32
Am folgenden Nachmittag flog JaneAnn, in ihrer vollen Größe von ein Meter achtundvierzig, nach London. Sie wurde begleitet von einer Auswahl ihrer großen, schweigenden Söhne.
Keiner von ihnen war je zuvor geflogen. Ja, sie waren auch nur selten über die Grenzen der Grafschaft Clare hinausgekommen. In ihrer grob geschneiderten, altmodischen »guten« Kleidung wirkten sie in dem Geglitzer und Getriebe des Flughafens wie von einem anderen Planeten.
Obwohl Tara und Katherine erst um zwölf in ihren Büros erschienen waren, gingen sie um vier wieder, um rechtzeitig zur Ankunft des Flugzeugs aus Shannon am Flughafen zu sein.
»Da sind sie ja.« Tara hatte JaneAnn, Milo und Timothy entdeckt, die, umgeben von ihren Taschen und Koffern, wie ein kleiner Flüchtlingstrupp aussahen.
JaneAnn trug einen uralten schwarzen Mantel mit Persianerkragen. Milo, der älteste Bruder, hatte sich einen braunen Blazer geborgt, den er über blauen Arbeitshosen trug, während Timothy seinen einzigen Anzug anhatte, einen dunkelblauen Nadelstreifenanzug mit großen Revers und Hosen mit Schlag, in dem er zwanzig Jahre zuvor geheiratet hatte. Der Anzug war so alt, daß er schon beinahe wieder aktuell war. Allerdings war Timothy inzwischen dicker geworden, aber vielleicht lag es auch an dem dicken Pullover, den er darunter trug, daß die Jacke so arg spannte.
Obwohl die O’Gradys mit ihrem bäuerlichen Aussehen kraß von ihrer eleganten Umgebung abstachen, waren sie von dem Gedränge auf dem Flughafen unbeeindruckt. Sie bewegten sich mit derselben Geschwindigkeit wie in Knockavoy auch und reagierten belustigt, als ein junger Geschäftsmann sich ungeduldig an ihnen vorbeidrängte und murmelte: »Diese Leute, also wirklich!«
»Wahrscheinlich geht es um Leben und Tod«, bemerkte JaneAnn trocken.
»O nein«, sagte Milo und lächelte. »So wie der aussah, ist es noch viel wichtiger.«
Sie fuhren sofort zum Krankenhaus. Alle fünf zwängten sich in Taras Käfer, und obwohl Milo und Timothy groß und kräftig waren und JaneAnn ein Fliegengewicht, mußten sich die beiden mit Katherine auf die Rückbank quetschen, denn das Protokoll verlangte es, daß die irische Mamma vorn saß.
Man unterhielt sich. Es gab Neuigkeiten aus Irland zu berichten, und hin und wieder gab es auch Grund zu lachen. Zwischendurch fiel Katherine ein, warum sie wie die Ölsardinen in Taras Käfer saßen, und dann war sie bestürzt, weil jede Fröhlichkeit ganz unpassend war.
Auch Tara verlor den Anlaß des Besuchs aus dem Blick und verhielt sich so, als wären die O’Gradys in London, um Ferien zu machen.
»Das ist Kensington Palace«, sagte sie, als sie durch den Verkehr auf der Kensington High Street krochen.
»Und was passiert da?« fragte Milo höflich.
»Princess Diana hat da gewohnt«, sagte Tara zögernd.
»Himmel, ihre Heizkosten müssen astronomisch gewesen sein«, erwiderte Milo und beugte sich vor, um besser sehen zu können.
Das Krankenhaus sah eher aus wie ein Hotel und weniger wie ein Ort für Kranke und Sterbende, doch die O’Gradys enthielten sich jeglichen Kommentars. Sie verschwendeten auch keine Zeit damit, Süßigkeiten oder Zeitschriften für Fintan zu kaufen. Die leichte Stimmung war verflogen, jetzt hatten sie Angst.
Ihre Anspannung wuchs, als sie im Aufzug nach oben fuhren und über den breiten, mit Linoleum ausgelegten Flur zu dem Zimmer gingen, in dem Fintan mit fünf anderen lag. Vor der Tür hielt JaneAnn Katherine am Ärmel fest. »Wie sieht er aus?«
»Ganz gut«, sagte sie, und ihr Magen krampfte sich zusammen. »Er ist dünner geworden, und am Hals hat er eine Schwellung, aber sonst sieht er aus wie immer.«
Wozu sollte sie erzählen, daß er vor ein paar Stunden, nach der Biopsie, völlig erledigt war. Alle Muskeln in Katherines Beinen wurden starr, als sie an Fintans graues Gesicht dachte, mit den geschlossenen Augen, als er flüsterte: »Die Schmerzen waren widerlich. Ich habe tatsächlich Sterne gesehen.«
Tara und Katherine traten zurück, um den O’Gradys den Vortritt zu lassen, als sie sich dem Vorhang um Fintans weißlackiertes Metallbett näherten. Sandro saß still auf dem Stuhl daneben.
»Gott segne euch alle«, sagte Milo und führte den Clan an.
»Klasse Blazer, Milo«, sagte Fintan schwach. Er lag flach auf dem Rücken und hatte den neuen taubengrauen Pyjama an.
»Sicher, ich bin todschick.« Milo lachte trocken.
»Hallo, Mammy«, begrüßte Fintan JaneAnn.
»Du bist mir vielleicht einer«, schimpfte sie zärtlich, »uns solche Sorgen zu machen!
»Aber um fair zu sein, du hast dir eine gute Zeit ausgesucht«, sagte Timothy.
»Weil du gewartet hast, bis das Heu eingebracht war«, erklärte Milo, »und bevor die Lämmer auf die Welt kommen. Das ist höchst anständig von dir.«
Sandro hielt sich mit übertriebener Zurückhaltung im Hintergrund, während die Familie sich so begrüßte. Er war sehr nervös. Am Morgen hatte er bei Fintans Bett gewartet, bis Fintan von der Biopsie zurückkam, und als er sich versichert hatte, daß Fintan mit allem versorgt war, hatte er gefragt: »Und wenn sie mich nicht mögen?«
»Wer?« hatte Fintan durch seine Schmerzen hindurch gesagt.
»Deine Familie. Wie soll ich mich ihnen gegenüber verhalten?« Sandro legte eine Hand auf Fintans Hüfte – die, an der die Biopsie vorgenommen worden war.
»Au, au, Himmel Arsch, autsch!« Fintan wand sich. »Kannst du bitte aufpassen! Au, meine Hüfte!«
»Es tut mir leid, es tut mir leid. Verzeih mir, bitte! Bitte verzeih. Soll ich einen Anzug anziehen oder lieber etwas weniger Förmliches?« Vor Fintans müden Augen erschien das Bild von Sandro, der sich ein Jackett überstreifte.
»Das ist doch egal!« sagte er schwach. »Ich glaube, wir haben wichtigere Sorgen, oder?«
»Ich poliere nur die Aschenbecher auf der Titanic«, hatte Sandro erwidert.
Jetzt gelang es Fintan, Sandros Silhouette in dem Nebel auszumachen. »Sandro«, sagte er förmlich, »das ist meine Mammy, JaneAnn, mein Bruder Milo und mein anderer Bruder, Timothy.«
Sandro hob nervös die Hand und sagte: »Ciao, hallo, sehr angenehm … ehm…«
»Sandro ist mein…«, bedeutungsvolle Pause, »… Freund.«
»Sind Sie Fintans Partner?« JaneAnn war sofort im Bilde.
Sandro war entsetzt. »Wir machen keine Geschäfte«, sagte er steif.
»Nein, nein, nein«, erklärte Fintan. »Sie meint, bist du mein Geliebter.«
»Oh! Ach so! Jetzt verstehe ich. Ja, Mrs. O’Grady, ich bin Fintans Partner.«
»Und wo kommen Sie her?«
»Aus Italien. Roma…«
»Aus Rom! Sind Sie dem Papst mal begegnet?«
»Mammy!« Fintan schwenkte empört den Arm.
»Aber ich habe ihn tatsächlich gesehen, il Papa«, sagte Sandro zu Fintans Überraschung. »Also, es waren noch viele andere Menschen da, aber ich war mit meiner Mutter bei einer Messe auf dem Petersplatz, die der Papst gelesen hat.«
»Sie sind ein gesegneter Mensch«, sagte JaneAnn ergriffen. »War es schön?«
»Sehr schön«, bestätigte Sandro und überlegte einen Moment, ob er den purpurfarbenen Talar Seiner Heiligkeit beschreiben sollte, aber dann entschied er sich dagegen. Das Kennenlernen verlief viel besser, als er gedacht hatte, es war klüger, nichts zu riskieren.
Milo hatte inzwischen den diensthabenden Arzt in seinem Büro aufgesucht. Er sprach so leise, daß Dr. Singh ihn kaum hören konnte.
»Ich bin Fintans ältester Bruder«, erklärte Milo und hielt den Blick gesenkt. »Ich bin fast wie ein Vater für ihn gewesen, und ich weiß über Aids Bescheid. Bloß weil wir Iren sind und vom Land kommen, heißt das nicht, daß wir nicht Bescheid wissen. Und wir können sehr gut damit umgehen.«
Dr. Singh hatte viel zu tun. Er war seit zweiunddreißig Stunden im Dienst und zu erschöpft, um viel Geduld zu haben. Als Milo wieder an Fintans Bett kam, war er überzeugt, daß Fintan kein Aids hatte.
Als gegen halb acht alle aufbrechen wollten, damit Fintan sich ausruhen könnte, hörten sie hastige Schritte auf dem Flur. Es war Liv, die mit fliegenden Haaren, gerötetem Gesicht und sehr blauen Augen herbeieilte. Sie sah aus wie eine stolze Kriegerin.
»Liv«, rief Fintan erfreut, »komm näher, komm nur! Das ist meine Mammy, das ist mein Bruder Timothy, und das ist Milo, mein anderer Bruder.«
»Hallo.« Liv klang sehr präzise, sehr schwedisch. »Sehr erfreut.« Sie schüttelte den dreien die Hand, und als die Reihe an Milo kam, starrte sie ihn an.
»Oh, Entschuldigung«, sagte sie. »Ich bin ganz verblüfft … Sie sehen genau wie Fintan aus.«
»Himmel, nein, Fintan ist der Gutaussehende.« Milo zuckte die Achseln und lächelte bedächtig. »Ich bin nur eine arme Kopie. Ich bin … wie sagt man … eine Imitation.«
»Überhaupt nicht«, krächzte Fintan vom Bett. »Du bist mein Vorbild.«
Es bestand eindeutig eine Familienähnlichkeit: Beide hatten tiefblaue Augen und schwarzes Haar, nur daß das von Milo aussah, als wäre es mit einem Rasenmäher geschnitten worden.
»Hat es geklappt?« fragte Fintan Liv.
»Ich habe sie.« Sie reichte Fintan eine Tüte, und er packte zwei wunderschöne Kelchgläser aus, eins limonengrün, das andere türkis.
»Wozu sind die?« fragte Tara.
»Als ich vor zwei Stunden bei Fintan war, hat er sich beschwert, daß ihn die Wassergläser hier stören«, erklärte Liv.
»Und ich hatte diese hier in Elle Decoration gesehen«, nahm Fintan den Faden auf. »Und deshalb hat Liv, die Gute, sich angeboten, sie im Conran-Shop zu kaufen.«
»War es weit für Sie?« fragte Milo.
Liv wurde rot. »Im Michelin-Gebäude hatten sie sie nicht, also bin ich mit dem Taxi zur Marylebone High Street gefahren, aber da hatten sie sie auch nicht. Doch zum Glück – ihr wißt es schon – habe ich sie bei Heals bekommen.«
Milo, der in seinem Leben kaum jemals östlich des Shannons gewesen war, nickte verständnisvoll. Ja, schien er zu sagen. Ja, natürlich, es ist doch klar, daß man zu Heals geht, das war genau die richtige Entscheidung.
»Kommt, wir sollten aufbrechen.« Tara erhob sich und sah in die Runde.
»Ja, wieso so eilig?« widersprach Milo.
»Aber wir wollten gerade…« Dann verstand Tara. Die O’Gradys empfanden es als unhöflich zu gehen, nachdem jemand anders gerade angekommen war.
Sie setzte sich wieder und fragte Fintan: »Wann lassen die dich morgen raus?«
»Gar nicht«, sagte Fintan.
»Was?« Was sollte das wieder bedeuten?
»Es ist nichts Schlimmes«, erklärte Fintan. »Ich habe eine kleine Infektion am Hals, wo sie den Lymphknoten entfernt haben, und jetzt wollen sie das beobachten, bis es besser ist. Und ich werde ganz schön sauer sein, wenn es nicht besser wird, denn dann müssen sie mir den Hals amputieren, und danach sehe ich aus wie ein Rugbyspieler.«
»Wie lange behalten sie dich?« krächzte Katherine. Das hörte sich nicht gut an. Es gab nur wenige NationalHealth-Betten, und die waren hart umkämpft. Und nur wenn die Lage ernst war, durfte man eines der Betten haben.
»Fünf oder sechs Tage«, sagte Fintan und zuckte betont sorglos die Achseln. »Kommt drauf an.«
Eine halbe Stunde später wünschten sie Fintan eine gute Nacht und machten sich auf den Weg.
»Katherine, Tara«, flüsterte Fintan beim Abschied. »Paßt ein bißchen auf Sandro auf, ja? Es ist zwar nicht dasselbe, aber nach der Sache mit seinem früheren Freund … Ich mache mir Sorgen um ihn, und solange ich hier festliege, kann ich nichts tun.«
Und auf dem Parkplatz nahm Sandro Tara und Katherine zur Seite und sagte: »Wir müssen Fintan bei Laune halten. Wir müssen ihn möglichst oft besuchen und die Sorgen von ihm fernhalten.«
Die O’Gradys waren bei Katherine einquartiert. Ihre Wohnung bot sich dazu an: Sie hatte ein kleines Gästezimmer, in das die beiden Männer gerade reinpassen würden, ein üppiges Schlafzimmer, genau das Richtige für eine irische Mammy, und ein gutes Schlafsofa, das für sie selbst völlig ausreichend war. Tara sagte: »Bei mir wollen sie nicht wohnen. Ich lebe in Sünde.« Daß Thomas sich geweigert hatte, sie in seiner Wohnung aufzunehmen, brauchte gar nicht erwähnt zu werden. JaneAnn lobte Katherines Wohnung über den grünen Klee. »Nein, ist das hübsch! Wie bei einem Filmstar.«
»Ach wo.« Katherine zuckte die Achseln. »Sie sollten mal Livs Wohnung sehen, die ist wirklich wie die von einem Filmstar.«
»Ein prächtiges, ein hübsches Mädel«, sagte JaneAnn. »Und aus der Schweiz.«
»Aus Schweden«, korrigierte Milo.
»Schweden, wenn du meinst«, sagte JaneAnn bereitwillig. »Ist sie nicht ein prachtvolles Mädel, Milo?«
»Mit guten Zähnen und einem freundlichen Wesen. Und was soll ich damit anfangen?«
Als Katherine in die Küche ging, sah sie, daß sich der Küchentisch vor Esswaren bog: ein gekochter Schinken, dunkles Brot, das in ein Handtuch eingeschlagen war, Bacon, Dampfpudding, Butter, Tee, Hefeteilchen und etwas, das wie ein Hühnchen in Silberfolie aussah.
»Oh, ihr hättet nichts zu essen mitbringen sollen«, jammerte Katherine. Am Morgen hatte sie Berge für ihre Gäste eingekauft. Sie würden das nie schaffen! Und ihr Kühlschrank war noch nie so voll gewesen.
»Wir können uns nicht einfach bei dir einquartieren und erwarten, daß du uns versorgst«, entgegnete Milo.
»Er hat recht. Das geht nicht.« Timothy hatte das gesagt; er sprach nur selten.
»Möchtest du ein Sandwich?« fragte JaneAnn sie.
»Nein, vielen Dank«, sagte Katherine.
»Aber du mußt was essen, Kind! An dir ist doch nichts dran. Hab ich nicht recht, Timothy?«
»Recht hast du.«
»Hab ich nicht recht, Milo?«
»Laß die arme Katherine in Ruhe.« Ein paar Meilen entfernt betrat Tara gerade die Wohnung.
»Arme Kleine«, hörte sie Thomas in der Küche. »Komm her und laß dich in den Arm nehmen.«
Tara seufzte erleichtert und erfreut: Thomas war nett zu ihr. Gott sei Dank. Jetzt war alles wieder in Ordnung, und sie konnte zugeben, wie angespannt und fremd alles zwischen ihnen gewesen war, und zwar seit – na ja, seit der schlimmen Diskussion über das Schwangerwerden. Schade nur, daß es einer Krise bedurfte, um sie einander wieder näherzubringen.
Sie eilte in die Küche und sah, wie Beryl sich in Thomas’ Arme kuschelte. »Wo warst du so lange?« fragte er unfreundlich.
»Im Krankenhaus.« Sie war verwirrt. Hatte er sie nicht in den Arm nehmen wollen?
»Ich hatte dich gebeten, Beryl zu füttern, und du hast es vergessen«, sagte er anklagend. »Arme Kleine.« Er legte sein Gesicht an das Katzenfell. »Arme, verhungerte Kleine.«
Taras Herz wurde plötzlich kalt und hart, als sie merkte, daß er die ganze Zeit mit der Katze gesprochen hatte. »Es tut mir leid«, sagte sie müde, »aber ich war mit meinen Gedanken woanders.«
Thomas seufzte. »Was halten wir denn von Frauen, die mehr an ihre Freunde denken als daran, Beryl zu füttern?« fragte er Beryl. »Das gefällt uns aber gar nicht, was? Nein, das gefällt uns nicht.« Er schüttelte den Kopf, und Tara schien es, als würde Beryl ihren auch schütteln.
»Es ist doch nicht zu fassen.« Tara explodierte. Thomas’ Unsicherheit war immer die Erklärung für seine Grobheit ihren Freunden gegenüber, aber das ging zu weit. »Fintan hat Krebs!«
»Ach, wirklich?« fragte Thomas zweifelnd.
»Ja, wirklich.«
»Aber denk doch mal nach, Tara. Das Lymphdrüsensystem ist Teil des Immunsystems. Und sein Immunsystem funktioniert nicht richtig. Vielleicht hat er die Schwäche erworben?«
»Thomas, Fintan hat kein Aids. Er ist HIV-negativ.«
Thomas schnaubte und prustete verächtlich.
»Er hat Krebs.«
»Na, was erwartet er auch schon? Ist doch wider die Natur, was die machen.«
»Thomas, von Analverkehr bekommt man keinen Krebs.«
Thomas zuckte zusammen und hielt Beryl die Ohren zu. »Mußt du so brutal sein?«
Tara sah ihn lange und nachdenklich an, dann erwiderte sie: »Mußt du so brutal sein?«
33
Während sie auf die Ergebnisse der Knochenmark biopsie warteten und Fintan von Besuchern und Grußkarten überschwemmt wurde, ging das Leben einfach weiter.
Lorcans sogenannte Karriere bereitete ihm große Sorgen. Am Morgen, nachdem Amy ihm die Bullen auf den Hals gehetzt hatte, mußte er zum Vorsprechen für die Zweitbesetzung des Hamlet. Und es war keine Amateuraufführung, sondern ein richtiges Theater mit richtigen Schauspielern und richtigen Zuschauern, die – ganz wichtig – mit echtem Geld bezahlten.
Während er eine ganze Woche auf die Antwort wartete, sagte er immer wieder: »Wenn ich die Rolle nicht bekomme, falle ich tot um. Ich falle tot um.«
Aber es sah so aus, als könnte er das Tot-Umfallen noch eine Weile aufschieben. Am Montagabend rief sein Agent an und teilte ihm mit, daß er zu einem zweiten Vorsprechen geladen war und daß es nur noch drei andere Bewerber für die Rolle gab.
Lorcan hatte immer noch nicht mit Amy gesprochen, obwohl sie inzwischen weit über hundert Nachrichten auf seinem Anrufbeantworter hinterlassen hatte, bei denen sie in unterschiedlicher Verfassung war. Manchmal klang sie fröhlich und gefaßt und zwitscherte: »Hallo. Amy hier. Hatte gehofft, dich zu erwischen. Na, macht nichts! Hoffe, es geht dir gut. Wir müssen uns mal auf einen Drink verabreden. Bis bald.«
Später am selben Tag, so gegen neun Uhr abends, war ihre Stimmung ins Düstere umgeschlagen: »Hier ist Amy. Ich muß mit dir sprechen. Es gibt noch ein paar Sachen, die wir bereden müssen. Wir können sie nicht einfach auf sich beruhen lassen, das wäre unverantwortlich. Es ist deine Pflicht, mit mir zu reden. Ruf mich an.
Dann, nach Mitternacht, wurde sie böse und schimpfte mit betrunkener und weinerlicher Stimme: »Isch bins. Isch wollte nur sagn, daß isch nich mehr anrufe, un weißtu was? Isch bin froh, so froh, daß isch nix mehr mit dir zu tun hab. Du hast mich so unglücklich gemacht, die ganze Zeit. Du bist ein echter Sadist, un’ ich hab einen richtig netten Mann auf der Arbeit kennengelernt, un’ er findet mich phantastisch, un’ deshalb sag ich dir das jetzt, weil du dir keine Sorgen um mich zu machen brauchst, denn mir geht es gut, sehr gut, danke. Hast du das verstanden? Gut. G. U. T. War nie glücklicher, un« – »Piiieeep«, machte der Apparat, als die Zeit um war.
