rosa Kleid und der ausgeschnittenen Jacke passen werden.« Doch die im Stand unzweifelhafte Eleganz des Ensembles geriet gefährlich ins Wanken und wurde schließlich vollends ruiniert, als sie sich in Bewegung setzte – das Bild erinnerte ein wenig an ein Auto mit Handschaltung, das von einem Amerikaner gefahren wird.
»Sie, ähm, Sie waren doch gerade beim Commissario … Kennen Sie ihn gut?«
»Nein, nicht besonders«, erwiderte er. »Er kommt hin und wieder in die Bar.«
»Was für ein Typ ist er denn so?«, fragte das Mädchen und warf ihm einen Seitenblick zu.
»Also …«
Das Mädchen sah ihn abermals an. Sie hatte grüne Augen, und das tränenverschmierte Make-up betonte sie auf beinahe brutale Weise, so als würden sie in der Hitze schmelzen.
Massimo beschloss, ihr eine ehrliche Antwort zu geben.
»Um die Wahrheit zu sagen, er ist ein bisschen ein Arschloch.«
Schweigend erreichten sie das Pinienwäldchen. Das Mädchen sah zu Boden, dann zur Seite, blieb stehen und begann erneut leise zu weinen. Massimo, dem das peinlich war, schaute sich suchend um. Er erblickte eine Bank, führte die Kleine dorthin und hoffte inständig, dass sie mit dem Weinen aufhörte. Bloß um irgendetwas zu tun, fischte er die Zigarettenpackung aus der Hosentasche und steckte sich eine an.
Das Mädchen zog die Nase hoch und sagte gleichzeitig etwas, das mit »-uno« endete. Massimo, der nichts verstanden hatte, fragte: »Wie bitte?«
»Er hat’s auf Bruno abgesehen.«
»Den Jungen, der auf dem Kommissariat ist?«
»Sie hatten sich gestern verabredet und wollten miteinander ausgehen.«
Einen Augenblick lang hatte Massimo das komische Bild vor Augen, wie Fusco ungeduldig mit einem großen Blumenstrauß vor einem Restaurant auf den Jungen wartete, doch dann riss er sich zusammen und kehrte rasch wieder in die Wirklichkeit zurück.
Das Mädchen sah sich um und fragte Massimo: »Könnte ich bitte eine Zigarette haben?«
»Aber sicher.« Er hielt ihr die Packung hin. »Und sag bitte du.«
Sie brachte die Andeutung eines Lächelns zustande. »Also gut.«
»Woher weißt du, dass Alina und dein Freund zusammen ausgehen wollten?«
»Er ist nicht mein Freund, er ist mein Bruder.« Ein Zug an der Zigarette, kleine Pause. »Alina hat mich gestern angerufen. Sie hat mir gesagt, dass sie mit jemandem zum Abendessen geht, aber nicht, mit wem. Da habe ich sie gefragt, ob es ihr Freund ist, woraufhin sie meinte: ›In gewisser Weise schon.‹ Als ich sie fragte, ob ich ihn kenne, sagte sie, nein, ich würde ihn bestimmt nicht kennen.«
Das Mädchen weinte nicht mehr, zog aber erneut die Nase hoch. Sie holte ein Taschentuch hervor und schnäuzte sich, dann warf sie es mit einer routinierten Bewegung in den Abfalleimer, die eine gewisse Übung erkennen ließ.
Massimo schwieg noch immer. Währenddessen murmelte er im Geiste immer wieder »DasgehtdichnichtsanDasgehtdichnichtsanDasgehtdichnichtsan« wie ein Mantra vor sich hin. Um der Versuchung zu widerstehen. Allmählich fragte er sich, was er eigentlich überhaupt mit dieser Sache zu tun hatte und warum alles, was damit zu tun hatte, ihn so sehr interessierte.
Weil ich so viel mit den Alten zusammen bin, dachte er, bin ich drauf und dran, mich ebenfalls in ein altes Klatschweib zu verwandeln. Los, Massimo, kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten, und geh in deine Bar zurück, da gibt es jede Menge zu tun.
»Und warum, glaubst du, hat er’s auf deinen Bruder abgesehen?«, fragte er schließlich, während sich in seinem Kopf das absurde und doch irgendwie zutreffende Bild einer Stadionleuchttafel abzeichnete, auf der stand: »FC Versuchung 3672 – Massimo 0«.
Das Mädchen nickte bedächtig.
