69
Und auch im einunddreißigsten Jahr unseres Wettbewerbs geht der Preis für die beste Molekülzusammenstellung an Katherine Casey.« Joe lächelte auf Katherine hinab, die sich nackt auf seinem Bett räkelte. »Und zwar nicht nur auf der Erde, mußt du wissen«, erklärte er gelehrt, »sondern im ganzen Universum.«
»Wir müssen aufstehen«, sagte sie nicht sehr überzeugend.
»Kommt gar nicht in Frage, junges Fräulein.« Joe machte ein ernstes Gesicht. »Erst muß der Onkel Doktor Sie untersuchen.«
Katherine kicherte und spürte, wie ihr Herz vor Erregung schneller schlug. Dieses Spiel war noch besser, wenn man am Anfang angezogen war, aber so machte es auch Spaß.
»Nun sagen Sie mal, was Sie haben!« Joe beugte sich mit ernster Miene über sie.
»Es tut weh.«
»Wo tut es weh?«
Sie zögerte, dann zeigte sie auf ihren Unterleib. »Da.«
»Wo genau?« wollte er wissen. »Ich habe nicht viel Zeit. Zeigen Sie mir die Stelle.«
»Hier.« Sie berührte sich flüchtig und wand sich vor Verlegenheit und Erregung.
Joe legte eine kühle Arzthand auf ihr Schambein und begann sie, wie nebenbei, mit dem Daumen zu streicheln. »Hier?«
»Tiefer.«
»Ms. Casey, Sie müssen mir die Stelle schon genau zeigen.«
Sie schloß die Augen, nahm seine Hand und legte sie an die Stelle.
»Hier?« fragte er.
»Weiter innen«, stöhnte sie.
»Hier?«
»Ja.«
Eine Weile später sagte Katherine – und sie klang gedämpft, weil sie unter Joe lag: »Jetzt müssen wir aber wirklich aufstehen.«
Auf dem Weg ins Badezimmer stolperte sie beinahe über die Gewichte, die im Flur langsam einstaubten. Im Badezimmer stand eine vertrocknete Grünpflanze auf der Fensterbank, und es gab nur Head-’n’-ShouldersShampoo und keinen Conditioner.
Joes Wohnung war auf vertrauenerweckende Weise die eines Junggesellen. Aber nicht mehr lange. Katherine hatte ihre Pläne.
Kurz darauf kam sie, in ein verschlissenes beigefarbenes Handtuch gewickelt, wieder ins Schlafzimmer. »Ich bin spät dran und muß meine Bluse noch bügeln.«
Joe versuchte, ihr das Handtuch wegzuziehen. »Nein, laß das und geh jetzt in die Dusche, sonst kommst du zu spät zur Arbeit.«
»Jawohl, Madame.«
Mit hängenden Schultern ging er ins Badezimmer.
Als er ins Schlafzimmer kam, hatte sie sich schon angezogen, und er musterte sie in ihrem hellblauen Kostüm. »Möglicherweise die beste Freundin in der ganzen Welt«, sagte er zärtlich.
»Ich wette, du trinkst Carling Black Label«, sagte sie mit dem Blick auf seine Lendengegend. »Nun zieh dich an.«
»In Ordnung.« Er seufzte.
Sie fönte sich die Haare, schminkte sich und suchte in ihrem Portemonnaie nach Münzen.
»Oh, Joe, ich brauche Kleingeld für die U-Bahn.«
»Bitte, bedien dich.« Er schlug seine Anzugjacke zurück und machte einen Hüftschwung in ihre Richtung.
»Nein«, kicherte sie, »ich steck doch meine Hand nicht in deine Hosentasche.«
»Wenn du Geld für die U-Bahn brauchst, dann bleibt dir nichts anderes übrig.«
Einen kurzen Moment zögerte sie, dann ließ sie ihre Hand in die geheime Höhle seiner Tasche gleiten, über seinen harten Hüftknochen und in die Tiefen der Tasche, wo die Münzen lagen. Aber ihr Interesse an den Münzen war erloschen, weil sie darunter etwas anderes erfühlte. Eine warme, weiche Schwellung, die sich ausdehnte und bewegte, steif und lebendig wurde unter ihrer Berührung. Sie fing an zu tasten und zu streicheln und…
»Nein!« rief sie aus. »So kommen wir nie ins Büro!«
Sie griff nach einigen Münzen, nahm, was sie brauchte, und ließ den Rest wieder zurückfallen.
»Entschuldigung«, sagte sie verlegen. »Ich komme später drauf zurück.«
»Das glaube ich auch.« Er lächelte. »Wie wär’s mit einer Begegnung auf der Männertoilette im Büro?«
»Nein.«
»Schade.«
»Das wollte ich mir für deinen Geburtstag aufheben. Jetzt hast du die Überraschung kaputtgemacht.«
»Meinst du das ernst?« fragte er neugierig. Er war sich bei ihr nie sicher – sie war eine so merkwürdige Mischung aus Prüderie und Gier.
»Da mußt du wohl bis Juli warten, um es herauszufinden.« Sie nahm ihre Tasche. »Mann, ist dieses Telefon schwer!«
Katherine hatte ihr Telefon ausgestöpselt und es mit zu Joe genommen, falls Tara plötzlich auf die Idee kommen sollte, Thomas anzurufen. »Wir sehen uns im Büro.« Sie küßte ihn. »Gib mir einen Vorsprung von zehn Minuten.«
»Du mußt mir das nicht jeden Morgen sagen«, sagte Joe sanft. »Ich weiß es ja. Aber ich wünschte mir, wir mußten uns nicht vor unseren Kollegen verstecken. Genierst du dich mit mir?« Er lachte, aber sie merkte, daß er tatsächlich verletzt war.
»Nein«, sagte sie verwirrt. »Natürlich geniere ich mich nicht. Ich mag es einfach nicht, wenn die anderen wissen, was ich privat mache. Ich muß eine gewisse Autorität wahren, und wenn die anderen wissen, daß ich mit dir schlafe, denken sie, ich bin ein Mensch, und dann versuchen sie noch, mich mit ihren Spesen zu übertölpeln…« Sie dachte einen Moment nach. Vielleicht sah sie es zu eng. Was machte es schließlich schon? »Also gut, solange wir nicht zusammen zur Tür reinkommen.«
Sie waren inzwischen schon seit fast fünf Monaten zusammen, und für Katherine war jeder Tag wie ein Wunder. Wenn sie im November gewußt hätte, daß die Sache im April noch aktuell sein würde! Ein Geringerer als Joe wäre angesichts der ganzen Dramen in Katherines Leben schreiend davongelaufen, aber Joe krempelte einfach die Ärmel hoch und nahm die Dinge in Angriff. Er erlebte Taras Trennungstraumata aus erster Hand und hatte geduldig ihre Klagegeschichte angehört. Und wenn es gelegentlich zu später Stunde zu einem Handgemenge zwischen Tara und Katherine kam, weil Tara Katherine das Telefon entreißen wollte, hatte er den Schiedsrichter gespielt.
Wichtiger noch war, daß er Katherine in ihrer Freundschaft zu Fintan unterstützte. Er beschwerte sich nie, weil sie soviel Zeit mit Fintan verbrachte, und schien nichts dagegen zu haben, Fintan häufig zu besuchen. Er hatte nicht einmal etwas einzuwenden gehabt, als Fintan bei der ersten Begegnung ganz unverhohlen mit ihm flirtete.
»Danke«, sagte Katherine, als sie nach Hause fuhren.
»Danke wofür?«
»Weil du es so gelassen hinnimmst, daß er dich angemacht hat.«
»Was gibt es da zu danken?« hatte Joe gefragt. »Ein gutaussehender Mann flirtet mit mir? Ich fühle mich geschmeichelt.«
Die Gefühle und Ereignisse waren so intensiv und konzentriert, daß Katherine und Joe schon nach kurzer Zeit sehr eng verbunden waren. Noch nie hatte eine ihrer Beziehungen so lange gedauert. Und es war schon lange her, daß sie einem Mann so sehr vertraut hatte wie Joe. Allerdings vertraute sie ihm nicht ganz. »Aber ich vertraue dir so viel, daß ich dir sagen kann, daß ich dir nicht vertraue.« Sie lachte.
»Danke.« Es war ihm vollkommen ernst. »Und laß dir Zeit. Ich hab es nicht eilig. Viele Menschen vertrauen mir.«
Obwohl sie ihre Vergangenheit hütete, als wäre sie ein kostbares Juwel, hatte sie schließlich doch das Gefühl, sie sollte aufhören, ihre Familie als großes Geheimnis zu behandeln. Sie kannte seine Geschichte, und ihr Schweigen, wann immer die Sprache auf ihre Eltern kam, schien ihr mit der Zeit ziemlich übertrieben. Also erzählte sie ihm eines Tages die Geschichte von ihrer verrückten Mutter und ihrem nicht vorhandenen Vater.
»Und ich dachte, du würdest mir beichten, du hättest jemanden umgebracht«, rief er, als sie nach der dramatischen Einleitung mit den Tatsachen herausrückte. »Warum tust du so, als sei es etwas, dessen man sich schämen müsse?«
»Du meinst, ich muß mich nicht schämen?«
»Natürlich nicht.«
»Aber ich bin unehelich.«
»Du bist Katherine Casey«, erwiderte er.
Obwohl sie danach ein paar Stunden ins Bett mußte, weil ihre Enthüllung sie dermaßen erschöpft hatte, bewegte sich Katherine langsam, Zoll für Zoll, auf ein angstfreies Leben zu. Und Joe erfuhr immer mehr über sie und ihr Wesen.
70
Es ist komisch«, sagte Tara eines Tages zu Katherine. »Was denn?«
»Ich glaube, ich bin über Thomas hinweg.«
»Das ist doch phantastisch! Na, es mußte ja auch leichter werden. Joe sagt immer: ›Die Zeit weilt alle Hunde‹.«
»Aber ich meine nicht nur, daß es leichter geworden ist«, sagte Tara eindringlich, »ich meine, als ich heute morgen aufgewacht bin, war es vorbei.«
An dem Morgen war es ihr nicht wie an allen anderen Tagen ergangen, als sie nach dem Aufwachen ein paar verwirrte Sekunden lang keinen Schmerz spürte, bis er dann in aller Schärfe, wie bei einem Photo, das entwickelt wird, wieder deutlich vor ihr stand.
»Es ist weg, wie weggeblasen«, sagte Tara. »Mein Leben mit ihm scheint einer anderen zu gehören, und es kommt mir so vernünftig vor, ihn überwunden zu haben, weil er mich einfach nicht verdient hat.«
»Wem erzählst du das?«
»Jetzt tut er mir nur noch leid.«
»Übertreib’s mal nicht.«
»Aber Katherine, er wird nie glücklich sein.«
»Gut. Könnte keinen Besseren treffen.
»Ich hätte mir noch so große Mühe geben können, ich hätte ihn nie zufriedengestellt. Wenn ich mich auf fünfzig Kilo runtergehungert hätte, dann hätte er sich über etwas anderes beschwert. Denn das Problem war nicht ich, sondern er.«
»Und das sagst du nicht einfach nur so?«
»Nein! Ist das nicht wunderbar? Die ganze Zeit wollte ich mich vor ihn hinstellen, damit er sehen würde, wie dünn ich geworden bin, und jetzt ist es mir völlig einerlei, ob er es je herausfindet. Und was mit Marcy ist, interessiert mich auch nicht im geringsten. Du hast recht, er wird ihr das Leben zur Hölle machen. Und ich bin mir sicher, daß er ihr erzählt hat, ich hätte ständig geflennt, so wie er es mir von seinen früheren Freundinnen erzählt hat, und sie wird denken, sie darf keine negativen Gefühle zeigen, so wie ich es auch gedacht habe. Aber es geht mich nichts mehr an. Denn mein Leben ist nicht mehr die Hölle, und das gefällt mir!«
Sie hielten sich an den Händen und vollführten einen kleinen Freudentanz.
»Und ich behaupte nicht, daß ich unbedingt Kinder will, aber jetzt habe ich wenigstens die Wahl, im Gegensatz zu Marcy. Die wäre mit einem Gang zur Samenbank viel besser bedient gewesen. Danke, Katherine, für alles. Daß du mir Unterschlupf gewährt hast – ich fange gleich an diesem Wochenende an, nach einer eigenen Wohnung zu suchen – und daß du mich ertragen hast. Aber ganz besonders bin ich dir dankbar, weil du mir nicht erlaubt hast, ihn anzurufen oder zu ihm zu gehen.«
»Es war viel besser für dich, daß du keinen Kontakt hattest«, pflichtete Katherine ihr bei. »Sonst verlängert man nur den Schmerz und gibt der Hoffnung wieder neue Nahrung.«
»Trotzdem kann ich es kaum glauben«, sagte Tara staunend. »Es sind erst fünf Monate vergangen, seit ich ausgezogen bin, und ich hatte immer gedacht, daß diese Art von Liebeskummer jahrelang andauert. Eigentlich so lange, bis man einen neuen Mann kennenlernt. So war das früher bei mir immer.«
»Ich weiß.« Katherine hatte die lange Reihe von Taras Freunden über zehn Jahre miterlebt. »Das ist praktisch ein Wunder. Bisher war es immer wie bei einem Staffellauf. Kaum war es mit einem vorbei, hattest du schon den nächsten.«
»War es wirklich so?«
»Aber ja.«
»Natürlich möchte ich einen Freund haben«, gab Tara zu. »Die Einsamkeit ist manchmal geradezu erdrückend. Und fairerweise muß ich zugeben, daß ich zweimal mit einem Mann geschlafen habe.« Bei der Erinnerung schauderte ihr regelrecht.
»Aber wenigstens hast du es dabei belassen. Du hast keine Beziehung mit ihnen angefangen.«
»Das lag daran, daß es Vollidioten waren, und ich habe genug Zeit in meinem Leben mit Idioten vertan. Ich will das nicht mehr.«
»Merkst du das eigentlich?« fragte Katherine ganz aufgeregt. »Früher warst du anders. Du wärst lieber mit dem letzten Trottel gegangen, als allein zu bleiben. Du hast dich verändert.«
»Du dich auch.«
»Wir haben uns alle verändert. Liv ist auch anders. Du natürlich. Wahrscheinlich hast du recht, und ich habe mich auch verändert. Woran liegt das?«
»Meinst du nicht, es liegt an Fintan?«
Katherine versuchte, ihre Gedanken in Worte zu fassen: »Es hat damit zu tun, daß er krank ist. Dabei ist es so schwer, immer daran zu denken, daß man jeden Tag voll erleben und jede Sekunde nutzen soll. Manchmal vergißt man es einfach und nimmt die Dinge als selbstverständlich hin.«
»Aber dann gibt es Tage, wenn ich ihn ansehe«, unterbrach Tara sie, »und er ist so jung und dem Tod soviel näher als ich, und dann denke ich: So könnte es mir auch gehen, und dann … habe ich … ich meine…« Sie zögerte, dann lächelte sie beglückt und sagte: »Dann möchte ich mein Leben besser leben.«
»Genau das wollte ich sagen.« Katherine strahlte und wiederholte: »Ich möchte mein Leben besser leben.«
»Und wieder zu Thomas zurückzugehen hätte nicht bedeutet, das Leben besser zu leben«, sagte Tara, »und wenn ich mit einem Idioten zusammen bin, lebe ich mein Leben auch nicht besser. Aber sich in Joe Roth zu verlieben heißt, sein Leben besser zu leben.«
»Also, bitte –«
»Ich weiß, das geht mich nichts an. Leider hast du dich nicht in jeder Hinsicht verändert«, sagte Tara mit Bedauern. »Soll ich noch was anderes sagen?«
»Was denn?«
»Ich weiß nicht, ob ich Thomas wirklich geliebt habe.«
»Das verstehe ich.«
»Und weißt du, warum ich das glaube?«
»Nein. Warum?«
»Weil ich, glaube ich, Alasdair nie überwunden habe. Ich habe darüber nachgedacht, und weißt du was?«
»Was denn?«
»Ich werde Alasdair anrufen.«
Katherine hatte ein mulmiges Gefühl. Es wäre auch zu schön gewesen. Sie hatte Tara schon ihr Mobiltelefon zurückgeben wollen. Zum Glück hatte sie es noch nicht getan. »Aber er ist doch verheiratet«, sagte sie. »Und du hast seit Jahren nicht mit ihm gesprochen.«
»Oh, ich meine nicht, daß ich wieder was mit ihm anfangen will«, sagte Tara rasch. »Ich will die Sache nur zu einem Abschluß bringen. Und da ist die Zeit doch günstig, solange ich in Größe achtunddreißig passe.«
Katherine sah sie besorgt an.
»Sei ganz beruhigt«, sagte Tara. »Auch wenn ich unbedingt einen Mann haben wollte – was im Moment gar nicht der Fall ist –, brauchst du dir keine Sorgen zu machen, denn ich habe am Samstag eine Verabredung. Die Frau, die in meiner Firma arbeitet – ich habe dir von ihr erzählt –, ihr Freund hat einen Freund.«
»Hattet ihr das nicht schon vor Ewigkeiten vor?«
»Doch, aber dann war sie krank, dann war sie weg, dann hatte ich zu tun, aber am Samstag treffen wir uns, das haben wir jetzt ausgemacht.«
Katherine hoffte, daß Tara die Idee, Alasdair anzurufen, fallenlassen würde oder daß sie ihn nicht ausfindig machen könnte. Um so besorgter war sie, als Tara erzählte, sie habe mit ihm gesprochen, er arbeite noch in derselben Firma, und sie würde sich am Donnerstag nach der Arbeit mit ihm auf einen Drink treffen.
Am Donnerstagabend um halb zehn saßen Katherine und Joe vor dem Fernseher und tranken ein Glas Wein, als Tara zurückkam.
»Na, wie war’s?«
»Er hat einen Bauch, kriegt eine Glatze und ist rundum glücklich. Sie haben ein Kind, einen kleinen Jungen, und seine Frau bekommt im August das zweite Kind.«
»Aha.«
»Es wäre gelogen, Katherine, wenn ich sagen würde, daß ein winziger Teil von mir nicht eine klitzekleine Hoffnung gehabt hätte.«
»Was du nicht sagst.«
»Mir wurde das erst bewußt, als ich ihn traf.«
»Sieh mal einer an.«
»Aber ich hatte auch ein paar Fragen. Wie konnte er so lange mit mir Zusammensein und im nächsten Moment so schnell eine andere heiraten? Er sagte, es gebe keine Erklärung. Er habe vom ersten Moment an das Gefühl gehabt, daß es richtig sei, als er seine Keine-Ahnungwie-sie-heißt kennengelernt habe. Es habe sich irgendwie richtig angefühlt.«
Katherine und Joe vermieden es, sich anzusehen.
»Aber ihr hättet ihn sehen sollen«, rief Tara aus. »Ich habe ihn kaum erkannt. Er sieht aus wie der Vater von jemandem. Alasdair mit einem Bauch! Wißt ihr noch, wie dünn er war? Entschuldigung, Joe, du kennst ihn ja gar nicht, aber du kannst mir glauben, er war dünn wie eine Bohnenstange. Jetzt hat er richtige Fettpolster. Wahrscheinlich kommt das, wenn man glücklich ist. Sieht so aus, als hättet ihr beiden auch ein bißchen zugelegt.«
Sie rutschten unruhig hin und her.
»Er hat gesagt, ich sähe phantastisch aus.«
»Das stimmt ja auch.«
»Aber es war klar, daß es ihn nicht interessierte.«
»Mach dir nichts draus.«
»Also kann man sagen, daß ich wenigstens in dieser Beziehung mein Leben jetzt auf die Reihe kriege.«
»Das ist doch wunderbar.«
71
Im äußersten Notfall kannst du auch so tun, als wärst du schwul«, redete Lorcan auf Benjy ein. »Oder daß du Zweifel hinsichtlich deiner Sexualität hast.«
»Aber warum?« fragte Benjy. Das war doch das letzte, was ihm angeraten schien, wenn man eine Frau ins Bett bekommen wollte.