Sekunden darauf rief sie wieder an. »Isch bin’s. ‘s tut mir leid, wirklich. Du bist gar kein Sadist, un’ ich habe auch keinen kennengelernt. Ruf mich doch bitte an, ich halte das nicht mehr aus.« Die restlichen Sekunden auf dem Band weinte sie. Er rief nie zurück.
Als Lorcan am Dienstagmorgen am Bahnhof Angel in die U-Bahn stieg, hatte er das Gefühl, daß alle wissen müßten, wie wichtig diese Fahrt für ihn war. Er war sich sicher, daß er eine bedeutungsschwere Atmosphäre um sich verbreitete. Was für ein Anblick, dachte er mitleidig. Jetzt fahren sie in ihre traurigen Büros. In gewisser Hinsicht beneide ich sie auch. Wäre es nicht schön, keine Sorgen zu haben? Die Bürde, ein verkanntes Genie zu sein, lastete schwer auf ihm. Aber das war nicht zu ändern.
Als er ausstieg, traf er mit sich selbst eine Abmachung. Wenn er es schaffte, auf dem Weg vom Bahnhof zum King’s Head nicht auf eine Fuge zwischen den Pflastersteinen zu treten, würde er die Rolle bekommen. Und wenn er die Rolle nicht bekam? »Dann falle ich tot um«, flüsterte er ergriffen. »Dann bleibt mir nichts anderes übrig, als tot umzufallen.«
Lorcan war der letzte auf der Liste der vier Bewerber, und als er den anderen beim Vorsprechen zuhörte, verging er fast vor Unsicherheit, verzehrte sich vor Neid und Angst, weil die anderen alle jünger, größer, durchtrainierter und reicher zu sein schienen, mit einer besseren Ausbildung, mehr Erfahrung und besseren Verbindungen als er. Aber wie immer verbarg Lorcan sein Gefühl der Unzulänglichkeit unter einer arroganten Oberfläche.
Und dann war er an der Reihe. Er sprach Hamlets Monolog, stand allein auf der Bühne, im Scheinwerferlicht, und seine lange, magere Gestalt wand sich vor Unentschlossenheit, während Verwirrung sein attraktives Gesicht verzerrte. »Er spielt den gequälten Zauderer sehr gut«, murmelte Heidi, die Regieassistentin.
»Das stimmt«, sagte der Regisseur.
Als Lorcan geendet hatte, mußte er die Kiefer fest geschlossen halten, damit er nicht bettelte: »Sagt mir bitte, daß ich gut war! Bitte nehmt mich in die Produktion.«
Er konnte natürlich nicht wissen, daß der Wunschkandidat für die Zweitbesetzung im letzten Moment die Hauptrolle in Der Eismann kommt beim Almeida-Theater angenommen hatte. Und als Heidi ihm erklärte, daß er die Rolle bekommen habe, folgte auf einen Moment der freudigen Überraschung das Gefühl, daß ihm nichts Geringeres zustand. Natürlich haben sie mich genommen. Warum auch nicht? Der Schrecken der letzten Stunden schmolz dahin wie Schnee in der Sonne.
»Herzlichen Glückwunsch«, sagte Heidi und strahlte ihn an.
Lorcan zuckte die Achseln und deutete an, daß nichts leichter war, als die Rolle zu bekommen.
»Ich weiß, daß es die Zweitbesetzung für Frasier Tippetts Rolle ist, aber immerhin«, sagte sie.
»Ja, na ja, vielleicht hat Frasier Tippett einen schrecklichen Unfall. Man weiß nie, und es gibt immer noch Hoffnung.« Lorcan zeigte Heidi sein schönstes Lächeln und schlenderte davon.
Heidis Lächeln schwankte, zitterte und verschwand. Frasier Tippett war ihr Geliebter.
Am nächsten Tag sollte Lorcan einen ButterWerbespot fürs Fernsehen drehen. Er hatte Wochen zuvor schon vorgesprochen und war unaussprechlich dankbar gewesen, als er die Zusage bekam. Fernseh-Werbespots waren ungemein lukrativ. Was man da verdiente, konnte einen ein Jahr über Wasser halten. Aber da er jetzt wieder in seiner eigentlichen Welt Fuß gefaßt hatte – und bald im Rampenlicht auf der Bühne stehen würde –, hatte sein übergroßes Ego wieder die Oberhand gewonnen. Warum sollte er dankbar für einen ButterWerbespot sein? Sie hatten Glück, daß er da mitmachte, und das würde er ihnen zu spüren geben.
Zur festgesetzten Stunde – beziehungsweise vierzig Minuten später – erschien er in einem eiskalten, fensterlosen ehemaligen Lagerhaus in Chalk Farm, wo gedreht werden sollte. Er wurde von einem Pulk hysterischer Menschen in Empfang genommen:Produzenten,Regisseure,Casting-Agenten,Best-Boys, Werbespezialisten, Vertreter der Butterindustrie, Maskenbildnerinnen, Friseusen und zahllose andere Menschen, die an jedem Drehtag Tee trinkend herumstanden, mit Schlüsseln und Piepsern, die an ihren Gürteln baumelten.
All das habe ich unter Kontrolle, dachte Lorcan und genoß das Gefühl seiner Unbesiegbarkeit. Ich gehöre wieder dazu. Großartig.
»Wo waren Sie? Wir haben versucht, Sie auf Ihrem Mobiltelefon zu erreichen, aber Ihr Agent hat gesagt, Sie haben keins!« keuchte Ffyon, der Produzent. »Das muß doch wohl ein Irrtum sein.«
»Es ist kein Irrtum«, entgegnete Lorcan, »ich habe tatsächlich keins.«
»Warum denn nicht?«
»Man hat keine ruhige Minute«, sagte Lorcan, aber das war gelogen. Er hatte kein Geld für ein Mobiltelefon.
Nachdem er über einen Berg von orangefarbenen Kabeln gestiegen war, um den wichtigen Leuten von der Werbeagentur und der Butterindustrie die Hand zu schütteln, wurde er zur Maskenbildnerin geführt. Ein junges Mädchen mit Kamm und Haarspray kam auf ihn zu, aber Lorcan packte sie am Arm. »Das Haar wird nicht angerührt«, sagte er knapp.
»Aber…«
»Keiner geht an mein Haar, wenn ich es nicht gestatte.«
Lorcan behandelte sein Haar, als wäre es ein preisgekröntes Haustier. Er pflegte es und verwöhnte es, gab ihm kleine Köstlichkeiten, wenn es sich gut betragen hatte, und erlaubte Fremden nur widerwillig, es zu berühren.
Dann war es Zeit für die Garderobe. Nachdem Lorcan sich unzählige Male umgezogen und die Berge von Kleidern, die die beiden Garderobe-Frauen angeschleppt hatten, anprobiert hatte, mußten sie zugeben, daß Lorcan in seinen eigenen Sachen – einer verblichenen Jeans und einem türkisfarbenen Seidenhemd, das seinen Augen einen violetten Schimmer verlieh – am berückendsten aussah.
»Meinetwegen, behalten Sie sie an.« Mandii gab sich geschlagen.
»Aber das Hemd muß gebügelt werden«, warf Vanessa schnell ein. Sie wollte ihn unbedingt noch einmal in Socken und Unterhose vor sich haben. Noch nie hatte sie einen so gutaussehenden Mann gesehen: lange, muskulöse Beine, eine schmale Taille, der breite Rücken, die harte Brust. Und die Haut so glatt und fest und golden, daß man kaum an sich halten konnte.
Endlich, zwei Stunden nach seiner Ankunft, war Lorcan fast fertig. Um sein Erscheinungsbild perfekt zu machen, strich er sich das Haar aus der gewölbten Stirn. Die Hand, in der die Friseuse den Kamm hielt, zuckte unwillkürlich.
»Werths Butter, die erste«, rief der Regisseur. Die Klappe ging zu, und der Kameramann fing an zu drehen.
Inmitten der riesigen Halle war ein Wohnzimmer aufgebaut worden, das wie eine mit Teppich ausgelegte, von Scheinwerfern beschienene Insel wirkte. Der Spot begann damit, daß Lorcan seinen langen, kraftvollen Körper in ein dunkellila Samtsofa sinken ließ, den linken Fuß auf das rechte Knie gelegt, ein Teller mit Toast auf dem Schoß. Die Kamera fuhr über ihn hinweg, und laut Drehbuch sollte er aufsehen, eine Augenbraue heben, lächeln und sagen: »Echte Butter?« Dann sollte er einen Bissen von dem knusperigen Toast nehmen und eine gehaltvolle, sexy Pause machen. Um dann mit einem intimen, lockenden Lächeln zu sagen: »Weil ich es wert bin.«
Beim Vorsprechen war er hervorragend gewesen. Umwerfend. Gäbe es einen Oscar für ButterWürdigung, Lorcan hätte ihn auf der Stelle bekommen. Die Leute, die beim Vorsprechen anwesend waren, konnten ja nicht wissen, daß er den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte und echter Hunger seiner Vorstellung Glaubwürdigkeit verliehen hatte.
Aber jetzt lagen die Dinge anders. Er hatte eine Rolle in einem richtigen Theaterstück, er war ein ernstzunehmender Schauspieler, und darüber sollten keine Zweifel bestehen. Deshalb übertrieb er maßlos und spielte seinen Part wie in einem Shakespeare-Stück.
»Action. Und Lorcan…«
Unter vollem Einsatz seines Zwerchfells ließ Lorcan seine Stimme so anschwellen, daß man ihn in der letzten Reihe hören konnte, und sagte: »Echte Butter?«, als wäre es der Anfang von Hamlets Monolog.
Die Mitglieder der Crew, die am Rande standen, zuckten zusammen, und der Kameramann ertaubte beinahe. Es hätte keinen überrascht, wenn Lorcan fortgefahren wäre: »Echte Butter? Das ist hier die Frage: Ob’s edler im Gemüt, die Pfeil’ und Schleudern des wütenden Geschicks erdulden…«.
»Schnitt«, rief Mikhail, der Regisseur. »Okay. Fangen wir noch mal an, und diesmal ein bißchen leiser, bitte.«
Als die Kameras gerade zu drehen anfingen, brüllte Lorcan: »Moment mal. Ist das wirklich Butter auf dem Toast?«
»Ja«, bestätigte Melissa, die für die Zubereitung des Toasts zuständig war.
»Pfui Teufel«, beschwerte sich Lorcan und warf den Teller mit einer theatralischen Geste aufs Sofa. »Pfui Teufel. Wollt ihr mich umbringen? Das Zeug verstopft einem die Arterien!«
Mr. Jackson von der Butterindustrie war entgeistert.
»Bringt mir fettarme Margarine«, befahl Lorcan. Während also Melissa zum nächsten Lebensmittelladen rannte, versuchte Jeremy, der Casting-Agent, Mr. Jackson zu beschwichtigen und ihm zu versichern, daß es niemandem auffallen würde, wenn auf dem Toast keine Butter war, und daß Lorcan trotzdem einen großartigen Spot machen würde, auch wenn er nicht an das Produkt glaubte. Doch auch als die Margarine aus mehrfach ungesättigten Fettsäuren beschafft war, brach Shakespeare bei Lorcan durch.
»Zehnte Klappe. Und Lorcan…«
»Echte Butter?« deklamierte Lorcan, und es klang, als wollte er mit Macbeths Monolog fortfahren: »Ist das echte Butter, die ich vor mir erblicke? Das Buttermesser mir zugekehrt? Komm laß dich packen! Ich faß dich nicht, und doch seh ich dich immer…«
»Schnitt, Schnitt!« rief Mikhail. »Lorcan, bitte…«
»Wer ist denn dieser Hampelmann?« Mr. Jackson suchte jemanden von der Werbeagentur, der sich der Situation annehmen könnte. »Sprechen Sie mit ihm«, bedrängte er den zuständigen Werbeleiter. »Mikhail und Jeremy kommen so nicht weiter.«
Lorcan amüsierte sich königlich. Jetzt war er hocherfreut zu sehen, daß der Typ von der Werbeagentur schnieke in seinem Anzug auf ihn zukam. Eine weitere Gelegenheit für seine Kapricen.
»Könnten Sie es ein bißchen mehr im Unterhaltungston sprechen?« schlug er vor. »Etwas lockerer.«
»Wer sind Sie denn?« fragte Lorcan herrisch, obwohl er bei seiner Ankunft allen vorgestellt worden war.
»Joe. Joe Roth.«
»Also gut, Joe Joe Roth, ich sage Ihnen jetzt mal was. Ich habe mehr Werbespots gedreht, als Sie heiße Frauen gefickt haben. Wenn Sie mir erzählen wollen, was ich zu tun habe, dann ist das so, als würden Sie Ihrer Großmutter beibringen, wie man einen Schwanz lutscht.«
Joe seufzte insgeheim. Auf so etwas hätte er verzichten können. Ihm ging alles mögliche im Kopf herum, unter anderem eine wichtige Präsentation für eine Firma, die Frühstücksflocken herstellte. Amme für einen verwöhnten Schauspieler zu spielen war nicht gerade seine Spezialität. Und er hatte das Casting für den Werbespot gar nicht gemacht. Den Spot hatte er von seinem Vorgänger übernommen, der bei Breen Helmsford rausgeflogen war. Aber letzten Endes war es doch seine Verantwortung.
Lorcan sah Joe provozierend an. Er suchte Streit. Hämisch überlegte er, ob er Joe zum Weinen bringen könnte – es war schon eine Weile her, daß er eine solche Chance hatte. Aber zu seinem Erstaunen wiederholte Joe einfach nur seine Aufforderung, daß Lorcan seinen Text freundlich und unprätentiös vortragen möchte. Das regte Lorcan auf. Wer war dieser Arsch mit seinem dicken Gehalt, einem hübschen Gesicht und dieser überraschenden Selbstbeherrschung?
Joe Roth war zäher, als Lorcan angenommen hatte. Lorcan mußte zu härteren Maßnahmen greifen. Um zu zeigen, wer hier das Sagen hatte, trug Lorcan seinen Text mit jeder Klappe noch übertriebener und exaltierter vor. Und als sie bei der zweiundzwanzigsten angekommen waren, nörgelte er einfach aus Bösartigkeit und weil er wußte, daß er in der Position war, es zu tun: »Warum mache ich das eigentlich hier?«
»Wegen des Honorars«, sagte Joe, ohne mit der Wimper zu zucken. Er lehnte mit verschränkten Armen an der Wand. Jetzt war er nicht mehr freundlich.
»Ich bin Künstler«, erklärte Lorcan hochmütig.
»Vielleicht liegt es daran«, sagte Joe trocken. »Wir wollten einen Schauspieler.«
Lorcan kniff die Augen zusammen.
Mandii und Vanessa stießen sich gegenseitig in die Rippen und sahen Joe an. Sexy.
»Okay. Auf ein neues«, rief der Regisseur. »Neuen Toast, Melissa! Klappe die dreiundzwanzigste, und Lorcan…«
»Echte Butter?« sagte Lorcan in genau dem richtigen Ton.
Endlich, dachten alle Anwesenden und atmeten erleichtert auf.
Lorcan nahm einen Bissen von dem Toast, lächelte mit einem Wolfsgrinsen in die Kamera und sagte mit derselben sanften, wohlklingenden Stimme: »Davon bekommt man einen Herzinfarkt.«
34
Ist gut, Lorcan.« Mit einem freundlichen Lächeln trat Joe auf ihn zu. »Offensichtlich wollen Sie diesen Spot nicht drehen. Wir werden Sie also erlösen. Sie sind von dem Vertrag entbunden.«
Lorcan wollte schon etwas Verletzendes erwidern, aber Joe sprach forsch weiter: »Selbstverständlich werden Sie kein Honorar erhalten, und möglicherweise werden wir Ihnen die Kosten, die uns heute morgen hier entstanden sind, in Rechnung stellen.«
Als Lorcan ihn noch mit offenem Mund anstarrte, wandte Joe sich an die Anwesenden: »Es tut mir leid, daß wir bisher Ihre Zeit verschwendet haben. Bitte bleiben Sie noch, und wir versuchen, einen anderen Schauspieler zu bekommen. Jeremy, was meinst du? Sollten wir es mit Frasier Tippett versuchen.« Joe drehte sich wieder zu Lorcan um, der wie versteinert auf dem Sofa saß und es nicht fassen konnte. »Sie sind noch da?« fragte Joe. »Würden Sie bitte gehen? Personen, die sich am Drehort aufhalten, aber nicht arbeiten, sind von unserer Versicherung nicht gedeckt.«
Lorcan war schockiert. Anscheinend hatte er Joe Joe Roth ziemlich unterschätzt. Er konnte jetzt keinen Rückzieher mehr machen. »He«, sagte und wedelte mit der Hand. Seine Stimme war nur ein Krächzen. »Hören Sie mal.«
Joe beachtete ihn nicht, als Jeremy ihm ein Mobiltelefon reichte und sagte: »Alicia am Apparat, Frasier Tippetts Agentin.«
Joe führte ein kurzes Gespräch, dann verkündete er mit einem breiten Lächeln: »Gute Nachrichten, Leute! Frasier Tippett wird in einer Stunde hier sein. Bis dahin haben Sie frei. Gehen Sie etwas essen, oder schnappen Sie ein bißchen frische Luft.«
Dann ging Joe davon. Lorcan war sprachlos. Noch nie war er so behandelt worden. Natürlich scherzte Joe nur, als er sagte, Frasier Tippett würde kommen, aber nicht schlecht gemacht.
Lorcan blieb auf dem Sofa sitzen und wartete darauf, daß Joe zurückkommen würde und die Dreharbeiten wiederaufgenommen würden. Doch dann sah er entsetzt, daß die anderen alle gingen, ihre Taschen und Jacken suchten und davon sprachen, auf ein Bier oder für ein Sandwich in den Pub zu gehen. Der Kameramann ging mit Mandii und Vanessa, der Best-Boy mit der Friseuse, Melissa mit Ffyon. »Komm, wir holen uns ein getoastes Sandwich«, scherzte Ffyon. Melissa winkte ab. »Bloß kein Toast«, sagte sie.
Bald war keiner mehr da. Natürlich waren sie nicht wirklich gegangen, beruhigte Lorcan sich. In einer Minute würden sie wieder hereinkommen und rufen: »Haha, angeschmiert.« Aber nichts dergleichen geschah.
Er blieb auf dem Sofa sitzen und fühlte sich dumm und übergangen.
Entsetzt versuchte er, das Undenkbare zu denken – daß das hier ernst gemeint war. Doch dann sah er mit enormer Erleichterung, daß Joe mit Mr. Jackson aus dem kleinen Büro kam. Endlich konnte man die Situation bereinigen! Doch die beiden gingen an ihm vorbei, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen. Und unterhielten sich über Mr. Jacksons Kinder. Lorcan sprang vom Sofa auf und verhedderte sich in den Kabeln, als er hinter den beiden herlief. »Was soll das alles?« rief er.
Joe drehte sich aufrichtig überrascht zu Lorcan um. »Sie sind noch hier? Warum?«
»Sie haben mir zu verstehen gegeben, daß Sie nicht einverstanden waren«, sagte Lorcan mit starrem Gesichtsausdruck. Dann verzog er den Mund zu einem Lächeln. »Ich bin bereit weiterzumachen. Wir sollen doch einen Werbespot drehen!«
»Sie sind entlassen«, sagte Joe.
»Ich weiß, ich war böse«, sagte Lorcan und schlug sich auf die ausgestreckte Hand. »In Ordnung? Ich habe meine Strafe bekommen. Jetzt können wir weitermachen. Wozu noch mehr Zeit verschwenden?«
»Wir warten auf den anderen Schauspieler.«
»Wozu brauchen Sie einen anderen Schauspieler?« fragte Lorcan mit einem Lachen.
»Lorcan, mir ist klar, daß die Menschen manchmal – und besonders Schauspieler – ein bißchen gehätschelt werden müssen, wenn man will, daß sie ihr Bestes geben, aber Ihr Verhalten zeigte so deutlich, daß Sie keine Lust haben, mit uns an dem Werbespot zu arbeiten«, sagte Joe. »Ich bin nicht der Meinung, daß man die Menschen zwingen soll, wenn sie nicht wollen. Für mich – und für Sie – ist es viel produktiver, wenn ich mit jemandem arbeiten kann, der mit Begeisterung dabei ist.«
Lorcan merkte, daß von Joe keine Böswilligkeit zu spüren war. Da, wo in Lorcans Psyche ein großes Loch gähnte, hatte Joe seinerseits einen ausgeprägten Sinn für Moral, und das wurde Lorcan dumpf bewußt. Lorcan erkannte, daß Joe ihn nicht entlassen hatte, um ihm eins auszuwischen, sondern weil er es für das beste hielt. Höchst merkwürdig.
»Sie sollten jetzt gehen«, sagte Joe.