»Gestern Abend hat Bruno von Alina eine SMS bekommen. Darin stand: ›Um zehn bei mir vor dem Haus?‹ und dahinter ein Smiley. Das weiß ich, weil ich sie selbst gelesen hab.«
»Hat dein Bruder dir die SMS gezeigt?«
»Nein, ich hab sie heimlich gelesen, als ich im Bad war. Ich weiß, eigentlich macht man so was nicht, aber ich …« Sie unterbrach sich, sah Massimo in die Augen und sagte mit frappierender Offenheit: »Ich wollte nicht, dass er mit Alina ausgeht.«
Aha, dachte Massimo.
»Entschuldige, ich will mich ja nicht in deine Angelegenheiten einmischen« (»Heuchler!«, plärrte die Leuchtschrift auf der Tafel), »aber warum nicht?«
Das Mädchen wollte gerade antworten, als auf der kleinen Lichtung, auf der die Bank stand, eine etwa fünfzigjährige fettleibige Frau von der Statur eines Sumoringers erschien, die einen Yorkshireterrier an der Leine führte. Die Frau blieb nach Atem ringend neben einem Baum stehen und blickte Massimo mit finsterer Miene an, als wollte sie sagen: »Schau sich einer diesen Widerling an, der ist ja mindestens zwanzig Jahre älter als die Kleine.«
Das Mädchen wandte sich wieder Massimo zu und sagte: »Sollen wir woanders hin?«
Während die Frau ihm weiterhin missbilligende Blicke zuwarf, pinkelte der Bonsaihund an einen Busch. Unweigerlich musste Massimo an Ein Fisch namens Wanda denken. Er stellte sich vor, wie im nächsten Moment eine Dogge angerannt kam, sich mit ihrem mächtigen Kiefer den kleinen Hund schnappte und ihn davontrug.
»Gut, lass uns gehen. Magst du vielleicht ein Eis?«, sagte Massimo: Wenn er schon als Pädophiler verdächtigt wurde, dann wollte er seiner Rolle wenigstens gerecht werden.
Sie standen auf, und im Weggehen warf er einen Blick über die Schulter zurück zu der Dicken. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass das Mädchen nicht hersah, machte er eine obszöne Geste mit der Hand, wie um zu sagen: Und nachher vernasch ich die Kleine. Die Dicke lief rot an.
Zehn Minuten später setzten sie sich an einen schattigen Platz vor der Bar. Massimo hatte absichtlich den Tisch ausgesucht, der am weitesten vom Eingang und damit von den Alten entfernt lag, die so taten, als spielten sie Karten, und immer wieder kicherten. Noch immer den Barista mimend, kam Aldo zu ihnen. Er stellte sich hinter das Mädchen, räusperte sich diskret und fragte höflich: »Il Signor Conte wünschen?«
»Erst einmal, dass du mir den Buckel runterrutschst, und zweitens bring mir einen Eistee. Und für dich?«, fragte er das Mädchen.
»Eine Cola, danke.«
Aldo deutete ein Nicken an und ging.
»Zigarette?«
»Nein, danke. Nicht dass mich noch jemand erkennt, meine Eltern wissen nicht, dass ich rauche.«
»Entschuldige, wenn ich gleich wieder zur Sache komme, aber warum wolltest du nicht, dass dein Bruder …«
Das Mädchen fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, den Blick unbestimmt in die Ferne gerichtet.
Einen Moment lang fürchtete Massimo, sie würde ihm sagen, dass es ihn in der Tat nichts angehe und er sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern möge. Womit sie nicht einmal unrecht gehabt hätte.
»Ich will ja nicht schlecht über Alina reden, aber … also, es ist so. Sie war ziemlich unabhängig, sehr clever, wie soll ich sagen …«
Hab schon verstanden, dachte Massimo. Wäre sie noch am Leben, könnte man sie eine kleine Schlampe nennen.