»Weil«, erklärte Lorcan seufzend – Benjy war einfach sehr schwer von Begriff – »weil einer Frau nichts besser gefällt, als zu denken, daß sie einen Mann von seinen homosexuellen Neigungen geheilt hat. Es ist eine Herausforderung und ein Egotrip. Sie hat dann nichts Eiligeres zu tun, als einen ins Bett zu schleppen und zu fragen: ›Tut das gut? Wie fühlt sich das an?‹, und wenn du sie dann richtig vögelst, statt dich beschmutzt zu fühlen, wird sie das als ihren Sieg empfinden.«
»Wenn du meinst.« Benjy hatte seine Zweifel. Lorcans Ratschläge hatten ihm nie Glück gebracht. Er hatte sich noch nicht von der Niederlage bei der Party am letzten Wochenende erholt, als Lorcan ihm sein nicht funktionierendes Feuerzeug geliehen hatte. Die Frau war nicht von seiner Verletzbarkeit wie bezaubert gewesen, als das Feuerzeug nicht anspringen wollte, sondern hatte die Nase gerümpft und gesagt: ›Ein echter Loser‹, bevor sie sich abwandte.
Lorcan ging in den Flur und rief in Richtung Amys Schlafzimmer: »Erzähl uns doch mehr von dieser Tara. Hast du nicht gesagt, sie ist pummelig?«
»Ja, obwohl nicht mehr so pummelig wie noch vor einiger Zeit. Eigentlich, das fällt mir jetzt erst auf, ist sie gar nicht mehr pummelig. Und sie ist sehr hübsch…«
»Na, ist auch egal«, sagte Lorcan ungeduldig und zog die Wohnzimmertür zu. Amy sollte das, was er jetzt sagte, auf keinen Fall hören. »Also, sie ist eine Dicke.«
»Amy hat gerade gesagt, daß sie nicht mehr dick ist.«
»Sie wollte nur was Nettes sagen, damit du anbeißt. Auf jeden Fall ist dir das Glück hold, Benjy, mein Guter.«
»Wieso denn?« Benjy fand es nicht so toll, daß er mit einer Dicken verkuppelt werden sollte.
»Also, paß auf, ich habe eine erstklassige Methode für dich. Hör dem Meister gut zu, Benjy, denn so mußt du es machen. Es ist nicht nötig, daß du zu dieser Tara sagst: ›He, Dicke! Ich mache es auch aus Mitleid‹, denn sie weiß, daß sie dick ist, und du weißt es auch, okay? Du sagst also nicht, daß sie ein paar Kilo abnehmen könnte, statt dessen beklagst du dich, daß alle Frauen immer dünn sein wollen. Ist das klar?«
Benjy nickte bedächtig.
»Du sagst einfach in normalem Gesprächston, als würdest du gar nicht merken, daß sie praktisch aus allen Nähten platzt, du sagst einfach, es würde gar nicht stimmen, daß Männer nur dünne Frauen mögen. Du erzählst ihr, Männer würden sich nie darüber unterhalten, wie irre diese spindeldürre Frau war, daß ihre Rippen überall zu sehen waren und daß sie wie das Opfer einer Hungerkatastrophe aussah. Kein Mann würde davon schwärmen, daß er sich an dem spitzen Hüftknochen einer Frau verletzt hatte, oder würde einen Steifen bekommen, wenn er ihre dünnen Arme sieht. Capito?
Benjy nickte.
»Dann – immer noch im Unterhaltungston – fängst du an, über Models herzuziehen. Du sagst, daß kein Mann mit Blut in den Adern eine Frau haben will, die wie ein magersüchtiger Teenager aussieht. Du kannst Jody Kidd erwähnen. Natürlich wissen wir beide, daß eine Nacht mit Jody Kidd der Himmel auf Erden wäre, aber das sagst du der dicken Tara nicht. Und bevor die dicke Tara weiß, wie ihr geschieht, denkt sie, sie ist im Himmel, und kann es kaum erwarten, es mit dir zu treiben.«
»Mann, du bist unglaublich. Du hast nicht ein Fünkchen Moral.«
»Danke.« Lorcan zuckte die Achseln und sagte: »Du brauchst nicht zu übertreiben. Wozu sind Freunde denn da?«
»Es gibt nur ein Problem«, gestand Benjy verlegen. »Ich weiß nicht, ob ich eine Dicke will.«
»Dicke haben ihre guten Seiten. Was sage ich dir immer?«
»Ich soll eine Frau fragen, welches Shampoo sie benutzt.«
»Und außerdem?«
Benjy wußte die Antwort nicht, und Lorcan explodierte: »Habe ich dir nicht schon tausend Mal gesagt, daß Dicke sich mehr Mühe geben?«
»Entschuldigung.«
»Hörst du eigentlich zu, wenn ich dir was sage?«
»Doch, doch. Es tut mir leid.«
»Ach, vergiß es. Wenigstens strengst du dich an. Und jetzt sage ich dir noch was – und das wissen die meisten Leute gar nicht -: Dicke fühlen sich gut an.«
»Würdest du mit einer Dicken schlafen?« fragte Benjy voller Hoffnung. Wenn Lorcan, sein Held und Mentor, es tun würde, dann war es vielleicht in Ordnung.
»Klar würde ich das machen«, erklärte Lorcan großspurig. »Kein Problem. Obwohl«, fügte er hinzu, »ich würde mich nicht in der Öffentlichkeit mit einer zeigen. Aber bei einer in der Wohnung, da hätte ich keine Probleme, mit ihr Salami-Verstecken zu spielen.«
»Na gut. Aber vielleicht ist diese Tara ja nett.« Benjy hatte immer noch Hoffnung.
»Ja, möglich.« Lorcans Augen wurden schmal. »Vielleicht ist sie nett.«
Lorcan ging ins Badezimmer und machte sich fertig. Er fühlte sich seltsam niedergeschlagen. Was hatte er bloß? Seit einem halben Jahr ungefähr plagten ihn neue und besorgniserregende Gefühle, und Benjy Hilfestellung zu geben reizte ihn nicht mehr so wie früher. Er hatte nicht dieselbe Energie oder Freude an diesen Dingen. Er führte sich immer noch wie der böse Junge auf, vernachlässigte Amy oder flirtete mit anderen Frauen, wenn sie dabei war, was sie kreuzunglücklich machte. Aber es machte nicht den gleichen Spaß wie früher. Bei dem Gedanken, sich zu binden oder gar Kinder zu haben, hatte er immer schallend gelacht, aber in letzter Zeit hatte er gelegentlich sehnsuchtsvoll an einen kleinen Lorcan gedacht. Oder vielleicht sogar ein kleines Mädchen. Wer weiß?
Er war fast vierzig. Er seufzte. Die Midlife-crisis nahte.
Schwungvoll zog er Amys Bürste durch sein volles, seidiges Haar, und es wurde ihm leichter ums Herz. Sein Haar konnte noch jedesmal seine Stimmung heben. Eine Weile spielte er sein Lieblingsspiel: Er strich mit der Bürste langsam durch die Haare bis zu den Haarspitzen und zog sie ganz lang und glatt, bis zum Äußersten – und dann riß er die Bürste heraus und ließ sein Haar in seine ursprüngliche gewellte Position zurückspringen. Er wurde dieses Spiel nie leid.
Auf diese Weise amüsierte er sich eine Zeitlang, er schob das Haar zurück, strich es glatt, zupfte hier, zipfelte dort, ordnete es neu, dann nahm er wieder die Bürste – und sah etwas, das ihm das Blut in den Adern erstarren ließ: In den Borsten hatten sich Haare verfangen. Viele Haare. Rote Haare. Seine Haare.
Er ließ die Bürste aus seiner erschlafften Hand fallen und untersuchte seine krönende Pracht genauer. Jeder verlor Haare, aber waren die Haare in der Bürste erste Anzeichen einer düsteren Zukunft? Sorgfältig tastete er seine Kopfhaut ab und mußte zu seinem Entsetzen feststellen, daß sein Haar schütterer zu sein schien als noch vor kurzem. Ihm gingen die Haare aus! Vor seinem panikerfüllten inneren Auge sah er schon kahle Stellen. Er würde doch nicht etwa eine – bei dem Wort stockte ihm der Atem – Glatze bekommen? Er brauchte seine Haarpracht. Besonders für seine Karriere. Aber alles schien zu Ende zu gehen, bevor es richtig angefangen hatte.
Er merkte, wie tief seine Angst saß, als ihm sein Vater einfiel, der früh eine Glatze bekommen hatte, aber das war nicht so schlimm, wenn man Postbote war. Lorcan jedoch war ein international bekannter Schauspieler. Sein Aussehen garantierte ihm sein Einkommen. Was sollte er tun? überlegte er wild. Wenn er auf dem Kopf kahl war – würde er den Kranz drum herum lang lassen wie Michael Bolton? Oder sollte er sich die restlichen Haare abrasieren und als Glatzkopf herumlaufen wie Grant Mitchell?
Niedergeschlagen und den Tränen nah bei diesen Gedanken sah er wieder in den Spiegel. Und fragte sich, warum er sich solche Sorgen machte. Er hatte jede Menge Haare. Massenhaft. Lange, üppige, glänzende, leuchtende Haare. Er würde sie mit einem Shampoo waschen, das Fülle verlieh. Das war alles, was es brauchte. Und ein bißchen mehr Stand über der Stirn. Es gab ja die Haarkur von Wella, die er schon immer ausprobieren wollte, jetzt bot sich die Gelegenheit.
Er zeigte mit dem Finger auf sein Spiegelbild, zwinkerte und schnalzte mit der Zunge und summte dann mit einem zustimmenden Grinsen: »›Don’t go changin’‹.«
»Wie sehe ich aus?« Schlank und sexy in einem schwarzen Catsuit stolzierte Tara vor Katherine und Joe auf und ab.
»Phantastisch. Tara –«
»Vielleicht ist dieser Benjy ja nett«, überlegte Tara.
»Tara, als du in der Dusche warst, hat Sandro wegen Fintan angerufen.«
»Oh, nein«, stöhnte Tara und ließ sich in einen Sessel fallen.
»Keine Angst, es sind gute Nachrichten.«
Tara linste ängstlich zwischen ihren Fingern hindurch.
»Sehr gute Nachrichten! Er hat gesagt, daß die Tumore in den letzten Tagen dramatisch geschrumpft seien.«
Tara saß wie erstarrt, das Gesicht immer noch halb hinter den Händen verborgen.
»Der Tumor an seinem Hals ist um die Hälfte kleiner, sagt Sandro, und die auf der Bauchspeicheldrüse kann man kaum noch fühlen.«
»Oh, Gott sei Dank.« Tara lachte unter Tränen. »Wurde auch höchste Zeit, nach sechs Monaten Chemotherapie. Und was ist mit dem Zwerchfell und dem Knochenmark?«
»Sie müssen noch weitere Untersuchungen machen, aber wenn die Tumore in den Lymphdrüsen zurückgegangen sind, kann man annehmen, daß die an den anderen Stellen auch geschrumpft sind.«
»Ich kann es gar nicht fassen.« Tara seufzte. »Ich kann es nicht fassen. Ich fasse es nicht. Es gab so lange nichts Positives, und ich war mir schon fast sicher, na ja, daß es kaum, ehm, na ja, kaum Hoffnung gab.«
»Ich weiß.«
»Ich hatte mich schon damit angefunden – also, nicht abgefunden«, sagte sie hastig, »aber wenn keine Besserung eingetreten wäre, dann wäre es kein so riesiger Schock gewesen. Du weißt, wie ich das meine, oder?«
Katherine nickte.
»Aber das sind ja phantastische Nachrichten!« In Taras Augen glänzten die Tränen.
»Wir sollten uns lieber nicht allzu viele Hoffnungen machen.« Katherine mahnte zur Vorsicht. »Die Krankheit ist so unberechenbar.«
»Oh, aber wir müssen uns ein bißchen Hoffnung machen. Sollen wir ihn besuchen gehen?«
»Nein.« Katherine verbarg nur mühsam ihre Ungeduld. »Wir besuchen ihn morgen. Triff du dich mit deinen Leuten und mach dir einen schönen Abend.«
Sie wollte Tara dringend loswerden, weil ihr seit dem Vortag etwas unter den Nägeln brannte, was sie unbedingt mit Joe besprechen wollte.
»Also gut. Bis später dann.«
»Mach’s gut. Tschüs.«
Die Tür fiel ins Schloß.
72
Joe?«
»Mmmm?«
»Ist mal was zwischen dir und Angie gewesen? Angie im Büro?« Katherine spürte, daß er plötzlich steif wurde, als wäre ihm vor Schreck das Blut in den Adern gestockt, dann reckte er sich und setzte sich aufrecht hin. Er sah sie mit trauriger Miene an.
»Du mußt mir das nicht erzählen«, sagte sie schnell, obwohl sie wollte, daß er es erzählte. »Es geht mich nichts an, aber gestern hat sie uns zusammen zur Arbeit kommen sehen und mich gefragt, ob wir etwas miteinander hätten. Ich habe es geleugnet, aber sie schien betroffen, und deshalb … habe ich mich gefragt, ob was zwischen euch war? War was?«
Er sah sie mit endloser Zärtlichkeit an, dann verzog er das Gesicht wie vor Schmerzen. Er hob an zu sprechen, und sie sah ihn an und wünschte sich zutiefst, daß er nein sagen würde. »Ja«, sagte er. Sie spürte, wie ein Gewicht sich auf sie senkte. Bleib ruhig, sagte sie zu sich selbst. Mach nicht alles kaputt.
»Wie lange?« Ihr Herz klopfte wie wild. »Ich meine, was ist –, ich meine, habt ihr euch öfter gesehen? Warst du in sie verliebt?«
»Nein«, sagte er mutlos. »Nichts von alledem. Es war nur eine Nacht.«
Eine Nacht war schlimm genug, dachte sie, und ihr Innerstes wurde von eifersüchtigem Schmerz zerfressen. Sie dachte an Angie, so schlank und hübsch, und wollte Joe umbringen. Und sie hatte das schreckliche Gefühl, daß sie wußte, von welcher Nacht die Rede war. Das machte es noch schlimmer. Einen Tag, nachdem sie ihn der sexuellen Belästigung beschuldigt hatte, war er abends mit Angie in den Pub gegangen und hatte am nächsten Tag im Büro die gleichen Kleider wie am Vortag getragen. Damals hatte sie ein schlechtes Gefühl gehabt, und jetzt hatte sie ein noch schlechteres. Immer wieder hatte sie in den letzten fünf Monaten Joe fragen wollen, was damals passiert sei, aber sie hatte sich nicht getraut, für den Fall, daß es nicht die Antwort war, die sie gern gehört hätte. Aber nachdem sie Angies Erschütterung mitbekommen hatte, mußte sie fragen.
»Ich hätte es nicht tun sollen«, sagte Joe unglücklich. »Normalerweise tue ich so etwas nicht. Aber ich bin auch ein Mensch und mache Fehler.«
»Ich bin mir sicher, Angie Miller würde es nicht gern hören, daß man sie einen Fehler nennt«, sagte Katherine hochmütig. »Nein, das habe ich nicht gemeint, aber daß ich mich mit ihr eingelassen habe, war ein Fehler.«
»Eingelassen? Ich dachte, es sei nur eine Nacht gewesen.«
»Es war nur eine Nacht.«
»Muß ja ganz schön intensiv gewesen sein, wenn du das –« Sie holte tief Luft, bevor sie ihm entgegenschleuderte: »– einlassen nennst.«
»Es war nur ein Wort. Offensichtlich das verkehrte.«
Katherine hielt den Atem an und wartete darauf, daß er sagen würde, er habe Angie nur geküßt und sei dann auf der Couch eingeschlafen, weil er zu betrunken war, um mit ihr zu schlafen. Aber er sagte nichts, deswegen fragte sie ihn: »Du hast also mit ihr geschlafen?«
»Ja.«
»Ich meine, du hast Sex mit ihr gehabt.« Sie hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen.
Er nickte. Ja.
Das Gefühl der Übelkeit verstärkte sich noch. »Und dann hast du allen erzählt, sie sollen Angie ›Gillette‹ nennen. Das ist ja sehr erwachsen von dir, Joe.«
»Das habe ich nicht getan.« Schrecken und Widerwille zeichneten sich in seiner Miene ab. »Ich weiß nicht, wer damit angefangen hat – wahrscheinlich Myles –, aber es kam nicht von mir.«
»Ja, aber anscheinend hast du allen erzählt, du hättest mit ihr geschlafen. Gut gemacht, Joe!«
»Ich habe niemandem etwas gesagt. Angie hat es Myles erzählt, wenn du es unbedingt wissen willst.«
»Hast du sie danach noch einmal gesehen?«
»Nicht, wie du denkst. Am nächsten Tag haben wir uns noch einmal getroffen, und ich habe mich entschuldigt für das, was passiert war, und gesagt, es würde nicht wieder vorkommen.«
»Und was meinst du, wie sie sich gefühlt hat?« Ein bitteres Gefühl der Wut kam in ihr auf. »Du schleppst sie ab, nimmst sie mit ins Bett und vögelst sie, und dann sagst du ihr, einmal reicht. Wie ehrenhaft!«
»Es tut mir leid«, sagte er.
»Was tut dir leid?« fragte sie kalt. »Du kannst doch machen, was du willst.«
»Bitte, sei nicht so«, bat er sie sanft.
»So – wie?«
»Warum bist du so böse? Wir waren damals noch gar nicht zusammen. Es war sogar kurz nachdem du das mit der sexuellen Belästigung gesagt hast –«
Ich weiß, wollte sie schreien.
»– und ich dachte, du machst dir nichts aus mir. Und, ehrlich gesagt, Katherine, ich war ziemlich fertig –«
»Und natürlich war es da das beste, mit einer anderen Frau zu schlafen. Typisch Mann.«
»Es hätte nicht passieren dürfen«, sagte er noch einmal. »Es tut mir leid, daß ich es gemacht habe. Es ist zwar keine Entschuldigung, aber ich war betrunken und fertig. Ich war einfach daneben, ich habe einen Fehler gemacht. Menschen machen Fehler.«
Ihr Mund war eine kleine, schmale Linie.
»Jeder hat eine Vergangenheit«, sagte er sanft. »Keiner fängt eine neue Beziehung an, ohne seine Vorgeschichte mitzubringen.«
Sie sagte nichts. Dann brach sie das Schweigen und schleuderte ihm entgegen: »Warum hast du es mir nicht gesagt?«
»Ich habe es versucht. Aber du hast gesagt, du wolltest unsere früheren Liebesgeschichten nicht erörtern, erinnerst du dich?«
»Ja, aber … damit habe ich nur gemeint, ich wollte dir nicht von meinen erzählen. Aber du solltest von deinen erzählen.«
Er seufzte. »Das ist jetzt aber nicht fair, oder, Katherine?«
»Du hast mir von Lindsay erzählt«, sagte sie und änderte die Stoßrichtung. »Warum hast du mir von Lindsay erzählt, aber nicht von Angie?«
»Ich habe es versucht«, rief er. »Aber du hast gesagt, du brauchst Zeit und du könntest mir nicht gleich vertrauen. Das habe ich respektiert. Ich wollte nichts überstürzen oder dich bedrängen –«
»Wie, glaubst du, ist das für mich?« unterbrach sie ihn. »Ich gehe jeden Tag zur Arbeit, und jetzt stellt sich heraus, daß Angie sich die ganze Zeit einen gelacht hat, weil sie mit meinem Freund geschlafen hat.«
»Aber sie hat von uns nichts gewußt. Und warum sollte sie lachen? Du bist schließlich meine Freundin, nicht Angie.«
»Ach, ich habe also das große Los gezogen«, höhnte sie.