Lorcan funkelte ihn an. Er hatte keinen Zweifel mehr, daß dies ernst gemeint war. »Sie machen den größten Fehler in Ihrer miesen Karriere«, höhnte er. »Mit einem Amateur wie Ihnen würde ich nicht arbeiten, und wenn ich noch soviel dafür bekommen würde. Ich bin weg.«
Er stieg über die Kabel und ging zur Tür. Insgeheim hoffte er immer noch, daß Joe ihm nachrufen würde: »Nun ist gut, kommen Sie zurück. Sie haben verstanden, worum es uns geht.« Aber das geschah nicht. Er blieb noch einmal stehen und rief über die Schulter: »Das war Ihr letzter Job in dieser Stadt«, dann stand er auf der Straße. So etwas war ihm noch nie passiert. Er war so erschüttert, daß er nicht einmal richtig wütend war.
Der Werbespot hätte ihm Tausende von Pfund gebracht. Tausende. Abgesehen von dem Honorar selbst hätte Lorcan jedesmal, wenn der Spot lief, Tantiemen bekommen. Und Joe Roth hatte ihm den Weg dahin verbaut, ihm praktisch das Geld gestohlen. Lorcan schwor Rache, aber irgendwie fühlte er sich benommen und leer.
Wie konnte das passieren? Wieso hatte er die Situation so falsch eingeschätzt? Zugegeben, er hatte sich fürchterlich benommen, aber bisher hatte man ihm das immer zugebilligt. 1992 hatte er in Irland einen Werbespot für Waschmittel gedreht, und erst beim neunundsechzigsten Mal hatte er es richtig gemacht! Nicht ein einziges Mal wurde angedeutet, daß man jemand anders holen wollte. Das war doch das Benehmen, das man von einem Star erwartete. Und wie sie ihn dafür geliebt hatten!
Er hatte gedacht, daß die ganze Starmaschinerie für ihn wieder zu arbeiten anfing und er in eine neue Phase seiner Karriere trat. Er war sich so sicher gewesen, daß sein Tief vorüber war und hatte sich wie ein Star benommen. Aber er war hier nicht in Dublin am Anfang des Jahrzehnts, er war in London, und es war die Jahrtausendwende. Eine andere Welt mit ihren eigenen Gesetzen, aber keiner hatte ihn gewarnt, und jetzt war es zu spät.
Daß sein Ruhm verblaßt war, bevor er ihn überhaupt ausgekostet hatte, war unvorstellbar. Und daß es allein seine Verantwortung war, wollte ihm nicht in den Kopf. Jetzt blieb ihm nichts anderes übrig, als nach Hause zu gehen und die Anrufe seines wütenden Agenten abzuwimmeln. Als er in seine Wohnung kam, schaffte er es gerade, sich abzuschminken, dann setzte er sich in einer Wolke der Depression auf seinen Futon. Das war der lange, dunkle Nachmittag der Seele.
Er war achtunddreißig. Natürlich sah er jünger aus, und in seinem Lebenslauf war er keinen Tag älter als dreiunddreißig, aber er kannte die Wahrheit. Ich bin fast vierzig, und ich habe in meinem Leben nichts erreicht, sinnierte er. Eine gescheiterte Ehe. Kein Geld, keine Freunde. Nicht einmal ein richtiges Bett. In meinem Alter sollte man nicht mehr auf einem blöden Futon schlafen müssen.
Vor allem hatte er kein Geld. Er durfte gar nicht an den Batzen denken, der ihm heute durch die Lappen gegangen war. Verunsichert und voller Angst suchte er nach einer Bestätigung, irgendeiner. Er mußte hören, daß er von Bedeutung war.
Die Zeit wollte nicht vergehen. Er hatte nichts zu tun und keinen, mit dem er sich treffen konnte. Plötzlich fiel ihm Amy ein. Mit Schrecken stellte er fest, daß sie ihn seit – er zählte nach – seit vier Tagen nicht angerufen hatte. Vier Tage ohne fröhliche, düstere oder betrunkene Nachrichten auf seinem Anrufbeantworter. Und es war ihm gar nicht aufgefallen. Er hatte Wichtigeres zu tun gehabt. Mußte sich um seine Karriere kümmern. Doch jetzt, da er gar nichts mehr hatte, schien ihm Amy äußerst wichtig.
Hoffentlich hatte sie ihn nicht aufgegeben oder sich anderweitig getröstet. Der Gedanke versetzte ihn in Panik.
Es war Zeit, sie sich zurückzuholen.
Dann konnte er wieder häßlich zu ihr sein.
Er sah auf die Uhr. Wenn er jetzt losging, würde er rechtzeitig in Hammersmith sein, um sie von der Arbeit abzuholen. Während das Adrenalin durch seine Adern zu pulsieren begann, warf er einen Blick in den Spiegel. Sein Haar saß immer noch phantastisch – er würde es mit einer Extraportion Haarspray belohnen. Dann eilte er aus der Wohnung. Auf dem Weg zur U-Bahn lächelte er einer Frau zu und sah, wie sie blaß wurde. Oder bildete er sich das nur ein? War er nicht mehr so gut wie früher? Wurde es schwieriger, einen Erfolg zu landen?
Es war elf Tage her, daß Amy die Polizei zu Lorcan geschickt hatte. Elf der längsten Tage in ihrem Leben. Die reine Hölle. Sie hatte die Fassung verloren und wußte, daß ihr Leben vorüber war. Doch inmitten des Trennungsschmerzes gab es einen Trostpreis, eine seltsame Erleichterung. Lorcan war einfach zu anstrengend. Seine Spielchen hatten aus ihr eine überdrehte Zicke gemacht, und jetzt konnte sie wenigstens ein bißchen zur Ruhe kommen.
Dennoch hatte sie ihre Schwester Cindy gebeten, zu ihr zu kommen und über das Telefon zu wachen. »Versprich mir«, sagte Amy, »daß du mich nicht ans Telefon läßt, auch nicht, wenn ich sage, ich hätte mir das Bein gebrochen und es wäre ein Notfall.« Und obwohl es hin und wieder zu später Stunde zu einem Handgemenge gekommen war, konnte Cindy ihr Versprechen halten.
Amy kam gerade aus dem Büro und machte sich auf einen weiteren Abend gefaßt, an dem sie Lorcan nicht anrufen würde, als sich ihr in der Halle ein Anblick bot, bei dem sie ins Stolpern geriet. Lorcan. Groß und kühn, den Ellbogen an die Wand gestützt, den Arm über den Kopf gelegt. Sein Jackett stand offen und gewährte einen Blick auf seinen flachen Bauch, seine breite Brust. Oh, das süße Gefühl der Freude, als sie merkte, daß nicht alles verloren war.
Lorcan verharrte in der Pose und zählte bis fünf, bis die Kamera, so stellte er sich vor, auf ihn gerichtet war. Dann lächelte er mit perfektem Zeitgefühl, sein Gesicht füllte die Leinwand aus, und Amy war geblendet. Jetzt kam der Kamerawechsel, Amys schlanker Rücken wurde sichtbar, während sie sich wie im Traum auf ihn zubewegte. Kein Zweifel, sie konnte ihm nicht widerstehen. Schnitt zu Lorcans Augen, die liebevoll auf Amy gerichtet waren, auf ihr ihm zugewandtes Gesicht. Gleich war es soweit, daß er seinen Text sagen konnte – aber warte, warte noch einen Moment, sagte der imaginäre Regisseur. Und … jetzt!
»Süße, hast du mich vermißt?« fragte Lorcan mit genau dem richtigen Maß des leichten Spotts. Darauf folgte Amys stummer Blick und ein zärtliches kleines Lachen von ihm. Die Kamera entfernte sich und zeigte Lorcan, der Amys Kopf mit seinen großen Händen umfaßte und sie an sich zog. Dann eine Einstellung von Amys Gesicht, die Augen geschlossen, der Ausdruck entrückt, als sie den Geruch seiner Wildlederjacke wahrnahm und seinen harten Schenkel spürte, der sich zwischen ihre Beine drängte.
Dann lehnte Lorcan sich aus der Umarmung zurück und fuhr sacht mit dem Finger über Amys Mund, langsam, mit ehrfürchtigem Staunen. Wunderschön, dachte er. Eine wunderschöne Geste, meinte er damit. Und wieder zog er sie ganz dicht an sich heran, während in seinem Kopf sentimentale Musik erklang und der Abspann kam.
Tara, die auf dem Weg ins Krankenhaus an den beiden vorbeikam, war sowohl gerührt als auch neidisch. Es war eine der schönsten Szenen, die sie je gesehen hatte. Der große, attraktive Mann, der die zerbrechliche Schöne mit großer Zärtlichkeit hielt.
Später schilderte sie die Szene den Versammelten um Fintans Bett und meinte: »Wie eine Szene aus einem Film.«
35
Fintan sollte die Ergebnisse der Knochenmarkbiopsie, der Röntgenaufnahmen und der Computertomographie am Freitagnachmittag bekommen. Bis dahin mußten Tara, Katherine, Sandro, Liv und die O’Gradys in Ungewißheit leben. In ihrer Zeitrechnung hörte die Welt am Freitagnachmittag auf. Danach konnte nichts mehr von Bedeutung passieren.
Irgendwie hatten sie sich davon überzeugt, daß der Krebs in seinen Lymphknoten kaum Anlaß zur Sorge war und daß Fintan so gut wie geheilt war, wenn es keine Anzeichen für Krebs im Zwerchfell, dem Knochenmark und den inneren Organen gab.
Sie verwendeten ihre ganze Energie auf das Warten. Während Angst und Hoffnung miteinander im Widerstreit standen und mal die eine, mal die andere die Oberhand hatte, wurden Schlaf-und Eßgewohnheiten, Konzentrationsvermögen, Geduld und die Fähigkeit, sich zwischen einem Sandwich mit Käse oder einem mit Schinken zu entscheiden, auf eine harte Probe gestellt. In der Zwischenzeit lasen sie alles, was sie über das HodgkinSyndrom finden konnten, und kauften jedes Buch über alternative Heilmethoden, das ihnen in die Hände kam.
Fintans Freunde und Kollegen kamen in solchen Mengen zur Besuchszeit, daß Fintan mit einiger Bitterkeit bemerkte: »Die kommen nur, weil sie wissen wollen, ob ich Aids habe.« Aber auch nachdem es klar war, daß er kein Aids hatte, war er jeden Abend von freundlichen Besucherscharen umgeben. Und der innere Kreis der Freunde und Familie hielt praktisch rund um die Uhr Wache an seinem Bett, wobei JaneAnn und Sandro sich dabei abwechselten, Fintans Hand zu halten.
Am Mittwoch, dem ersten Tag der O’Gradys in London, fuhr Tara sie und Katherine ins Krankenhaus. Sandro und Liv saßen schon an Fintans Bett. »Guten Morgen«, sagte Tara mit betont fröhlicher Stimme zu Fintan.
»Was ist daran gut?« fragte Fintan mißgestimmt und warf sich in die Kissen.
Die Stimmung der Anwesenden sank im Nu, und alle gingen auf Zehenspitzen herum und stellten Fintan die Fragen, die Krankenhausbesucher immer stellen. »Hast du gut geschlafen?« fragte Katherine.
»Gab’s was Leckeres zum Frühstück?« fragte Tara. »Möchtest du ein paar Weintrauben?« fragte Sandro. »Was hat der Mann neben dir?« fragte Milo. Fintan antwortete verbittert: »Nein, ich habe nicht gut geschlafen. Nein, das Frühstück war zum Kotzen. Nein, du kannst dir deine Weintrauben sonstwohin stecken, und wenn du wissen willst, warum der Typ neben mir hier ist, dann frag ihn doch selbst.«
Alle machten ein betretenes Gesicht und versuchten zu lächeln. Dann stellten sie sich gegenseitig höfliche Fragen – wie ging es Sandro heute, hatte JaneAnn in dem fremden Bett gut geschlafen, ob es keinen Ärger geben würde, wenn Katherine und Tara nicht zur Arbeit kämen,wann standen Milo und Timothy normalerweise zu Hause
auf, gab es in Schweden Kühe?
»Oh, nein, nicht schon wieder«, protestierte Fintan laut, als er eine Krankenschwester kommen sah, die ihm das erste Blut des Tages abnehmen wollte. »Ich fühle mich wie ein Nadelkissen. Dauernd kommt jemand vorbei und steckt mir eine Nadel irgendwohin.« Er hielt den Arm für die Nadel hin, und alle schraken zurück, als sie die schwarze, violette, grüne und gelbe Färbung des Innenarms sahen. Bluterguß über Bluterguß, und ein neuer würde gleich hinzukommen.
Tara wünschte sich inbrünstig, statt Fintan die Tortur erdulden zu können, doch gleichzeitig war sie unglaublich dankbar, daß sie nicht selbst in diesem Bett lag. Noch bevor sie den Gedanken zu Ende gedacht hatte, überfluteten sie heftige Schamgefühle. Warum empfand sie nur so?
»Versuchen Sie doch mal, die Vene beim zehnten Mal zu treffen«, sagte Fintan sarkastisch.
»Benimm dich!« zischte JaneAnn. Es war verzeihlich, wenn er zu ihr ungezogen war, seiner alten Mutter, die sie bei seiner Geburt achtzehn Stunden lang in den Wehen gelegen hatte, lange bevor Schmerzmittel erfunden worden waren, aber diese Krankenschwester hier war eine Fremde. Nicht nur das, sie war außerdem auch noch Engländerin!
»Wir sind aber heute heiter«, sang die Krankenschwester fröhlich.
»Sie vielleicht, ich nicht!«
»Macht Ihnen die Hüfte noch Kummer?«
»Nein. Aber die Diagnose macht mir Kummer«, erwiderte Fintan.
Tara beugte sich vor und drückte seine Hand. Kein Wunder, daß er so empfindlich war.
Den ganzen Tag war seine Stimmung raschen und unvorhersehbaren Schwankungen unterworfen. Weniger als eine Stunde nach seiner unfreundlichen Begrüßung hatte sich seine Laune gebessert, so daß auch allen anderen etwas leichter ums Herz wurde. Das ging sogar soweit, daß eine Art Party-Stimmung um das Bett herum entstand und die Schwester sie bitten mußte, leiser zu sein, damit die anderen Patienten nicht gestört würden. Zwischendurch wurde jedem Besucher bewußt, wie unangemessen ihre Ausgelassenheit war. Dann hatten sie Schuldgefühle, weil sie nicht traurig waren. Bis ohne ersichtlichen Grund die Fröhlichkeit wieder Überhand
nahm. Doch auch wenn jeder einzelne den Kummer zeitweilig vergessen konnte, wich die Angst doch nie von der Gruppe als ganzer. Katherine bemerkte, daß sie sich wie eine Welle im Fußballstadion von einem zum anderen fortsetzte. Während die ganze Zeit eine lebhafte Unterhaltung stattfand, saß plötzlich einer im Raum still und in sich versunken auf seinem Stuhl.
Warum bin ich eigentlich hier? Weil Fintan krank ist? Weil er sterben kann? Aber das ist doch Unsinn!
Dann stieg trotz der traurigen Gedanken das Gefühl der Hoffnung auf – es wird alles wieder gut –, und das Entsetzen wanderte weiter zum nächsten.
Um elf schaltete Fintan den kleinen Fernseher neben seinem Bett ein. »Gleich kommt die Wiederholung von Supermarket Sweep. Hat einer was dagegen, wenn ich das anmache?«
»Natürlich nicht«, sagten sie. Keiner wollte ihm den Wunsch abschlagen. Aber in kürzester Zeit – so sehr schwankte das Realitätsempfinden – hatten alle das Gefühl, als würden sie im Wohnzimmer von einem von ihnen beim Fernsehen zusammensitzen.
JaneAnn verlor sich ganz in dem Geschehen. »Da ist es doch, da ist es«, rief sie, die Hände zu Fäusten geballt, als einer der Teilnehmer zum dritten Mal an dem Lenor
vorbeilief. »Bist du denn blind? Da ist es doch!« Sie war aufgesprungen und klopfte an die Mattscheibe, als ihr plötzlich bewußt wurde, wo sie war, und sich wieder hinsetzte. »Zu Hause können wir die Sendung nicht sehen«, murmelte sie, als eine Krankenschwester sie verdutzt ansah.
Gegen Mittag waren die meisten zur Arbeit gegangen.
Milo und Timothy wollten draußen eine Zigarette rauchen, und JaneAnn war allein bei Fintan geblieben, der eingeschlafen war. Ihr Blick ruhte auf ihm, ihrem Jüngsten, ihrem Kleinen, und Tränen rannen ihr über die pergamentenen Wangen. Sie hatte den Rosenkranz in der Hand, sagte stumm die Gebete und fragte sich, welche Gründe Gott gehabt haben mochte, daß er einen jungen Mann im besten Alter mit Krankheit schlug.
Als Milo und Timothy wieder ins Zimmer kamen, versuchten sie, ein Schinken-Sandwich von dem Stapel zu essen, den JaneAnn in aller Herrgottsfrühe gemacht hatte, aber sie hatten keinen rechten Appetit. »Laßt uns ein bißchen an die frische Luft gehen«, schlug Milo vor.
»Vielleicht finden wir eine kleine Wiese.« Aber draußen war es kalt, und sie fanden keinen Park, also wanderten sie die Fulham Road auf und ab und verschreckten die
Inhaber der kleinen, schicken Läden, in die sie gingen, um sich umzusehen.
»Guckt mal«, rief JaneAnn und hielt ein winziges Emaillekästchen mit einem komplizierten Muster in die Höhe. »Fünfzehn Pfund, für so ein kleines Dingelchen.«
»Wenn Sie bitte genau hinsehen wollen – es heißt eintausendfünfhundert Pfund«, sagte die Frau hochnäsig und entwand JaneAnn flugs das Kästchen.
Aber ihre Herablassung erzielte nicht die gewünschte Wirkung, denn Milo, Timothy und JaneAnn prusteten vor Lachen und sagten: »Eintausendfünfhundert! Für das kleine Ding. Dafür kriegt man fast einen Hektar Land!«
»Das war eine gute Idee«, meinte JaneAnn, als sie wieder auf die Straße traten. »Jetzt ist mein Herz nicht mehr so schwer.«
Die Türen des nächsten kleinen Antiquitätenladens waren verschlossen, und selbst als sie klingelten und freundlich durch die Scheibe lächelten, öffneten sie sich nicht.
»Vielleicht hat das Geschäft geschlossen«, sagte Timothy.
»Nein, es ist doch jemand drin«, sagte JaneAnn, klopfte an die Scheibe und winkte der eleganten Frau zu, die hinter einem vergoldeten Rokoko-Tischchen saß.
»Hallo«, rief sie, »wir würden gern mal reinkommen.« Yasmin Al-Shari starrte entsetzt die zwei riesigen jungen Männer mit dem wilden Haarschopf und die kleine grauhaarige Frau an, die in ihr Geschäft kommen wollten. »Weg!« rief sie und versuchte von drinnen, sie zu verscheuchen.
»Gott sei mit dir«, sagten Milo, Timothy und JaneAnn spontan.
Yasmin sah sie angewidert an, und plötzlich sah Milo sich, seinen Bruder und seine Mutter durch Yasmins Augen. Sie waren unerwünscht.
Ein Gefühl der Niedergeschlagenheit senkte sich auf ihn. Sie gehörten nicht in diese Stadt, aber sie mußten hier sein. »Ich glaube, wir sind als Kundschaft nicht erwünscht.« Milo versuchte, einen leichten Ton anzuschlagen. »Wir?« JaneAnn war empört. Sie war eine der respektabelsten Personen, die sie kannte!
Milo legte die Hände an den Mund und rief durch das Glas: »Wir sind exzentrische Millionäre. Aber Sie haben uns beleidigt, und wir werden Ihren Laden meiden.« Mit
einem gekünstelten Grinsen drehte er sich zu den anderen um. »Gehen wir«, sagte er. »Wir können uns da drüben mal die Blumen ansehen und so tun, als wären wir hier zu Hause.«
Yasmin Al-Shari sah ihnen nach, wie sie über die Straße gingen. Die alte Dame sah tatsächlich ein bißchen wie die Großmutter in The Beverly Hillbillies aus, die unverhofft zu Reichtum kommt.
»Könnten wir Fintan nicht mit nach Hause nehmen?« fragte JaneAnn und drückte das aus, was die anderen dachten. »Nach Clare?«
Als Tara und Katherine am späten Nachmittag wieder ins Krankenhaus kamen, war Fintans Laune umgeschlagen. Verzweifelt mühte Tara sich mit der Geschichte von Amy ab, die ihrem gutaussehenden Freund im Eingang des Bürogebäudes in den Armen gelegen hatte. »Es war wunderschön«, sagte sie, ein Auge immer auf Fintan gerichtet, um zu sehen, ob es ihn aufheiterte, »wie im Film.«
Katherine und Liv warteten nun ihrerseits mit lustigen Geschichten auf, die sie im Lauf des Tages erlebt und sich gemerkt hatten, um Fintan damit zu erfreuen, falls er deprimiert war. Aber Fintans Miene hellte sich erst auf, als Sandro mit einem Stapel Urlaubsprospekte hereinkam. »Brandaktuell«, verkündete er, »gerade erschienen! Vierzehn neue Urlaubsziele in Asien und in der Karibik.«
Als sie später gehen mußten, weil eine neue Gruppe von Besuchern für Fintan eintraf, konnten sie sich nicht trennen, so daß alle zu Katherine fuhren, für jeden eine Pizza bestellten und sich gegenseitig versicherten, daß sich alles zum Guten wenden würde.