»Sie hat mir von ihren Jungs erzählt, was sie mit ihnen gemacht hat, wohin sie mit ihnen gegangen ist … Das ist ja nicht weiter schlimm, ist ja ihre Sache, aber ich wollte eben nicht, dass sie meinen Bruder an der Nase herumführt. Sie waren letzten Sommer zusammen, ein Mal. Für sie war es nichts Ernstes gewesen. Er war nur ein Freund, mit dem, na ja, es halt mal passiert war … Er dagegen war wie hypnotisiert, ehrlich. Jeden Tag hat er sie mindestens drei oder vier Mal angerufen. Wenn sie tanzen ging, ist auch er hingegangen, folgte ihr wie ein kleines Hündchen. Auf Partys sind sie im Nebenzimmer verschwunden, um nach einer Stunde wieder aufzutauchen; am Strand haben sie sich das Handtuch geteilt. Ich glaube, es hat ihr gefallen, einen Verehrer zu haben, der immer für sie da war, aber wenn sie nicht zusammen waren, hat sie sich eben mit anderen amüsiert. Das weiß ich, weil ich sie gesehen habe. Mir hat sie gesagt, dass zwischen Bruno und ihr nichts läuft, sie wären nur Freunde, und das hätte sie ihm auch klar und deutlich gesagt. Er hat es genossen, mit ihr zusammen zu sein. Aber jetzt ist sie tot, und mir (Schluchzer) blöder Ziege fällt nichts Besseres ein, als schlecht über sie zu reden (wiederholtes Schluchzen und leichtes Zittern des Kinns), dabei weiß ich nicht mal, was schlimmer ist …«
Sie ließ den Kopf sinken, nur um ihn gleich wieder zu heben. Ihre Augen glitzerten, doch diesmal war es ihr gelungen, die Tränen zurückzuhalten. Massimo, dem das Ganze unangenehm war, suchte fieberhaft nach einer Ausrede, um sie nach Hause zu schicken.
»Wissen deine Eltern davon?«
»Meine Eltern … die haben keinen blassen Schimmer. Deshalb hab ich ja so Angst, ihnen unter die Augen zu treten. Ich kann jetzt nicht einfach nach Hause gehen und ihnen erzählen, was passiert ist. Du hast keine Ahnung, was dann los wäre. Die fallen glatt in Ohnmacht.«
Es sei denn, Fusco hat sich schon darum gekümmert und sie ins Bild gesetzt, sodass sie bereits in Ohnmacht gefallen sind, dachte Massimo. Hoffentlich hast du deinen Schlüssel dabei, sonst musst du noch auf der Fußmatte schlafen.
»Vielleicht solltest du jetzt trotzdem lieber nach Hause gehen. Egal, was passiert – und es ist ja nicht gesagt, dass etwas passiert –, deine Eltern brauchen dich jetzt. Außerdem ist es besser, sie erfahren es von dir als von jemand anderem, findest du nicht auch?«
Das Mädchen hielt einen Moment lang die Augen gesenkt, dann nickte sie. Sie stand auf, nicht ohne Massimo einen Blick auf den grandiosen Canyon unter ihrem grünen Top zu gestatten, schob den Stuhl wieder an den Tisch und wandte sich zum Gehen. Nach wenigen Schritten drehte sie sich um und lächelte.
»Ich heiße übrigens Giada.«
»Schöner Name. Ich bin Massimo.«
Mit der vollendeten Haltung eines englischen Butlers trat Aldo an den Tisch, stellte die Getränke ab und blieb stehen, die Hände abwartend auf dem Rücken.
»Ihre Bestellung, Signor Conte.«
»Aber das nächste Mal ein bisschen schneller, wenn ich bitten darf.«
»Verzeihen Sie, Signor Conte, aber der mir von Ihnen genannte Buckel war mir unbekannt, und es kostete mich einige Mühe, ihn zu finden. Ihnen wird jener Ort gewiss viel vertrauter sein, in Anbetracht der Tatsache, dass Sie dieses Lokal gekauft haben.«
»Vielen Dank. Was, zum Teufel, haben diese Schwachköpfe da drin eigentlich zu lachen?«
»Es war gerade ein heftiges Streitgespräch im Gange über die Frage, ob Ihre Freundin nicht etwas zu jung sei, um gewisse Dinge zu erfassen. In metaphorischer Hinsicht, versteht sich.«
»Ja, natürlich. Ich geh jetzt wieder rein und walte meines Amtes, danke für alles.«
Massimo betrat die Bar, wo er von Großvater Ampelio mit einem anzüglichen Grinsen empfangen wurde.
»Und?«
»Was ist das für ein Fleck?«, fragte Massimo.