Sie wußte, daß sie sich nicht mehr unter Kontrolle hatte und im Begriff war, alles zu zerstören, aber sie konnte sich nicht bremsen. Sie hörte, wie die bitteren, verletzenden Worte aus ihr hervorsprudelten, spürte, wie sie ihr Erleichterung brachten und sie gleichzeitig verbrannten, aber sie konnte den Ausbruch nicht stoppen.
»Katherine«, sagte er zärtlich, »wenn du Angst hast, daß es wieder geschehen könnte oder daß ich dir untreu sein könnte, dann irrst du dich so sehr. Ich sage das nicht, weil du böse auf mich bist, sondern weil meine Gefühle für dich –« Joe brach ab. Er meinte, den Schlüssel im Schloß gehört zu haben. In dem Moment stürzte Tara ins Zimmer mit, so schien es im ersten Augenblick, einer ganzen Horde von Menschen. Er seufzte. Es wurde Zeit, daß Tara eine Wohnung für sich fand.
Als Joe noch versuchte, ein Lächeln auf sein Gesicht zu zaubern, plapperte Tara munter drauflos und zeigte auf die Leute hinter sich. »Wir kamen sowieso hier vorbei, und da habe ich gedacht, es wäre doch nett, wenn ihr euch kennenlernen würdet, weil alle schon voneinander gehört haben. Das ist Amy aus dem Büro, das hier ist Benjy…« Sie machte eine Pause und sagte tonlos: »für mich« zu Katherine und Joe, dann hielt sie sich den Bauch und verdrehte die Augen, womit sie andeutete, daß sie sich am liebsten übergeben würde, und fuhr dann fort: »Und das ist…«
Joe sah den Mann entsetzt an. Er erkannte ihn sofort. Es war unmöglich, ihn nicht zu erkennen. Mit seiner großen Gestalt, seinen breiten Schultern und den langen roten Haaren füllte er fast den ganzen Raum aus. Es war der verwöhnte Schauspieler aus dem Butterwerbespot, Lorcan Irgendwer.
Anscheinend hatte auch Lorcan Joe erkannt, denn er unterbrach Taras Vorstellungszeremonie und rief laut und überrascht aus: »He, wir kennen uns doch.«
Joe runzelte die Stirn und machte sich auf ein unangenehmes Gespräch gefaßt, doch dann spürte er eine unerklärliche Angst in sich aufsteigen. Er folgte Lorcans Blick und merkte, daß Lorcan nicht ihn ansah, sondern Katherine.
73
Katherine war leichenblaß. »Hallo«, sagte sie schwach. »Hallo«, Lorcan grinste und schnipste mit den Fingern, weil ihm ihr Name nicht gleich einfallen wollte. Er konnte sich nicht erinnern, woher er sie kannte, aber er vermutete, daß er irgendwann mit ihr geschlafen hatte. Was war er doch für ein toller Hecht!
Tara, die dabei war, die beiden miteinander bekanntzumachen, hielt inne, als sie merkte, daß die Dynamik sich verändert hatte und sie den Ablauf nicht mehr gestaltete. »Kennt ihr euch etwa?« trompetete sie verwundert und sah von Lorcan zu Katherine und wieder zurück.
»Ich glaube schon.« Lorcan lächelte Katherine geheimnisvoll zu. »Oder?«
Sie nickte.
In dem Moment veränderte sich ohne ersichtlichen Grund die Stimmung im Raum. Joe saß starr und erschrocken auf dem Sofa. Benjy, Amy und Tara standen stumm und ohne ein Lächeln im Zimmer. Von Katherine gingen fühlbare, aber unbegreifliche Schwingungen aus.
»Ich habe euch gar nicht erkannt, im angezogenen Zustand«, sagte Tara fröhlich, in dem Bemühen, die düstere, unheilträchtige Atmosphäre zu vertreiben. Aber das ließ die allgemeine Anspannung nur noch steigen. Hinter sich konnte Tara Amys Angst praktisch fühlen. Besser, sie riechen.
»Du bist … ah … ehm…« Lorcan versuchte sich an ihren Namen zu erinnern. Jessica? Inez? Mary? Gott, es könnte jeder Name sein. Eine Frau unverfänglich Babe zu nennen hatte Lorcan schon manchmal aus der Patsche geholfen, besonders am Morgen danach, wenn er aufwachte und sich nicht mehr an den Namen der Frau neben sich erinnern konnte, aber hier würde ihm das nichts nützen. Und woher kannte er sie genau? »Ich kann mir einfach keine Namen merken«, sagte Lorcan mit einem um Verzeihung bittenden Lächeln und blickte auf Katherine hinunter, die wie benommen auf dem Sofa saß. Sie sah süß aus, fand er, er hätte nicht übel Lust, die Erinnerung aufzufrischen.
Trotz des Schocks war Katherine voller Zorn auf sich selbst. Wie oft hatte sie darum gebetet, daß sie ihm wiederbegegnen würde, damit sie dann so tun könnte, als hätte sie ihn noch nie gesehen? Wie lange hatte sie geübt, erwachsene Männer mit einer verächtlich hochgezogenen Augenbraue zu verängstigten Kindern zu machen, damit sie es im richtigen Moment ihm gegenüber anwenden könnte? Und jetzt konnte sie nicht einmal den Kopf von der Sofalehne heben!
Aber beschämender noch als ihre Unfähigkeit, sich zu rühren, war ihr Wunsch, daß er sich an sie erinnern möge. Zitternd sah sie ihn an und wünschte sich inständig, daß ihm wenigstens ihr Name einfiel. Aber es war tatsächlich schon lange her…
»Ich bin Katherine«, flüsterte sie.
Lorcan lächelte strahlend und schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn. »Ja, natürlich. Katherine. Jetzt fällt’s mir wieder ein.«
»Katherine mit K«, sagte Katherine langsam und deutlich.
Lorcan wiederholte mit einem nachgiebigen Lächeln: »Na, klar, Katherine mit…« Dann brach er ab, und das Blut wich aus seinem Gesicht. Himmel! Er bereute es auf der Stelle, je erwähnt zu haben, daß er sie von irgendwoher kannte. »Du siehst anders aus«, sagte er unbeholfen.
»Es ist schon lange her.«
»Ja, das stimmt, tatsächlich. Es ist bestimmt schon, warte mal, sieben Jahre her?«
»Zwölfeinhalb«, sagte sie, bevor sie sich bremsen konnte.
Und dann haßte sie sich wirklich, mit voller Inbrunst. Wie konnte sie so durchschaubar sein?
»Du hast es dir gut gemerkt.« Lorcan lachte nervös. Er war sehr, sehr daran interessiert zu gehen und bewegte sich auf die Tür zu, doch in dem Moment bemerkte er den Mann neben Katherine mit K. Herr im Himmel, was wurde hier gespielt? Es war der hübsche junge Werbemensch, der ihn aus dem Butterwerbespot rausgeschmissen hatte. Mit einem plötzlich aufkommenden Gefühl der Paranoia, das ihm die Kehle abschnürte, überlegte Lorcan, ob dies ein abgekartetes Spiel sei. Eine Art Gericht, ein nochmaliges Ablaufen seines Lebens? Die Vergangenheit, die ihn jetzt doch noch einholte? Hielten sich noch andere erzürnte Frauen und verärgerte Kollegen im Schlafzimmer versteckt und warteten auf ihren Auftritt? Doch dann schalt er sich wegen seiner Dummheit. Reiner Zufall. Nichts anderes konnte es sein. »He«, sagte er und versuchte seine Beklommenheit hinter einem lauten, abfälligen Lachen zu verstecken, »das ist ja Joe, Joe Roth.«
»Lockery Liggery.« Joe nickte mit feindseliger Höflichkeit. »Was für eine Überraschung.«
»Lorcan ist mein Name.«
»Hab ich das nicht gesagt?« Joes unschuldiger Ton täuschte keinen.
Ein Glitzern stand plötzlich in Lorcans Augen. Er hatte die Demütigung, die er an dem Drehtag erlitten hatte, nicht vergessen. Auch nicht die Armut, in der er seither lebte, oder die Tatsache, daß seine Karriere weiterhin in der Flaute war.
»Seid ihr zwei…?« Lorcan zeigte mit dem Finger auf Katherine und Joe.
»Sind wir zwei was?« fragte Joe.
»Seid ihr ein Paar?«
»Was geht Sie das an?« fragte Joe höflich.
»Nein, sagt nichts, ihr seid verheiratet.« Lorcan lachte.
»Wir sind nicht verheiratet«, sagte Katherine mit einer Stimme, die aus weiter Ferne kam.
»Wunderbar!« sagte Lorcan erfreut. Dann setzte er sich, was mit allgemeiner Bestürzung wahrgenommen wurde, neben Katherine auf das Sofa und küßte sie mit Bedacht auf die Wange. »Es gibt also noch Hoffnung.«
Amy gab einen leisen, bekümmerten Laut von sich, und Joe hob verärgert an: »Moment mal –«
Aber während alle anderen ungläubig zusahen, kehrte Katherine sich von Joe ab und wandte sich, wie eine Blume der Sonne, Lorcan zu.
74
Sie hatte ihm noch nie widerstehen können, und jetzt war nicht der Moment, damit anzufangen. Sie war fast neunzehn gewesen und hatte in einer Bar in Limerick gestanden, wo sie sich mit einer Kollegin unterhielt, als Lorcan sie erblickte. Er war gelangweilt und auf der Lauer, wie eine Katze, die eine Weile keinen Vogel gefangen hatte, und plötzlich verflüchtigte sich das Gefühl der Leere. »Sieh dir die süße Kleine da an«, sagte er zu seinem Freund Jack.
»Sie sieht nicht aus wie dein Typ«, entgegnete Jack überrascht.
»Sie ist ein Mädchen«, erklärte Lorcan, »das ist mein Typ. Gib mir Rückendeckung, ich wage einen Vorstoß.«
Als Delores, ihre Kollegin, zum Zigarettenholen ging, hörte Katherine plötzlich hinter sich eine sanfte, schokoladendunkle Stimme, die fragte: »Hat es weh getan?«
Verblüfft drehte sie sich um. Und blickte in das Gesicht des schönsten Mannes, den sie je in ihrem – zugegebenermaßen behüteten – Leben gesehen hatte. Er lehnte an der Theke, den Ellbogen aufgestützt, lächelte auf sie hinunter und brachte ihr Gesicht mit seiner offenen Bewunderung zum Lodern. »Hat was weh getan?«
Er sprach nicht gleich, sondern ließ den Blick aus seinen sherrybraunen Augen auf ihr ruhen. »Als du vom Himmel gefallen bist.«
Sie errötete und überlegte, ob dies als Anmache galt. Wenn ja, dann war es das erste Mal für sie. »Ich bin nicht vom Himmel, ich bin aus Knockavoy.« Sie hatte immer schon gewußt, daß sie nicht besonders schlagfertig war, trotzdem war sie bitter enttäuscht von ihrer Antwort.
Aber Lorcan lachte. »Das finde ich gut. ›Ich bin nicht vom Himmel, ich bin aus Knockavoy.‹ Das gefällt mir.«
Ein nicht benennbares Wohlgefühl durchströmte Katherine.
»Wie heißt du?« fragte Lorcan sanft.
»Katherine. Katherine mit K«, fügte sie mit einer solchen Ernsthaftigkeit hinzu, daß er bezaubert war.
»Und ich heiße Lorcan. Lorcan mit L.«
Sie kicherte. »Es könnte wohl kaum Lorcan mit K sein. Es sei denn«, fügte sie nachdenklich hinzu, »das K wäre stumm.«
Dann kicherte sie wieder, und Lorcan sah ihre kleinen weißen Zähne, ihre frische Haut ohne eine Spur von Make-up, ihr glattes, glänzendes Haar, ihre mädchenhafte Selbstsicherheit, und spürte den altbekannten Rausch. Er wußte, daß er die Sache vorsichtig beginnen mußte, weil sie diese Reinheit, diese Sauberkeit ausstrahlte. Nicht nur in ihrer Erscheinung, sondern auch in ihrem Verhalten: kein kokettes Senken der Augenlider, keine Doppeldeutigkeiten, kein flirtendes Schmollen. Er fühlte sich von der Aura ihrer Tugendhaftigkeit mächtig angezogen. Und verspürte den Wunsch, sie zu beschmutzen.
»Erzähl mir doch, Katherine mit K, wie hat es dich nach Limerick verschlagen?«
»Ich mache eine Lehre als Buchhalterin«, sagte sie stolz.
Es gelang ihm, einen interessierten Eindruck zu machen und sie darüber auszufragen, und sie erzählte vorbehaltlos die ganze Geschichte: daß sie sehr gute Noten in ihrer Abschlußprüfung erzielt habe, daß sie seit neun Monaten in Limerick lebe, welches Glück sie gehabt habe, einen Ausbildungsplatz bei Good and Eider zu bekommen, daß sie ein möbliertes Zimmer mit Kochgelegenheit habe, daß sie ihre besten Freunde aus Knockavoy, Tara und Fintan, vermisse, daß sie sie aber manchmal vom Büro aus anriefe und jedes zweite Wochenende nach Hause fahre.
»Warum kommen die nicht auch nach Limerick und suchen sich hier Arbeit?« fragte Lorcan mit großer Anteilnahme.
»Die haben zu Hause Arbeit im Hotel gefunden. Sie wollen Geld zusammensparen und ins Ausland gehen.«
»Na, hoffentlich kommen sie dich ab und zu besuchen.«
»Eigentlich nicht«, erklärte sie freimütig. »Meistens müssen sie nämlich Samstagabend arbeiten, und ich arbeite während der Woche, und abends muß ich lernen, es wäre also ein bißchen unsinnig…«
»Und die Leute in deinem Büro, sind die nett?«
»Ja, das schon.« Katherine ließ den Blick einen Moment schweifen und senkte dann die Stimme. »Sie sind nur ein bißchen alt.«
»Du hast also nicht so viele Freunde hier?«
»Nein, nicht viele, könnte man sagen.«
Trotzdem stellte Katherine ihn den alten Schachteln aus der Firma vor, mit denen sie in der Bar war, und er mußte sich ewig mit ihnen unterhalten. Als er es nicht mehr aushielt, flüsterte er Katherine ins Ohr: »Sollen wir fliehen, du und ich? Dann können wir irgendwohin gehen, wo wir uns richtig unterhalten können.« Als sie auf der Straße waren, schlug Lorcan lässig vor. »Wollen wir zu dir gehen?«
Katherine hielt einen Moment den Atem an. Glaubte er, sie sei eins von den dummen, jungen Mädchen vom Lande? »Nein«, sagte sie entschlossen, »wir gehen in eine andere Bar.«
Lorcan lachte auf. »Du bist sehr klug, Katherine mit K. Recht hast du, vorsichtig zu sein, aber mir kannst du vertrauen.«
»Aber das würde jeder sagen!«
»Sehe ich aus wie ein Vergewaltiger?« fragte er mit verletzter Unschuld und breitete seine Arme aus.
»Wie soll ich wissen, wie ein Vergewaltiger aussieht?« erwiderte sie schnippisch.
Lorcan stellte sich vor sie hin, legte seine großen Hände auf ihre schmalen Schultern und kam ganz nah an sie heran. »Ich würde dir nicht weh tun«, versprach er ihr mit seiner eindringlichen, melodischen Stimme. »Ehrlich nicht.«
Katherine war von seiner Aufrichtigkeit so beeindruckt, daß sie verstummte. Sie glaubte ihm. In Gegenwart seiner machtvollen Männlichkeit hatte sie das Gefühl, als gehörte sie hierhin und hätte schon immer hier sein sollen. Das letzte Stück des Puzzles, das ihr Leben war, setzte sich an die richtige Stelle. »Also gut.« Sie keuchte. »Du kannst auf eine Tasse Tee zu mir kommen, aber keine faulen Tricks.« Sie drohte ihm streng mit dem Finger, den er mit spielerischem Knurren zu schnappen versuchte, woraufhin Katherine sich vor Lachen schüttelte.
»Komm, gehen wir.« Lorcan legte seinen Arm um ihre Taille und zog sie halb, halb trug er sie über den Bürgersteig.
»Ich meine es ernst.« Sie blickte ihm ins Gesicht, während er sie die Straße entlangführte. »Keine faulen Tricks.«
»Abgemacht«, stimmte Lorcan ihr zärtlich zu.
Aber es kam doch zu faulen Tricks.
Kaum hatte sie ihm in ihrem Zimmer einen Tee gemacht, stellte er seine Tasse auf den Stapel Buchhaltungsbücher. Dann nahm er ihr die Tasse aus der Hand und stellte sie ebenfalls ab.
»Was machst du?« sagte sie mit einem Krächzen.
»Ich will nicht, daß du deinen Tee verschüttest.«
»Wieso sollte ich?«
»Weil es schwierig ist, Tee zu trinken, wenn man dabei geküßt wird.«
Sie war außer sich vor Angst. Er war also doch ein Vergewaltiger! Sie machte den Mund auf und wollte protestieren, aber er zog sie zu sich heran und legte seine Arme hart und fest um sie. Dann senkte er sein schönes Gesicht zu ihr herab, legte seine wunderschönen Lippen auf ihre und küßte sie.
Sie spürte einen winzigen Moment des Widerwillens, aber bevor sie Lorcan noch zurückstoßen konnte, war sie gefangen. Sie war schon geküßt worden, aber nie so, und als er aufhörte, wollte sie, daß er weitermachte. Zögernd öffnete sie die Augen, und ihr Körper war nach vorne geneigt, suchte seinen.
»Sehen wir uns morgen, Katherine mit K?«
»Ja«, sagte sie ganz außer Atem.
Als die Nonnen ihnen erzählten, sie sollten nie schwarze Lackschuhe zu einem Rock anziehen, weil Männer so einen Blick auf ihre sich in den Schuhen spiegelnden Unterhosen erhaschen könnten, hatte sogar Katherine gelacht. Dennoch hatten sich ihr einige der Lehren der katholischen Kirche tief eingeprägt. Wie Tara und Fintan ihr Leben lebten, ging sie nichts an, aber sie hatte die Absicht, als Jungfrau in die Ehe zu gehen. Sie war fest entschlossen, mit Lorcan nicht bis zum Letzten zu gehen, und nie war ein Entschluß fester. Aber sie wollte, daß er sie küßte, und das tat er auch.
Sie verbrachten jeden Abend zusammen, manchmal gingen sie in seine Wohnung, aber meistens in ihr Zimmer. Dort lagen sie auf ihrem schmalen Bett und küßten sich stundenlang, während die Buchhaltungslehrbücher auf ihrem winzigen Schreibtisch einstaubten. Es waren lange, heiße, forschende Küsse, bei denen er halb auf ihr lag. Das Gewicht seines Körpers war beängstigend und köstlich gleichzeitig, ein Bein hatte er über ihre Schenkel gelegt, seine Hand streichelte ihre Taille, ihr Körper drängte sich an seinen.
Sie war erregt von dem rauchigen, erwachsenen, männlichen Geruch seines Jacketts, von dem seidigen Haar zwischen ihren Fingern, seinem Stöhnen, wenn sie seinen Nacken streichelte, seinem heißen, süßen Mund auf ihrem … Aber als er anfing, mit dem Verschluß ihres BHs zu spielen, war sie entsetzt: weil er es wagte, aber auch weil sie es wollte. Sie schob ihn weg, setzte sich auf und erklärte ihm, daß sie nicht zu dieser Sorte gehöre und daß er sich unterstehen solle, so etwas je wieder zu versuchen. Er entschuldigte sich ausgiebig.
Aber beim nächsten Mal versuchte er es erneut, und Katherine war wie ein Racheengel. »Geh nach Hause«, verlangte sie.
Er war am Boden zerstört. Er weinte sogar und schwor, es nie wieder zu tun, aber sie sagte nur: »Geh bitte.«
Also ging er, und sie weinte sich die Augen aus, weil sie dachte, nun sei alles vorbei. Obwohl sie erst seit zwei Wochen miteinander gingen, hatte sie sich nie so verlassen und allein gefühlt.