»Wie fandet ihr ihn heute?« fragte JaneAnn besorgt. »Wenn er nämlich den Krebs nur in den Lymphdrüsen hat, dann sind wir ja fein raus. Ich habe gelesen, daß die Behandlung leicht ist und die Erfolgsrate hoch. Und, wie fandet ihr ihn?«
»Ein bißchen erschöpft«, sagte Sandro.
»Ein bißchen erschöpft? Ja, stimmt, er wirkte etwas müde, aber wir sind alle mal müde. Und ist es nicht ein gutes Zeichen, daß er zwischendurch immer wieder schläft? Schlaf hat doch eine große heilende Wirkung.«
»Und mittags hat er sein Essen gegessen«, sagte Timothy.
»Und es macht nichts, daß er kein Abendessen haben wollte, oder?« sagte Milo.
»Schließlich haben wir alle mal einen Tag, an dem wir nichts essen mögen«, fügte JaneAnn hinzu.
»Außerdem hat er so gegen sechs ein Smartie gegessen«, sagte Liv tapfer.
»Zwei sogar«, sagte Sandro triumphierend. »Ein blaues und ein gelbes.«
»Und er war fast den ganzen Tag über in guter Verfassung.«
»Außer, daß er böse wurde und uns weggeschickt hat und das F-Wort benutzt hat«, meinte JaneAnn mit betrübter Miene.
»Zu der Sozialarbeiterin war er nicht gerade nett«, sagte Timothy. »Aber wen wundert das. Sie hat ihm ziemlich neugierige Fragen gestellt, und dabei kannte sie ihn gar nicht. Wie es ihm ginge, ob er wütend sei oder ob er Angst habe. Wenn er nicht gesagt hätte, sie solle ihn in Ruhe lassen, dann hätte ich es getan.«
Das war die längste Ansprache, die Timothy je gehalten hatte.
»Es ist doch gut, wenn Fintan schlechte Laune hat«, fand Milo. »Würden wir uns nicht viel mehr Sorgen machen, wenn er sich engelhaft benehmen würde? Das wäre ja nicht normal.«
»Und vielleicht heitern die anderen Besucher ihn ja auf.« JaneAnn war gerührt gewesen, als gegen sieben nacheinander Frederick, Geraint, Javier, Butch, Harry, Didier, Neville und Geoff eingetroffen waren und zwei Kilo Weintrauben, drei Bücher, zwölf Zeitschriften, zwei Barbie-Lutscher, zwei Tüten mit Hulahoops, vier Aprikosentörtchen von Maison Bertaux, fünf Literflaschen Mineralwasser, eine Flasche Limonade von Marks & Spencer und ein Überraschungsei für ihn brachten.
»Und ist es nicht wunderbar, daß er so viel Besuch hat? Nicht viele Kranke haben das Glück, daß sich acht junge Männer um ihr Krankenbett versammeln«, sagte JaneAnn stolz. »Und wie nett sie alle aussahen!«
»Sehr nett, das ist wahr«, stimmte Milo ihr zu.
»Nur so laut«, seufzte JaneAnn. »In meinem Kopf war ein einziges Gesumm … Meint ihr nicht, die Schwellung ist ein wenig zurückgegangen?«
»Ja, jetzt, wo Sie es erwähnen, ich glaube schon«, log Tara.
»Er sah jedenfalls nicht aus wie jemand, der im Sterben liegt, oder?« fragte JaneAnn fröhlich.
»Im Sterben? Überhaupt nicht!« sagten alle spöttisch. »Einer, der stirbt, wäre wohl kaum so schlecht gelaunt.«
Alles, was sie an Fintan beobachtet hatten – ob gut oder schlecht oder gleichbleibend –, wurde in etwas Positives verwandelt und zur Unterstützung ihrer Version der Geschichte, der Version, in der er wieder gesund werden würde, benutzt.
Aber JaneAnn war nicht so leicht zu überzeugen, denn mitten in dieser Übung des positiven Denkens brach sie in Tränen aus und sagte: »Ich wünschte, ich wäre krank und nicht er. Ihn so zu sehen, so krank und schwach. Er ist zu jung, aber ich stehe schon mit einem Fuß im Grab, und mit dem anderen auf einer Bananenschale. Und wißt ihr was?« sagte sie wütend. »Ich bin an allem schuld. Ich hätte ihn nie nach England lassen dürfen. Die anderen vier sind zu Hause geblieben, und von denen hat keiner Krebs bekommen.«
Als die anderen versuchten sie zu trösten, kam der Pizzafahrer. Und als man JaneAnn erklärte, daß sie die Pizza so essen solle, ohne Kartoffeln und Gemüse, war sie noch unglücklicher. »Ist das euer Ernst?« fragte sie. »Aber das ist doch kein richtiges Abendessen! Kein Wunder, daß Fintan krank geworden ist, wenn er abends nichts anderes zu essen bekommen hat. Wenn er von seiner Mutter gekochtes Essen bekommen hätte, wäre das alles verhindert worden.«
Später schlug JaneAnn einen geschäftsmäßigen Ton an. »Ihr zwei Mädels, mit euch habe ich was zu besprechen«, sagte sie. »Ihr habt gute und wichtige Arbeitsstellen, und ich würde meines Lebens nicht mehr froh, wenn ihr sie verlieren würdet, weil ihr euch die ganze Zeit um uns kümmert. Ihr braucht uns nicht rumzufahren, wir können doch eure U-Bahn hier benutzen.«
Tara und Katherine protestierten lebhaft. Und erst recht, als Timothy von den Aufzügen im Krankenhaus zu schwärmen anfing. »Die sind großartig, die Aufzüge«, sagte er.
»Na ja«, sagte Katherine zögernd.
»Gestern war für mich das erste Mal«, erklärte Timothy.
»Für mich auch«, sagte JaneAnn. »Das hat Spaß gemacht, fand ich.«
»Man könnte den ganzen Tag damit rauf und runter fahren«, stimmte Milo ihnen zu. »Ein bißchen wie auf dem Karussell in Kilkee.«
»Wir können sie unmöglich mit der U-Bahn fahren lassen«, sagte Katherine leise zu Tara. »Wir müssen es ihnen erst beibringen. Sonst fahren sie dauernd mit den Rolltreppen hoch und runter, machen die Fahrkartenautomaten kaputt, oder sie werden in die Türen eingeklemmt und weiß der Himmel, was noch. Schreckliche Vorstellung! Wahrscheinlich würde in den Abendnachrichten davon berichtet.«
36
Jemand hatte mit Angie geschlafen. Katherine war in der Woche kaum im Büro gewesen, hatte nur ein paar Stunden zwischen den Krankenhausbesuchen an ihrem Schreibtisch verbracht, und auch dann nicht sonderlich konzentriert, so daß sie länger als sonst brauchte, um zu merken, daß Angie einen Spitznamen hatte. Gillette.
Obwohl soviel Schlimmes mit Fintan passiert war, mußte Katherine überrascht feststellen, daß sie immer noch Gefühle für Joe Roth hatte. Die wenigen Stunden, die sie im Büro war, hatte sie ihre Fühler ausgestreckt, um herauszubekommen, ob zwischen ihm und Angie eine Verbindung bestand. Sie schämte sich deswegen, aber nicht genug, um damit aufzuhören. Mit klopfendem Herzen hörte sie der Unterhaltung der Männer zu, und ihre schlimmste Befürchtung bewahrheitete sich, als es klar wurde, daß sie über Angie sprachen. Und das verursachte ihr einen stumpfen, heftigen Schmerz in der Magengegend, als hätte sie rohen Brotteig gegessen.
Gillette – warum Gillette? Welche ausgefallenen sexuellen Tricks hatte Angie vollführt, daß man sie als Rasierklinge betitelte? Katherines Phantasie schlug Purzelbäume, als ihr eine Geschichte einfiel, die sie mal gehört hatte, von einem, der in Thailand eine StripteaseShow gesehen hatte. Angeblich hätten sich da die Mädchen Rasierklingen an einem Faden aus der Vagina gezogen. Aber würde Angie so etwas tun? Wo hätte sie es gelernt? Und würde Joe Gefallen daran finden? Katherines Gefühle – Eifersucht und Angst – taumelten wild durcheinander, aber in erster Linie verachtete sie sich, weil sie im Bett so langweilig war. Sie hätte keine Ahnung, was sie mit einer Rasierklinge anstellen sollte. Sie hätte Angst, sich zu schneiden. Außerdem mußte sie gestehen, daß sie darin nichts Erregendes sehen konnte. Warum reichten Strapse, Spitzenhöschen und ein bißchen Sado-Maso nicht aus?
Aber vielleicht nannten sie Angie auch Gillette, weil sie sich das Schamhaar rasierte. Das wäre eine Möglichkeit. Dann überlegte Katherine, ob Angie das von sich aus getan hatte oder ob Joe sie dazu aufgefordert hatte. Hatte er ihr dabei geholfen? Hatte Joe sie festgebunden und darauf bestanden, daß sie sich rasierte? Voller Eifersucht und seltsam erregt von dieser Vorstellung merkte Katherine nicht, daß Darren eine Restaurant-Rechnung dreimal eingereicht hatte.
Während Katherine weiter lauschte, fiel ihr auf, daß sie volle zehn Minuten nicht an Fintan gedacht hatte, und das erfüllte sie mit Scham und Schrecken. Wie konnte sie ihre Gedanken an Joe Roth und Angie verschwenden? Was war sie nur für eine Freundin?
Aber sie konnte damit nicht aufhören. Und erneut spitzte sie die Ohren, als von Gillette die Rede war. Sie hörte auf, ihren Rechner zu traktieren, als Myles vor sich hinsang: »Gillette, für das Beste im Mann.«
Ach so. Katherine verstand. Gillette hatte nichts damit zu tun, daß Angie sich das Schamhaar rasierte oder irgendwelche Zaubertricks mit Rasierklingen vollführte. Es hatte damit zu tun, daß sie für das Beste im Mann zuständig war. Im Gegensatz zu den anderen Spitznamen, die ihre männlichen Kollegen verteilten, war Gillette ein netter Spitzname, ein Kompliment. Das eifersüchtige Stechen in Katherines Magen verstärkte sich. Wenn Angie diejenige war, die für das Beste im Mann zuständig war, dann stellte sich die Frage, für welchen Mann. Es gab keine Beweise, daß es Joe war. Obwohl Katherine sehr genau in ihrer Beobachtung war, konnte sie keine eindeutigen Anzeichen entdecken, daß zwischen Angie und Joe etwas im Gang war. Und er hatte niemals von Angie als Gillette gesprochen. Doch das war für Katherine kein Grund, sich keine Sorgen zu machen. Es war ihr am liebsten, wenn sie immer das Schlimmste erwartete und auf eine Enttäuschung eingestellt war. Lieber würde sie sterben, als sich überraschen zu lassen.
Als Katherine am Donnerstagmorgen zur Arbeit kam, sah sie aus, als hätte sie in ihren Kleidern geschlafen. Die letzten Tage waren hart gewesen, das Warten auf die Ergebnisse der Biopsie hinterließ Spuren, und Katherine hatte weder die Energie noch die Aufmerksamkeit aufgebracht, mit der sie sich gewöhnlich um ihr Äußeres kümmerte. Obwohl die O’Gradys erst seit Dienstagabend bei ihr waren, fühlte es sich jetzt schon so an, als wären sie immer dagewesen. Da die jungen Männer daran gewöhnt waren, beim Morgengrauen aufzustehen, um mit der Arbeit auf dem Hof zu beginnen, stellten sie jetzt um halb sieben den Fernseher an, wovon Katherine jedesmal aufwachte. Als sie ihre Bluse für die Arbeit bügeln wollte, mußte sie feststellen, daß der Zugang zum Bügelbrett verstellt war, weil die beiden in der Küche kiloweise Bacon brieten. Außerdem konnte sie ihre schwarzen Schuhe, die sie normalerweise zur Arbeit trug, nicht finden. Sie waren in das Schattenreich entschwunden, das durch die zusätzlichen Personen und Dinge in der Wohnung entstanden war. Deshalb mußte sie zu ihrem grauen Kostüm braune Schuhe tragen und so ins Büro gehen, was ihr, müde und erschöpft, wie sie war, großes Unbehagen verursachte.
Als Katherine die Tür aufmachte, schlug ihr eine gespannte Atmosphäre entgegen. Zigarettendunst hing in der Luft, Kaffeetassen und leere Tüten lagen im »Kreativbereich« herum, vier oder fünf Mitglieder von Joes Team räkelten sich um eine Tafel, sie waren zerzaust, wirkten erschöpft und übernächtigt. »Sie sehen aus, als wären Sie die ganze Nacht hiergewesen«, sagte sie überrascht. Normalerweise hätte sie gar nichts gesagt, aber ihre Abwehr war brüchig, und ihr normales Verhalten funktionierte nicht richtig.
»Das waren wir auch«, sagte Darren mit müder Stimme. »Die Präsentation für Multi-Nuß-Müsli. Die Schweine haben uns nicht gesagt, daß in der Mischung auch Schokoladenchips sind. Gestern um fünf haben wir das rausgefunden. Mußte alles geändert werden.«
Unwillkürlich warf Katherine einen Blick in Joes Richtung – seitdem er ihr aus dem Weg ging, war sie sich ständig seiner Anwesenheit bewußt. Er war unrasiert und sah schlecht gelaunt aus. Einen kalten Moment lang erwiderte er ihren Blick, dann stand er auf und streckte sich. Wie hypnotisiert sah Katherine zu, wie sein Hemd aus der Hose glitt und für einen atemberaubenden Augenblick die glatte Haut seines flachen Bauches und die Haarspur enthüllte, die wie ein faseriges Seil von seinem Bauchnabel nach unten führte. Dann ließ er die Arme fallen, und der Anblick verschwand. Katherine fühlte sich beraubt.
»Ich gehe duschen«, verkündete er und ging auf steifen Beinen aus dem Büro.
Bei Breen Helmsford gab es in der Männertoilette eine Dusche, angeblich für solche Gelegenheiten, aber einem Gerücht zufolge war der eigentlich Grund der, daß der obergeile Bock Johnny Denning darauf bestanden hatte, daß sie eingebaut wurde, damit er die Spuren des Geschlechtsverkehrs von sich abwaschen konnte, bevor er nach Hause zu seiner Frau ging.
Katherine setzte sich und machte eine Liste von den Dingen, die sie an Breda delegieren konnte. Sie konnte sich nicht auf ihre Arbeit konzentrieren, und das ging jetzt seit dem Montagmorgen so, als nach Taras Anruf nichts mehr so war wie vorher. Doch diesmal verzehrte sich Katherine nicht vor Sorge um Fintan, sondern war von dem Gedanken abgelenkt, was wohl passieren würde, wenn sie Joe in die Dusche folgen würde. Der Dampf, die glitschige Seife, das Gefühl, wenn sie sich an seinen Schenkeln, seinem Bauch, seinen Lenden reiben würde. Seine Erektion würde schwer in die eine Richtung, dann in die andere Richtung schwenken, wenn sie mit ihrem Körper in Berührung kam; seine großen Hände würden über ihre Taille, ihren Hintern gleiten; die Seife, mit der er sie weich und geschmeidig machte … Himmel noch mal! Mit einem Beben atmete sie aus und zwang sich, die Phantasie abzubrechen. An die Arbeit! Sie war hier, um zu arbeiten.
Ein schrecklicher Gedanke kam ihr. Wo war Angie? Atemlos sah sie sich im Büro um: Angie saß an ihrem Schreibtisch. Gut. Wenn sie, Katherine, schon nicht mit Joe Roth unter der Dusche stehen konnte, dann sollte auf keinen Fall Angie Hiller dieses Vergnügen haben.
Joe kam wieder ins Büro, von einem Hauch Frische umgeben. Sein dunkles, nasses Haar war zurückgekämmt, und er hatten den Anzug wieder angezogen. Seine Krawatte war noch nicht gebunden, und sein Hemd stand am Hals offen. Katherine sah die Haare auf seiner Brust. Sie war schockiert. Es verstörte sie zutiefst, daß er an einem Ort, der so unangemessen wie dieses Büro war, soviel Sex-Appeal verströmte. Und die Intensität ihrer Reaktion alarmierte sie nicht minder.
Sie konnte ihre Augen nicht abwenden, als er sich das Hemd zuknöpfte und dann die Enden seiner Krawatte nahm.
»Dazu brauche ich einen Spiegel«, sagte er und wollte wieder zur Herrentoilette zurück, als Angie ihn mit ihrem Taschenspiegel herbeiwinkte.
»Ich habe einen Spiegel. Ich halte ihn«, bot sie an.
Eine Sekunde wirkte Joe verlegen, dann lächelte er, bedankte sich und fing an, seine Krawatte zu binden, während er vornübergebeugt mit großer Konzentration in den Spiegel blickte.
Katherines Magen krampfte sich zusammen. Daß Angie den Spiegel hielt, war in Katherines Augen eine viel zu intime Geste. Aber schwach vor Begierde konnte sie nicht anders, als zusehen, während Joe den Hals hierhin und dorthin reckte und einen großen Knoten band. Warum erregte sie das derart? Lag es daran, daß er so konzentriert dabei war? Weil es eine eindeutig männliche Handlung war? Weil es an Masturbation erinnerte?
Joe schob den Knoten an dem Strang der Krawatte hoch, bis er richtig saß. Und wieder wurde Katherine von Verlangen durchströmt. Joe zog noch einmal an der Krawatte, indem er beide Hände um sie legte, und Katherine sah ihm mit trockenem Mund zu. Er sah phantastisch aus. Sein Hemdkragen hob sich schneeweiß von seiner glattrasierten Wange ab, der Krawattenknoten saß dick und rund unter dem Kinn. »Danke«, sagte er lächelnd zu Angie.
»Keine Ursache«, sagte sie, ebenfalls mit einem Lächeln, und steckte den Spiegel ein. Sie blieb einen Moment vor ihm stehen und lächelte ihn an. Katherine hatte einen metallischen Geschmack im Mund. Kein Zweifel, es bestand eine besondere Intimität in dem Verhalten der beiden. Joe Roth mußte der Unbekannte sein, Mr. Gillette. Katherine war am Boden zerstört. Aber wem konnte sie die Schuld geben? Nur sich selbst. Sie hatte alles kaputtgemacht. Sie hätte ihn haben können und hatte sich selbst sabotiert.
Dann dachte sie an Fintan in seinem Krankenhausbett, im Ungewissen darüber, ob er leben oder sterben würde, und wartete darauf, daß die Szene im Büro in den Hintergrund treten würde. Zu ihrer Schande mußte sie feststellen, daß dies nicht der Fall war. Das mit Joe und Angie war trotzdem wichtig.
37
Die Krankenhausbesuche gestalteten sich nach einer gewissen Routine, wonach Tara den Vormittag und Katherine den Nachmittag bei Fintan verbrachte. So war es am Mittwoch gewesen, und so machten sie es auch am Donnerstag.
Als Tara mit den O’Gradys um neun Uhr eintraf, war Sandro schon da. Er und Fintan hatten die Köpfe nah beieinander und waren in ein leises Gespräch vertieft. Sie boten ein so intimes Bild, daß es die Besucher verlegen machte, sie zu stören.
»Tut uns leid, daß wir euch unterbrechen«, sagte JaneAnn und wunderte sich, daß sie nicht eifersüchtig auf Sandro war.
»Das macht doch nichts«, sagte Sandro lächelnd. »Ich bin schon seit ein paar Stunden hier.«
»Er konnte nicht schlafen«, sagte Fintan.
»Ohne ihn ist das Bett so groß«, sagte Sandro, dann zeichnete sich Entsetzen in seiner Miene ab. Hatte er JaneAnn beleidigt?
Doch obwohl sie leicht schockiert war, konnte sie es ihm nicht übelnehmen. Auch Fintan nicht. Irgendwie war es nicht so wichtig, auch nicht, was die Kirche davon hielt…
Wenig später kam Liv herein. Sie konnte nur kurz bleiben, weil sie noch nach Hampshire mußte.
»Du verpaßt Supermarket Sweep«, neckte Milo sie.
»Ihr könnt es euch ja ansehen und mir dann erzählen, was passiert ist«, sagte sie und lächelte verlegen.
Supermarket Sweep war schon zu einer festen Einrichtung am Morgen geworden, und Fifteen-to-One am Nachmittag. Zweimal täglich eine halbe Stunde, wenn die Wirklichkeit in den Hintergrund trat. Etwas neben der nagenden Angst, das sie verband.
»Wir machen das Unnormale zum Normalen«, erklärte Liv, die Verhaltensexpertin. »Es ist eine Überlebensstrategie.«
»Und ich dachte, ich sehe mir gern Dale Winton an«, sagte Sandro.
»Unsinn!« belehrte Liv ihn. »Das ist nur deine Reaktion auf ein schreckliches Trauma.«
Ganz anders als am Vortag lag Fintan apathisch in den Kissen. Plötzlich sehnten sich alle nach seinen bissigen Kommentaren. Er bewegte sich nur einmal, und zwar als eine Krankenschwester ins Zimmer kam, und sofort rollte er sich den Ärmel auf. Er war in die merkwürdige Welt der Kranken eingetreten, dachte Tara und fühlte sich ausgeschlossen, als sie das Trennende zwischen ihm und sich sah. Und sie waren sich immer so nahe gewesen! Nie würde sie an dem teilhaben, was er durchmachte, noch könnte sie das, was sich zwischen ihm und der Krankenschwester abspielte, miterleben. Er gehörte jetzt zu anderen Menschen.