»Was für ein Fleck?«
»Da, auf deiner Hose.«
»Ach, was weiß denn ich, wird wohl Eis sein. Ist aber schon ganz trocken, muss ein alter Fleck sein.«
»Ja, ja, von wegen alt.« Massimo wandte sich zu Aldo. »Dir und dem Rest des geriatrischen Klubs überlass ich noch mal die Bar …«
»Stimmt«, sagte Del Tacca. »Mit den Alten hast du’s nicht so. Sieht aus, als würdest du eher junges Fleisch bevorzugen.«
»Genau«, meldete sich Ampelio wieder zu Wort. »Von wegen sich ein bisschen unterhalten! Also wirklich, wenn du es nötig hast, einem jungen Mädel nachzulaufen, das allerhöchstens sechzehn ist, obwohl es doch genug Frauen in deinem Alter gibt. Wenn das deine Großmutter wüsste …«
»Großvater, wenn Großmutter Tilde auch nur die Hälfte von dem wüsste, was ich dich den lieben langen Tag hier so treiben, sagen und essen sehe, würdest du dich nicht mehr ohne Begleitschutz nach Hause trauen.«
Während Ampelio ungerührt die Spielkarten aufräumte, ergriff Aldo erneut das Wort: »Im Übrigen bist du der Einzige, der sich bislang heute amüsiert hat.«
Es war sinnlos, weiter mit den Neuigkeiten hinterm Berg zu halten. Wenn er fortfuhr, so zu tun, als wäre nichts, und nicht rasch mit der Sprache rausrückte, würden sie ihn den ganzen Tag lang foppen. Massimo rückte einen Stuhl an den Tisch und setzte sich. Dann begann er zu erzählen.
»Also, das Mädchen, mit dem ich vorhin hier ankam, heißt Giada Messa; ich habe sie im Kommissariat getroffen, wo sie mit ihrem Bruder war. Bruno, so heißt er, ist der Junge, der Alinas letzte SMS bekommen hat. Das Mädchen hat sie heimlich auf dem Handy ihres Bruders gelesen. Darin stand, dass er um zehn vor ihrem Haus warten solle, um zusammen essen zu gehen.«
»Um zehn zum Abendessen?«, sagte Ampelio. »Schöne Zeiten heutzutage. Als ich in dem Alter war, wurde noch zu Hause gegessen. Von wegen ausgehen!«
»Was war, als du in dem Alter warst, wissen hier alle, denn die meisten sind genauso alt wie du, und mich interessiert das nicht die Bohne. Entschuldige, aber noch so ein paar Zwischenbemerkungen von dir, und ich bin morgen noch nicht fertig. Also, der Junge hat seiner Schwester erzählt, er sei zehn vor zehn zu Alina gegangen und habe bis um halb zwölf vor dem Haus auf sie gewartet. So viel zu den Fakten. Und nun zu den Meinungen. Das Mädchen sagt, Alina und ihr Bruder hätten ein Techtelmechtel gehabt, ob das stimmt oder nicht, entzieht sich meiner Kenntnis. Sie ist sich jedenfalls sicher. Sie hat gesagt, dass es ihr gar nicht recht war, weil …«
»… weil, auch wenn man von Toten nur Gutes reden soll«, unterbrach ihn Aldo, »diese Alina Costa ihre Freunde gewechselt hat wie andere Leute die Socken, obwohl sie gerade mal alt genug war, um Auto zu fahren.«
Massimo sah ihn einen Moment lang an.
»Da sieht man mal wieder, wie klein unser Dorf ist«, sagte Del Tacca mit unbeteiligter Miene.
»Ich habe es von Pigi gehört, du weißt schon, dem Typ, der im Ara Panic arbeitet.«
Das Ara Panic oder die Disco für jene, die sich für cooler als alle anderen hielten, irritierte den Sternenhimmel mit seiner Lichtreklame, die fast den ganzen Strand bis zur Stadt hin ausleuchtete. Sommers wie winters standen arbeitsscheue Nachtschwärmer Schlange vor dem Eingang, nachdem sie ihre Mercedesse – von denen niemand wusste, womit sie die verdient hatten – im absoluten Halteverbot abgestellt hatten. Waren sie endlich bis zum Eingang vorgedrungen, mussten sie sich, die einen bange, die anderen hochmütig, von hirnlosen Muskelprotzen schätzen lassen, deren Aufgabe es war, nur den brillantesten Vertretern der menschlichen Rasse den Zutritt zu gewähren. Drinnen war die Musik so laut, dass die Besucher, die von Haus aus schon über weniger Gehirnzellen als Haare verfügten, Gefahr liefen, restlos zu verblöden. Die Druiden, die das Amt der Auslese ausübten, wurden auch Rausschmeißer genannt. Und Pigi, mit bürgerlichem Namen Piergiorgio Neri, war einer der furchtlosen Vertreter dieser privilegierten Kaste. Mit seinen meldeamtlichen dreißig Jahren, der intensiven Bräune, den schwarzen Haaren mit sonnengebleichten Spitzen, der von Stereoiden aufgeblähten enthaarten Brust, die seine eng anliegenden und an taktisch relevanten Stellen ausgeschnittenen T-Shirts ausbeulte, einem Lächeln, das zweiunddreißig Zähne entblößte und von einem koketten violett gefärbten Spitzbart unterstrichen wurde, rief Pigi unter den ortsansässigen Bürgern die unterschiedlichsten Reaktionen hervor: Die Bandbreite reichte von an Anbetung grenzender Bewunderung aufseiten der Gymnasiasten bis zu hektischem Sichbekreuzigen seitens der verwitweten Signora Falaschi.