Aber am nächsten Tag, um sieben Uhr in der Frühe, klopfte es heftig an ihre Zimmertür, und als sie aufmachte, stand Lorcan davor, blaß und mitgenommen nach einer schlaflosen Nacht, ein Bild der Zerknirschung. Wortlos stürzten sie einander in die Arme, dann führte sie ihn zu ihrem Bett, wo er sich niederlegte. Und als er ihr das Nachthemd aufknöpfte und ihre Brüste berührte und ihre Brustwarzen mit seinen Zähnen zu heißen, harten Spitzen machte, protestierte sie nicht.
Obwohl sie wußte, daß es verboten war, gefiel es ihr sehr. Scham vermischte sich mit einem schmutzigen, lüsternen Verlangen, und jedesmal, wenn sie zusammen waren, wollte sie Lorcan sagen, er solle es nicht wieder tun, aber sie brachte es nicht fertig. Schließlich beschwichtigte sie sich selbst, indem sie alles oberhalb der Taille für erlaubt erklärte. Das machten die anderen ja auch. Tara hatte Jungen ihre Brüste berühren lassen, seit sie vierzehn war. Und solange Katherine und Lorcan nichts »da unten« machten, war es nicht so schlimm. Außerdem war er verrückt nach ihr. Und so lieb. Alles an ihr gefiel ihm.
Bei einem der zärtlichen Gespräche, die zwischen den Küssen stattfanden, erhielt sie die Gewißheit, daß dies etwas Besonderes sei. Lorcan sah sie bedeutungsvoll aus halbgeschlossenen Augen an und sagte: »Ich wette, du hattest schon jede Menge Freunde.«
»Nein.« Sie war noch zu unerfahren, um zu lügen. »Nicht viele, nur zwei.«
»Jetzt bin ich richtig eifersüchtig«, sagte er eingeschnappt, und es war nicht gespielt.
»Nein, nein, sei nicht eifersüchtig«, beruhigte sie ihn. »Es waren doch nur Jungen, die in Knockavoy Ferien machten. Es war doch nicht wie … wie das hier.«
»Und, hat es sich gelohnt, auf mich zu warten?« Er schmunzelte.
»Ja.« Lorcan war ihre Belohnung, weil sie so brav gewesen war. Wer geduldig wartet, wird schließlich belohnt.
»Und du«, fragte sie schüchtern, »hattest du vor mir viele Freundinnen?« Sie wappnete sich. Bestimmt hatte er viele gehabt. Besonders, wenn man bedachte, daß er sieben Jahre älter war als sie. Und auch noch so gut aussah.
»Ein paar«, sagte er unbestimmt. »Nichts Besonderes.«
Im Flüsterton erzählte sie Tara und Fintan am Telefon, daß sie einen Freund habe. Nach und nach erzählte sie, daß er sehr gut aussah, daß sie verrückt nach ihm sei, und daß er verrückt nach ihr sei. Wann würden die beiden nach Limerick kommen, damit sie ihnen ihren Freund vorstellen konnte?
Doch keiner der beiden konnte in den nächsten vier Wochen kommen, da sie Nachtschicht hatten.
»Oh«, sagte Katherine enttäuscht.
»Es tut uns leid. Wir möchten ihn unheimlich gern kennenlernen«, sagte Tara. »Erzähl noch mal, wie gut er aussieht! Ist er so schön wie Danny Hartigan?«
Katherine lachte spöttisch. Danny Hartigan war im vorletzten Sommer zwei Wochen lang Taras Schatz gewesen, und jetzt war er der Maßstab, an dem alle anderen Jungen gemessen wurden. Doch im Vergleich zu Lorcan war er ein Nichts. »Viel besser als Danny Hartigan. Er sieht aus wie ein Filmstar, und übrigens ist er Schauspieler.«
»Was du nicht sagst.« Tara konnte ihren Neid nicht verhehlen. Ein Schauspieler! »Das erzählst du erst jetzt?«
Katherine hörte, wie Tara Fintan zurief: »Er ist Schauspieler.« Dann sprach Tara wieder in die Muschel.
»Haben wir ihn schon mal irgendwo gesehen?« fragte sie. »Kennen wir ihn?«
»Vielleicht«, sagte Katherine mit stolzgeschwellter Brust. »Du kennst doch die Werbung für den Weichspüler? Wenn die Männer beim Fußballspielen sind und…«
»Ich fasse es nicht!« sagte Tara mit Staunen. »Nicht der Schiedsrichter, der ihnen sagt, sie sollen ihre Trikots ausziehen? Der ist PHANTASTISCH!«
»Phantastisch«, hörte Katherine Fintan im Hintergrund. »Nein, nicht der Schiedsrichter«, mußte Katherine zugeben. »Er ist einer der Spieler am rechten Spielfeldrand.«
»Reg dich wieder ab.« Tara sprach zu Fintan. »Es ist nicht der Schiedsrichter.«
»Man sieht ihn sehr gut«, erklärte Katherine. »Er rennt weg, und man sieht ihn gut von hinten … Weißt du, wen ich meine?«
»Ich glaube nicht«, sagte Tara zweifelnd.
»Er hat rote Haare und ist sehr groß.«
»Rote Haare! Davon hast du noch nichts erzählt. Und groß? Meinst du wirklich, er sieht gut aus? Hört sich eher an wie Beaker aus der Muppet Show!«
»So sieht er überhaupt nicht aus«, sagte Katherine eingeschnappt.
»Entschuldige, ich wollte dir nicht den Spaß verderben. Aber sag doch, ist es was Ernstes?«
»O ja, ich glaube schon«, entgegnete Katherine zuversichtlich.
»Heiliger Bimbam! Versuch, ein Foto von ihm zu bekommen, und besuche uns als erstes im Hotel, wenn du am Freitagabend ankommst.«
»Ehm, ich wollte nicht kommen«, erklärte Katherine hastig. »Ich dachte, ich bleibe dieses Wochenende hier, damit ich mit ihm zusammensein kann.«
»Schon wieder?«
Lorcan gab ihr das Gefühl, unwiderstehlich zu sein. Wenn er sie küßte, wurde ihr ganz heiß, und sie wurde schwach; wenn er an ihren Brustwarzen saugte, dachte sie, sie müsse explodieren. Manchmal, wenn sie allein war, berührte sie sich durch ihr Höschen hindurch und war überrascht über das prickelnde, erregende Gefühl. Obwohl sie eine Weile nicht mehr zur Beichte gegangen war, konnte sie sich nicht vorstellen, wieder zu gehen.
Dann kam der Tag, an dem sie wie gewöhnlich auf ihrem Bett lagen und sich leidenschaftlich küßten. Plötzlich hörte sie, wie ein Reißverschluß aufgezogen wurde und Lorcan an sich herumhantierte. Beim Rascheln von Jeans und Baumwolle wurde ihr bewußt, daß Lorcan sich die Hosen herunterließ. »Was machst du da?« fragte sie entgeistert.
»Du brauchst nichts zu machen«, sagte er mit heiserer Stimme, während er sich streichelte. »Nur einmal anfassen. Nur einmal.«
»Nein!«
»Bitte. Du magst es bestimmt.«
»Das darf man nicht.«
»Wieso darf man das nicht? Wir haben uns doch lieb!« Das hörte sie zum ersten Mal, und sie war hoch erfreut. Doch das würde ihre Entschlossenheit nicht erschüttern. »Wir sollten das nicht tun…«
»Sollten wir wohl. Wir haben uns ja lieb.«
Und so erlaubte sie ihm zitternd, ihre Hand zu nehmen und sie zu seinem steifen Penis zu führen. Sie hatte die Augen zugekniffen und zuckte zusammen, sobald ihre Fingerspitzen die überraschend zarte Haut berührten, ohne die Steifheit oder die Größe des Glieds recht zu bemerken. »Okay«, sagte sie und zog ihre Hand zurück. »Hoffentlich bist du jetzt glücklich. Ich mache das nicht noch einmal.«
Sie meinte es aufrichtig, aber als sie das nächste Mal zusammen waren, zog er sich wieder die Hosen aus. Doch statt sich damit zufriedenzugeben, daß sie mit den Fingerspitzen über seine Erektion fuhr, legte er ihre Hand um seinen Penis und umschloß sie mit seiner Hand. Dann fing er an, seine Hand mit ihrer auf und ab zu bewegen, auf und ab. »Nein«, bat sie.
»Fester«, keuchte er. »Schneller! Ich liebe dich. Schneller.«
Das kleine Bett hüpfte auf und ab.
Sein Atem in ihrem Ohr ging stoßweise, und sein rotes, lustverzerrtes Gesicht machte ihn zu einem Fremden. Sie fühlte sich beschmutzt und erniedrigt, und als sich eine warme Flüssigkeit über ihre Hand ergoß, war sie richtig angeekelt.
Aber nachdem er gegangen war und sie allein dasaß, spürte sie bei der Erinnerung daran eine Erregung. Daß sie diese Gefühle in ihm entstehen lassen konnte! Sie fühlte sich mächtig und sexy, gefährlich und erwachsen, und sie wollte es wieder machen. Angst stieg in ihr hoch bei dem Gedanken, daß sie möglicherweise eine Todsünde begangen hatte. Wenn sie jetzt sterben würde, mußte sie dann bis in alle Ewigkeit im Fegefeuer schmoren? Obwohl die Vernunft ihr sagte, daß die Vorstellung vom Höllenfeuer einfach nur abergläubischer Unsinn sei, hatte sie Angst. Man konnte es nicht wissen. Wenn es nun doch stimmte?
Sie hätte zur Beichte gehen und eine Absolution bekommen können, damit sie, für den Fall, daß sie plötzlich tot umfiel, in Sicherheit war. Aber sie wußte, daß der Priester ihr auftragen würde, diese Dinge nie wieder zu machen und womöglich Lorcan nie wieder zu sehen.
Und das konnte sie unmöglich zulassen. Sie war regelrecht süchtig nach dem, was sie auf ihrem kleinen Bett taten, und Lorcan nicht mehr zu sehen, war unvorstellbar für sie. Sie versuchte also, ihre Augen davor zu verschließen, wie weit sie gesunken war, und überzeugte sich davon, daß die Frage nach der Todsünde nicht gestellt werden mußte, weil sie sich liebten. Sie hatte sich immer eingeredet, daß sie nicht bis zum Letzten gehen würde. Selbst Tara war noch nicht so weit gegangen. Doch im Lauf der Wochen hatte Lorcan Katherines Widerstand soweit überwunden, daß seine Hosen jedesmal, wenn sie auf dem Bett lagen, heruntergezogen waren, während ihr Höschen bis zur Mitte des Oberschenkels gestreift war und er seine Erektion auf ihre Scham legen durfte.
»Aber nicht weiter, ja?« flüsterte sie.
»Nein, natürlich nicht«, flüsterte er zurück.
Aber manchmal stieß er mit dem Penis gegen ihre Scham, und das löste bei beiden eine so heftige Erregung aus, daß er einen weiteren Stoß wagte.
»Aber nicht reintun«, flehte sie.
»Nein, ich tu ihn nicht rein«, beruhigte er sie. »Ich bewege ihn nur ein bißchen … so … gefällt dir das?«
Sie nickte. Es war das schönste Gefühl, das sie je gehabt hatte. Und solange sie nicht weitergingen, hatte sie nichts zu befürchten.
»Kann ich ihn ein bißchen bewegen?« murmelte Lorcan.
»Meinetwegen, aber nicht reintun.«
»Mach ich doch nicht.«
Nach einer Weile sagte Katherine halb entsetzt: »Ich glaube, du tust ihn rein.«
»Nein, keine Angst«, sagte er, und seine Hüften bewegten sich rasch auf und ab, »er ist davor, ich bewege mich nur.«
Doch seine Hüftbewegungen wurden stärker und heftiger, und in dem Moment, als Katherine von einer mächtigen, erschütternden Empfindung gepackt wurde, sagte Lorcan triumphierend: »Jetzt ist er drin!«
Danach weinte sie, und er hielt sie in den Armen und streichelte sie und sagte immer wieder: »Es wird wieder gut, Baby, wird alles wieder gut.«
Sie wandte ihm ihr tränenüberströmtes Gesicht zu und sagte kreuzunglücklich: »Wir machen das nie wieder. Und glaub ja nicht, daß du mich überreden kannst, denn das kannst du nicht. Es ist das Schlimmste, was ich je gemacht habe. Wenn ich jetzt sterben mußte, würde ich in die Hölle kommen.«
Aber sie machten es noch einmal. Wieder eine Ausnahme und ohne Wiederholung. Dann noch einmal. Und als Lorcan davon sprach, daß sie Vorkehrungen treffen sollten, fuhr sie ihn an, daß dazu keine Veranlassung sei, weil sie es nie wieder tun würden.
Aber natürlich machten sie es wieder. Nicht, weil Lorcan drohte, die Sache zu beenden, wenn sie nicht bereit sei. Das hatte er gar nicht nötig. Ihr eigener unzuverlässiger Körper war es, der sie immer wieder verführte – sie konnte Lorcan einfach nicht widerstehen.
Und in den Stunden der Scham-und Ekelgefühle fand sie Trost in dem Gedanken, daß er sie liebte. Wenn sie erst verheiratet waren, hätte es alles seine Richtigkeit, dann würde es rückblickend gerechtfertigt.
Nicht, daß vom Heiraten gesprochen worden wäre, aber es schwang indirekt mit. In seinen Blicken für sie, wenn sie sich sahen, in der Wärme seiner Stimme, wenn er sagte, daß er sie liebte.
75
Benjy war der erste, der sprach und das schreckliche Schweigen in Katherines Wohnzimmer durchbrach. »He«, sagte er und fragte sich, warum er immer derjenige war, der für Lorcan die Dinge ins reine bringen mußte, »das beweist mal wieder, daß es nur dreizehn Menschen auf der Erde gibt und sie den Rest mit Spiegeln machen. Aber ich glaube, wir sollten gehen. Amy? Tara? Lorcan?«
»Ja, das wäre das beste«, sagte Amy mit erstickter Stimme.
Lorcan ließ nicht erkennen, ob er verstanden hatte.
»Aber hier gefällt es mir«, sagte Lorcan sanft, grausam. Dann lächelte er Katherine an, die wie gelähmt war und zwischen ihm und Joe eingeklemmt saß. Das Lächeln hieß soviel wie: Ich komme wieder.
Mit träger Anmut erhob Lorcan sich, er hatte es nicht eilig. »Bis dann«, schnurrte er und ging mit schwingenden Schritten zur Tür.
»Bis dann«, sagten auch Benjy und Tara, die das Zimmer nicht schnell genug verlassen konnten.
Amy wollte sich auch verabschieden, aber als sie den Mund aufmachte, kam nur ein Krächzen heraus.
Die Tür schlug zu, das Schweigen wogte durch das Zimmer, und in der Leere vibrierten lauter böse Gefühle.
»Woher kennst du Lorcan?« fragte Katherine Joe mit tonloser Stimme. Sie sah ihn nicht an.
»Ich habe mit ihm einen Werbespot gemacht. Beziehungsweise, ich habe ihn nicht mit ihm gemacht.«
»Wie meinst du das?«
»Er war so widerspenstig, daß wir einen anderen Schauspieler holen mußten.«
»Typisch Lorcan. Der große Star.« Er wußte nicht, ob sie das ernst meinte.
»Woher kennst du ihn?«
»Ich habe an ihn meine Unschuld verloren – und vieles mehr«, sagte sie ausdruckslos.
Bei ihren Worten erfüllte ihn kalte Angst. Er wollte den Arm um sie legen, aber sie entwand sich. »Nein.«
»Nein?«
»Ich möchte, daß du gehst«, sagte sie eisig.
»Schick mich jetzt nicht weg«, bat er sie.
»Ich möchte, daß du gehst.«
Joe verstand sie nicht. Er wußte, daß sich etwas unwiderruflich verändert hatte, daß er Katherine verloren hatte. Hatte es damit zu tun, daß sie wegen Angie böse war? Oder hatte es mit Lorcan zu tun? Er vermutete, daß Lorcan eher der Grund war. Als Lorcan im Zimmer war, hatte Joe das Gefühl gehabt, nicht zu existieren.
»Geh jetzt«, befahl sie ihm.
Verzweifelt machte er einen weiteren Versuch, aber sie war unerreichbar für ihn.
»Ich rufe morgen an«, sagte er und ging widerstrebend.
Tara war zutiefst betroffen, als sie eine Stunde später wiederkam.
»Katherine, es tut mir leid, es tut mir so leid. Was für ein schrecklicher Zufall! Wenn ich nur die geringste Idee gehabt hätte, daß du diesen Lorcan kennst, dann hätte ich ihn nicht mitgebracht.«
»Du bist früh zurück«, stellte Katherine mit unbewegter Miene fest.
»Na ja…« Der Abend war eine Katastrophe gewesen, weil die Spannung zwischen Amy und Lorcan alles vergiftete. »Habe ich das richtig verstanden?« fragte Tara. »Lorcan ist Beaker aus der Muppet Show? Der, mit dem gegangen bist, als du in Limerick warst?«
Katherine nickte langsam.
»Und er hat dich sitzengelassen?«
»Ja. Er hat mich sitzengelassen.«
»Fintan und ich hatten immer gedacht, daß es Liebeskummer war.«
»Aber ich wollte nicht darüber sprechen.«
»Das haben wir gemerkt«, entgegnete Tara trocken.
»Tut mir leid.«
»Er sieht sehr gut aus«, sagte Tara. »Kein Wunder, daß du so am Boden zerstört warst, als du nach Knockavoy zurückgekommen bist. Aber er ist ein Arsch. Er denkt, er ist ein Geschenk Gottes. Und wie er mit dir vor seiner Freundin geflirtet hat.«
»Ja, so ist Lorcan.«
Ihre erstickte Stimme beunruhigte Tara. Besorgt betrachtete sie Katherine, die aussah, als stünde sie unter Drogen.
»Habt ihr was geraucht?«
»Nein.«
»Bist du betrunken?«
»Nein.«
»Ist alles in Ordnung.«
»Bestens.«
»Du wirkst … als wärst du nicht ganz da. Bist du unglücklich? War es ein großer Schock, Lorcan wiederzusehen?«
»Warum sollte es?«
»Das müßtest du mir erklären.« Tara sah sie genau an. »Wo ist übrigens Joe?«
»Scheiß auf Joe.«
Tara blieb der Mund offenstehen. »Was soll das heißen?«
»Joe hat mit einer Frau im Büro geschlafen.«
»Oh, nein. Oh, nein. Sag, daß das ein Witz ist.«
»Es ist kein Witz.«
»Das hätte ich nie für möglich gehalten, nicht bei Joe. Und er schien doch verrückt nach dir zu sein. Männer, sie sind doch alle gleich, alles Schweine, jeder einzelne, bis zum allerletzten. Und das geht schon die ganze Zeit, seit ihr zusammen seid?«
Katherine machte den Mund auf, sagte aber nichts. Oh, Mist, es ließ sich nicht vermeiden, sie mußte mit der Wahrheit herausrücken. »Es ist passiert, bevor wir zusammenkamen. Aber trotzdem. Er hat es mir nie erzählt, und ich arbeite im selben Büro mit ihr –«
»Moment mal. Können wir mal eben die Fakten überprüfen? Katherine, bist du übergeschnappt? Du bist wütend, weil er mit einer Frau geschlafen hat, bevor es zwischen euch gefunkt hat? Hattest du erwartet, daß er Jungfrau ist? Daß er sich für dich aufspart?«
»Nein, aber –«
»Du hast auch mit anderen geschlafen, mit Beaker von der Muppet Show, um nur einen zu nennen. Du hast kein Recht, dich zu beklagen, wenn Joe das gleiche getan hat. Mensch, komm wieder auf den Teppich! Zeig mir jemanden, der keine Vergangenheit hat, und ich zeige dir einen unerträglichen Langweiler.«
Katherine hob die Schultern und ließ sie wieder fallen.