Um halb zwei, als Katherine an ihrem Schreibtisch saß und sich nicht in der Lage sah zu entscheiden, ob sie ein Sandwich mit Käse oder eins mit Hühnchen haben wollte, klingelte das Telefon. Käse! Sie würde Käse nehmen. Kein Zweifel, Käse war die richtige Wahl. Es sei denn … sie nähme doch Hühnchen.
Der Portier war am Apparat und teilte ihr mit, daß am Empfang ein »Herr« war, der sie zu sprechen wünschte. Aus dem ironischen Ton, mit dem er »Herr« sagte, entnahm sie, daß ihr Besucher alles andere als ein Herr war. Sie fuhr mit dem Aufzug nach unten, wo ein grinsender Milo stand, mit einem A-Z von London in seiner Hosentasche.
»Wie hast du hergefunden?« fragte sie ihn erstaunt. »Mit der Piccadilly Line zum Piccadilly Circus«, sagte er, und die Worte nahmen einen fremdartigen Klang an, als er sie mit seinem weichen irischen Akzent aussprach. »Dann mit der Bakerloo Line bis Oxford Circus. Fintan schläft, JaneAnn muß beten, Timothy liest die Zeitung, da dachte ich mir, ich gönne mir ein Abenteuer.«
»Kennen Sie den Mann?« fragte der Portier und streifte Milos wildes Haar, seine abgetragenen Arbeitshosen und seine derben Stiefel mit einem verächtlichen Blick.
»Ja, Desmond, vielen Dank.«
Desmond schüttelte verständnislos den Kopf, als wollte er sagen: Es sind immer die Stillen. Katherine wandte sich wieder an Milo. »Und du hast dich nicht verfahren? Sag es mir ehrlich!«
»Doch, ich habe mich verfahren. In South Kensington bin ich in die falsche Richtung eingestiegen, aber dann bin ich in Earl’s Court raus und habe eine Frau nach dem Weg gefragt.«
»Hat sie dir Auskunft gegeben?« Katherine seufzte erleichtert.
»Nein, das nicht. Sie hat gesagt – mal sehen, ob ich das noch zusammenkriege. Sie hat gesagt: ›Seh ich etwa aus wie ein sprechender Stadtplan?‹«
»Armer Milo.« Katherine legte beschützerisch die Hand auf seinen Arm und merkte kaum, daß Joe Roth und Bruce durch die Halle gingen. »Es tut mir leid.«
»Das braucht dir nicht leid zu tun!« erklärte Milo. »Ich fand es sehr komisch. Langsam gewöhne ich mich an diese Stadt hier – die Leute sagen, was sie denken. Das finde ich erfrischend. ›Seh ich etwa aus wie ein sprechender Stadtplan?‹« wiederholte er und lachte in sich hinein. »Ein sprechender Stadtplan. Wie findest du das? So was habe ich noch nie gehört. Aber jetzt will ich mich auf den Weg nach Hammersmith machen, um Tara zu besuchen. Piccadilly oder District Line. Und ehm … ich würde auch Liv besuchen, wenn ich wüßte, wo sie arbeitet.«
Katherine sah ihn belustigt an. »Sie ist heute in Hampshire.«
»An welcher Linie liegt das?«
JaneAnn betete unablässig. Immer hatte sie einen Rosenkranz in der Hand, und fast täglich ging sie in die Krankenhauskapelle, oft begleitet von Sandro. In seinem Bemühen, sich bei ihr beliebt zu machen, hatte er ihr viele komplizierte Lügen erzählt, von seinen religiösen Erfahrungen und seinen Reisen zu katholischen Wallfahrtsorten. Doch als er Andeutungen machte, daß er Visionen hatte, erkannte er schnell, daß er sich übernommen hatte.
»Mein Kind!« hatte JaneAnn aufgeregt gesagt und ihn bei dem Revers seines Jacketts gepackt. »Das müssen Sie Ihrem Priester sagen! Es ist Ihre Pflicht. Das dürfen Sie nicht für sich behalten.«
Sandro hatte hastig einen Rückzieher gemacht und JaneAnn davon überzeugen können, daß seine Visionen wahrscheinlich durch eine Übermenge von alkoholischen Getränken hervorgerufen worden waren. Daraufhin war sie so enttäuscht, daß er sie häufiger zur Krankenhauskapelle begleitete.
»Wenn man sieht, wieviel ihr beide für Fintan betet«, sagte Katherine, »glaube ich, daß wir eine gute Chance haben.«
»Ich glaube das nicht«, winkte JaneAnn ab. »Ich glaube nicht, daß unsere Gebete die übliche Wirkung haben können, denn die Kapelle im Krankenhaus ist eine konfessionsübergreifende.«
»Aber ist es nicht jedesmal derselbe Gott?« fragte Tara unvorsichtigerweise.
JaneAnn warf ihr einen angewiderten Blick zu und zischte: »Lern du mal deinen Katechismus, mein Kind! Erklär’s ihr, Sandro.«
Als die O’Gradys am Freitagmorgen mit Katherine aufbrachen, sagte JaneAnn wie aus heiterem Himmel: »Ich kann’s kaum erwarten, daß es Sonntag wird. Endlich wieder eine richtig gute Messe. Vielleicht gehe ich sogar zweimal.«
Katherine und Tara warfen sich entsetzte Blicke zu. Zur Messe? Keine von beiden hatte den blassesten Schimmer, wo in der Nähe von Katherines Wohnung eine katholische Kirche war. Zum ersten Mal seit Tagen hatten sie eine Sorge, die sie von den BiopsieErgebnissen ablenkte. Sobald sich die Gelegenheit ergab, besprachen sie sich im Flur vor Fintans Krankenhauszimmer.
»Ich könnte ihr doch einfach sagen, daß ich es nicht weiß«, erwog Katherine.
»Auf keinen Fall«, sagte Tara in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Der Schock könnte sie umbringen. Sie braucht ein paar Fixpunkte in ihrem Leben. Wenn sie herausfindet, daß du nicht zu Kreuze kriechst, wirft sie das zu sehr aus der Bahn.«
In dem Moment kam Liv mit flatternden Haaren den Flur entlang. Sie sah die besorgt zusammengesteckten Köpfe ihrer Freundinnen und zögerte. »Sind die Ergebnisse schon da?«
»Nein, so schlimm ist es nicht, aber schlimm genug. JaneAnn will am Sonntag in eine katholische Messe gehen.«
Liv sah sie überrascht an. »Sie kann doch in die Kirche St. Dominic gehen, auf der Maiden Road – nicht weit von deiner Wohnung.«
Tara und Katherine waren verdutzt. Woher wußte Liv das? »Du bist vielleicht eine Nummer.« Tara schüttelte den Kopf. »Gleich wirst du uns noch erklären, daß du manchmal da hingehst.«
»Das tue ich tatsächlich.«
»Aber du bist nicht katholisch.«
»Na und? Bei meiner Suche nach dem Glück gehe ich auch in Synagogen, Moscheen, zu den Quäkern, in Hindu-Tempel, zu den Samaritern, zum Psychotherapeuten und zu Harvey Nichols. Und überall werde ich mit offenen Armen empfangen«, erklärte sie.
»Du weißt nicht zufällig den Namen eines der Priester dort, oder?« fragte Katherine, eigentlich ohne eine Antwort zu erwarten.
»Doch, natürlich. Father Gilligan. Sagt ihm schöne Grüße von mir. Jetzt muß ich mal zur Toilette. Bin gleich zurück.«
Als Liv zurückkam, waren alle Stühle um Fintans Bett besetzt. Milo stand auf und sagte: »Du kannst meinen Stuhl haben.«
»Nein, danke, es geht schon.«
Milo beharrte, und JaneAnn schlug vor: »Setzen Sie sich doch auf seinen Schoß.«
Liv wurde puterrot, so peinlich war es ihr. »Ich bin zu schwer.«
Milo schien belustigt. »Ich bin auch schwer. Hier ist haufenweise Platz«, sagte er und schlug sich auf die Schenkel.
»Das geht doch nicht.«
»Oh, mach schon«, sagte Fintan mit schwacher Stimme.
»Nun mach schon«, sagten auch Tara und Katherine. »Mach doch, Liv.«
Also ließ Liv sich mit hochrotem Gesicht auf Milos Schoß nieder, während die anderen sich in die Rippen stießen.
Später konnte man JaneAnn murmeln hören: »Wenn Gott eine Tür schließt, öffnet er eine andere. Ich werde noch erleben, daß diese Reise zu etwas Gutem führt, und wenn es das letzte ist, was ich erlebe.«
Selbst die überzeugtesten Atheisten – und nicht wenige erhoben Anspruch auf diese Bezeichnung – schickten das eine oder andere Stoßgebet zum Himmel, als der Freitagstermin herannahte.
Man hatte Fintan gesagt, daß die Ergebnisse so gegen vier dasein würden. Deswegen waren ab zwei Uhr aller Augen auf die Tür geheftet. Immer wenn jemand mit einem weißen Kittel ins Zimmer kam, gab es ein winziges, aber wahrnehmbares kollektives Aufschrecken. Die Unterhaltung wurde zunehmend schleppender.
Schließlich, als ihre Nerven schon zum Zerreißen gespannt waren, trat um zehn vor vier Dr. Singh an Fintans Bett. Er schien etwas zurückzuzucken, als er die blassen Gesichter sah. »Könnte ich mit meinem Patienten sprechen?«
»Ich möchte, daß sie bleiben«, entgegnete Fintan schwach.
Dr. Singh war einverstanden. »Ich fürchte, ich habe schlechte Nachrichten«, sagte er dann.
Katherines Herz schlug heftig in ihrer Brust. Sie konnte die anderen nicht ansehen.
»Leider haben wir die Ergebnisse noch nicht. Das Labor war überlastet«, fuhr Dr. Singh fort. »Sie müssen sich bis Montag gedulden.«
38
Ich glaube, sie will die Stelle wechseln«, sagte Bruce. »Nee,mein,Lieber«, widersprach Myles ihm. »Ich glaube, daß sie krank ist.«
»Sie sieht nicht krank aus«, sagte Bruce.
»Sie sieht auch nicht aus wie das blühende Leben«, sagte Jason.
Katherines Fehlen am Arbeitsplatz hatte eine Flut von Spekulationen ausgelöst, denn in ihren drei Jahren bei Breen Helmsford war sie niemals auch nur einen Tag krank gewesen. Darren behauptete, daß er sie am Montagmorgen beim Telefonieren habe weinen sehen, aber diese Mitteilung wurde nicht ernst genommen, weil es so unwahrscheinlich war. Außerdem wäre es nicht das erste Mal, daß Darren einer grotesken Lüge überführt worden wäre.
Dann wurde von Fred Franklin verlautbart, daß sie am Dienstagmorgen bei »nenn mich Johnny« um ein paar Tage frei gebeten hatte, aus »persönlichen Gründen«. Als diese Nachricht die restlichen Mitarbeiter erreichte, sorgte sie für große Erheiterung. »Wie bitte? Aus persönlichen Gründen? Ich faß es nicht«, brüllte Myles. »Das Mädel ist doch eine Maschine!«
»Vielleicht ist ihre Geschirrspülmaschine kaputtgegangen«, mutmaßte Bruce. »Für die Eiskönigin wäre das wahrscheinlich eine Katastrophe.«
An dem Freitag debattierte Joes Team im Frog and Fawn die verschiedenen Möglichkeiten.
»Vielleicht heiratet sie«, warf Bruce in die Diskussion. »Mädels nehmen sich immer massenhaft frei, um das zu organisieren.«
»Vielleicht hat sie eine Brustvergrößerung machen lassen«, war Jasons Idee. »Danach muß man sich ein paar Tage ausruhen.«
»Vielleicht hat sie eine Scheidung vor sich«, sagte Myles. »Sie sieht ein bißchen mitgenommen aus, als machte sie was durch.«
Bruce stimmte ihm zu. »Normalerweise sieht das Mädel aus, als käme sie direkt aus der chemischen Reinigung, aber diese Woche war das, was sie anhatte, immer mächtig zerknittert.«
»Bügeln ist gar nicht so leicht, wenn man neue Titten hat«, belehrte ihn Jason. »Die tun dabei nämlich ziemlich weh.«
»Sie sieht aus, als würde sie nicht genug schlafen«, sagte Bruce.
»Das liegt daran, daß sie die ganze Zeit auf dem Rücken liegen muß, bis ihre Titten nicht mehr weh tun«, erklärte Jason.
Myles stürzte sich gereizt auf ihn. »Wovon redest du die ganze Zeit? Sehen ihre Titten denn größer aus? Ja oder nein?«
»Eigentlich nicht«, gab Jason schmollend zu.
»Hast du eine Ahnung, was mit ihr los ist, Joe?« fragte Myles. Joe hatte die ganze Zeit in grimmigem Schweigen dabeigesessen. Er zuckte nur die Achseln und sagte knapp: »Nein, keine.«
Myles sah seine Kollegen mit einem Ausdruck an, der sagte: Was ist mit dem bloß los? Joe Roth war nicht in seiner normalen aufgeräumten Stimmung.
»Joe und ich haben sie gestern mittag mit einem Typ gesehen«, sagte Bruce und überraschte die anderen damit. »Irgend so ein aufgeblasener Popstar.«
»Was sagst du da? Erzähl uns mehr!« Myles und Jason machten große Augen. »Das ändert doch alles. Wer ist es denn?«
»Weiß nicht, wie er heißt«, sagte Bruce. »Aber ich glaube, er war bei den Dexy’s Midnight Runners. Großer Kerl, in albernen Latzhosen, Designer-Dinger, scheußlich. Sah aus, als hätten sie ihn rückwärts durch eine Hecke gezerrt.«
»Popstar, klarer Fall«, sagte Myles. »Was waren das noch Zeiten, als unsere Künstler Wert auf ihr Äußeres legten!«
»Allerdings. Na, die Eiskönigin und Dexy wirkten sehr intim miteinander«, sagte Bruce. »Und das untermauert meine Theorie, daß sie heiraten.«
»Jesus!« rief Myles erstaunt aus. »Vielleicht stimmt es ja. Über Geschmack läßt sich nicht streiten.« Er warf einen nervösen Blick zu Joe hinüber.
Darren stürzte in den Pub und wedelte aufgeregt mit einem Stück Papier. »Seht mal her«, rief er, »die Eiskönigin hat meine Spesen bezahlt.«
»Na und? Dazu ist sie ja da.«
»Aber ich habe die Rechnung vom Oxo Tower in dreifacher Ausfertigung eingereicht, zwei waren schlecht lesbare Kopien. Ich habe sie nur eingereicht, um sie in Rage zu bringen. Und sie hat mir einen Scheck für alle drei ausgestellt!«
»Du verlogener Halunke«, höhnte Myles. »Wahrscheinlich hat sie wieder geweint, als sie ihn dir ausgestellt hat.«
»Ich schwör’s, am Montagmorgen hat sie wirklich geweint, und sie hat mir meine photokopierten Rechnungen erstattet.« Darren war beleidigt. »Ich gebe ja zu, daß das mit dem flotten Dreier mit Martini und Flora nicht gestimmt hat, aber diesmal sage ich wirklich die Wahrheit. Seht doch selbst!«
Das Beweismaterial wurde vor den Augen der ungläubigen Thomasse herumgereicht. Es ließ sich nicht länger leugnen.
»Vielleicht hat sie einen Nervenzusammenbruch«, sagte Myles ehrfürchtig.
»Es liegt am Silikon«, sagte Jason mit Überzeugung. »Das macht ihr Hirn so weich wie ihre Brüste. Ohooo, die ideale Frau für mich!«
»Verdammt gute Nachrichten für uns!« meinte Bruce.
Und sofort durchsuchten alle ihre Brieftaschen nach Belegen, mit denen sie Katherine linken konnten. Alle außer Joe.
39
Was heißt das, du kannst nicht?« jammerte Thomas. »Das heißt, daß ich nicht kann«, erklärte Tara. »Wir müssen uns um sie kümmern, und es ist nicht fair, das alles Katherine zu überlassen.«
»Sie sind die ganze Woche mit euch zusammengewesen. Heute ist Samstag, und du gehst mit mir und Eddie und seiner neuen Braut aus, und damit basta.«
»Thomas, ich kann die O’Gradys nicht einfach sitzenlassen.«
»Und was ist mit mir?« Thomas schob die Unterlippe vor wie ein schmollendes Kind. »Wann sehe ich dich mal?«
Tara war sich unschlüssig. Sie und Thomas waren in letzter Zeit gar nicht gut miteinander ausgekommen, daß sie jetzt erleichtert war, als er darauf bestand, den Abend mit ihr zu verbringen. »Ich finde, es ist meine Verantwortung, mich um die O’Gradys zu kümmern«, versuchte sie es noch einmal, aber als sie Thomas’ finsteres Gesicht sah, weil er es nicht haben konnte, daß er zurückgewiesen wurde, gab sie nach. »Also gut, ich komme mit. Aber du machst es mir nicht leicht«, beschwerte sich Tara halbherzig.
Er stolzierte davon und lächelte selbstsicher. »Ich bin, wie ich bin. Nimm mich, wie ich bin, oder laß es.« Sein Selbstbewußtsein war sofort wieder intakt, und obwohl Tara nicht erklären konnte, warum das so war, fand sie sein Macho-Gehabe sehr sexy.
Thomas wachte über die Auswahl von Taras Garderobe, weil er mit ihr neben Eddie und seiner schicken neuen Freundin bestehen wollte. »Trag den kurzen schwarzen Rock, ja genau, den kurzen, und die höchsten Schuhe, die du hast, und ein Oberteil mit VAusschnitt. Und zieh den Bauch ein.«
Tara gab sich besondere Mühe mit ihren Haaren, dem Make-up und anderen Nebensachen, aber auch ein Eimer voll blauer Haartönung hätte Thomas nicht von ihrer fülligen Form abzulenken vermocht. Als er das Endprodukt begutachtete, klagte er: »Du bist seit letztem Wochenende noch fetter geworden. Das kommt davon, weil du nicht ins Fitneß-Studio gegangen bist.« Sie hatte tatsächlich die ganze Woche keinen Sport getrieben, weil ihr ganzer Tagesablauf durch die Krankenhausbesuche über den Haufen geworfen worden war. »Und ich wette, du hast dich auch nicht an die Diät gehalten«, sagte er in anklagendem Ton.
Das stimmte. Um Fintans Bett herum gab es zuviel zu essen für eine Frau ohne Willensstärke. Alle Besucher brachten Schokolade, Gebäck, Chips, Popcorn, Süßigkeiten und Weintrauben mit in dem Versuch, die Krankheit mit Essen zu bekämpfen. JaneAnn setzte größeres Vertrauen in die tägliche Verabreichung von Schinkenbroten als in die von Medikamenten. Aber Fintan würdigte die Köstlichkeiten um sich herum kaum eines Blickes, und auch die anderen hatten nicht den rechten Appetit. Außer Tara. Sie konnte gar nicht aufhören zu essen. Unaufhörlich stopfte sie sich etwas in den Mund, um so das riesige Loch zu füllen, das die Angst in ihrem Inneren gerissen hatte.
Dennoch hatte sie gehofft, daß Thomas angesichts ihrer Sorgen nachgiebig mit ihr sein und sie ihrer Diät entheben würde, bis das Leben wieder zur Normalität zurückkehrte. Aber das war aussichtslos. »Es war eine harte Woche, Thomas«, versuchte sie ihm zu erklären.
»Wo soll das denn enden, Tara?« fragte Thomas außer sich. »Ich versuche, dir zu helfen, aber du bist ehrlich gesagt sehr undankbar.«
»Es tut mir leid, und ich bin dankbar.«
»Meinst du, es macht mir Spaß, dich so überwachen zu müssen?« fragte Thomas.
Ich glaube schon, dachte Tara. Und bereute es sofort. Er war schwierig – manchmal geradezu brutal –, aber sie durfte nicht vergessen, daß es zu ihrem Besten war.
Beryl kam ins Zimmer, und Thomas wandte sich ihr zu. »Wer ist denn meine brave Kleine?« säuselte er. »Und wer ist meine Hübsche?«
Wenn er nur zu mir so freundlich wäre, dachte Tara traurig. Doch eines Tages würde es ihr gelingen. Wenn sie nur aufhören könnte zu essen. »Soll ich ein Taxi bestellen?« fragte sie lustlos.
»Nimmst du nicht das Auto?«
»Nein, Thomas. Vielleicht möchte ich auch was trinken.«
»Was trinken? Und was ist hiermit?« Thomas kniff in Taras Bauch, und zwar nicht nur in die oberste Schicht.
»Nur dies eine Mal, Thomas«, bettelte sie unglücklich. »Es war so schrecklich, diese Woche…«
»Also gut, dies eine Mal«, gestand er ihr zu. »Wo euer Freund vielleicht stirbt.«
Tara war verblüfft von seiner Kaltherzigkeit, und plötzlich wurde ihr bewußt, wie leid sie es war, leid, daß er so grob und so rücksichtslos war. Daß er fortwährend und ohne Grund grausam war. Daß sie ihm nie etwas klarmachen konnte. Daß sie beleidigt und verletzt war. Und das alles im Namen des großen Erlösers, der Ehrlichkeit.
