Prolog
Wenn man sich kaum mehr auf den Beinen halten kann und sich noch eine Zigarette anzündet, damit weitere fünf Minuten vergehen, obwohl einem die Kehle schon brennt und der Mund vom vielen Rauchen so pelzig ist, dass es sich anfühlt, als hätte man einen Reifen verschluckt, dann stecken sich die anderen auch noch eine an, und man bleibt noch ein bisschen – kurz und gut, wenn es so läuft, ist es wirklich höchste Zeit, ins Bett zu gehen.
Es war frühmorgens, zehn nach vier, mitten im August, und drei junge Männer standen neben einem grünen Micra. Sie hatten alle deutlich mehr als nötig getrunken, der Besitzer des Micra noch mehr als die beiden anderen, von denen einer gerade versuchte, ihn davon zu überzeugen, sich besser nicht mehr hinters Steuer zu setzen.
»Ich bring dich nach Hause, komm schon«, sagte der Kleinste, dessen Schädel bis auf ein Haarbüschel auf dem höchsten Punkt des Scheitels kahl rasiert war, was ihm das Aussehen einer Palme verlieh. »Lass den Wagen hier, ich fahr dich.«
Der Angesprochene sträubte sich. Er war gerade aus der Disco gekommen, und abgesehen von einem Alkoholspiegel, der einem russischen Arbeitslosen alle Ehre gemacht hätte, war er noch dermaßen mit halluzinogenen Stoffen zugedröhnt, dass es ihm schwerfiel, klar zu denken. Was ihn nicht daran hinderte, seine Argumente vorzubringen: »Hör mal, wenn mein Alter sieht, dass ich die Karre hab stehen lassen und mit dir gefahren bin, sagt er, ich wär stockbesoffen heimgekommen, und macht mich aber so was von zur Sau. Mein Alter ist schließlich nich auf’n Kopf gefallen.«
»Aber wenn er sieht, dass du in diesem Zustand nach Hause kommst«, beharrte Palmschädel, »macht er dich zur Sau, weil du gefahren bist, und mich, weil ich dich erstens nicht begleitet hab. Und zweitens …«
»Nein, nein, ich fahr allein nach Hause. Kein Problem, ich komm schon an.«
»Warum sagst’n du nichts?«, fragte Palmschädel besorgt den Dritten im Bunde, der am Abend zuvor beim Friseur gewesen war und verlangt hatte, ihm das Haar maisgelb mit einem kecken Muster aus violetten Flecken zu färben – mit einer gewissen Bestimmtheit vermutlich, denn seinem Ansinnen war stattgegeben worden, und er hatte den Salon mit einem aparten Punk-Leopardenmuster verlassen. Zwei lebhafte Kuhaugen und der halb offen stehende Mund komplettierten seine Erscheinung.
»Wenn er meint, er kann noch fahren – is’ doch seine Sache …«, war sein einziger Kommentar.
»Mann, du Depp! Der ist doch so hacke, dass er spätestens nach zehn Metern einen Baum umarmt!«
»Hör zu, ich mach mich auf die Socken. Wenn ich nich klarkomm, klingel ich auf dem Handy durch, dann kannst du mich immer noch abholen.«
Palmschädel sah den anderen mit einer Miene an, als wollte er sagen: »Also wenn das nicht mal ein Dickschädel ist«, und erhielt zur Antwort einen Blick, der noch ausdrucksloser war und ungefähr bedeutete: »Ist mir scheißegal, in zwei Minuten lieg ich in der Kiste.«
»Dann fahr halt, wir bleiben noch zehn Minuten hier und warten. Wenn …«
»Keine Sorge, wenn ich’s nich schaff, ruf ich an.«
Der Junge hatte im Rahmen seiner Möglichkeiten versucht, klar und deutlich zu sprechen, um den Eindruck zu erwecken, es ginge ihm schon etwas besser, doch in Wirklichkeit war ihm so schwindlig, dass er bei jeder noch so kleinen Kopfbewegung das Gefühl hatte, die Umgebung folge mit einer gewissen Verzögerung.
Er atmete tief ein, tastete nach dem Schlüssel in der Hosentasche und nahm es als gutes Zeichen, dass er ihn auf Anhieb fand. Einen Augenblick lang sah er ihn an, quittierte das Fundstück mit einem zufriedenen, wenngleich unsicheren Nicken und ließ sich auf den Fahrersitz plumpsen.
Er zog die Fahrertür zu, drehte den Zündschlüssel um und fuhr alles in allem ohne große Schwierigkeiten davon.
Doch nach etwa einem Kilometer musste er anhalten und bog auf den Parkplatz des Pinienwäldchens ab. Beim Fahren hatte er das Gefühl gehabt, als sei das Auto aus Gummi und ziehe bedenklich immer in dieselbe Richtung – nie in die andere: Es war wie in einer Waschmaschine zu stecken, während das Bullauge um einen herumwirbelt – wusch, wusch, wusch.
Er öffnete die Fahrertür, nicht ganz ohne Schwierigkeiten diesmal, und stieg mit Mühe aus.
»Ein bisschen frische Luft tut mir bestimmt gut«, sagte er.
Obwohl er allein war, bemühte er sich weiterhin, deutlich zu sprechen, um sich selbst davon zu überzeugen, dass es ihm gut ging, einigermaßen jedenfalls. Und auch um wach zu bleiben, was nicht ganz einfach war.