»Ein toller Typ, in der Tat«, sagte Massimo. »Wann hat er dir das erzählt?«
»Gestern Abend, im Restaurant. Bevor er zur Arbeit ging, war er wie immer zum Abendessen da. Er hat wenig gegessen und nur Wasser getrunken, wie immer, der Arme. Er saß mit ein paar Freunden zusammen und hat erzählt, dass das ermordete Mädchen oft ins Ara Panic gekommen ist. Ihm zufolge hat sie letzten Sommer da allerdings mehr die Sofas abgenutzt als zu tanzen.«
»Und du hast, ohne es zu wollen, mithören müssen.«
»Ohne es zu wollen, spricht er zufälligerweise lauter als Ampelio. Wahrscheinlich gewöhnt man sich das unweigerlich an, wenn man die ganze Nacht diesem Lärm ausgesetzt ist, jedenfalls redet er so laut, dass man ihn im ganzen Restaurant hört. Einmal hat so ein Kerl, der aussah wie ein russischer Mafiakiller und am Nebentisch saß, zu ihm gesagt: ›Können Sie eigentlich auch leise sprechen?‹ Woraufhin der Schlaumeier geantwortet hat: ›Ja, aber nur beim Bumsen.‹ Köstlich, das ganze Restaurant hat sich amüsiert. Darauf ist der andere ganz nah an ihn herangetreten, sodass seine Augen höchstens noch zwei Zentimeter von seinen entfernt waren, hat ihm direkt in die Augen gesehen und ganz ruhig gesagt: ›Und wenn man dir einen Tritt in den Arsch verpasst, was machst du dann? Du fängst an zu plärren, stimmt’s?‹ Na ja … von da an war der Pigi mucksmäuschenstill. Aber um auf Alina zurückzukommen: Pigi hat auch gesagt, dass er sie diesen Sommer noch nicht gesehen hat, weder in der Disco noch sonst wo.«
»Wenn ihr mich fragt, ist er auch zu ihr gegangen«, sagte Rimediotti und nickte wissend. »Der ist doch ein verdammter Hurensohn. Erzählt herum, dass er mal eine Sechzehnjährige geschwängert und sie anschließend zur Abtreibung gezwungen hat. Die Zaira hat mir das erzählt, und der ihr Enkel arbeitet auch in einer Disco, im Imperiale.«
(Eine weitere fundamentale Spielregel beim Sicheinmischen in die Angelegenheiten von Menschen, die man weder kennt noch jemals gesehen hat, ist die Untermauerung der eigenen Behauptungen, indem man sich auf jemanden beruft – oder noch besser: auf einen Verwandten von jemandem –, dessen Kompetenz in der Sache durch eine wie auch immer geartete Gemeinsamkeit mit der fraglichen Person garantiert wird; das lässt auch noch das blödsinnigste Geschwafel folgerichtig erscheinen.)