»Macht es dich nicht traurig?« Ihre Stimme zitterte vor Schmerz und Zorn. »Ein junger Mann, so alt wie du, so krank und muß vielleicht sterben?«
Überrascht und mit ausdruckslosem Gesicht sagte Thomas: »Nein, es berührt mich nicht.«
Tara sah ihn unverwandt an und hoffte, ihn zu beschämen.
»Ich kenne ihn doch kaum«, rechtfertigte er sich, durch ihre Nachdrücklichkeit ganz verstört. »Vielleicht wäre es anders, wenn er mein Freund wäre.«
Sie sah ihn einfach weiter an. Und wartete.
»Aber er ist nicht mein Freund«, sagte er. Doch nicht in seinem üblichen rüden Ton.
»Verstehst du, was ich durchmache?«
In seinen Augen zeigte sich etwas, nicht gerade Mitleid, aber doch ein zögerndes Eingeständnis, daß es schwer für sie sein mußte. Es stellte eine Nähe zwischen ihnen her, die sie lange nicht gespürt hatten, und mehr war im Moment nicht möglich. Er zuckte verlegen die Achseln. »Es tut mir leid, ich kann nicht so tun, als wäre ich kreuzunglücklich darüber. Ich bin nur…«
»Ich weiß«, fiel Tara ihm ins Wort, »du bist nur ehrlich.«
Er sah sie verunsichert an. Ihre Laune war merkwürdig! Bloß, weil ihr Freund krank war. Sie hatte keine Ahnung, wie das war, wenn die eigene Mutter einen verließ!
Bevor sie gingen, sah Tara, wie Thomas sein kleines braunes Portemonnaie, das er für Wechselgeld benutzte, in die Hosentasche steckte, und plötzlich empfand sie ihn als unendlich knauserig.
»Kannst du mir zwanzig Pfund leihen, Tara?« sagte er beim Hinausgehen.
Eddies neue Freundin Dawn war ein dünnes, attraktives junges Ding mit langen, braunen, straffen Beinen und dunklen, lebhaften Augen. Tara fühlte sich daneben wie ein achtzig Kilo schwerer Fettkloß. Besorgt verfolgte sie Thomas’ Blicke, die von ihr zu Dawn und zurück wanderten. Er beobachtete genau, stellte Vergleiche an und fand, daß Tara schlecht abschnitt. Sie bemerkte, wie er ihren Hintern anstarrte, der über den Sitz quoll, und ein panikartiges Gefühl verschnürte ihr die Brust und ließ ihr die Hitze in die Wangen steigen. Ihre Verachtung war verpufft, jetzt spürte sie nur eine übergroße Angst, ihn zu verlieren.
Sie trank so lange, bis sie sich besser fühlte. In dem Club, wo sie am Schluß waren, tanzte sie betrunken mit Dawn und war ganz ausgelassen. Sie fand Dawn nett.
Als Thomas und Tara anschließend mit dem Taxi nach Hause fuhren, war Thomas betrunken und zärtlich, er hielt ihre Hand und streichelte ihr über das Haar. »Warum liebst du mich?« fragte Tara zum Spaß.
»Wer sagt denn, daß ich dich liebe?« hielt er dagegen, aber er warf ihr ein verschmitztes Lächeln zu, so daß Tara in ihrem beschwipsten, aufgedrehten Zustand seine Antwort so deutete, daß er sie natürlich liebte.
»Na gut, warum bist du mit mir zusammen?«
»Weil du mir Geld gibst, ist doch klar.«
Er lachte, und sie schluckte. Sie spielten miteinander,
machten sich ein wenig lustig, so wie andere Liebespaare auch. »Na gut«, sagte sie lächelnd, »du bist mit mir zusammen, weil ich dir Geld gebe, was heißt das also? Daß du dich aushalten läßt«, erklärte sie, und dann riß sie die Augen in gespieltem Entsetzen weit auf und fuhr fort: »Wie eine Prostituierte! Also bin ich der Zuhälter.«
Aber er lächelte nicht und gab auch keine stichelnde Erwiderung. Sein Gesicht nahm einen harten, verschlossenen Ausdruck an. Das frotzelnde Gespräch versickerte. O Gott, dachte sie, warum muß es immer so verlaufen, warum wurde es immer bitter am Schluß? Jedes Gefühl von Wärme und Nähe starb den Kältetod.
Ich will das nicht mehr, dachte Tara entmutigt. Nach der schweren Woche war all ihre Energie aufgebraucht. Sie hatte keine Kraft, keine Entschuldigungen, keine Hoffnung mehr.
40
Was für eine Messe zelebriert denn Father Gilligan?« fragte JaneAnn.
Einen Augenblick sagte Katherine gar nichts. Was war die richtige Antwort? »Eine ganz schöne.«
»Eine lange?«
War lang wünschenswert? Wahrscheinlich. »Sie dauert Stunden. Eine Ewigkeit.«
»Gut.« JaneAnn nickte befriedigt.
Es klingelte an der Tür, und Sandro stand davor, in seinem besten Anzug.
»Was machst du denn hier?« fragte Katherine überrascht.
»Ich gehe mit JaneAnn in die 11-Uhr-Messe.«
Katherine fing an zu lachen und hörte erst auf, als sie JaneAnn hinter sich bemerkte.
»Ich bin erstaunt über dich, Katherine Casey, daß du dich über den Glauben eines jungen Mannes lustig machst.«
»Entschuldigung«, sagte Katherine beschämt.
Sandro schrak zurück, als er sah, daß Katherines Wohnung, normalerweise blitzsauber und aufgeräumt, seit dem letzten Abend noch verkommener aussah. Als wäre eine Bombe darin explodiert. Überall lagen Kleider, Schuhe, Koffer und Bettzeug umher. Über dem Fernseher baumelten Socken, ein Becher stand kopfüber in einer Topfpflanze, leere Weinflaschen lagen auf dem Boden verstreut, und das Schlafsofa war zwar zusammengeklappt, aber in einer Ecke ragte ein Stück Laken heraus wie eine Zunge aus einem offenstehenden Mund. Aus der Küche konnte man Geschirrklappern und Brutzeln hören, Essensgerüche drangen in den Flur. »Es sieht aus, als würden zwanzig Studenten hier wohnen«, hauchte er und ließ seinen Blick über das Chaos wandern.
»Genau«, sagte Katherine und lachte düster.
»Aber du bist doch immer so eine Ordnungsfanatikerin«, sagte er.
»Was nützt es denn?« Sie hob die Arme und ließ sie wieder fallen. »Wenn ich aufräume, sieht es fünf Minuten später wieder genauso aus.«
»Geht es dir auch gut?« Er musterte sie kritisch.
»Bestens!« erklärte sie mit schriller Stimme. »Hervorragend. Bloß«, fuhr sie fort, und ihre Stimme wurde noch höher und schriller, »es wäre ganz schön, wenn ich mal in mein Badezimmer könnte. Es ist immer jemand drin. Und ich finde es nicht so schlimm, daß JaneAnn meinen Massagehandschuh benutzt hat, um den Küchenboden zu schrubben, oder daß Timothy meine beschichtete Pfanne so lange geputzt hat, bis die ganze Beschichtung ab war, aber als ich dann endlich mal in mein Badezimmer konnte, hatte jemand – ich glaube, es war Milo – meinen ganzen Conditioner aufgebraucht.«
»Wieso glaubst du, es war Milo?«
»Guck dir doch mal seine Haare an«, rief Katherine, und ihre Stimme überschlug sich fast. »Das glänzt doch richtig!« Sie war puterrot und starrte Sandro an, der es nicht wagte, etwas einzuwerfen. »Es tut mir leid«, sagte sie und brach in Tränen aus. »Es tut mir leid, es tut mir leid!« Sie zitterte unter Tränen. »Ich bin so egoistisch. Wie kann mir das wichtig sein, wenn Fintan so krank ist?«
Es klingelte wieder. Diesmal war es Liv, ordentlich gekleidet.
»Sag nicht, daß du auch um elf mit JaneAnn zur Messe gehst«, sagte Katherine lachend, trotz der Tränen.
Katherine konnte nicht zur Messe gehen, obwohl sie wußte, daß es von ihr erwartet wurde. Sie war zu aufgewühlt.
»Wenn du aufgewühlt bist, ist die Messe genau das Richtige«, beharrte JaneAnn.
Milo ging auch nicht, was JaneAnn mit einem betrübten Blick zur Kenntnis nahm. Als sie zwei Stunden später wiederkamen, war JaneAnn in Höchstform und außerdem äußerst angetan von Liv, weil die Father Gilligan persönlich kannte. »Ihr habt eine phantastische Messe versäumt«, verkündete JaneAnn. »Eine wunderbare Predigt. Über den verlorenen Sohn. Wie lange man auch ohne den Herrn gelebt hat, er nimmt jeden wieder an, ohne Fragen zu stellen.« Sie sah Milo bedeutungsschwer an.
Dann traf Tara ein, und es war Zeit, zu Fintan ins Krankenhaus zu gehen.
Sobald Tara das Krankenhaus betrat, verließen sie alle Kräfte. Sie war fertig, ausgelaugt nach all dem Auf und Ab, sie hatte es satt, daß ihre Kleidung und ihre Haare immer den antiseptischen Krankenhausgeruch an sich hatten, sie war kreuzlahm von den harten Stühlen und erschöpft, weil sie viele Stunden ohne Zigarette auskommen mußte. Sie hatte nicht eine Reihe von Thomas’ Pullover gestrickt, sie war nicht einmal im Fitneß-Studio gewesen, und sie konnte sich beim Essen nicht bremsen. Sie sehnte sich nach einem Abend allein zu Hause, vor der Glotze, ohne ein Wort sprechen zu müssen. Sie warf einen Blick auf Katherine und sah, daß die ein ähnliches Stadium erreicht hatte.
»Seltsam, nicht wahr«, sagte JaneAnn und drückte das aus, was alle fühlten. »Es kommt mir vor, als wären erst fünf Minuten vergangen, seit wir hier weggegangen sind. Der Schlaf der letzten Nacht ist wie weggeblasen.«
»Dasselbe noch mal von vorn.« Tara lachte angespannt.
»Das ist erst der…«, Liv zählte mit Hilfe ihrer Finger nach, »… der fünfte Tag.«
»Ich weiß«, sagte Milo. »Es kommt einem vor, als wäre es der tausendste.«
»Aber vielleicht darf er ja morgen nach Hause«, sagte JaneAnn voller Hoffnung.
»Vielleicht«, meinten die anderen, und diesmal versuchten sie nicht, sich gegenseitig etwas vorzumachen. Wenn die Untersuchungsergebnisse in Ordnung waren, konnte Fintan die Behandlung für den Lymphdrüsenkrebs ambulant machen.
Zufälligerweise ging es ihm an dem Tag tatsächlich besser als an den Tagen zuvor. Obwohl die Schwellung an seinem Hals noch sichtbar war, lag er nicht so matt da, war auch nicht ganz so gelb, und er aß etwas und behielt es bei sich. Die Stimmung entspannte sich ein wenig. Alles würde ein gutes Ende nehmen.
»Wann kommt Thomas zu Besuch?« fragte Fintan Tara schnippisch.
»Ich weiß nicht.« Sie errötete. »Er hat sehr viel zu tun, mit seiner Arbeit und dem Fußball…«
»Sag ihm, daß ich ihn gern sehen würde.« Fintan grinste. »Ich würde bestimmt schneller gesund.«
»Ich werde es ihm ausrichten.«
»Sag ihm, er soll es für dich tun«, drängte Fintan. »Für die Frau, die er liebt.«
»Mach ich«, versprach Tara verwirrt. Natürlich hatte sie Thomas gebeten, mit ihr ins Krankenhaus zu kommen und die O’Gradys kennenzulernen, aber er hatte sich hartnäckig geweigert. »Ich will nicht heucheln«, sagte er, und damit war das Gespräch beendet.
Aber was ging in Fintan vor? Er haßte Thomas.
Taras Überlegungen wurden unterbrochen, als Fintans Freunde Frederick, Claude und Geraint ins Zimmer kamen, alle mit einem lauten »Hi« begrüßten und ihre Gaben absetzten. Man rückte zusammen. Kurz darauf kamen noch Harry und Didier, und dann Butch und Javier.
Fintan hatte pausenlos soviel Besuch, daß sich manche Gruppen auf dem Flur versammelten, wo lebhafte Gespräche geführt wurden, wo gescherzt und gelacht wurde und neue Verbindungen entstanden. Schon nach wenigen Tagen hatte ein Mann namens Davy, ein Freund von Javier, mit Harrys Freund Jimbob geschlafen, den er auf Fintans Station kennengelernt hatte.
»Station siebzehn«, sagte Fintan belustigt, »wo Liebesgeschichten ihren Anfang nehmen.« Er witzelte darüber, daß einige seiner Freunde ins Krankenhaus kamen und ihn gar nicht besuchten, weil sie von so vielen attraktiven Männern auf dem Flur abgelenkt wurden. Er ging sogar soweit anzudeuten, daß manche Besucher ihn gar nicht kannten.
Um den Freunden Fintans Platz zu machen, zogen sich Liv, Tara und Katherine in einen Aufenthaltsraum zurück, wo Liv ein paar Fragen stellte, die ihr seit einigen Tagen auf den Nägeln brannten. »Timothy ist verheiratet, richtig?« fragte sie betont lässig.
»Genau.«
»Und Ambrose ist verheiratet? Und Jerome auch?«
»Ja.«
»Und warum ist Milo nicht verheiratet? Ist er auch schwul?«
»Nein«, sagte Tara. »Aber er hat eine Enttäuschung mit einem Mädchen erlebt.«
»Eine Enttäuschung?« rief Liv. »Was meinst du damit? Ist das wieder eine von euren komischen irischen Redensarten?«
»Es bedeutet, sie hat ihn sitzengelassen«, erklärte Katherine. »Er war mit einer Frau namens Eleanor Devine verlobt, sie waren, wie man so sagt, ›übereingekommen‹, und dann ist sie abgehauen.«
»Warum?«
»Sie wollte nicht Bauersfrau werden. Sie ist nach San Francisco gezogen und macht jetzt Konzept-Kunst.«
»Wie sah sie aus?« fragte Liv mit bebender Stimme. »Häßlich? Fett?«
»Sie sah gut aus, würde ich sagen«, erwiderte Katherine.
»Wie gut?« bohrte Liv weiter. »Auf einer Skala von eins bis zehn.«
»Fünf.«
»Vier, vielleicht nur drei.« Tara stieß Katherine in die Rippen. »Sag uns doch, warum dich das so brennend interessiert.«
»Er ist ein Meter fünfundachtzig«, sagte Liv verklärt, »er ist gebaut wie ein Kleiderschrank, er hat lange, schwarze, glänzende Haare…«
Katherines Miene verdüsterte sich, als Liv die glänzenden Haare erwähnte.
»… dunkelblaue Augen und ein reizendes Lächeln.« Liv schüttelte die kleine Träumerei ab. »Es gibt keinen besonderen Grund…«, sagte sie, und alle lachten.
»Du meinst es nicht ernst, oder?« fragte Tara. »Natürlich meine ich es ernst.«
»Aber«, wandte Tara ein, »aber du bist Schwedin, du hast Stil, du bist Innenarchitektin, und er … er ist Milo O’Grady.«
»Und trägt Arbeitshosen.« Katherine hatte auch eine Meinung dazu.
»Er hat nie von Tricia Guild gehört.«
»Und du nie von Maul-und Klauenseuche. Wie soll das funktionieren? «
»Er ist ein Mann vom Land.« Liv hatte einen besonderen Glanz in den Augen. »Er schafft neues Leben, mit seinen Händen, er erntet und sät. Was könnte verdienstvoller sein?«
»Gehirnchirurg«, sagte Katherine.
»Sozialarbeiter«, sagte Tara.
»Buchhalter.«
»Schuhdesigner.«
»Er arbeitet mit den Händen. Mit seinen großen, kräftigen Händen, die so sexy sind. Seht ihr nicht, wie schön er ist?«
»Nein«, sagte Tara, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Liv, du bist in merkwürdiger Verfassung«, redete Katherine auf sie ein. »Wir stehen alle unter Strom. Und du hast deinen geliebten Lars doch nicht vergessen, oder?«
»Dieser Arsch«, sagte Liv wegwerfend. Plötzlich wurde sie ihrer selbst gewahr und stöhnte beschämt: »Wie kann ich nur? Wie kann ich zur Zeit an einen Mann denken? Wie ich mich hasse!«
»Mach dir keine Sorgen«, sagte Tara. »Bitte, das sollst du nicht. Es ist eine schwierige Zeit, und wenn es dir ein Trost ist, dann kann ich dir sagen, daß ich tagelang über mich und Thomas nachgegrübelt habe, und dann war ich so zerknirscht. Es scheint so unangebracht!«
Katherine hatte das Gefühl, eine große Last würde von ihr genommen. »Ich bin dir so dankbar, daß du das sagst, Tara. Ich habe mich in diesen Tagen auch mit Dingen befaßt, die nichts mit Fintan zu tun haben, und dann habe ich gedacht, was für ein schlechter Mensch ich bin. Und habe mich dafür gehaßt.«
»Wirklich? Ich habe mich auch gehaßt«, rief Tara.
»Ich bin froh, daß ihr das sagt, ich habe mich auch gehaßt«, stimmte Liv mit ein.
Sie lächelten einander verlegen und erleichtert zu, jetzt, da ihre beschämenden Geheimnisse offenlagen, und fühlten sich unendlich befreit.
»Entweder sind wir drei ganz schlimme Weiber«, meinte Tara, »oder wir sind ziemlich normal.«
»Aber der arme Fintan«, sagte Katherine. »Wie muß es ihm gehen? Wie fühlt man sich wohl, wenn man denkt, man hat nur noch wenig Zeit? Ich versuche dauernd, mir das vorzustellen.«
»Ich auch«, gestand Tara.
»Ich auch«, sagte Liv.
»Stellt euch vor, ihr hättet nur noch sechs Monate zu leben«, sagte Tara eindringlich. »Daß ihr den nächsten Mai schon nicht mehr erleben würdet.«
Als Katherine und Liv sie schockiert ansahen, drängte sie sie: »Und?«
Katherine kam sich komisch vor und schloß die Augen. Wie würde sie sich fühlen? Es wäre ihr letztes Weihnachten. Sie würde nie wieder einen Sommer erleben. Einhundertachtzig Tage statt der tausend und abertausend Tage, die sie sich immer in langer Reihe vorgestellt hatte.
Sie war überrascht, als sich etwas in ihrer Wahrnehmung änderte. Ein einzelner Tag, der aufgrund der Tatsache, daß es noch viele andere seiner Art gab, völlig uninteressant und wertlos war, stand plötzlich klar und deutlich vor ihr, und jeder Aspekt schien süß und kostbar. Kostbar wie ein Diamant, vom erwartungsvollen Aufwachen am Morgen bis zum Zeitpunkt, wo man sich am Ende des Tages zur Ruhe begibt. Sie spürte das dringende Bedürfnis, ihn zu füllen, ihn weise zu nutzen, alle erstrebenswerten und wichtigen Dinge zu tun.
Es kam nicht darauf an, verantwortungsvoll zu sein – sie würde nicht mehr dasein, um die Belohnung in Empfang zu nehmen. Wichtiger noch, es kam nicht darauf an, vorsichtig zu sein – sie würde nicht mehr dasein, um die Konsequenzen zu erleben. Sie geriet fast in Panik, als sie an all die Dinge dachte, die sie in ihren sechs Monaten tun wollte – das Wunder von den Broten und den Fischen müßte wiederholt werden, um alles hineinzupacken.
Ihre Regeln und Barrikaden schienen ihr plötzlich beklemmend. Verrückt geradezu. Sie wollte sich ins volle Leben stürzen. Alles erleben. Spaß haben. Viel, viel Spaß. Und Sex. Mit Joe Roth. Himmelherrgott! Entsetzt riß sie die Augen auf. Tara und Liv sahen sie an.
»Es macht einem Angst, was?« sagte Tara mit einem Schaudern. »Ich sage euch eins, wenn ich nur noch sechs Monate zu leben hätte, würde ich keine Zeit darauf verschwenden, Thomas zum Heiraten zu bewegen, damit ich im Alter nicht allein bin. Denn ich hätte gar kein Alter vor mir, in dem ich allein sein könnte!«
»Was würdet ihr tun?« fragte Katherine begierig, in dem Wunsch, nicht länger über sich selbst nachzudenken.
»Ich würde Lars sitzenlassen und mein Glück mit Milo versuchen«, erklärte Liv.
»Aber das hast du sowieso vor«, sagte Tara. »Dazu brauchst du nicht sterbenskrank zu sein. Ich meinerseits, ich würde eine Affäre haben wollen.«
»Mit wem?«
»Weiß nicht. Mit einem, den ich begehrenswert finde, und der mich begehrenswert findet! Eine wilde, atemlose, verrückte Affäre, wo man nie aus dem Bett rauskommt und mitten in der Nacht aufwacht, weil man so scharf aufeinander ist.« Sie zitterte lustvoll bei dem Gedanken.
»Heißt das, bei dir und Thomas ist es nicht die ganze Zeit so?« fragte Katherine trocken.