»Jetzt muss ich auch noch pissen. Was soll denn das? Ausgerechnet jetzt. Na ja. Muss wohl sein.«
Während er dieses Selbstgespräch führte, ging er auf einen der Müllcontainer zu.
In der Nacht zuvor hatte es geregnet, und der Boden des Parkplatzes war trotz der Hitze noch schlammig. Er bemühte sich, den Pfützen auszuweichen, und nachdem er einigermaßen unversehrt beim Container angekommen war, wählte er ihn in einem kurzen mentalen Zwiegespräch als Pissoir aus.
Als es ihm nach einer gefühlten Ewigkeit endlich gelungen war, den Reißverschluss wieder hochzuziehen, bemerkte er, dass in dem Container ein Mädchen lag. Ein hübsches noch dazu. Ungefähr im selben Moment sagte ihm irgendetwas, dass sie tot sein musste. Und das erstaunte ihn zunächst nicht weiter. Im Gegenteil, in einer hartnäckigen Trägheit befangen, die ihn immer nur in Verbindung mit Alkohol befiel, begann er laut nachzudenken. Die Entdeckung hatte ihn keineswegs, wie Krimis einen immer glauben machen wollen, mit einem Schlag nüchtern gemacht.
»Kenn ich die? Ne, glaub nich. Muss die Bullen verständigen. Ich geh mal zum Wagen zurück und hol’s Handy.«
Das tat er, nur um zu bemerken, dass der Akku leer war.
»Heilige Kuhscheiße, muss das jetzt sein? Unn was jetz?«
Der Junge blickte sich um, als suchte er nach jemandem, der ihm die Antwort liefern könnte.
»Wart mal! Auf’m Weg hab ich doch ’ne Bar gesehen, die war offen. Tief durchatmen, dann geht’s schon wieder. Muss mich konzentrieren, damit dieses Drehen endlich aufhört, sonst komm ich da nie an.«
Bevor er sich in den Wagen setzte, streckte er die geöffneten Hände vor sich aus und konzentrierte sich weitere zwei, drei Minuten. Komischerweise fühlte er sich jetzt leichter: Er hatte eine Heidenangst gehabt, zu dieser Uhrzeit und in diesem Zustand nach Hause zu kommen, doch die Entdeckung der Leiche würde sowohl seine Verspätung als auch seinen Alkoholpegel erklären, schließlich hat man, wenn man eine Tote findet, das Recht auf eine Stärkung, oder etwa nicht? Ergo, wenigstens die Angst war verflogen.
»Siehste, geht doch. Und jetzt ganz ruhig einfach der gestrichelten weißen Linie nachfahren, dann kann gar nichts mehr schiefgehen.«
Nach einer weiteren Angstminute erreichte er tatsächlich sein Ziel. Er schälte sich aus dem Wagen und ging auf die Bar zu. Reiß dich zusammen, forderte er sich im Geiste auf. Er drückte die Klinke der Glastür herunter und trat ein. Hinter dem Tresen trocknete der Barista Gläser ab und räumte sie weg. Er sah ihn neugierig an. Der junge Mann bemühte sich lächelnd um Haltung, was seinen Zustand noch unterstrich, und fragte, immer noch lächelnd: »Tschuldigung, gibt’s hier ’n Telefon?«
»Da drüben, hinter der Eistheke.«
Der Junge machte ein paar Schritte, doch dann ließ eine innere Stimme ihn innehalten. Er hob den Zeigefinger und sagte: »Ich muss doch wohl nichts bestellen, oder?«
»Nicht nötig, das Telefon funktioniert auch so«, sagte der Barista.
Der Junge trat an den Apparat, wählte und sagte: »Hallo, ist da die 113? Hören Sie, ich wollte Ihnen Bescheid sagen, dass ich eine Leiche gefunden hab, eine tote junge Frau, in einem Müllcontainer; die ist wirklich tot, da bin ich mir sicher.«
Kurze Pause.
»Aber ja, auf dem Parkplatz des Pinienwäldchens, wo die Deutschen immer Picknick machen, aber das Mädchen ist Italienerin, jedenfalls hat sie dunkle Haut.« – »Ja, in einem Müllcontainer. Dem grauen neben dem Camperparkplatz, wo immer die Deutschen stehen.« – »Ja, um Picknick zu machen.« – »Weiß ich selbst, dass ich betrunken bin, aber glauben Sie mir, es stimmt! Also wirk… entschuldigen Sie, aber Sie sind vielleicht schwer von Begriff! Wie gesagt …«
Stille.
Der Junge schwieg und starrte einen Augenblick lang den Hörer an.
»Der hat einfach aufgelegt«, verkündete er ungläubig und ein wenig gekränkt.
Unterdessen war der Barista hinter dem Tresen hervorgekommen und betrachtete ihn mit einer Mischung aus Erstaunen und Ernst.
»Und da liegt tatsächlich eine Leiche?«
»Herrgott noch mal, ja. Sie ist auf dem Parkplatz des Pinienwäldchens, da wo …«
»Ja, ja, ich weiß. Komm, lass uns hinfahren. Du zeigst mir, wo du sie gesehen hast, und ich rufe die Polizei an.«
Der Barista nahm die Zigarettenpackung vom Tresen, steckte sich eine an und blickte auf die Uhr, dann verließ er, gefolgt von dem Jungen, die Bar.
»Gib mir den Schlüssel, ich fahre.«