»Hat es vielleicht doch etwas mit dieser Wiederbegegnung mit Lorcan zu tun?« Tara war richtig besorgt. »Du hast nicht etwa Hoffnungen, mit ihm wieder etwas anzufangen? Denn das wäre völlig hirnverbrannt, Katherine.«
»Ich weiß.«
»Es ist zwölfeinhalb Jahre her. Ein Menschenleben. Er hat eine Freundin, und du hast Joe.«
»Wenn Joe anruft«, sagte Katherine mit kalter Endgültigkeit, »ich bin nicht für ihn zu sprechen. Verstanden?«
»Bis wann?«
»Bis ich mir’s anders überlege.«
»Aber –«
»Es ist meine Wohnung.«
Und damit war das Gespräch beendet.
Am nächsten Morgen rief Joe mehrmals an und hinterließ Nachrichten auf dem Anrufbeantworter. »Sprich bitte mit mir, Katherine«, flehte er, und seine Höflichkeit konnte seine Verzweiflung nicht verbergen.
Tara konnte es kaum ertragen, ihn zu hören. »Komm jetzt«, sagte sie um zwei Uhr, »wir müssen zu Fintan.«
»Weggehen?« Katherine sah sie entsetzt an. »Ich gehe nicht weg.«
»Aber … warum nicht? Möchtest du nicht seine Schwellungen sehen? Oder besser, seine verschwundenen Schwellungen?«
»Heute nicht.«
»Aber Katherine, seit sechs Monaten warten wir darauf, daß eine Besserung eintritt. Jetzt ist es soweit. Ist es dir gleichgültig?«
»Nein, aber ich möchte heute nicht zu ihm gehen. Es tut mir leid. Es tut mir wirklich leid«, sagte sie noch einmal, anscheinend aufrichtig.
»Katherine, bitte, ich möchte dir helfen«, sagte Tara flehend. »Du bist komisch. Sprich mit mir, bitte.«
»Geh du zu Fintan. Gib ihm einen Kuß von mir. Wir sehen uns später.«
Schweren Herzens ging Tara, und Katherine atmete erleichtert auf.
Sie war froh, allein zu sein. Sie wußte, daß sie sich seltsam verhielt, aber es war, als könnte sie sich aus der Ferne zuschauen und nicht einschreiten. Als würde sie eine aufgezogene Puppe beobachten, die unkontrolliert herumwanderte, an Türen und Wänden anstieß, ohne Rücksicht auf die eigene Sicherheit. So lange hatte sie sich vorgestellt, Lorcan wiederzubegegnen, daß sie es kaum glauben konnte, daß er einfach in ihr Wohnzimmer spaziert war. Der Schock hatte ihre Verbindung mit der Wirklichkeit unterbrochen. Obwohl mehr als ein Jahrzehnt vergangen war, hatte sie immer das Gefühl gehabt, es sei nicht richtig vorbei. Es war eine unerledigte Angelegenheit, und weil die Vergangenheit die Gegenwart prägte, war sie wichtiger als die Gegenwart.
Im Lauf der Jahre hatte sie sich viele Szenen ausgemalt. In den meisten hatte Lorcan sich, um Verzeihung bittend, vor ihr auf die Knie geworfen, dann hatte sie ihn eine Weile lang leiden lassen und ihm dann verziehen. In anderen Versionen hatte er angenommen, er könne einfach da weitermachen, wo er aufgehört hatte, und sie hatte ihn mit einer Auswahl ihrer eingeübten Blicke und schneidenden Bemerkungen vernichtet.
Wenn Lorcan zurückkam – und sie war überzeugt, daß er innerhalb der nächsten Tage zurückkommen würde –, dann, so war ihr Plan, hätte sie die Zügel fest in der Hand. Dann würde das Ende umgeschrieben, diesmal nach ihren Vorstellungen. Auch wenn sie im voraus nicht wußte, ob sie ihn darin für immer von sich wies oder ob sie gemeinsam in den Sonnenuntergang davonritten. Möglicherweise beides.
Das, was sie sicher wußte, war die Tatsache, daß das Ende, so wie es war, nicht bleiben konnte. Die Bilder der letzten Begegnung hingen ihr immer noch nach, und auch jetzt wand sie sich bei der Erinnerung daran.
»Wir müssen heiraten.« Katherine sah Lorcan fest an. »Warum?«
Sie zögerte einen Moment und blickte sich im Pub um.
Sie hatte gedacht, es sei besser, wenn sie ihm ihre Neuigkeiten an einem öffentlichen Ort erzählen könnte, aber jetzt war sie sich nicht mehr so sicher. »Weil«, sagte sie und schluckte. Sie konnte kaum fortfahren: »Weil ich ein Kind bekomme.« Sie wußte zwar, daß Lorcan sie nicht sitzenlassen würde, dennoch war sie nervös, weil die Leute sich immer erzählten, daß sich die Männer in diesem heiklen Moment gern aus dem Staub machten. Aber sie beruhigte sich, indem sie sich sagte, nur dumme, sorglose Mädchen wurden sitzengelassen, und niemand war so umsichtig wie sie. »Sag doch was«, drängte sie ihn. »Bist du böse? Wenn, dann ist das ungerecht, es gehören immer zwei dazu…« Aber er sah nicht böse aus, nur verdrossen. »Ich kann dich nicht heiraten«, sagte er mitleidig und ratlos.
»Warum nicht?« Ihre Stimme war schrill, und ihre Augen waren wie zwei tiefe Höhlen in ihrem weißen Gesicht. »Weil«, sagte er deutlich gereizt, »ich schon verheiratet bin.«
Sie wäre beinahe ohnmächtig geworden. In ihren Ohren rauschte das Blut, und der Pub verwandelte sich in den Vorraum der Hölle. Während sie den Blick auf Lorcan gerichtet hielt, nahm sein vertrautes Gesicht die Züge eines Teufels an. Sein sinnlicher Mund wurde zu einer grausamen schmalen Linie, seine feingeschnittene Nase war plötzlich spitz und gebogen, und seine rehbraunen Augen leuchteten wie rotglühende Kohlen. »Das verstehe ich nicht«, sagte sie, und das stimmte auch.
»Ich bin schon verheiratet«, fuhr er sie an, und seine Schuldgefühle machten ihn noch gereizter. »Ich kann dich nicht heiraten, weil ich schon verheiratet bin.«
»Das kann nicht sein«, sagte sie und versuchte, den Alptraum abzuschütteln. »Du hast das nie gesagt.«
»Ach, nun komm schon. Du mußt es doch gewußt haben.«
»Ich habe es nicht gewußt. Sonst hätte ich nicht … wäre ich niemals…«
»Ach so, du wolltest mich dazu kriegen, dich zu heiraten, und deshalb bist du schwanger geworden«, beschuldigte Lorcan sie und drehte den Spieß um.
»Das stimmt nicht«, verteidigte sie sich. Ihr Atem ging stoßweise und flach. »Aber ich dachte, wenn wir zusammen … wir zusammen…«, sie zwang sich zum Weitersprechen, »wenn wir zusammen schlafen, dann würdest du mich heiraten.«
»Ja, aber das hatte ich nicht vor, und das tue ich auch nicht. Es geht nicht«, fügte er freundlicher hinzu.
»Das glaube ich nicht, das glaube ich nicht«, murmelte Katherine immer wieder, das Gesicht in die Hände vergraben.
Katherine Casey ließ sich nicht von einem Mann schwängern, der sie dann nicht heiraten wollte. Das kam in ihren Plänen einfach nicht vor.
Sie sah ihn an. »Dann müssen wir eben zusammenleben. Und zwar gleich.« Das war längst nicht ideal und weit davon entfernt, achtbar zu sein, aber anders ging es nicht. »Ich meine«, sagte sie unbeholfen, »ich nehme an, du bist von deiner Frau getrennt.
Er atmete heftig aus. »Die Annahme ist falsch.«
Und wieder dachte sie, sie würde die Besinnung verlieren.
»Ich meine ja nicht unbedingt eine legale Trennung.« Sie klammerte sich an Strohhalme. »Aber ihr lebt doch nicht zusammen, oder?«
»Wir leben zusammen, doch.« Lorcan sah zur Tür und überlegte, wie er wohl entkommen könnte.
»Was meinst du damit?« kreischte sie. »Ich war doch in deiner Wohnung. Da war keine Frau.«
»Sie war verreist.«
»Verreist?« fragte Katherine benommen. Sie sah die Pflanzen, das Gewürzregal, die Schalen mit Potpourri überall. Sie hatte gedacht, Lorcan hätte das so eingerichtet.
»Ja, jedesmal, wenn du da warst, war sie verreist«, bestätigte Lorcan. Er war am Ende.
Katherine konnte nicht sprechen. Sie konnte kaum atmen, so überwältigend war die Bedeutung dessen, was er sagte: Du bist seine Geliebte. Eine Geliebte! Wie konnte das nur geschehen?
In Momenten wie diesen wünschte Lorcan sich, er hätte seinen Pimmel für sich behalten. Das Zusammensein mit Katherine hatte ihm gefallen. Sie war süß. Und er war beeindruckt von seiner meisterhaften Verführung, die er genau im richtigen Tempo vorgenommen hatte, aber jetzt war er sich nicht so sicher, daß die Nachwirkungen es wert waren. Und nun war sie auch noch schwanger – Himmel, was für ein Schlamassel! Damit wollte er nichts zu tun haben.
Katherine war in Angstschweiß gebadet, aber sie sah einen Ausweg. »Du mußt deine Frau verlassen, auf der Stelle. Komm schon«, sagte sie und wurde mutiger. »Wir gehen zusammen zu ihr und sagen es ihr. Sofort.«
Sie kramte ihre Sachen zusammen, doch Lorcan war von Panik erfüllt. Katherine war manchmal so heftig, so unnachgiebig, wenn sie die Welt nach ihren Vorstellungen neu gestalten wollte. Lorcan wollte seine Frau nicht verlassen. Jetzt jedenfalls noch nicht. Trotz seiner gelegentlichen Untreue hing er sehr an Fiona. Sie paßten zusammen. Abgesehen davon lebte er von ihrem Geld.
Die Vorstellung, mit Katherine zu leben und – Gott bewahre – einem Kind, erschreckte ihn zutiefst. Katherine würde ihn zu einem Vorortleben zwingen, und er mußte den Rasen mähen, zur Messe gehen, Windeln wechseln, Garagen umbauen, Schlafzimmer renovieren und endlos mehr, während sie zum Kaffeeklatsch ging, Kataloge für Wintergärten wälzte und sich mit den Nachbarn über deren Anbauvorhaben anlegte. Was ihm anfangs reizvoll an Katherine erschienen war, schnürte ihm jetzt die Luft ab.
Außerdem hatte er von ihr bekommen, was er wollte. Die aufregende Jagd war vorüber, und jetzt hatte er Angst.
»Nein«, sagte er fest. »Laß Fiona aus dem Spiel.«
Daß er beschützend von einer anderen Frau sprach, versetzte ihr den schlimmsten Schmerz, den sie je gespürt hatte. Sie wußte nicht, daß es solche Schmerzen gab. »Aber du willst mir doch nicht sagen, daß du sie liebst?«
Das hatte er nicht vorgehabt, aber plötzlich kam es ihm wie eine sehr gute Idee vor. »Natürlich liebe ich sie. Sie ist meine Frau.«
»Aber das geht nicht, du liebst mich.«
Als er nichts erwiderte, sagte sie: »Du liebst mich doch, oder? Das hast du doch immer gesagt.«
»Ich weiß, aber … es tut mir leid. Hör zu, ich mag dich sehr gern, und du bist sehr attraktiv…« Er druckste herum. Sie litt fürchterlich. »Es tut mir leid«, wiederholte er, »Ich war wieder ein böser Junge und –«
»Wieder? Du meinst, das ist schon öfter vorgekommen? Ich bin nicht die erste?«
Er schüttelte langsam den Kopf. Sie war nicht die erste.
»Aber ich bedeute dir viel, oder?« Sie gab ihm die Möglichkeit, es wiedergutzumachen.
Bevor sie diese schlimme Nachricht zu Ende denken konnte, flatterten ihre Gedanken zu einer anderen Schreckensmeldung. Soviel Furchtbares stürzte auf sie ein, daß sie nicht wußte, was sie sich zuerst vornehmen sollte. »Aber ich bekomme ein Kind«, sagte sie mit hysterischer Stimme.
Himmel, was für eine Katastrophe, dachte Lorcan unbehaglich. Er konnte ihr nicht einmal empfehlen, eine Abtreibung vornehmen zu lassen, weil er kein Geld hatte, das er ihr geben konnte. »Was sollen wir denn tun?« fragte sie und sah ihn flehentlich an.
»Ich bin doch nicht derjenige, der schwanger ist.« Lorcan wand sich innerlich, weil sie ihm Schuldgefühle machte.
»Was willst du damit sagen?«
»Du bist schwanger. Ich habe das nicht gewollt. Ich wollte, daß du Vorkehrungen triffst, aber du hast dich geweigert. Jetzt kannst du damit machen, was du willst. Du kannst es bekommen oder auch nicht. Es ist deine Entscheidung.«
»Was willst du damit sagen?« Sie hatte schon eine Vermutung, aber sie hoffte verzweifelt, daß sie sich irrte.
»Ich glaube, es ist das beste, wenn ich mich da nicht einmische«, sagte er und war stolz auf sich, weil er das so freundlich gesagt hatte.
»Aber du mußt dich da einmischen«, rief sie außer sich. »Es geht nicht anders. Du mußt deine Frau verlassen und –«
»Wirklich, Katherine, ich glaube –«
»So heiße ich nicht«, schrie sie wild. Als er sie verwirrt ansah, sagte sie: »Ich heiße Katherine mit K. Das ist dein spezieller Name für mich. Sag ihn!«
»Katherine«, sagte er laut und deutlich, »ich glaube, es ist das beste, wenn wir uns nicht mehr sehen.«
»NEIN! Du darfst mich nicht verlassen!«
»Es ist das beste.«
»Für dich vielleicht, aber was soll ich machen?«
»Du schaffst das schon«, sagte er und wandte sich von ihr ab. »Du schaffst das schon, du kriegst das schon hin.«
»Bitte«, preßte sie hervor, »bitte.« Dann hörte sie sich sagen: »Ich flehe dich an.«
Aber es war wie ein Alptraum in Zeitlupe: Er stand auf und wollte gehen. Sie wußte, daß alles vorbei sein würde und sie ihn nie Wiedersehen würde, wenn sie ihn jetzt gehen ließ.
Er ging, aber sie klammerte sich an seinen Arm und wurde mitgezogen. Ein Hocker fiel um, und er versuchte, sie abzuschütteln. Sie stieß sich an der Theke und spürte keinen Schmerz. Die Gäste sahen auf, er sprach mit ihr. Er sagte harte, grausame Worte. Geh weg. Laß mich in Ruhe. Ein Klirren, als ein Glas zu Boden fiel und der Inhalt sich schäumend über den Holzboden ergoß. Der Barmann kam auf sie zu.
»Liebst du mich denn nicht?« hörte sie sich schreien, und ihre Stimme überschlug sich.
»Nein«, sagte er.
Nein.
76
Tara bestand darauf, Fintan abzutasten, als wäre sie von der Drogenfahndung. Sie fuhr mit den Händen über seinen Körper und war erstaunt, wie weit die Schwellungen zurückgegangen waren. »Weißt du, was ich fühle?« sagte sie, als sie seine Seite untersuchte. »Was?«
»NICHTS!« rief sie aus. »Ich fühle nichts!« Sie trat zurück und betrachtete ihn – er war kahl, elend dürr und auf einen Stock gestützt. Aber die Schwellung an seinem Hals hatte nur noch die Größe einer Weintraube. »Du siehst phantastisch aus«, erklärte sie. »Zum Reinbeißen. Wie fühlst du dich?«
»Hervorragend. Ich platze vor Energie und esse mit Bombenappetit. Die Zukunft sieht rosig aus. Aber wo sind Katherine und mein lieber Joe?«
»Halt dich gut fest! Ich muß euch beiden was erzählen.« Und sie unterhielt Fintan und Sandro mit einem Bericht der dramatischen Ereignisse des vergangenen Tages.
»Beaker aus der Muppet Show«, sagte Fintan immer wieder und schüttelte ungläubig den Kopf. »Nach all den Jahren, wer taucht da auf? Nur der Beaker aus der Muppet Show!«
Aber als sie ihnen erzählte, was mit Joe war, waren sie entgeistert. »Das kann sie Joe nicht antun«, jammerten sie. »Was hat das Mädel nur?«
»Ich mache mir schreckliche Sorgen um sie«, gab Tara zu. »Eigentlich wollte ich sie gar nicht allein lassen. Es kommt einem vor, als hätte sie ein Bus gestreift.«
»Du glaubst nicht etwa, sie hat Joe davongeschickt, weil sie Beaker wiedergetroffen hat, oder?« fragte Fintan.
»Nein!« Sandro war entsetzt. »Wie kann sie Interesse an einem haben, der ihr das kleine Bambina-Herz gebrochen hat?«
»Vielleicht will sie sich an ihm rächen. Was meinst du, Tara?« fragte Fintan. »Und sie hat vor, mit ihm ins Bett zu gehen und in letzter Minute die Schotten dicht zu machen und ihm zu sagen, daß es mit ihm und seinem putzigen kleinen Pimmel nichts wird.«
»Ich weiß es wirklich nicht«, sagte Tara verzweifelt. »Es ist ganz unmöglich zu wissen, was mit ihr los ist.«
»Gott, würden wir das nicht alle liebend gern machen mit einem alten Arsch, der uns sitzengelassen hat?« meinte Fintan träumerisch. »Jedenfalls, mach dir keine Sorgen, Sandro, sie kriegt das schon hin. Beaker hat eine Freundin, er ist also aus dem Rennen.«
Tara bezweifelte jedoch, daß Amy ein großes Hindernis für Lorcans Abenteurerlust war.
»Und Joe wird ihr den Kopf zurechtsetzen.« Seit Joe ein Treffen zwischen Fintan und Dale Winton arrangiert hatte, war Fintan überzeugt, daß Joe alles ins Lot bringen konnte.
Tara wurde etwas leichter ums Herz. »Du hast recht. Wahrscheinlich hat sie einen Riesenschreck gekriegt, aber sie wird drüber hinwegkommen, über kurz oder lang.«
»Und wie war deine Verabredung, Tara?«
»Oh, Mann, er war schrecklich. Klein, untersetzt, Glatze.«
»Aber war er nett?«
»Er war okay, aber ich will mich nicht wegwerfen. Der nächste, mit dem ich mich einlasse, muß schon einiges vorweisen können. Ich will nichts mehr mit irgendwelchen Trotteln zu tun haben. Lieber bleibe ich allein.«
»Grundgütiger!« rief Fintan. »Du hast dich aber verändert. Und was ist mit deiner Torschlußpanik, Tara?«
»Ja«, wollte auch Sandro wissen, »wo ist die Tara Ohne-Mann-bin-ich-ein-Nichts Butler?«
»Die Tara Lieber-gehe-ich-mit-einem-Trottel-dermich-beschimpft-als-allein-ins-Bett Butler?« fügte Fintan hinzu.
»War ich nicht erbärmlich?« Sie schauderte. »Torschlußpanik, also wirklich! Habe ich nicht noch mein ganzes Leben vor mir?«
»Ebenso wie meine Wenigkeit«, sagte Fintan mit überschäumender Lebensfreude.