»Du weißt ganz genau, daß man nach den ersten drei Monaten kaum noch miteinander schläft«, sagte Tara. »Und guck mich nicht so an. Ich liebe Thomas – das ist nur eine Phantasie.«
»Du hast praktisch gestanden, daß du ihn nicht mehr begehrst.«
»Das stimmt nicht! Ich habe nur gesagt, wenn … Und außerdem, es ist ja nur eine Phantasie!«
»Das stimmt«, sagte Katherine. »Wir haben mehr als sechs Monate, wir sterben nicht, diese Diskussion ist dumm und trübsinnig.«
»Gut, daß du das sagst«, rief Tara. »Ich mußte gerade denken, was wohl wäre, wenn ich Thomas verlassen und eine Affäre mit einem anderen haben würde – und dann nicht sterben würde. Ich käme mir vor wie der letzte Idiot.«
41
Als am Montagmorgen kurz nach zehn die üblichen Verdächtigen um Fintans Bett versammelt waren, kam Dr. Singh ins Zimmer. Seiner verzagten Miene nach zu urteilen hatte er etwas mitzuteilen. Seine Unruhe sprang sofort auf die Anwesenden über, deren Nerven zum Zerreißen gespannt waren. Lieber Gott, laß es gute Nachrichten sein!
»Ich habe die Ergebnisse der Knochenmarkbiopsie«, sagte er, den Blick auf Fintan gerichtet.
Berichten Sie, so berichten Sie doch!
»Möchten Sie, daß ich allein mit Ihnen darüber spreche?«
»Nein«, sagte Fintan bebend und ruhig zugleich. »Die anderen sollen mithören. Dann brauche ich es hinterher nicht zu wiederholen.«
Dr. Singh holte tief Luft und wartete einen Moment. Es fiel ihm sichtlich nicht leicht. »Ich fürchte, es sind schlechte Nachrichten.«
Keiner sagte etwas. Acht kalkweiße Gesichter sahen ihn flehend an, hofften, daß er sich geirrt hatte.
»Die Krankheit ist auch im Knochenmark aktiv«, fuhr er fort. Ich bin nur der Bote.
»Wie aktiv?« krächzte Katherine.
»Ich fürchte, sie ist ziemlich weit fortgeschritten.«
Katherine sah Fintan an. Seine Augen waren groß und dunkel, wie die eines zutiefst erschrockenen Kindes.
»Ich habe auch die Ergebnisse der Computertomographie«, sagte Dr. Singh.
Acht Paar Augen waren auf ihn geheftet.
»Die Krankheit ist auch in der Bauchspeicheldrüse aktiv. Außerdem«, Dr. Singh redete widerwillig weiter, »habe ich die Ergebnisse von den Röntgenaufnahmen des Zwerchfells.«
Sein Gesicht sprach Bände.
»Auch im Zwerchfell?« fragte Milo.
Der Arzt nickte. »Es gibt jedoch keine Spuren in den zentralen Organen wie Leber, Nieren und Lunge«, fügte er hinzu. »Das wäre in der Tat sehr ernst.«
Fintan sprach erst jetzt. »Muß ich sterben?«
»Wir fangen umgehend mit der Behandlung an«, sagte Dr. Singh und ignorierte die Frage. »Jetzt, wo wir wissen, wo die Krankheit sitzt, können wir sie auch behandeln.
»Wird auch höchste Zeit«, sagte Tara mit Bitterkeit, und alle sahen sie schockiert an. So sprach man nicht mit einem Arzt. »Er wurde von Tag zu Tag schwächer«, hielt sie ihm vor, »und Sie haben nichts getan. Sie haben nichts für ihn getan, weil Ihr Labor zu beschäftigt war, um herauszufinden, wie krank er ist. Und wenn es diese Tage sind, die den Unterschied machen, ob er lebt oder…« Sie fing an zu weinen und vergrub schluchzend und am ganzen Körper bebend den Kopf in den Händen. »Du mußt die Symptome seit Ewigkeiten gehabt haben«, sagte sie zu Fintan, während ihr die Tränen die Wange hinunterliefen. »Seit Monaten.«
»Das stimmt.«
»Warum bist du dann nicht früher zum Arzt gegangen?« Sie war atemlos vor Zorn und Schmerz. »Warum hat Sandro nicht darauf bestanden?«
»Weil wir dachten, wir wüßten, was es ist. Nachtschweiß – manchmal mußten wir mitten in der Nacht die Bettwäsche wechseln. Der Gewichtsverlust. Ständige Übelkeit. Sandro hatte das alles schon einmal durchgemacht.«
Ein schreckliches Bild präsentierte sich ihnen – Sandro und Fintan in verschworenem Schweigen. Fintan, der immer kränker wurde, und nichts wurde unternommen, um ihm zu helfen, weil sie dachten, es gäbe keine Hilfe.
»Ihr Idioten.« Tara schauderte. »Ihr seid so unglaublich bescheuert.«
JaneAnn packte Tara mit eisernem Griff am Arm. »Hör sofort mit dem Unsinn auf, Tara Butler«, sagte sie streng. »Er ist noch nicht tot.«
Die Behandlung fing am selben Morgen an. Er sollte im Krankenhaus bleiben und sich fünf Tage lang einer konzentrierten Chemotherapie unterziehen. Alle mußten gehen.
»Aber ich bin seine Mutter«, sagte JaneAnn. Sie bot allerdings nur schwachen Widerstand. »Ich müßte doch bleiben können.«
»Komm schon, Mam«, sagte Milo und führte sie zur Tür. »Du kannst ihn heute abend besuchen.«
Sie gingen ihrer Wege – JaneAnn, Milo, Timothy, Liv, Tara, Katherine und Sandro. Sie, die während des Wartens unzertrennlich gewesen waren, wurden von der Nachricht, die wie eine Bombe eingeschlagen hatte, in alle Richtungen zerstreut.
Es entstand eine peinliche Fremdheit zwischen ihnen, jeder war böse auf sich selbst und böse auf die anderen. Was hatte ihre positiv gestimmte, hoffnungsvolle Anteilnahme bewirkt? Warum hatten sie sich gegenseitig und Fintan Mut gemacht und immer das Beste gehofft? Ihre ganzen Bemühungen waren nutzlos gewesen, von Anfang an.
Es hatte keinen Sinn mehr, als menschliche Amulette an seinem Bett zu sitzen, um die Katastrophe abzuwehren. Sein Schicksal bestimmten nun die starken Medikamente, die chemischen Substanzen, die so gefährlich waren, daß die Krankenschwestern bei der Behandlung Schutzkleidung tragen mußten, und die so heftige Nebenwirkungen hatten, daß Fintan manchmal lieber sterben wollte, als die Behandlung zu ertragen.
Jeder mußte für sich einen Weg finden, mit den schwierigen Gefühlen zurechtzukommen. JaneAnn wurde Dauerbesucherin in St. Dominic und führte Verhandlungen mit Gott, in denen sie sich erbot, Fintans Platz einzunehmen, wenn schon einer sterben mußte. Timothy ging zu Katherine in die Wohnung, wo er den ganzen Tag fernsah, eine Zigarette nach der anderen rauchte und seine Stiefel überall verteilte. Milo ging stundenlang spazieren, dann zu Harvey Nichols, ins Museum of Mankind und ins Victoria and Albert Museum und klapperte verschiedene Touristenattraktionen ab. Die anderen gingen zur Arbeit. Während sie bei Fintan Wache gehalten hatten, war es äußerst wichtig gewesen, die Arbeit zu vernachlässigen, aber das Schlimmste war jetzt eingetreten. Und statt daß ihre Arbeit dadurch noch mehr in den Hintergrund geriet, war es plötzlich lebenswichtig, dort wieder die Kontrolle zu übernehmen.
Es war ein klarer, kalter Oktobermorgen mit blauem Himmel, und als Katherine aus dem Krankenhaus kam und im Taxi die Fulham Road entlangfuhr, sah sie eine Frau ihres Alters, die unbeschwert ihrer Wege ging und einen Einkaufsbeutel schwenkte. Die Frau sah nicht unbedingt sehr glücklich aus, sie schien nur frei von Sorgen und schweren Gedanken. Wie gern hätte Katherine mit ihr getauscht. Auch sie hatte Zeiten gekannt, in denen sie unbekümmert ihren Einkaufsbeutel hin und her geschwenkt hatte. Wie oft war sie so durch die Straßen gelaufen, und nie hatte sie das glückselige Gefühl genossen, die reine Lebensfreude, frei von dem Druck eines Alptraums.
Als sie ins Büro kam, war sie überrascht, wie geschäftig alle waren. Jeder hatte zu tun. Wie Außerirdische kamen sie ihr vor, die ihren Schwänzen hinterherjagten. Sie war an den Rand des Lebens katapultiert worden, wo alles verzerrt, verdreht und fremd war. Was für eine Bedeutung konnte das hier schon haben!
Die Kollegen nickten ihr zu, als sie wie in Trance zu ihrem Schreibtisch ging. Und dann stand sie davor und mußte sich erst vergewissern, daß es wirklich ihrer war. Sie fühlte sich wie in Watte, alle ihre Gedanken und Reaktionen schienen ihr unwirklich und fern.
Noch bevor sie sich gesetzt hatte, suchten ihre Augen Joe Roth. Eigentlich wollte sie das nicht, aber sie hatte nicht dieselbe Willenskraft wie sonst, um es sich zu verbieten.
Er saß zurückgelehnt auf seinem Stuhl, telefonierte und drehte einen Bleistift zwischen seinen langen, schönen Fingern. Der Hörer lag an seiner hageren, glattrasierten Wange.
Sie wollte ihn. Das war der einzige glasklare Gedanke in einer verschwommenen, unerreichbaren Welt. Wie ein Leuchtfeuer im Nebel. Sie begehrte Joe Roth leidenschaftlich, heftig. Unangemessenerweise. Und wieder einmal dachte sie: Wie kann ich nur? Sie verstand sich selbst nicht.
Der Grund für die hektische Betriebsamkeit war, so stellte sich heraus, die Nachricht, daß der Auftrag von Multi-Nuß-Müsli an eine andere Firma gegangen war. Es war Joe Roths erster Mißerfolg bei Breen Helmsford.
»Mal klappt’s, mal klappt’s nicht«, sagte Joe achselzuckend und versuchte, die Stimmung seines Teams aufrechtzuerhalten.
»Nicht in dieser Branche, Mann«, sagte Fred Franklin mit kalter Grausamkeit. »Hier heißt es: Manchmal klappt’s und manchmal klappt’s auch. Wenn es nicht klappt, klappen nur noch die Türen.«
Eigentlich hätte Katherine froh sein können, denn Joe könnte deswegen seine Stelle verlieren, aber sie wollte ihn trösten – er sollte seinen Kopf in ihren Schoß legen, und sie würde ihm mit ihren Fingern durch das Haar fahren.
»Schlechte Woche für dich, was«, geiferte Fred. »Wo Arsenal am Samstag verloren hat.«
Ich sollte arbeiten, beschloß Katherine. Sie blickte auf die Zahlen vor sich, aber die hätten ebensogut in Keilschrift geschrieben sein können. Sie stellte das Blatt auf den Kopf, um zu sehen, ob sie sich dann besser entziffern lassen würden, worauf Breda sie entsetzt anstarrte. »Ich komme gleich, Breda.« Katherine versuchte den Eindruck zu erwecken, daß sie alles fest im Griff hatte. »Ich muß nur noch was nachsehen.« Jetzt nimm dich mal zusammen, wies sie sich zurecht. Joe Roth wäre nicht der einzige, der auf die Straße gesetzt würde, wenn sie nicht aufpaßte.
»Ist dies ein günstiger Moment?« hörte sie eine Stimme, und als sie aufsah, stand Joe Roth vor ihr.
»Wofür?« stammelte sie mit klopfendem Herzen.
»Spesen.«
»Schon wieder?«
»Schon wieder.« Er lächelte trocken. »Es ist vielleicht ratsam. Falls sie mich heute noch rausschmeißen.«
»Das meinen Sie nicht ernst, oder?« fragte sie ungläubig.
»Die Werbebranche. Ein Haifischbecken.« Er lächelte.
»Aber das ist das erste Mal«, protestierte sie. »Das wäre nicht fair.«
Er stützte die Hand auf den Tisch und beugte sich zu ihr hinüber. »Katherine«, sagte er ruhig und mit einem Lachen in den Augen, »beruhigen Sie sich.«
Sie nahm seinen Geruch wahr, einen klaren, frischen, männlichen Duft. Seife und Zitrus und darunter ein Hauch von Wildheit. Er richtete sich wieder auf, und sie war verwirrt, fühlte sich allein gelassen. »Nehmen Sie doch einen Stuhl«, sagte sie. Sie war froh, daß ihr das eingefallen war. Es klang so entspannt und normal.
Joe saß vor ihr, er trug ein frisches weißes Hemd. Er war glatt rasiert, hatte ein schlankes Gesicht und olivfarbene Haut. Sie bearbeitete den kleinen Stapel von Rechnungen, und seine Anwesenheit bewirkte, daß ihre Finger ihr nicht gehorchten. Immer wieder drückte sie die Taste mit dem Prozentzeichen oder mit dem Wurzelzeichen statt das Plus. »Es tut mir leid, das mit dem Multi-Nuß-Müsli-Auftrag«
Falls er überrascht war, daß sie so persönlich mit ihm sprach, zeigte er es nicht. Er zuckte einfach nur die Achseln. »So ist das Leben, oder?« Er gab sich alle Mühe, so zu tun, als kümmerte ihn das nicht, aber sie hatte immer das Gefühl gehabt, daß seine Arbeit ihm sehr wichtig war. »Man kann nicht immer das bekommen, was man sich wünscht«, sagte er und sah ihr in die Augen. Bildete sie sich ein, daß in dem Blick eine besondere Bedeutung lag?
»Oder bekommen Sie immer das, was Sie wollen?«
Während sie Joe wie gebannt ansah, füllten sich ihre Augen mit Tränen, die dann wie Perlen über ihr hübsches Gesicht kullerten. Zu ihrer beider Überraschung.
»Entschuldigung«, flüsterte sie, senkte den Kopf und wischte sich die Tränen mit dem Handrücken ab. »Ich habe heute morgen eine – eine schlechte Nachricht erhalten.«
»Das tut mir leid.« Es klang, als meinte er es aufrichtig.
Daraufhin flossen noch mehr Tränen. Sie wollte zu ihm gehen, seine Arme um ihren Rucken spüren, er sollte sie an sich ziehen, sie wollte ihre Wange an sein weiches Revers legen, ihr Gesicht in sein Hemd vergraben und seinen Geruch einatmen.
»Wäre es eine Idee…« Er wollte sie fragen, ob sie mit ihm einen Kaffee trinken würde, aber dann brach er ab. Natürlich würde sie das nicht wollen.
Katherine bemerkte, daß Angie vorbeiging und den Kopf verdrehte, um einen Blick auf Joe Roth zu erhaschen. Dumpf erinnerte sie sich plötzlich, daß Angie schon mindestens zweimal an ihrem Schreibtisch vorbeigegangen war. Was bedeutete das?
»Das ist alles in Ordnung.« Mit einem schwachen Lächeln deutete sie auf sein Spesenformular. »Ich stelle Ihnen in den nächsten Tagen einen Scheck aus.«
Als Joe wieder an seinen Schreibtisch ging, wurde er von Myles aufgehalten, der ihn aufgeregt fragte: »Und? Hat die Eiskönigin geweint?«
»Nein«, sagte Joe kurz und wandte sich ab.
42
Jetzt war Fintan ausgeflippt. Anders ließ sich sein Verhalten nicht erklären. Er hatte Tara und Katherine zu sich ans Krankenbett bestellt, weil er beide um etwas bitten wollte, und sie kamen zu dem Schluß, daß der Krebs sich jetzt auch in seinem Gehirn ausbreitete, als sie hörten, was er von ihnen wollte.
Er hatte fünf Tage Chemotherapie hinter sich, am sechsten Tag wurde er verschont, weil die Behandlung so zermürbend war. Der Chemie-Cocktail verursachte ihm Übelkeit und Haarausfall, und er bekam Geschwüre im Mund.
»Jesus«, murmelte er, als er die Kraft fand zu sprechen. »Lieber würde ich es mit dem Krebs aufnehmen.«
Weil er so heftig auf die konventionelle Behandlung reagierte, lasen seine Freunde die Bücher über alternative Behandlungsmethoden, die sie schon gekauft hatten. »Normalerweise würde ich darüber lachen«, sagte Katherine, als sie las, daß Fintan geheilt werden könnte, wenn er seine Gedanken darauf lenkte, in gelbem Licht gebadet zu werden, »aber vielleicht sollte man es einmal versuchen.«
Als man ihm vorschlug, er solle sich vorstellen, heilendes, silbriges Licht einzuatmen oder seine Krebszellen einzeln abzuschießen, wie bei den Space Invaders, sagte er nur: »Verpißt euch. Ich bin viel zu krank für diesen Scheiß.«
Aber am sechsten Tag, als nur eine Salzlösung in seine Venen tropfte und er zwar schwach wie ein junges Kätzchen, bis auf die Knochen abgemagert und graugelb im Gesicht war, ging es ihm doch besser als in den Tagen davor. »Tretet näher!« krächzte er und war nur ein müder Abklatsch seines früheren überschwenglichen Ichs. »Also, ihr sagt dauernd, daß ihr alles für mich tun würdet…«
Tara und Katherine nickten begierig.
»Gut. Versprochen?«
»Versprochen.«
»Hand aufs Herz?« Sie verdrehten die Augen – natürlich würden sie genau das tun, was er sich wünschte. »Hand aufs Herz.«
»Gut. Fangen wir mit dir an, Tara.«
Sie sah ihn aufmerksam an.
»Du sollst Thomas verlassen.«
Das Lächeln blieb zwar, aber das Licht dahinter erlosch, und ihre Augen nahmen einen verdutzten Ausdruck an. »Wie bitte?« fragte sie. Sie hatte gedacht, er würde sie bitten, ihm einen frischen Schlafanzug zu bringen oder – Gott bewahre – die Unterlagen von verschiedenen Beerdigungsinstituten. Oder ihm zu versprechen, daß sie sich um Sandro kümmern würden, wenn das Schlimmste passierte. Aber das hier? »Ich will, daß du Thomas verläßt«, sagte er noch einmal.
Tara stieß Katherine in die Rippen. »Und das nächste Mal will er bestimmt, daß ich den Mount Everest besteige«, sagte sie und lachte verunsichert, »und den schiefen Turm von Pisa begradige und –«
»Es ist kein Witz, Tara«, unterbrach er sie. »Ich spaße nicht.«
Seine entschlossene Stimme ließ sie aufhorchen, und sie sah forschend in sein abgemagertes Gesicht. Ihr Herz klopfte heftig, als sie erkannte, daß er es ernst meinte. »Aber warum?« sagte sie.
»Weil ich will, daß du glücklich bist.« Seine Stimme war schwach, aber erstaunlich fest.
»Ich bin doch glücklich.« Die wiederkehrende, unerklärliche Unzufriedenheit, die sie in letzter Zeit mit Thomas verspürt hatte, war wie ausgelöscht. »Ich wäre sehr unglücklich ohne ihn. Stimmt’s?« Sie suchte bei Katherine nach Unterstützung.
»Hat keinen Zweck, sie zu fragen«, sagte Fintan mit heiserer Stimme, »sie ist meiner Meinung.«
»Was hat denn meine Beziehung mit Thomas mit dir zu tun?« fragte Tara trotzig.
Fintan atmete schwer, dann wartete er. Er sah zur Decke, als suchte er Inspiration, und sagte dann: »Wenn ich schon sterben muß, will ich wenigstens verhindern, daß du dein Leben vergeudest.«
Tara war schockiert, beschämt – wütend. Wie konnte er es wagen, sich wie Gott aufzuspielen, nur weil er vielleicht sterben mußte?
»Ich weiß, ich bin ein Arsch«, sagte Fintan fröhlich, als hätte er ihre Gedanken gelesen, und machte sie verlegen. »Ich nutze meine Lage schamlos aus. Warum sollte ich nicht versuchen, das Beste daraus zu machen? Sie nutzt mir zu sonst nichts.«
»Es tut mir leid, daß du Thomas nicht magst.«
»Der Grund, warum ich ihn nicht mag, ist der, daß er so gemein zu dir ist.« Fintan sah sie unverwandt an. »Ich bin seit fast zwei Wochen im Krankenhaus, und er hat mich nicht einmal besucht. Und sogar Ravi war hier.«
Tara hatte den Verdacht, daß Ravi aus reiner Neugier gekommen war, so wie Leute mit weit aufgerissenen Augen und verrenkten Hälsen an einer Unfallstelle vorbeifuhren, aber sie sagte: »Dann ist Thomas gemein zu dir, und nicht zu mir. Wenn du ihn wirklich sehen möchtest, dann sorge ich dafür, daß er kommt.«
»Ich möchte ihn überhaupt nicht sehen. Jesus Maria, schon sein Anblick würde mich um Monate zurückwerfen. Was ich sagen will, ist, daß er nicht hinter dir steht.«
»Fintan, ich tue alles für dich, wirklich alles«, sagte sie aufgeregt. »Aber ich werde Thomas nicht verlassen.«
»Du hast es versprochen.« Schmollend schob er die Unterlippe vor.