»Gut, aber jetzt sind wir aufs falsche Gleis geraten«, wandte Del Tacca ein. »Dieser Pigi interessiert uns im Grunde überhaupt nicht, also lasst uns zu den Fakten zurückkehren. Es heißt doch, dass diese Tote, sie ruhe in Frieden, ein cleveres Mädchen war, oder nicht? Und das leuchtet mir ein. Was mir nicht einleuchtet, ist etwas anderes …« Ein Schluck vom Campari, um die Spannung zu erhöhen. »Nicht wahr, Massimo?«
»Schon möglich. Wenn du mir sagst, was du meinst. Vielleicht leuchtet es ja nicht einmal mir ein.«
»Nein, nein, glaub mir, dir leuchtet es bestimmt ein. Es ist jetzt zwei Jahre her, seit du die Bar eröffnet hast, und seitdem nimmst du uns auf den Arm, nach dem Motto: ›Müsst ihr immer eure Nase in die Angelegenheiten anderer Leute stecken. Ich möchte mal wissen, was euch das angeht. Jetzt sag mal, was der dir Böses getan hat.‹ Und so weiter. Und jetzt sitzt du selbst hier bei uns am Tisch! Und vorhin hast du eine Stunde lang mit einer gesprochen, die du gar nicht kennst, und darüber die Bar vernachlässigt. Ne, ne! Wenn du also noch immer behauptest, du kennst niemanden, der was mit der Sache zu tun hat, dann erklär uns mal, warum. Falls es ein Warum gibt.«
Massimo schlug die Beine übereinander, verschränkte die Arme und sah Del Tacca an.
Den ganzen Nachmittag bemühte er sich schon, nicht daran zu denken. Das geht dich nichts an, sagte er sich erneut. Aber da er nun mal nicht in der Lage war, nicht daran zu denken, konnte er sich ebenso gut geschlagen geben.
»Es gibt einen Grund. Ich habe mit Fusco gesprochen. Ich habe den Jungen bei ihm gesehen. Ich habe gehört, was der Dottore über die SMS gesagt hat. Fusco hat eins und eins zusammengezählt und den Schuldigen gefunden. Logisch. Schnell. Hervorragende Arbeit.«
»Tatsächlich, nicht zu glauben«, sagte Aldo. »Ein Schwachkopf wie der Fusco steht plötzlich vor einem Mordfall und klärt ihn mir nichts, dir nichts innerhalb von zwei Tagen auf, obwohl er normalerweise nicht mal ein Kreuzworträtsel ohne fremde Hilfe lösen kann. Andererseits, bei den Indizien, die er da zusammengetragen hat, wäre sogar ich draufgekommen.«
»Inwiefern?«, fragte Massimo.
»Ich hätte auch den Schuldigen ausgemacht. Das heißt, den Jungen.« Aldo stand auf, ging zum Zapfhahn und füllte sich sein Glas. »Es ist eben nicht wie in den Krimis. Es gibt ein Motiv, eine Gelegenheit, es gibt Beweise. Alles klärt sich auf.«
»Prima, du Schlaumeier, bist genau wie Fusco. Würdest genauso danebenliegen wie er.«
»Das sagt er«, meinte Rimediotti. »Und wer soll es, bitte schön, dann gewesen sein, wenn der Junge es nicht war?«
»Das weiß ich nicht. Jedenfalls nicht Bruno Messa.«
Einen Moment lang war es still. Dann kicherte Ampelio mit zufriedener Miene, griff nach seinem Stock und deutete mit der Spitze auf seine Kameraden.
»Schau nur, wie sie alle reingefallen sind. Massimo, wenn du fertig bist, dummes Zeug zu verzapfen, machst du mir dann einen caffè?«
»Ich mache keine Scherze, und ich rede kein dummes Zeug. Ich versuch’s noch mal, mich klar und deutlich auszudrücken: Ich bin absolut sicher, dass Bruno Messa, der Junge, der zurzeit von Fusco verhört wird, Alina Costa nicht umgebracht hat. Aber leider kann ich es nicht beweisen.«
Diesmal hatten seine Worte, o Wunder, die gewünschte Wirkung. Die vier alten Männer drehten ihm gleichzeitig das Gesicht zu.
»Und wie …«, begann Del Tacca, wurde aber sogleich von Massimo unterbrochen.
»Ich habe nicht die Absicht, euch alles haarklein zu erklären. Außerdem steht ja gar nicht fest, dass Fusco den Jungen verhaftet. Er könnte es genauso gut nicht tun. Gewiss, mit den Beweisen, die er in der Hand hat, wäre es eine Dummheit, es nicht zu tun, aber falls er es tatsächlich täte, wäre das nur ein weiterer Beleg für seine Dummheit und keine Offenbarung.«
»Aber was wirst du jetzt tun?«
»Wenn er ihn nicht verhaftet, nichts. Geht mich ja schließlich nichts an. Falls er ihn doch verhaftet, werde ich versuchen, mit ihm zu reden. Und ihr solltet in der Zwischenzeit …« Er wurde sich der Sinnlosigkeit dessen, was er gerade sagen wollte, bewusst. »Ach, was soll’s, erzählt es einfach so wenigen Leuten wie möglich.«