»Ich habe keine Ahnung, was sich verändert hat«, gestand Tara. »Ich weiß nur, daß ich kein Selbstvertrauen hatte, als ich mit Thomas zusammen war. Ich dachte, ich würde ohne ihn nicht überleben, aber jetzt habe ich begriffen, daß er der Grund war, warum ich kein Selbstvertrauen hatte. Und es ist wunderbar, nicht ständig in Angst und Schrecken zu leben.«
»Wieso in Angst und Schrecken?«
»Vor dem Alleinsein. Ich dachte, das wäre das Schlimmste, was mir passieren könnte, aber jetzt ist es passiert, und es ist kein bißchen schlimm. Es ist sogar ganz schön.«
»Schön?« Fintan zog eine Augenbraue hoch. »Soweit ist es also schon.«
»Schön, manchmal«, gab sie zu. »Ich will damit nicht sagen, daß ich mich nicht häufig einsam fühle. Und ich hätte Lust auf einen tollen Typen. Aber ich war unglaublich einsam, als ich mit Thomas zusammen war. Wenigstens habe ich jetzt, da ich allein bin, die Chance, einen Mann kennenzulernen. Ganz ausgeschlossen ist das ja nicht, wie man an Katherine sieht. Sie hat einen richtig netten Mann kennengelernt, und sie ist sogar noch älter als ich.«
»Ganze sechs Wochen. Aber ich mag deine Einstellung. Es ist alles ein großes Abenteuer. Und was ist mit Ravi?«
»Ach, Fintan, hör auf. Ravi ist ein Freund.«
»Aha, und ich glaube, er wäre gern mehr als ein Freund.« Sandro zwinkerte ihr bedeutungsvoll zu.
»Hast du da ein Mars in der Tasche, oder bist du einfach überglücklich, mich zu sehen?« witzelte Fintan.
»Mir war das Mars lieber, schönen Dank.«
»Aber er ist verrückt nach dir, stimmt’s?«
Tara wurde rot und wand sich unbehaglich. »Vielleicht. Er hat nie etwas gesagt, aber, na ja, wer weiß … Obwohl, ich glaube, er mochte mich lieber, als ich dick war. Allerdings könnte er Glück haben, denn bald habe ich wieder Größe vierzig. Das ist das Problem, wenn man keine Probleme hat. Zufriedenheit macht dick.«
»Du pendelst dich einfach nur ein«, tröstete Fintan sie. »Am Anfang sahst du etwas verzweifelt aus, sozusagen geschrumpft. Oh, ich weiß, ich bin auch nicht gerade das Paradebeispiel für einen wohlgenährten Kerl. Aber im Moment siehst du phantastisch aus. Straff und schlank. Eigentlich«, fuhr Fintan, an Sandro gerichtet, fort, »würden Tara und Ravi ein wunderbares Paar abgeben, meinst du nicht?«
»Er hat einen klasse Körper«, stimmte Sandro ihm zu.
»Ach, hört auf! Ich mag ihn sehr, aber ich bin noch nicht soweit.« Sie wußte nicht recht, wie sie das beschreiben sollte. »Ich will mit verschiedenen Männern ausgehen«, erklärte sie. »Ich will unbeschwert sein und mich vergnügen. Ich hatte so lange keine Freiheit, jetzt habe ich es nicht eilig, sie wieder aufzugeben.«
»Wenn er nun nicht auf dich wartet?«
»Das macht nichts, Fintan! Das macht mir nichts aus!«
»Großartig«, hauchte er. »Einfach großartig.«
Drei Kilometer Luftlinie entfernt war ein heftiger Streit im Gang. Amy schrie Lorcan an. Nach Monaten der schlechten Behandlung war seine unverschämte Art, mit Taras Freundin zu flirten, der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte.
Sie hatten bis tief in die Nacht gestritten und gleich am nächsten Morgen wieder damit angefangen. »Wie konntest du mich dermaßen demütigen?« Ihr schönes Gesicht war wutverzerrt und von Tränen überströmt.
»Wie?« fragte er gedehnt. »Ganz leicht. Hast du das nicht gemerkt? Ich habe öffentlich mit einer anderen Frau geflirtet.«
»Aber warum?« kreischte sie. »Ich verstehe das nicht. Warum bist du mit mir zusammen, wenn du mich nur quälen willst?« Weil es so leicht ist.
Ihre Stimme wurde immer schriller und brach in einer
Höhe ab, bei der Glas zerspringen würde. »Warum tust du das? Was willst du denn vom Leben? Kannst du mir mal sagen, was du willst?« Diese Frage hatte er bestimmt schon tausendmal gehört. Er schwieg und schien darüber nachzudenken.
Dann sagte er mit einem grausamen Lächeln: »Ein Heilmittel für Aids.« Das letzte Mal, als ihm jemand diese Frage gestellt hatte – das war zwei Wochen her, damals war es die zutiefst verletzte Apothekerin Colleen gewesen –, hatte er geantwortet: »Was ich vom Leben will? Wie wär’s mit einer Frau, die wie ein Kaninchen fickt und sich nachts um zwei in eine Pizza verwandelt?«
Ihm fielen keine cleveren Antworten mehr ein. Es stimmte zwar, daß die Frauen keine Gelegenheit haben würden, die Antworten zu vergleichen, aber sein Stolz verbot es ihm, die gleiche Antwort zweimal zu verwenden. Doch diese clevere Antwort wollte Amy nicht mehr schlucken.
»Raus!« schrie sie. Sie richtete sich auf und zeigte mit dem ausgestreckten Arm zur Tür. »Geh!«
Lorcan schmunzelte nachsichtig. »Du bist schön, wenn du dich aufregst.« Das war gelogen. Amy sah verquollen und häßlich aus.
»Raus!« sagte sie wieder.
»Hast du Aktien von der British Telecom?«
Sie sah ihn mit wütender und gleichzeitig fragender Miene an.
»Weil nämlich«, erklärte er lachend, »die BT-Gewinne in den Himmel steigen werden, wenn du mich tausendmal angerufen hast, um mich zu bitten, zu dir zurückzukommen.«
»Raus!«
Er schlenderte zur Tür. Bevor er sie hinter sich zuzog, steckte er den Kopf noch einmal herein. »Ich brauche ungefähr eine halbe Stunde, um nach Hause zu kommen. Warte also mit dem ersten Anruf bis dann.«
Gemächlich spazierte er zur U-Bahn-Station und lächelte vergnügt ob seiner gelungenen Antworten. Doch er war noch nicht weit gekommen, da breitete sich in ihm eine Art Katerstimmung aus. Aus beträchtlicher Höhe landete er unsanft wieder auf dem Boden, das gute Gefühl wurde von weniger angenehmen Empfindungen vergiftet. Es war immer wieder das gleiche. Jedesmal, wenn sich die Gelegenheit bot, den bösen Jungen zu spielen, konnte er nicht widerstehen. Und es hatte immer solchen Spaß gemacht. Doch als sich das erhebende Gefühl ganz verflüchtigte, konnte er sich dem Gedanken nicht verschließen, daß es vielleicht an der Zeit sei, Amy gehen zu lassen; er sollte aufhören, sie zu quälen, und sie freigeben. Je mehr er darüber nachdachte, desto klarer wurde ihm, daß längst eine andere fällig war – vielleicht, um es diesmal richtig zu machen. Und vielleicht war er dieser anderen schon begegnet…
Die Zeit war reif, um das Leben und Treiben des Lorcan Larkin gründlich zu überdenken.
»He«, sagte er und lachte vor sich hin, »sieht aus, als würde ich erwachsen.«
Amy nahm den Hörer ab und wählte eine Nummer. Es war nicht die von Lorcan.
77
Am Montag ging Katherine nicht zur Arbeit. Sie bat Tara, sie krank zu melden. »Warum? Bist du wirklich krank?«
»Mehr oder weniger.«
»Du siehst nicht krank aus.«
»Tust du es für mich oder nicht?«
»Warum gehst du nicht? Du hast so was noch nie gemacht.«
»Ich kann Joe nicht gegenübertreten.«
»Warum sprichst du nicht mit ihm? Du bedeutest ihm so viel!«
»Bitte, Tara.«
»Und warum gehst du nicht raus? Seit Samstag bist du nicht aus dem Haus gegangen.
»Oh, bitte, Tara, bitte, bitte«, flehte Katherine mit einer Eindringlichkeit, die Tara einen Schrecken einjagte.
Tara hatte keine Ahnung, was mit Katherine los war, aber es machte ihr große Angst. Katherine zeigte der Welt ein weißes, unbewegtes Gesicht, aber es war deutlich, daß unter der Oberfläche die Kämpfe tobten. Tara wollte sie nicht allein lassen. Es konnte alles mögliche passieren. Obwohl sie sich keine Gründe dafür denken konnte, hatte sie halb die Befürchtung, daß Katherine Selbstmord begehen könnte. Irgendwas war völlig in Unordnung geraten. Es hatte am Samstagabend angefangen, und Joe war offensichtlich nicht die Ursache dafür. Er war einfach ein unschuldiger Dritter.
»Bitte, Tara.«
»Also gut.« Sich so hilflos zu fühlen war ihr unerträglich.
An dem Tag rief Tara mindestens ebenso häufig bei Katherine an wie Joe. Als sie nach Hause kam, hatte Katherine sich zum Ausgehen fertiggemacht, die Haare gefönt und Make-up aufgelegt.
»Gehst du weg?« fragte Tara in der verzweifelten Hoffnung, daß Katherine sich mit Joe treffen würde.
»Nein.«
»Oh. Schön, daß du dich für mich so fein herrichtest.«
»Ha ha.«
»Selber ha ha.«
Sie verbrachten den Abend in angespannter Stimmung, sahen ohne große Lust fern und taten so, als ob das Telefon nicht alle halbe Stunde klingelte und Joe weitere Nachrichten auf Band sprach.
Immer wieder sah Tara Katherine von der Seite her an. Der Eindruck von gespannter Erwartung, der von ihr ausging, zusammen mit dem perfekten Make-up und der sorgfältig zurechtgemachten Frisur, wiesen auf etwas hin. Als Panorama zu Ende war, fiel es Tara plötzlich wie Schuppen von den Augen. »Du wartest auf ihn, stimmt’s?«
Katherine drehte steif den Kopf. Angst stand in ihren Augen. »Hmmmm?« sagte sie nervös.
»Du wartest auf Lorcan, oder? Deswegen bist du nicht weggegangen. Er weiß deine Telefonnummer nicht, aber er weiß, wo du wohnst, und du hast Angst, er könnte kommen, wenn du nicht da bist.«
Katherine schwieg, und Tara wußte, daß sie recht hatte. Katherines verrücktes Verhalten brach Tara fast das Herz. Sie sprang auf und setzte sich neben Katherine. »Hör mir zu«, sagte sie mit großer Eindringlichkeit. »Sieh mich bitte an, Katherine, bitte!«
Langsam sah Katherine sie mit feindseligem Blick an.
»Du mußt zur Vernunft kommen«, sagte Tara bestimmt. »Dieser Lorcan war deine erste große Liebe. Den ersten vergessen wir nie. Du warst jung und ein bißchen naiv. Und er sieht außerordentlich gut aus, was die Sache erschwert. Ich bin mir sicher, es war ein großer Schock für dich, als er am Samstagabend plötzlich vor dir stand, und natürlich ist man danach aufgewühlt und verwirrt. Das ist jedem von uns schon passiert. Wenn mir Thomas jetzt über den Weg laufen würde, wäre ich sicher auch ganz durcheinander. Und das wäre auch in Ordnung. Aber nicht auf ewig, denn das Leben muß weitergehen. Und besonders für dich, denn du hast Joe.«
Bei Joes Namen huschte ein Flackern über Katherines Gesicht, dann verschloß es sich wieder.
»Komm schon, Katherine, es ist lange her. Schließ ab damit und laß es hinter dir. Das wäre jetzt das Richtige. Guck mal, ich habe Thomas überwunden. Wenn ich das kann, kann das jeder.«
»Thomas hat dich nicht geschwängert«, sagte Katherine, und ihre Lippen bewegten sich kaum. Tara ließ die Worte im Schweigen verhallen. Das saß. »Und Thomas war nicht verheiratet«, fügte Katherine mit tonloser Stimme hinzu.
»Willst du mir sagen…?« Tara konnte nicht weitersprechen, als ihr die Bedeutung der Worte richtig klar wurde. »Du warst von Lorcan schwanger? Und er war verheiratet? Als du neunzehn warst?«
Katherines tote, erloschene Augen sprachen Bände.
»Oh, mein Gott, Katherine! Warum hast du denn nichts gesagt!«
Katherine rang um Worte – einfach irgend etwas – und sah Tara stumm an. Wie konnte sie den Horror erklären, jung, allein und schwanger zu sein? Die Hölle, in die sie hinabgestiegen war? Der Schmerz, Lorcan gehen zu lassen und ihm nicht sofort hinterherzulaufen?
Und die schlimmste Wahrheit, die ihr erst ein paar Tage später dämmerte, daß sie – als Unverheiratete, schwanger von einem verheirateten Mann – wie ihre Mutter war. Die Mutter, von der sie sich ihr Leben lang mit aller Anstrengung unterscheiden wollte.
Neunzehn Jahre der Gottesfurcht und Ordnungsliebe, der gebügelten Kleider und gewissenhaft gemachten Hausaufgaben, der Pünktlichkeit und Tadellosigkeit hatten nichts bewirkt. Sie war sogar fast genauso alt wie ihre Mutter damals. Ihre Mutter war zwanzig gewesen.
»Erzähl es mir doch, bitte«, bedrängte Tara sie. Sie war sehr besorgt. »Ich weiß, daß es nicht leicht ist.«
»Nicht so schwer wie damals.« Katherine biß die Zähne zusammen. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich nicht schwanger sein wollte. Ich habe auf meinem Bett gelegen und auf meinen Bauch geguckt und hätte am liebsten geschrien. Ich wollte einfach die ganze Zeit schreien, Tara.«
»Warum?« Tara konnte kaum sprechen.
»Weil irgendwo da drinnen, so klein, daß ich es nicht sehen konnte, etwas mein Leben zerstörte. Ein kleiner Fremdkörper wuchs in mir und wurde größer. Nie habe ich mich so gefangen gefühlt. Es war, als wäre ich im Gefängnis, aber in meinem eigenen Körper. Und ich konnte nicht raus.«
Tara nickte unglücklich.
»Ich wollte meinen Bauch weghaben. Ich wünschte mir, das Mädchen im Zirkus zu sein, das in drei Teile gesägt wird und deren Mittelteil in einem Holzkasten beiseite geräumt wird. Ich wollte einfach, daß alles, was daran beteiligt war, weggenommen würde.«
Sie sah Tara an und hoffte verzweifelt, daß sie sie verstand. Dann erzählte sie ihr, daß sie manchmal an ihrer Haut gezerrt hatte, in dem unmöglichen Versuch, ihren Bauch loszuwerden, damit nur die nichtschwangere Katherine zurückbleiben würde.
»Hast du eine Abtreibung machen lassen?« fragte Tara sanft.
Abtreibung.
»Du weißt, daß ich nicht für Abtreibung bin, oder wenigstens nicht dafür war.« Katherine konnte Tara nicht in die Augen sehen, als sie sich daran erinnerte, daß sie in der Schule immer den Nonnen zugestimmt hatte, die erklärten, Abtreibung sei Mord und das Ungeborene habe ein Recht auf Leben. Aber all das war wie weggeblasen, als die schreckliche Angst sie überkam. Von dem Moment an, da Lorcan sie verlassen hatte, wollte sie eine Abtreibung machen lassen. Sie konnte keinen anderen Ausweg sehen, wenn ihr Leben nicht völlig ruiniert werden sollte. Sie wußte, daß sie im Fegefeuer schmoren würde, aber das kümmerte sie nicht. Sie war ohnehin schon in der Hölle.
Wenn sie nur das Kind wegmachen lassen könnte, würde sie einen Schlußstrich ziehen, und von dem Tag an würde sie sich bemühen, so gut wie möglich zu leben. Sie würde sich doppelt anstrengen, ein redliches und untadeliges Leben zu führen. Sie hatte andere unverheiratete Mädchen gekannt, die schwanger geworden waren, und sie hatten ihre Kinder bekommen und sie geliebt. Aber sie, Katherine Casey, war anders. Irgendwo, gar nicht so tief verborgen, war sie der Ansicht, daß Schwangerschaft die Strafe für Mädchen war, die ein ungezügeltes, hemmungsloses Leben führten. Und weil ihr Verhalten immer so vorbildlich gewesen war, dachte sie, es sei das Letzte, was ihr zustoßen könne. Das Letzte, was sie verdiente.
»Katherine…«, rief Tara sie sanft, »komm, sprich mit mir, Katherine.«
»Ich konnte keinem davon erzählen«, sagte sie. Die Stimme versagte ihr fast, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Ich habe mich so allein gefühlt.«
»Du hättest Fintan und mir davon erzählen können.«
»Das ging nicht, Tara, es ging nicht. Wenn ich es euch gegenüber zugegeben hätte, dann hätte ich es auch selber erkennen müssen. Ich wollte einfach, daß es vorbei war, und es war einfacher, diesen Teil meines Lebens zu vergessen, wenn nur ich davon wußte.«
»Gott, das ist ja schrecklich.« Tara war leichenblaß. »Du hast das also alles allein gemacht? – Aber du hättest es deiner Mutter erzählen können, die hätte dich nicht verurteilt.«
»Nein.« Katherine stimmte ihr bekümmert zu. »Sie hätte sich womöglich noch gefreut. Und dann hätte sie eine Abtreibung organisiert und mich vielleicht als leuchtendes Beispiel hingestellt.«
Aber Katherine hätte nie wieder die moralisch Überlegene spielen können. Es war schon schlimm genug, daß sie so wie ihre Mutter war, aber daß ihre Mutter davon erfahren würde…
»Was hast du dann gemacht?« fragte Tara behutsam. Sie war überzeugt, daß es wichtig für Katherine war, darüber zu sprechen.
Katherine seufzte tief und wappnete sich, in die Hölle der Vergangenheit zu blicken. »Ich hatte keine Ahnung, wie man eine … eine –«, auch jetzt noch konnte sie das Wort kaum aussprechen, »– Abtreibung organisiert. Ich wußte nur, daß es in Irland illegal war und daß ich nach England fahren mußte.«
Tara nickte verständnisvoll und hoffte, daß es nicht zu deutlich wurde, wie erschüttert sie von der Geschichte war: Wie Katherine – unter Übelkeit leidend, mit empfindlichen Brüsten, verängstigt und mit zweihundert Pfund in der Tasche – in den Zug nach Dublin stieg. Dort gab es eine Stelle, wo man ihr helfen würde. Wie sie sich des vollen Ausmaßes ihrer Lage und ihres Vorhabens kaum bewußt wurde. Wie sie ihre Gedanken fest auf die Zukunft gerichtet hatte, wenn sie von diesem Alptraum befreit sein würde.
Sie empfand es als entsetzliche Schmach, die Beratungsstelle zu betreten, und war überzeugt, daß jemand sie erkennen würde. Aber die Leute waren freundlich und verständnisvoll. Sie wurde von einem Arzt untersucht, der bestätigte, daß sie in der achten Woche schwanger war. Dann mußte sie ein Gespräch mit einer Beraterin führen, die ihr die Alternativen zu einem Abbruch erklärte. »Ich will das alles nicht hören«, hatte Katherine mit zugeschnürter Kehle gesagt. »Ich will einfach nur … es soll einfach nur weg … bitte.«
Die Beraterin nickte. Sie hatte das schon so oft gesehen, diese jungen Mädchen in entsetzlicher Panik und so verängstigt über das, was ihnen zustieß, daß sie keinen klaren Gedanken fassen konnten.
»Sind Sie sich ganz sicher?«
Als Katherine nickte, hatte die Beraterin sanft gesagt: »Also gut, in Liverpool gibt es eine Klinik, ich mache da jetzt einen Termin. Wann können Sie fahren?«
»Sofort.« Katherine versuchte, mit fester Stimme zu sprechen. »Sobald es geht.«
Die Beraterin hatte sie allein in dem winzigen Zimmer gelassen, wo sie auf der Stuhlkante saß und wartete. Nach einer Viertelstunde kam sie zurück und lächelte Katherine mit einer Wärme zu, die dennoch den Eisblock in Katherines Innerem nicht zum Schmelzen zu bringen vermochte. »Es ist alles vorbereitet«, sagte sie ruhig. »Ich habe die Einzelheiten hier aufgeschrieben. Heute abend um acht geht eine Fähre. Dann sind Sie um…«
Das Folgende war aus weiter Ferne an Katherines Ohr gedrungen: Züge, Stadtpläne, ein Taxi zur Klinik, die Rückreise, ein weiteres Gespräch mit der Beraterin. »Danke«, hatte sie sich sagen hören.