Dann streckte er die Zunge heraus. »Guck mal! Soll ich dir mal meinen entzündeten Mund zeigen? Sieht grotesk aus.«
»Fintan…«
»Guck dir mal meine Zunge an. Riesige Blasen, nicht? Guck«, befahl er, »du sollst gucken!«
»Riesig«, sagte sie tonlos. »Fintan, bitte besteh nicht darauf, daß ich Thomas verlasse. Er behandelt mich eigentlich nicht richtig schlecht…«
»Nein!« Fintan wollte sich aufrichten, hatte aber nicht die Kraft. »Katherine und ich wollen nicht mehr hören, daß es das Beste für dich ist, wenn Thomas dich beleidigt, daß es ein Zeichen seiner Zuneigung ist. Und wir wollen auch nicht hören, daß er nichts dafür kann, daß er ein Arschloch ist. Wenn er seine Mutter so behandelt hat, wie er dich behandelt, dann ist es kein Wunder, daß sie abgehauen ist. Du hast gesagt, du tust alles für mich, also tu’s.«
»Alles, nur nicht das.«
»Es ist doch so leicht«, sagte er schwach. Seine Heftigkeit war verflogen, und er lag wieder matt in den Kissen. »Erklär’s ihr, Katherine. Du brauchst nur deine Sachen in den Käfer zu werfen und wegzufahren.«
In dem Moment stellte Tara sich das wirklich vor und erschrak. Es war, als hätte er sie aufgefordert, von den Klippen zu springen.
Fintan drehte seinen Kopf auf dem Kissen, und ein Büschel Haar löste sich von seiner Kopfhaut. Daß er es nicht zu bemerken schien, machte es noch schlimmer.
»Aber was soll aus mir werden, ohne Thomas?« fragte Tara, und ihr war übel wegen des Haarbüschels. »Ich finde nie wieder einen Mann, und ich kann ohne Mann nicht leben. Nicht, daß ich darauf stolz wäre«, fügte sie noch hinzu.
»Ich muß kotzen«, sagte Fintan dringlich. »Katherine, gib mir die Schüssel.« Er würgte, ohne daß etwas kam, dann ließ er sich schwitzend und erschöpft zurücksinken.
Sie schwiegen. Gerade als Tara und Katherine sich überlegten, wie sie sich verabschieden könnten, sprach Fintan weiter. »Woher weißt du, daß du ohne Mann nicht leben kannst, Tara? Seit wir vor zwölf Jahren nach London gekommen sind, warst du nie länger als eine Woche allein. Kaum ist es mit einem vorbei, fängt es mit dem nächsten an. Probier’s doch mal«, drängte er sie schwach, »durchbrich die Angst.«
Wie ein Fisch an der Angelschnur wand sie sich und versuchte zu entkommen. »Nein, Fintan. Ich bin einunddreißig – du kannst einem alten Hund keine neuen Tricks beibringen. Ich habe Torschlußpanik und –«
»Du mit deiner Torschlußpanik.« Fintan lachte bitter. »Wenn einer Torschlußpanik hat, dann ich.«
Tara war sprachlos. Zorn, Schuldgefühle und Angst vermischten sich. Das hier war Erpressung.
»Willst du etwa so wie deine Mutter enden?« fragte Fintan, und Tara zuckte merklich zusammen. »Und dein Leben mit einem unausstehlichen alten Ekel verbringen? Und dich dauernd verrenken, um es ihm recht zu machen, aber ohne Erfolg? Eigentlich bist du jetzt schon so.«
Tara war zornerfüllt. Wenn sie sich über ihren Vater beklagte, dann war das in Ordnung, aber es verletzte sie sehr, wenn ein anderer so über ihre Familie sprach, auch wenn es ein guter Freund wie Fintan war. Außerdem war sie kein bißchen wie ihre Mutter, die zwar ganz lieb war, aber sich eindeutig als Fußabtreter mißbrauchen ließ. Auch wenn Thomas manchmal schwierig war, so war Tara doch nicht der Fußabtreter. Sie war eine moderne, unabhängige Frau, die ihre eigenen Entscheidungen traf und Power hatte. Oder etwa nicht?
»Du darfst mir nichts abschlagen, was ich mir wünsche. Ich habe Krebs.« Dann spielte er seinen letzten Trumpf aus. »Wenn du Thomas nicht verläßt«, sagte er mit einem Zwinkern, »sterbe ich, und das hast du dann davon.«
Tara wollte ihn umbringen. Sie war voller Angst und Trauer. Ihr pochte das Blut in den Ohren, als sie ihn sagen hörte: »Also meinetwegen, ich bin zu einem Kompromiß bereit. Frag Thomas, ob er dich heiratet, und wenn er ja sagt, gebe ich euch meinen Segen. Aber wenn er nein sagt, dann schick ihn in die Wüste. Wie klingt das?«
»Vielleicht«, murmelte Tara und dachte: Auf keinen Fall! Unter gar keinen Umständen. Niemals.
»Gut!« Erschöpft und von Übelkeit geplagt, wie er war, war er dennoch zufrieden. Bis ihm einfiel, daß eine winzig kleine Chance bestand, daß Thomas ja sagen würde. Oh, bitte nicht!
»Jetzt bist du an der Reihe, Katherine«, erklärte Fintan. »Du, mein liebes Fräulein, kommst jetzt mal aus dem Tiefkühlfach.«
Katherine sah ihn mit höflichem Interesse an, als wüßte sie nicht, wovon Fintan sprach.
»Und suchst dir einen Mann«, fügte er hinzu.
Tara war aufgebracht: »Warum kriegt sie die schöne Aufgabe und ich die blöde?«
»Ich glaube nicht, daß Katherine das so sieht.« Katherine zwang sich zu einem Lächeln, das aussah, als sei es auf ihr Gesicht geklebt. »Fällt dir das Muster nicht auf? Mir fällt es schon seit langem auf«, murmelte Fintan. Er hatte die Augen geschlossen, und es klang, als spräche er mit sich selbst. »Einmal im Jahr ungefähr erscheinst du mit einem unglaublich attraktiven Mann am Arm. Ein, zwei Wochen sieht man ihn in deiner Nähe, und dann – zack – ist er weg. Und uns sagst du, daß du nicht drüber sprechen willst. Kannst du nicht einen nehmen, der relativ gut aussieht? Warum muß das Scheitern immer gleich mit einprogrammiert sein? Und sag nicht, daß ich nicht weiß, warum das so ist.« Er sprach so leise, daß sie sich beide vorbeugen mußten, um ihn zu hören. »Du bist genau wie deine Mutter. Eine schlechte Erfahrung mit einem Mann, und du kneifst.« Fintan hatte die Augen immer noch geschlossen und wiederholte: »Du kneifst.« Dann öffnete er die Augen und sah Katherine an.
»Ich bin überhaupt nicht wie meine Mutter.« Katherine schluckte.
»Und ob du so bist. Du kneifst, jedesmal wenn ein Mann auftaucht.«
»Bei meiner Mutter ist ‘ne Schraube locker.«
»Bei dir wird das nicht anders sein, wenn du so weitermachst.«
»Fintan«, sagte Katherine mit beherrschter Stimme. »Es muß nicht unbedingt jeder einen Partner haben, um glücklich zu sein.«
»Oh, Gott. Gib mir die Kotzschüssel, bitte.«
Obwohl sie sich wünschten, weglaufen zu können, sahen sie noch einmal zu, wie Fintan würgte, ohne sich übergeben zu können. »Wenn es nur rauskommen würde, dann ginge es mir schon besser«, murmelte er, als er den Versuch aufgab Katherine und Tara hielten die Blicke gesenkt und wünschten sich, sie könnten in ein anderes Leben entkommen.
»Also, Katherine«, durchbrach Fintan das Schweigen, »ich stimme dir zu, daß manche dazu geschaffen sind, allein zu leben. Aber du gehörst nicht dazu. Tara hat mir erzählt, es gebe da einen Typen in deinem Büro.«
Katherine starrte Tara wütend an und richtete all ihren Zorn, den sie nicht an Fintan auslassen durfte, auf Tara. »Jetzt nicht mehr«, sagte sie mit bitterem Vergnügen.
»Arbeitet er nicht mehr da?«
»Doch, aber er ist nicht mehr an mir interessiert.«
»Warum nicht?«
Katherine antwortete nicht.
»Du mußt es mir sagen«, befahl er. »Ich habe Krebs. Ich sterbe vielleicht!«
Widerwillig erzählte Katherine: »Ich glaube, es hat damit zu tun, daß ich ihn der sexuellen Belästigung beschuldigt habe, als er sich mit mir verabreden wollte.«
»Warum hast du das getan?«
»Ich wollte nicht mit ihm ausgehen.«
»Aber warum nicht? Ist er ein schlechter Mensch?«
»Nein, er ist es so nett, daß man ausrasten könnte.«
»Aha!« Fintan schien ein wenig munterer. »Du wärst also mit ihm ausgegangen, wenn er ein Mistkerl gewesen wäre? Dann hätte er dich nämlich schnell sitzengelassen, und du wärst wieder in Sicherheit gewesen – allein, und mit einer weiteren Bestätigung deiner schlechten Meinung von Männern. Das hast du dir alles gut überlegt, Katherine.«
Sie zuckte die Achseln. Sie haßte die Situation.
»Ist er verheiratet?«
»Soweit ich weiß, nein.«
»Sieht er sehr gut aus?«
»Sehr.«
»So daß es einem den Kopf verdreht? Daß man den Verstand verliert?«
»Nein, einfach sehr gut.«
»Arbeitet er nebenher als Model?«
»Nein.«
»Gut. Er gefällt mir. Magst du ihn?«
Nach einer kleinen Pause nickte Katherine zögernd.
»Wie heißt er?«
»Joe Roth.«
»Deine Aufgabe, Katherine Casey, wenn du sie annimmst – und das solltest du, glaube mir, wenn du Fintan O’Grady lebend wiedersehen willst –, besteht darin, dir diesen Joe Roth zu angeln.«
»Ich glaube, er hat eine andere«, protestierte Katherine.
»Du schreckst doch sonst nicht vor einer Herausforderung zurück!«
Katherine schwieg.
»Versprich mir«, bedrängte Fintan sie mit schwacher Stimme. »Versprich mir, daß du es versuchen wirst.«
»Ich überleg’s mir.«
»Ich weiß, daß ihr mich beide haßt«, sagte Fintan und grinste, »aber wenn ihr sehen könntet, was ich sehe, dann wärt ihr genauso angewidert von der Art und Weise, wie ihr euer Leben verschwendet. Ihr richtet euch mit einem erträglichen Maß an Unglücklichsein ein und glaubt, daß es irgendwann in der Zukunft einmal klick machen wird und dann ist alles vollkommen. Jetzt geht bitte, ich bin ganz erledigt. Und denkt dran: Tara, du fängst am besten gleich an, deine Sachen zu packen, und Katherine, zieh dir am Montag dein bestes Höschen an! Und vor allen Dingen«, fuhr er wie ein Fußballtrainer fort, »fangt endlich mit dem richtigen Leben an, packt das Leben an.«
Die Verabschiedung war etwas kühl. Als sie sein Zimmer verließen, kamen Neville und Geoff herein. »Tut mir leid, Mädels«, ächzte Fintan, »ich bin zu erledigt, um weiteren Besuch zu empfangen.«
Tara und Katherine sprachen weder im Aufzug noch auf dem Weg über den Hof, und als sie Harry, Didier und Will lärmend zum Eingang marschieren sahen, beladen mit Blumen, Zeitschriften und Bier – Blumen und Zeitschriften für Fintan, das Bier für sie selbst –, winkten sie ihnen nur matt zu.
Als sie in Taras Käfer vom Parkplatz fuhren, kam ihnen ein anderes Auto entgegen. Katherine winkte Javier und Butch zu, die drinnen saßen. »Ob wohl Didier versucht, Butch zu verführen?«
»Keine Ahnung.«
Dann fuhren sie schweigend zwanzig Minuten.
Schließlich fing Tara an zu sprechen. »Ist Fintan nicht zum Schreien?« Sie zwang sich zu einem Lachen. »Total übergeschnappt.«
Katherine stockte der Atem. Hatte sie sich umsonst so aufgeregt? »Meinst du, es war ein Witz?«
Tara warf Katherine einen vielsagenden Blick zu. »Na klar, was denn sonst? Wie könnte man das ernst nehmen? Es ist doch zum Schreien komisch.«
Katherine sah Tara unsicher an. Sie war sich überhaupt nicht sicher, daß Fintan sie zum Narren gehalten hatte. Aber es wäre eine solche Erleichterung, wenn das der Fall wäre…
»Zum Schreien«, sagte sie. »Er hat den Verstand verloren.«
Sie lachten schallend und waren fast selbst überzeugt.
»Allein der Gedanke…«
»Als ob…«
»Er hat sie nicht mehr alle.«
»Fintan und seine Wahnsinnsideen.«
»Und wir sind genauso«, sagte Katherine. »Ich habe ihn ernst genommen.«
»Das habe ich gemerkt«, sagte Tara. »Ich habe es gleich durchschaut.«
Dann schüttelten sie sich wieder vor Lachen, weil Fintan sich so etwas Verrücktes ausgedacht hatte.
43
Lorcan lag mit einem Prachtexemplar von Heroin Chic im Bett: einer blaßblonden dreiundzwanzigjährigen Schauspielerin namens Adrienne, die ihren Beruf zur Zeit nicht ausübte und ihre Magersucht entschieden zu weit getrieben hatte. Sie war eine überzeugte Anhängerin der Lehre, daß der Geist über das Fleisch triumphiere – nur so konnte sie mit dem allgegenwärtigen Hunger zurechtkommen. Und so hatte sie sich auch Lorca n geschnappt. Sie hatte ihn verschiedene Male beim Vorsprechen getroffen, und obwohl sie wußte, daß er eine Freundin hatte, verfolgte sie ihn hartnäckig. Immer wieder visualisierte sie, daß sie mit ihm Zusammensein würde – so wie sie visualisierte, daß sie drei volle Mahlzeiten am Tag aß und dazwischen, um elf und vier, Snacks –, und schließlich würde es so eintreffen. Wenn sie ihn nur heftig genug haben wollte, würde er am Ende ihr gehören.
Und es hatte funktioniert! Was sie doch einigermaßen überraschte, denn sie hatte mit der gleichen Methode versucht, eine Rolle zu bekommen, und war immer wieder gescheitert, so daß sie schließlich als Kosmetikerin arbeiten mußte, um überleben zu können.
In postkoitaler Ruhestellung lagen sie zusammen auf Adriennes gebraucht gekauftem Futon, ihre langen Glieder ineinander verschlungen. Beide zusammen hatten nicht eine Pobacke, die den Namen verdient hätte.
Adrienne war von einem Wohlgefühl durchströmt. Da es ihr gelungen war, Lorcan abzuschleppen, konnte sie sich jetzt kaum mehr vorstellen, daß sie je daran gezweifelt hatte. Und sie hatte nicht vor, sich von ihm irgendwas gefallen zu lassen. Der Anfang sollte die Weichen dafür stellen, wie sie weiterzumachen gedachte.
Sie stützte sich auf ihren knochigen Ellbogen, und die abgemagerten Muskeln ihres Oberarms zitterten ein wenig, als sie ihren Kopf, der zu groß für ihren Körper war, in die Hand stützte. »Ich hoffe, das hier ist kein OneNight-Stand«, warnte sie ihn scherzhaft und sah an ihm in seiner berauschenden Nacktheit hinunter.
Lorcan faltete die Hände hinter dem Kopf und zeigte die seidenen Büschel seiner Achselhaare. »Ein OneNight-Stand?« sagte er und klang überrascht. »Soll das ein Witz sein?«
Adrienne sonnte sich in einem Gefühl der Selbstgefälligkeit. Sie war sich ziemlich sicher gewesen, daß sie hier die Sache in der Hand hatte, aber man wußte es nie genau…
»Ich käme nie drauf«, sagte Lorcan, »ich bin entschieden gegen OneNight-Stands.«
Ihr Selbstbewußtsein schwoll an, und gleichzeitig verachtete sie alle Frauen, die sich von Männern wie Dreck behandeln ließen. Das würde ihr nicht passieren. O nein!
»Ich meine«, sagte Lorcan mit einem kalten Lächeln, »eine ganze Nacht? Bist du verrückt? Das ist ja wie verlobt!«
Noch bevor Adrienne ungläubig den Kopf schütteln konnte, sprang Lorcan von ihrem Futon auf.
»Was machst du?« Sie war entsetzt.
»Ich ziehe mich an.«
»Aber warum?« Adrienne richtete sich auf. Sie konnte nicht glauben, daß sie plötzlich eine Niederlage erlitt.
»So kann ich wohl kaum nach Hause gehen«, sagte er und lachte über seinen Witz.
Als er auf dem Boden nach seinen weggeworfenen Unterhosen suchte, sagte Adrienne: »Aber es ist ein Uhr nachts. Du kannst jetzt nicht gehen.«
Sie war zu jung und zu hübsch und hatte noch nicht gelernt, wie man Enttäuschung kaschiert. Hatte nicht genug Übung. Im Lauf der Zeit, mit zunehmender Erfahrung…
»Aber ich muß«, sagte Lorcan und tat unschuldig.
»Warum?«
»Weil«, sagte er heftig, als hätte er noch nie eine so dumme Frage gehört, »weil meine Freundin sich fragen wird, wo ich bin.«
»Aber ihr lebt doch nicht zusammen.«
»Aber ich habe ihr versprochen, noch vorbeizukommen.«
Das Fünkchen Hoffnung, das Adrienne noch hatte, erlosch, als sie sah, wie er sich in aller Eile Jeans und Stiefel anzog, und sie erkennen mußte, daß er sie reingelegt hatte. Etwas in ihr fing an zu weinen. »Du tust mir leid«, sagte sie zu seinem Rücken, als er, schon voll bekleidet, vor dem Spiegel stand.
»Warum?« Er schien ernstlich besorgt. »Wegen meiner Haare?«
Sie machte große Augen und war momentan abgelenkt von ihrer Ansprache darüber, wie unglücklich er sein mußte, wenn er so grausam war.
»Nein«, sagte sie, »nicht wegen deiner Haare. Du tust mir leid, weil du ganz schön Probleme haben mußt, wenn du –« Sie brach ab. Die Neugier hatte sie gepackt. »Was ist denn mit deinen Haaren?«
»Na ja«, sagte Lorcan lachend und schüttelte seine Mähne, »guck doch, wie sie aussehen. Völlig durcheinander.«
Nach den sexuellen Ausschweifungen war seine Haarpracht in der Tat aus der Fasson geraten. Die zwei Löckchen, die ihm von der Stirn abstanden, kamen ihr in ihrem gedemütigten und benommenen Zustand wie zwei Hörner vor. Lorcans Blick fiel auf eine Dose Haarwachs, die auf der Kommode stand. Nicht das, was er normalerweise nehmen würde, und bestimmt kein Markenprodukt – er erinnerte sich vage, daß es in einem Test, den er in Hairdressing Now! studiert hatte, schlecht abgeschnitten hatte –, aber dies war ein Notfall. »Wie findest du das Zeug hier?« fragte er und hielt das magentafarbene Töpfchen in die Höhe. »Soweit ich weiß, hält es gut, macht aber die Haare etwas klebrig.«
»Wie kannst du von Haaren sprechen, wenn ich über unsere Beziehung sprechen will?«
Lorcan lachte auf. »Unsere was?«
Sie sagte nichts. Das war ein Fehler gewesen.
»Du wirst nie glücklich sein«, erklärte Adrienne pompös und sagte das, was andere Frauen vor ihr auch schon gesagt hatten.
Lorcan zuckte die Achseln und verrieb einen münzgroßen Klecks Haarwachs in der Handfläche, ganz nach Anweisung.
»Warum tust du mir das an?« fragte sie.
Gute Frage. Liebevoll rieb er das Wachs in sein Haar. Jetzt ist es gleich besser, meine Hübschen.
»Sprich mit mir«, schrie sie frustriert. »Was willst du vom Leben? Wonach suchst du? Ich meine, was willst du?«
Lorcan sah sie im Spiegel lang und eindringlich an. »Frieden in der Welt.«
Als Lorcan Adriennes Wohnung verließ, fühlte er sich merkwürdig leer. In den drei Wochen seit dem Butterfiasko hatte er keine Arbeit gehabt. Auch die Gelegenheit, als Zweitbesetzung in der Rolle des Hamlet einzuspringen und ein Feuer auf der Bühne zu entfachen, war ihm verwehrt gewesen. Seine Gebete, daß Frasier Tippett sich das Genick brechen oder Meningitis bekommen würde, waren nicht erhört worden. Was war das für ein Gott? zürnte Lorcan. Was für eine kranke Welt hatte er eingerichtet? Gab es denn keine Gerechtigkeit?
Um sein Selbstbewußtsein aufzumöbeln, hielt er sich immer wieder vor Augen, daß Frauen ihn unwiderstehlich fanden, und spielte seine Macht über sie aus. Doch als er sich von Adriennes Wohnung entfernte, spürte er keinen Triumph. Eher eine milde Form des Widerwillens. Gegen Adrienne? Wen sonst? Aber er merkte, daß seine Verachtung für Adrienne eher etwas mit Amy zu tun hatte.
Lorcan durchforschte seine unbequemen Gefühle, und schließlich hatte er es: Adrienne hätte mehr Respekt gegenüber Amy zeigen sollen. Es war nicht sehr rücksichtsvoll gewesen, als sie ihre Hand auf seinen Oberschenkel gelegt und bedeutungsvoll gesagt hatte: »Ich mache hundert Sit-ups am Tag.«
Genau, fand Lorcan scheinheilig, das war Amy gegenüber nicht fair gewesen.