Den ganzen restlichen Tag lief sie durch Dublin, aber hinterher konnte sie sich daran nicht mehr erinnern. Da sie nichts weiter zu tun hatte, war sie viel zu früh am Hafen. Als sie in dem barackenartigen Warteraum auf der Bank saß, spürte sie plötzlich etwas Warmes, Feuchtes. Sie nahm ihre kleine Tasche und rannte zur Damentoilette, und dort stellte sie fest, daß sie blutete. Erst dann bemerkte sie den Schmerz.
Die Fähre fuhr ohne sie, und am nächsten Morgen, nun nicht mehr schwanger, stieg sie wieder in den Zug nach Limerick, aber das Gefühl, in einem Alptraum zu sein, dauerte an.
»Aber du hast keine Abtreibung machen lassen.« Tara versuchte, ihr die hellere Seite zu zeigen.
»Nein, aber ich hätte es getan«, sagte Katherine dumpf. »Und deswegen ist es genauso schlimm.«
»Das finde ich nicht.«
»Es fühlt sich so an.«
»Und dann bist du nach Knockavoy gekommen und hast nichts darüber sagen wollen«, erinnerte sich Tara. »Du warst so bitter. Jetzt verstehe ich, warum.«
»Dann habe ich an meinen Vater geschrieben«, erzählte Katherine weiter. Es machte jetzt nichts mehr aus, wenn sie den Rest auch noch preisgab.
»Und was hat der gesagt?« Tara versuchte, die Ruhe zu bewahren. Wenn der Vater Katherine so kurz nach der Sache mit Lorcan auch zurückgewiesen hatte, dann war es kein Wunder, daß sie Männern gegenüber so abweisend war.
»Er war tot«, sagte sie schlicht. »Er war sechs Monate und sechs Tage vorher gestorben.«
»Und wie hast du dich dann gefühlt?«
Katherine zögerte und versuchte, die richtigen Worte zu finden. »Ich wollte auch sterben.«
Tara stieß erschrocken den Atem aus.
»Dann sind wir nach London gezogen, und ich habe eine katastrophale Affäre nach der anderen gehabt, und jetzt das hier.«
»Aber ich habe auch eine katastrophale Affäre nach der anderen gehabt«, entgegnete Tara.
»Aber nicht so wie ich.«
Dem mußte Tara zustimmen. »Es muß damit zu tun haben, daß du das mit deinem Vater gleich nach der schrecklichen Sache mit Lorcan erfahren hast.«
»Kann sein.«
»Gott sei Dank hast du mir jetzt alles erzählt. Anscheinend mußte Lorcan am Samstagabend hier aufkreuzen.« In Katherines Augen trat ein Leuchten, und Taras Herz wurde schwer.
»Weil dadurch deine Vergangenheit plötzlich offen daliegt«, sagte sie schnell, »und du damit abschließen kannst.«
»Ach so.«
»Ich hatte also recht? Du hast hier gewartet, falls er kommt?«
»Tara, versteh doch, bitte. Es war nie zu Ende. Es hat mich verfolgt.«
»Wieso hast du gedacht, er würde kommen?«
»Ich hatte so ein Gefühl.«
Tara musterte sie skeptisch. »Eher Sehnsucht. Aber selbst wenn er gekommen wäre, was hätte es dir geholfen? Du denkst doch hoffentlich nicht im Traum daran, noch mal etwas mit ihm anzufangen, oder?«
Tara war entsetzt, als Katherine das nicht sofort von sich wies.
»Ich weiß nicht, was ich will«, sagte Katherine voller Verzweiflung. Ihre Verwirrung war echt. »Ich möchte einfach nicht mehr dieses Gefühl haben, wenn ich über mein Leben und meine Vergangenheit nachdenke.«
»Und du hast geglaubt, daß ließe sich ändern, wenn du noch einmal was mit ihm anfängst? Nach dem, wie er dich behandelt hat, hättest du lieber besonders und ganz außerordentlich gemein zu ihm sein sollen!«
»Aber das will ich doch auch!«
Selbst das beunruhigte Tara. Lorcan sah zu gut aus, er war zu charmant, zu sexy, zu gefährlich. Er ging immer als Sieger hervor. Und die Art, wie Katherine darüber sprach, so als würde er tatsächlich jeden Moment an der Tür klingeln, war noch beunruhigender.
»Was hast du vor?«
Katherine dachte an all ihre Phantasien und sagte vage: »Ich habe keinen richtigen Plan, es kommt ganz drauf an.«
»Aber es wird nicht dazu kommen«, sagte Tara beschwichtigend. »Und du kannst trotzdem mit der Vergangenheit abschließen. Wir kümmern uns um eine Therapie für dich, und ich helfe, wo ich kann, und natürlich wird Joe dir auch helfen. Und Liv ist auch noch da, die ist natürlich eine unerschöpfliche Informationsquelle, was diese Dinge angeht. Obwohl, wenn man es bedenkt, dann hast du es eigentlich schon geschafft, so wie es mit Joe läuft –«
Es klingelte an der Tür, und sie schraken beide auf.
»Wer kann denn das…?« sagte Tara. »Es ist zehn vor zwölf.«
Katherine schoß die Röte ins Gesicht. »Ich glaube, das ist für mich«, sagte sie matt.
»Wer ist es denn? Joe?«
Es war Lorcan.
78
Ich fasse es nicht«, hauchte Tara, als Katherine auf den Türöffner drückte. Was für eine Dreistigkeit! Dann war Katherines Vorstellung also doch nicht so abwegig gewesen.
Katherine machte die Wohnungstür auf. Die Knie wurden ihr weich, als sie ihn sah in all seiner großen, starken Männlichkeit. Der bewundernde Blick seiner dunklen Augen warf sie um zwölf Jahre zurück. Seine arrogante Art, die Löwenmähne aus dem Gesicht zu streichen, hatte sich kein bißchen verändert. »Komm rein.« Sie bemühte sich, ihre Rachegefühle unter Verschluß zu halten, damit sie nicht beim Anblick seiner berückenden Erscheinung zerstoben. Sie war wieder neunzehn und wie benommen, daß er tatsächlich da war.
Er schlenderte vor ihr ins Wohnzimmer, wo Tara mit versteinerter Miene saß.
»Hallo«, sagte sie kühl. »Wir haben dich nicht erwartet.«
»Katherine vielleicht schon.« Lorcans bedeutungsvoller, bedauernder Blick ließ Tara wissen, daß er sich liebend gern mit ihr befassen würde, wenn er sich nicht für ihre Mitbewohnerin aufgespart hätte.
»Woher hast du die Telefonnummer?« fragte Tara unbeeindruckt. Anscheinend wußte er nicht, daß sie sich nichts mehr von Männern bieten ließ.
»Oh, ich habe nicht angerufen«, sagte er und bedachte sie mit einem Lächeln, das ausdrückte: Du bist eine sagenhaft attraktive Frau.
»Verstehe.«
»Tara, würde es dir etwas ausmachen…?« Katherine versuchte, höflich zu bleiben.
Tara stampfte aus dem Zimmer. Sie war überrascht über ihre heftige Wut. Lorcan war ein Mistkerl erster Güte, das sah doch jeder. Zum ersten Mal hatte Tara eine Ahnung davon, wie frustrierend es für die anderen um sie herum gewesen sein mußte, als sie immer wieder mit ungeeigneten Männern ankam.
Die Wohnzimmertür wurde zugeschlagen, und Katherine und Lorcan sahen sich an, er saß auf dem Sofa, sie auf einem Sessel.
»Nun denn«, sagte er.
»Ja«, sagte sie mit bebenden Lippen. Sie hatte das Gefühl zu schweben, es war ein unangenehmes, schwereloses Gefühl. Sie konnte nicht richtig begreifen, daß er ihr wirklich gegenübersaß.
»Warum bist du gekommen?« fragte sie in einem abweisenden Ton, der sie einige Anstrengung kostete. In der ersten Version ihrer Phantasievorstellungen, mit denen sie sich all die Jahre getröstet hatte, hatte Lorcan mit einem Erguß leidenschaftlicher Erklärungen aufgewartet, wie zum Beispiel: »Ich habe dich nie vergessen, dich gehen zu lassen, war der größte Fehler meines Lebens, laß uns die letzten zwölf Jahre schnell vergessen, wir haben schon soviel Zeit verschwendet…«, und das hätte ihr eine wunderbare Möglichkeit gegeben, ausführlich darzulegen, daß er sich seine Reue sonstwohin stecken könne.
Aber so sagte er einfach entspannt und selbstbewußt: »Ich finde es toll, daß wir uns über den Weg gelaufen sind. Wie ist es dir ergangen?« Dann überraschte er sich selbst, als er fortfuhr: »Und ich würde gern wissen…« Er brach ab und sah sie aus seinen sherrybraunen Augen an. »Ich würde gern wissen, was mit dem Kind geschehen ist.«
Wie ein schlüpfriger Aal entglitt ihr ihre Wut. Sie hätte außer sich sein sollen vor Zorn, daß es ihm erst nach so langer Zeit einfiel, sich nach seinem Kind zu erkundigen, statt dessen fühlte sie sich halbwegs getröstet.
»Erzähl«, bedrängte er sie. »Hast du das Kind bekommen? Kann ich es kennenlernen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Du hast es also wegmachen lassen?« fragte er.
Sie zögerte, dann sagte sie: »Nein.«
»Nein?«
»Ich hatte eine Fehlgeburt.«
»Aber du hattest daran gedacht, es wegmachen zu lassen?«
Sie nickte beschämt.
Es gab also kein Kind. Lorcan war erleichtert. Er wußte nicht, warum er überhaupt gefragt hatte – anscheinend war er von dem Gedanken, daß er irgendwo einen prächtigen Sohn hatte, ziemlich angetan gewesen. Aber mal ehrlich, wer wollte schon diese Verantwortung?
»Da wären wir also.« Lorcan wollte unbedingt die unmittelbar anstehende Sache vorantreiben. Die Situation entwickelte sich nicht so, wie Katherine es sich in endlosen Nächten ausgemalt hatte. Er war weder zerknirscht noch dreist genug. Sie hatte sich vorgestellt, daß sie ihm seine Entschuldigungen vor die Füße werfen würde, wie eine Handvoll Sand. Und für den Fall, daß er sie zu verführen versuchte, hatte sie so viele bösartige und scharfzüngige Antworten eingeübt, daß sie dachte, sie könnte ihn mühelos beschämen und erniedrigen. (Die Bandbreite reichte von: »Habe ich gesagt, du darfst mich berühren?« bis zu ihrer Lieblingsbemerkung: »Sexuelle Belästigung ist eine strafbare Handlung.«) Aber im Moment hatte sie das Gefühl, sie würde sich nicht einmal aus einer Papiertüte befreien können. Seine Gegenwart lahmte sie, und sie konnte die Unwirklichkeit, die jedem ihrer Worte, jedem seiner Blicke anhaftete, nicht abschütteln.
Mit großer Mühe gewann sie wieder die Kontrolle über sich.
»Ich habe dich jedesmal in Briar’s Way im Fernsehen gesehen, wenn ich in den Ferien in Irland war.« Sie zwang sich zu einem hochnäsigen Lächeln. »Du warst wie im wirklichen Leben.«
»Hahaha.« In Briar’s Way hatte Lorcan einen falschzüngigen Frauenheld gespielt. »Na ja, man tut, was man kann.«
»Jetzt bist du nicht mehr dabei.«
»Nein, das habe ich hinter mir gelassen.« Lorcan fragte sich, ob sie wußte, was für eine Talfahrt seine Karriere in den letzten Jahren gemacht hatte.
»Du hast so einiges hinter dir gelassen.« Sie lächelte sarkastisch. »Wo ist deine Frau geblieben?«
»Wir haben uns getrennt.« Ungefähr zu der Zeit, als er anfing, ordentlich zu verdienen, aber das brauchte er ja nicht zu erwähnen.
»Warum?«
»Tja. C’est la vie. Manches klappt, manches klappt nicht.«
»Aber warum habt ihr euch getrennt?«
Lorcan wurde unruhig. Warum hörte sie nicht auf damit? Selbst nach all den Jahren erinnerte er sich daran, wie hartnäckig sie sein konnte. Wenn sie erst mal etwas zu fassen bekam, gab sie es nicht mehr heraus. »Wir haben uns auseinandergelebt«, versuchte er es noch einmal.
»Schade, daß ihr euch nicht auseinandergelebt habt, als du mich geschwängert hast«, sagte sie schnippisch.
»So ist das eben. Aber hör zu«, sagte er hastig. »Darf ich dir sagen, daß du zu einer schönen Frau geworden bist? Du warst immer eine ganz Süße, aber jetzt bist du bewundernswert.«
Sie wollte ihn gerade nach seiner Freundin fragen, als er sich vorbeugte und seine Hand auf ihre Wange legte. Die Berührung von seinen Fingerspitzen war wie ein Stromstoß. Jeder Nerv in ihrem Körper vibrierte, und jeder vernünftige Gedanke wurde aus der Bahn geworfen.
»Du bist zu einer wunderschönen Frau geworden«, sagte er mit rauher Stimme. Er führte seine Handfläche an ihrer Wange entlang, bis zu ihrem Haaransatz. Sie wußte, daß sie sich eine erstklassige Gelegenheit entgehen ließ, die zweite Version ihrer Phantasievorstellung auszuagieren, bei der sie ihm mit dem Ellbogen einen scharfen Stoß in die Rippen geben würde, in Antwort auf seine Dreistigkeit. Aber sie konnte sich nicht rühren, so überwältigt war sie von dem Gefühl, in die Zeit damals zurückversetzt zu sein.
»Setz dich neben mich.« Er klopfte mit der Hand auf das Sofakissen.
Sie schüttelte den Kopf.
»Mach schon.« Er lächelte gierig. Sein Rücken tat ihm weh, weil er sich vorbeugte. In letzter Zeit hatte er öfter Probleme mit dem Rücken gehabt. Er mußte sich einmal untersuchen lassen…
Er hatte sich nicht gedacht, daß Katherine ihm soviel Widerstand entgegensetzen würde. Am Samstagabend hatte er den Eindruck gehabt, sie wäre auf der Stelle mit ihm durchgebrannt. Aber inzwischen hatte sie sich wieder an ihren Zorn erinnert, es war also höchste Zeit, schweres Geschütz aufzufahren. »Weißt du was, Katherine mit K?« sagte er und sah ihr tief in die Augen. »Ich habe dich nie, niemals vergessen.«
»Das glaube ich nicht.«
»Es stimmt aber.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich schwöre, daß es wahr ist«, wiederholte er. »Du warst etwas ganz Besonderes, und wenn ich damals nicht verheiratet gewesen wäre…« Die Aufrichtigkeit in seinem Blick bahnte sich hell und heilend einen Weg in ihr Herz. »Komm doch, setz dich neben mich«, bat er sie wieder.
Sie konnte sich nicht zurückhalten. Wie ein Automat stand sie steif aus dem Sessel auf und setzte sich neben ihn. Sie wußte nicht, was sie dazu bewog. In ihrem Kopf wirbelten der Wunsch nach Rache und andere Gefühle durcheinander – wie die Lust, die sie mit neunzehn empfunden hatte, und das Bedürfnis, den Lauf ihrer Geschichte zu ändern.
Als sie sich gesetzt hatte, nahm Lorcan ihr schmales Gesicht in seine großen, vertrauenerweckenden Hände, als wollte er sie küssen. Sie wußte, daß sie ihn in die Nieren stoßen oder ins Gesicht schlagen sollte, aber alle geplanten Reaktionen waren gelöscht. Ihr Zorn und ihre Rachegelüste waren stumpf geworden. Statt dessen war der Gedanke, daß er sie immer noch begehrte, wie Balsam für ihre Seele.
Aber irgendwas hatte sie ihn noch fragen wollen … Was war es nur?
Dann fiel es ihr wieder ein. »Was ist mit deiner Freundin?«
»Mach dir wegen ihr keine Sorgen.« Lorcan lachte leise und sah sie mit einem Blick an, der besagte: Du bist die speziellste Frau der Welt. »Mit ihr ist es vorbei.« Dann machte er sich bereit, die Lorcan-LarkinExtravaganz zu verabreichen, die Art Kuß, die Frauen zerschmelzen läßt: zart, aber fest; sanft, aber machohaft; fordernd, aber spielerisch; erotisch, aber tröstlich.
Unfähig, sich zu rühren, sah Katherine zu, wie er so nahe kam, daß sein Gesicht verschwamm. Bevor seine Lippen ihre berührten, sagte er noch: »Sie war nichts Besonderes.«
Sie war nichts Besonderes.
Sie war nichts Besonderes.
Die Worte hallten in Katherines Kopf nach. Mit plötzlicher, ungebetener Klarheit wußte sie, was Lorcan damals gesagt hätte, wenn seine Frau von ihr erfahren hätte. »Ach, diese kleine Katherine? Mach dir keine Gedanken um die, die hat mir nichts bedeutet, sie war nichts Besonderes.«
Mit einem Mal dachte sie an Joe. Er würde sie niemals so behandeln. Er würde niemanden so behandeln.
Lorcan kam immer näher, und Katherine spürte seine Lippen auf ihren. Plötzlich schnappte sie nach Luft und entwand sich seiner Umarmung. »Ich muß ins Bad«, keuchte sie.
Zu ihrer Überraschung beklagte er sich nicht, doch dann sah sie seinen verständnisvollen Blick und begriff, daß er annahm, sie wolle sich die Zähne putzen, bevor sie in seine Arme sank.
Mit zittrigen Knien schaffte sie es bis zur Tür. Kaum hatte sie sie hinter sich geschlossen, als Tara hinzustürzte und Katherine ins Badezimmer zerrte. »Was machst du da drinnen?« fragte sie mit einem hysterischen Flüstern.
Katherine sah sie panikerfüllt an. »Ich weiß es nicht.«
»Darf ich dich daran erinnern, daß er sich am Samstagabend nicht einmal an deinen Namen erinnern konnte? Und deinen Nachnamen weiß er immer noch nicht, sonst hätte er deine Telefonnummer von der Auskunft erfragen können. Und warum kreuzt er hier so spät auf? Wo war er vorher? Sag bloß nicht, daß er gearbeitet hat, denn Amy hat gesagt, er hat zur Zeit keine Arbeit.« Tara hatte die letzten zwanzig Minuten wie auf Kohlen gesessen, und jetzt sprudelten alle ihre Bedenken hervor. »Und überhaupt, was ist mit Amy?«
»Es ist aus zwischen ihnen«, murmelte Katherine. »Hat er gesagt.«
»Und du glaubst ihm? Gott, er muß sich ja wirklich ausführlichst bei dir entschuldigt haben.«
Katherine zögerte nur den Bruchteil einer Sekunde, aber das reichte schon.
»Oh, nein«, sagte Tara ungläubig, »du meinst, er hat sich gar nicht entschuldigt? Großer Gott!«
Katherine war kreidebleich. »Ich meine … ich dachte…« Aber wie sie es auch drehte und wendete, sie konnte es nicht leugnen. Tara hatte recht.
Lorcan hatte sich nicht entschuldigt. Sie war im Begriff gewesen, sich von ihm küssen zu lassen, ohne zu protestieren. Wie konnte das passieren? Sie war angeblich diejenige, die die Situation im Griff hatte, nicht er. Aber sie war so ohnmächtig und gedemütigt wie damals, vor über zwölf Jahren, als er sie in dem Pub sitzengelassen hatte. Mit seinem guten Aussehen und seinem Charme hatte er ihr so sehr den Kopf verdreht, daß sie nicht richtig denken konnte – wie damals.
»Es tut mir leid, daß ich so grausam zu dir bin, aber du würdest das gleiche für mich tun. Und du hast es schon getan, all die Abende, an denen du mich daran gehindert hast, zu Thomas zu fahren.«
»Das hier ist was anderes«, versuchte Katherine zu widersprechen, ohne rechte Überzeugung. Jetzt, da Lorcan nicht mehr vor ihr saß, ordneten sich ihre Gedanken, und sie fühlte sich erniedrigt und beschmutzt, weil sie sich so bereitwillig in seine Arme hatte werfen wollen.
»Lorcan Larkin ist ein übles Arschloch«, beharrte Tara. »Du brauchst dir bloß anzusehen, wie er seine Freundin behandelt. Und Katherine, bedenke doch, bitte, ich flehe dich an, denk daran, was er dir angetan hat. Und er würde es wieder tun. Er war der größte Fehler deines Leben.«
»Aber er war mein Lieblingsfehler.«
»Er ist ein Mistbolzen. Ich verstehe nicht, wie du ihn überhaupt hereinlassen konntest. Ich gebe ja zu, daß er sehr gut aussieht und du wahrscheinlich immer noch scharf auf ihn bist, aber nach allem, was er dir angetan hat!«
»Ich dachte, wenn ich ihn noch einmal sehen würde, könnte ich die Vergangenheit in Ordnung bringen.« Katherine fand es immer schwieriger, ihr Verhalten zu rechtfertigen. »Mein Leben ist eine einzige Katastrophe, und das hat alles mit ihm zu tun. Ich dachte, wenn er freundlich zu mir wäre oder ich schrecklich zu ihm, würde ich endlich zur Ruhe kommen.«
»Dein Leben ist aber keine Katastrophe!« sagte Tara erregt. »Die Vergangenheit ist geordnet, aber du kannst es nicht sehen. In deinem Kopf ist alles noch so wie damals, als Lorcan abgehauen ist, aber sieh dich doch mal aus meiner Sicht. Du hast eine gute Stelle, du hast ein schönes Auto, du hast wunderbare Freunde, aber das Wichtigste ist, daß du eine Beziehung hast, die gut ist. Joe und du, das geht gut! Ihr seid jetzt fünf Monate zusammen. Er ist verrückt nach dir, und du bist verrückt nach ihm. Es läuft gut. Es ist ein Erfolg.«
»Früher oder später wird er meiner überdrüssig sein«, sagte Katherine traurig. »So ist es jedesmal.«
»Aber nicht mit Joe. Ihr seid über den Punkt hinaus. Er kennt dich.«
»Warum ist es diesmal anders?«
Tara suchte verzweifelt nach Gründen. »Es könnte mit Fintan zu tun haben.« Sie tappte im dunkeln. »Weil du dir so viele Sorgen um ihn gemacht hast, hattest du keine Zeit, neurotisch zu sein.«
Tara hatte nur auf gut Glück geraten, aber zu ihrer Überraschung nickte Katherine bedächtig. »Himmel, vielleicht hast du recht.« Sie ließ sich auf dem Badewannenrand nieder. »Gott, ich glaube, du hast recht.«
»Und wenn du dich nicht ziemlich schnell am Riemen reißt und mit diesem Lorcan-Wahnsinn aufhörst, dann verlierst du Joe.«
»Dann verliere ich Joe«, wiederholte Katherine, und der Gedanke, ohne ihn sein zu müssen, warf sie um. Sie konnte es kaum ertragen.
Die Erinnerungen liefen in ihr ab wie ein Film: der Abend, an dem Joe und sie versucht hatten, ein richtiges Essen zu kochen, und beinahe seine Küche in Brand gesteckt hatten; die vielen Stunden, die Joe gutmütig mit Fintan verbrachte; die Armdrück-Wettbewerbe, die er sie gewinnen ließ; die Ally-McBeal-Sendung, die er unaufgefordert für sie aufgenommen hatte; der MacLippenstift in fast der richtigen Farbe, den er ihr gekauft hatte; seine Bemühungen, ihr Auto zu reparieren, nachdem es zum soundsovielten Male gestreikt hatte; sein großes Verständnis, als sie ihm von ihrem Vater erzählte. Das Gefühl der Gemeinsamkeit. Und es war gegenseitig. Sie dachte daran, wie sie Joe getröstet hatte, als Arsenal fünf zu null gegen Chelsea verloren hatte; wie sie ihm ein paar neue Wallace-und-Gromit-Socken gekauft hatte, weil seine alten Löcher hatten; wie sie Cashew-Butter für ihn ausfindig gemacht hatte, weil er einmal gesagt hatte, daß er sie gern äße; wie sie sich größte Mühe gegeben hatte zu verstehen, wie die erste Liga funktionierte, einfach nur, um ihm einen Gefallen zu tun; wie es ihr nichts ausmachte, das Auto zur Reparatur zu bringen, nachdem Joe nichts hatte ausrichten können, und von Lionel, dem Mechaniker, zu hören, Joe habe es nur noch schlimmer gemacht.
Bevor sie Joe kennenlernte, war ihr Leben ein kaltes, steriles, weißes Blatt gewesen, jetzt war es ein Gemälde mit wilden, wunderschönen Farben. Sie konnte das nicht aufgeben, es würde sie umbringen. Sie war erstaunt, mit welcher Klarheit sie ihr Vorher-Nachher-Leben plötzlich sah, und erkannte, wieweit sie sich entwickelt und verändert hatte, wie erfüllt und vielfältig ihr Leben jetzt war.
Und sich vorzustellen, daß sie bereit gewesen war, all das fortzuwerfen für einen Mann, der sie mutwillig und mühelos zerstören würde.
Es war, als erwachte sie aus einem Traum. Aus einem Traum, in dem die verrücktesten Dinge sinnvoll erschienen waren, aber die, im wachen Zustand betrachtet, unlogisch und lächerlich waren.
»Weißt du was, Tara?« sagte sie mit großen, staunenden Augen. »Ich glaube, du hast recht. Das mit Joe und mir, das ist Wirklichkeit, nicht wahr? Ich bilde mir das nicht ein, oder? Es funktioniert wirklich. Und er mag mich wirklich. Tara, ich muß ihn anrufen.«
»Ahem.« Tara nickte höflich in Richtung Wohnzimmer. »Da ist nur das kleine Problem mit dem rothaarigen Mann, der darauf wartet, bedient zu werden.«
»Was soll ich mit ihm machen? Möchtest du ihn mir nicht abnehmen?«
»Ich will nichts mit ihm zu tun haben, selbst dann nicht, wenn er meine letzte Rettung wäre. Sag ihm einfach, er soll gehen.«
»Einfach so? Nachdem er mich geschwängert und dann sitzengelassen hat?« Aus dem Übermut des Gefühls der Befreiung heraus fragte Katherine: »Könnte ich ihn nicht ein bißchen demütigen? Nur ein kleines bißchen?«
Tara überlegte und sagte dann zögernd: »Also gut, aber sei vorsichtig! Bei näherem Kontakt mit dem Typen wird das Gehirn zu Mus. Wenn du in fünf Minuten nicht wieder draußen bist, komme ich dich holen.«
Katherine mußte sich gar nicht überlegen, was sie ihm sagen würde. Sie hatte es schon millionenfach geübt. Mit schwingenden Hüften ging sie zurück ins Wohnzimmer.
»Wo waren wir stehengeblieben?« fragte Katherine verführerisch.
»Ungefähr hier«, sagte er und plazierte seine Lippen auf ihren. Doch bevor der Kuß richtig in Gang kam, löste sie sich von ihm.
»Nein.« Sie rückte von ihm ab.
»Nein?« sagte er überrascht.
»Tut mir leid.« Sie seufzte bedauernd. »Du machst mich einfach nicht an.«
»Was –«
»Du bist nicht mehr so wahnsinnig attraktiv. Und weißt du was?« Sie sah ihn an und erkannte, daß es sogar der Wahrheit entsprach. »Dein Haar wird dünn.«
Er wurde kreidebleich. »Das habe ich deiner lesbischen Freundin zu verdanken, stimmt’s?« sagte er wütend. »Du warst ganz scharf, bevor du ins Bad gegangen bist.
»Das stimmt nicht, es hat mit nichts und niemandem zu tun außer mit der Tatsache, daß du mich nicht antörnst. Tut mir leid.« Sie lächelte ihn hübsch an.
»Du lügst, du Schlange.«
»Wie redest du mit mir?« Plötzlich war sie eisig. »Wie kannst du es wagen?«
Sie warf ihm einen Blick der Stufe drei zu, und er zuckte zurück. Sie war wie ein Tier!
»Und wie konntest du mich damals so behandeln?« Ein Blick der Stufe vier folgte. Ihm stockte der Atem. Sie war wie ein verrückt gewordenes Tier. Tollwütig!
»Und wie kannst du es wagen, hierherzukommen und so zu tun, als hättest du dich nicht schäbig benommen? Sag mir das!«
Sie atmete tief ein und hoffte, es würde klappen. Sie war ein bißchen aus der Übung. Sie biß die Kiefer zusammen und entrang sich den Medusenblick. Mit Genugtuung sah sie den entsetzten Ausdruck in seinem Gesicht und wußte, daß es ihr gelungen war.
Verschreckt vor Angst sah er sie an. Sie war böse. Richtig böse.
»Schon gut, ich gehe«, sagte er.
»Wird auch höchste Zeit.«
»Schlange«, murmelte er.
Er ging an Tara vorbei, die wie ein Wachhund im Flur saß. »Schlange«, murmelte er wieder.
»Arsch«, sagte sie fröhlich.
Roger in der Wohnung unter Katherines hätte beinahe einen Herzinfarkt bekommen, als Lorcan die Tür mit aller Wucht zuschlug.
Tara und Katherine sahen sich an. Lachen oder weinen
- Katherine konnte sich nicht entscheiden, bis Tara in Lachen ausbrach und Katherine mit einfiel.
»Ich bin so froh«, sagte Katherine und rang nach Atem, »daß mir der Medusenblick gelungen ist, wo ich ihn doch all die Jahre nur für Lorcan geübt hatte.«
»Sehr gut. Und, rufst du jetzt Joe an, oder fährst du zu ihm?«
»Du meinst, ich soll die Sache mit Angie vergessen?«
»Katherine!«
»Schon gut, schon gut, ist schon vergessen.«
79
Mit großen Schritten eilte Lorcan die Straße entlang, von wütender Selbstgerechtigkeit erfüllt. Was für eine Unverschämtheit! Wie konnte sie sich erdreisten! Er hatte den Annäherungsversuch nur gemacht, um dem hübschen Joe Roth eins auszuwischen und weil ihm langweilig war. Sonst hätte er sich niemals an sie herangemacht.
Er hatte sie doch nicht ernsthaft als Nachfolgerin für Amy in Erwägung gezogen? Natürlich nicht. Gut, er mußte zugeben, daß sie süß aussah, er hätte nichts dagegen gehabt, sie mal umzulegen, außerdem hatte er wissen wollen, was mit dem Kind geschehen war. Aber so wichtig war es nun auch nicht. Und was war das für eine Frau, die bereit war, ihr Kind abzutreiben? Schlimmer noch, die bereit war, sein Kind abzutreiben? Krank, das war’s, sie war krank.
Lorcan war für den Moment entfallen, daß er in Fragen der Verhütung zu der Gruppe Männer gehörte, die die Stalltür verschlossen, nachdem das Pferd ausgebüchst war. Voller selbstgefälliger Empörung marschierte er weiter durch die Nacht.
Ein staubblauer Karmann Ghia brauste an ihm vorbei und lenkte ihn einen Augenblick ab. Wie die meisten Männer fand Lorcan Gefallen an schönen Autos. Dann erkannte er Katherine am Steuer und sah, daß sie ihm lachend einen Finger entgegenreckte.
Was passierte hier?
War die Welt aus den Fugen geraten?
Er ging weiter. Der Schock, daß Katherine ihn hatte abblitzen lassen, machte sich schmerzhaft bemerkbar. Das war ihm noch nie geschehen. Buchstäblich noch nie. Er war neununddreißig Jahre alt, und soweit er sich zurückerinnern konnte, hatte ihn noch nie eine Frau abgewiesen. Verwirrt und verunsichert fuhr er sich mit den Händen durch das Haar und versuchte, sich zu beruhigen. Doch als er unter einer Laterne sah, daß sich einige rote Haare in seinen Fingern verfangen hatten, blieb er wie angewurzelt stehen. Herr im Himmel! Wie weit war es mit ihm gekommen?
Eine Frau hatte ihm soeben gesagt, er solle sich vom Acker machen. Seine Haare gingen ihm aus. Er hatte keine Arbeit. Plötzlich verpuffte all sein Ärger, und er fühlte sich schrecklich alt. Alt, verbraucht, überholt. Abgehalftert, erschöpft, niedergeschlagen.
Dann fiel ihm Amy ein. Die liebe Amy. Die geduldige, gutmütige, treue Amy. Sie würde ihn nicht wegschicken. Sie würde ihn mit offenen Armen wieder aufnehmen, die Schmerzen wegpusten, sein Selbstbewußtsein wiederaufrichten. Was hatte er sich bloß dabei gedacht, als er den Zeitpunkt für gekommen hielt, ihr den Laufpaß zu geben? Er war verrückt gewesen!
Er wollte zu ihr. Eine bescheuerte Idee, mit Katherine anzubändeln. Und das Mädchen am Nachmittag, Deedee. Amy war viel schöner. Ja, wenn er ehrlich darüber nachdachte, vielleicht … vielleicht … liebte er Amy sogar.
Er schritt mächtig aus und wünschte sich, er hätte das Geld für ein Taxi. Es schien ihm von äußerster Dringlichkeit, so schnell wie möglich zu Amy zu kommen und ihr seine Gefühle zu gestehen. Er hatte immer gedacht, er würde nie wieder heiraten wollen. Aber mit Amy konnte er sich traute Zweisamkeit vorstellen. Einen Ort, an dem er sein müdes (kahl werdendes) Haupt betten konnte. Vielleicht würde er sogar ein paar Kinder haben. Die Schauspielerei würde er aufgeben. Das war ohnehin nur was für eingebildete, oberflächliche Ich-Besessene. Er würde sich eine ordentliche Arbeit suchen. Ehrliche Arbeit für ehrlichen Lohn.
Auf der leeren Straße rollte ein Taxi auf ihn zu, das Schild war erleuchtet. Erfreut hielt Lorcan es an. Amy würde den Fahrpreis bezahlen, wenn er bei ihr ankam.
Als das Taxi vor Amys Haus hielt, sagte Lorcan zu dem Fahrer: »Warten Sie bitte einen Moment, ich hole schnell das Geld von meiner Freundin.«
»Lassen Sie Ihr Jackett da, zur Absicherung.«
»Es dauert keine Minute.«
»Das Jackett bleibt hier.«
»Meinetwegen.«
Nach dem dritten Klingeln machte Amy die Tür auf.
Sie war in ein Handtuch gehüllt und hatte offensichtlich schon geschlafen. »Oh, hallo«, sagte sie mit ausdrucksloser Stimme.
»Hi.« Sein Lächeln umfing sie. Er konnte gar nicht aufhören zu lächeln, so froh war er, sie zu sehen, seine Liebste, seinen Engel, die Frau, die er liebte.
Sie machte keine Anstalten, ihn einzulassen, deswegen wagte er einen Schritt nach vorn und fragte: »Kann ich reinkommen?«
»Nein.«
»Oh, Baby, es tut mir leid. Wegen neulich abend, wegen dieser Katherine. Ich habe nur Spaß gemacht, habe ein bißchen geflirtet. Du weißt doch, was ich für einer bin.« Sein Lächeln sagte: So bin ich nun mal.
»Ich weiß jetzt tatsächlich, was du für einer bist«, stimmte sie ihm zu, »Benjy hat mir viel über dich erzählt.« Benjy war hinter ihr im Flur aufgetaucht.
»Hi, Benjy, alter Freund«, sagte Lorcan abwesend und wandte sich wieder Amy zu. »Wir beide müssen mal miteinander reden.« Sein Lächeln versprach, daß gute Zeiten anbrechen würden. »Du könntest, wie man so schön sagt, etwas erfahren, was dich interessiert.« Irritiert bemerkte er, daß Benjy immer noch dastand. Lorcan warf ihm unter Stirnrunzeln einen Blick zu, der bedeutete: Verpiß dich und laß uns allein.
Als Benjy sich nicht verzog, runzelte Lorcan erneut die Stirn und sagte: »Würdest du uns bitte allein lassen, Mann?«
Erst in dem Moment fiel Lorcan etwas Seltsames auf. Es war nach zwei Uhr morgens – was hatte Benjy da in Amys Wohnung zu suchen? Warum hatten die beiden Handtücher umgeschlungen? Was wurde hier gespielt?
»Wir sind verliebt«, verkündete Benjy.
Lorcan lachte laut auf vor Entzücken. »Ich weiß, daß du in sie verliebt bist«, sagte er belustigt, »sie war schon immer dein Fall. Aber sie gehört mir.«
»Das stimmt nicht«, sagte Amy. »Ich gehöre Benjy.«
Lorcans Gesicht zuckte wild. Er wußte nicht, ob er lachen oder sich aufregen, ob er sie verhöhnen oder eine Erklärung fordern sollte. »Aber ich liebe dich, Amy«, sagte er schließlich.
»Und ich liebe Benjy«, sagte sie darauf.
Das stimmte nicht ganz. Aber sie mochte ihn sehr, und mit der Zeit würde sie ihn vielleicht lieben. Lorcan hatte sie zu oft verletzt, sie wollte sich nicht mehr mit ihm abgeben. Sie wollte einfach ein ruhiges Leben mit einem Mann, der ihr zu Füßen lag. Benjy hatte versprochen, immer treu zu sein und sie auf ewig zu lieben.
»Nicht alle Männer sind Schweine«, hatte er ihr versichert. »Ich zum Beispiel.«
Und sie hatte ihm geglaubt.
Er sah nicht gut genug aus, um ein Schwein zu sein.
»Habt ihr etwa -?« Lorcan verschlug es die Sprache, als er seinen Blick von Amy zu Benjy wandern ließ. »Habt ihr etwa den Akt vollzogen?«
»Aber ja.« Sie nickten beide bestätigend.
»Das glaube ich nicht«, war das einzige, was Lorcan darauf einfiel.
»Mach dir nichts draus«, sagte sie. »Im Lauf der Zeit wirst du es schon glauben.«
»Du bist mir vielleicht ein feiner Freund«, fiel Lorcan über Benjy her. »Nach allem, was ich für dich getan habe! Nach all meinen Ratschlägen, wie du dir ein nettes Mädchen angeln kannst – und das ist meine Belohnung. Wirklich, ein feiner Freund, du Hund.«
»Deine Ratschläge stanken doch zum Himmel. Außerdem brauchte ich sie nicht«, sagte Benjy zufrieden. »Meine aufrichtige Liebe für Amy war völlig ausreichend.«
Als Amy langsam die Tür zuschob, fiel Lorcan ein, daß er noch ein anderes Problem hatte. »He«, rief er, »könntet ihr mir fünf Pfund für das Taxi leihen?«
»Nein.«
Und die Tür schlug vor seiner Nase zu.
Der Taxifahrer war schon des öfteren ausgeraubt worden und hatte sich mit einem Hammer ausgerüstet, den er für solche Fälle unter dem Sitz verstaut hatte. Er würde sich nicht scheuen, ihn zu benutzen.
Lorcan Larkin hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht, und jetzt wurde sie ihm präsentiert, ohne Abzüge oder Ermäßigungen, und der volle Betrag war sofort fällig.
In Battersea machte Joe Roth seine Wohnungstür auf und sah Katherine auf der Matte stehen.
»Hallo«, sagte sie. »Es tut mir leid, daß ich so spät komme, aber ich möchte dir was erzählen. Darf ich?«