44

Am Samstagabend wurden Liv und Milo offiziell ein Paar. Sie machten ihre Beziehung bekannt, indem sie sagten, sie wollten zusammen in eine Spätvorstellung gehen, woraufhin Timothy begeistert reagierte. »Klasse! Ins Kino! Wir konnten uns einen Western mit Clint Eastwood ansehen.«

Es folgte ein betretenes Schweigen, dann errötete Liv und murmelte: »Es ist so, daß nur Milo und ich gehen wollen.«

JaneAnn war ganz aus dem Häuschen. »Jeder Topf findet mal einen Deckel«, war ihr Kommentar. »Ich wußte, daß er eines Tages doch noch jemanden finden würde. Milo ist ein guter Mann, aber in Knockavoy gibt es keine, die zu ihm paßt. Es heißt, daß Reisen den Horizont erweitert, nicht wahr? Er hat eine gute Frau verdient. Besonders«, sagte sie und mußte die Tränen zurückhalten, »nach der bösen Enttäuschung mit Eleanor Devine. Ich habe ihn gewarnt. Ich habe gesagt, denen kann man nicht trauen, denen aus Quinard. Ich kenne sie, die ganze Sippe, seit Generationen. Die würden einem sogar eine Kuh stehlen und es den armen Landstreichern anhängen. Aber jeder muß seine Fehler machen.« Ihr Gesicht nahm einen träumerischen Ausdruck an. »Liv wird es in Knockavoy gefallen.«

Tara und Katherine wechselten erstaunte Blicke: JaneAnn hatte schon den ehelichen Bund zwischen den beiden geschlossen.

»Es ist ein besonderes Glück, daß sie eine gute Katholikin ist«, sagte JaneAnn. Liv war allerdings auch Buddhistin, Hindu, Sikh, Jüdin und Atheistin, wenn es ihr genehm war, aber keiner klärte JaneAnn darüber auf.

»Meinen Sie nicht, daß es ihr schwerfallen wird, so weit weg von zu Hause zu sein?« fragte Tara aus einem Pflichtgefühl heraus.

»Aber sie ist auch jetzt so weit von zu Hause weg«, sagte JaneAnn, und die Logik war unbestreitbar.

»Und was ist mit ihrer Arbeit?«

»Milo hat mehr als genug zu tun. Da wird sie nie untätig sein müssen.«

»Vielleicht zieht Milo auch nach London«, sagte Katherine.

JaneAnn brach in helles Gelächter aus. Sie lachte und hörte gar nicht wieder auf. »Sei vernünftig, Kind«, sagte sie und trocknete sich die Tränen. »Sei doch mal vernünftig. Er mit seinem schönen Hof. Nach London ziehen, ich bitte dich!«

»Warum tut er mir das an, o weises Wesen?« fragte Tara Liv. »Oh, du meine schwedische Anna Raeburn, sag mir, warum er mein Leben zerstören will? Er ist angeblich mein Freund.« Es war Sonntagnachmittag, und Tara, Katherine und Liv waren aus dem Krankenhaus in einen Pub geflohen.

Das Problem war nämlich, daß Fintan auf seinen unorthodoxen Forderungen bestanden hatte. Und um alles noch viel schlimmer zu machen, hatte er Sandro und seiner eigenen Familie davon erzählt.

JaneAnn hatte Tara und Katherine entsetzt angesehen. »Mädchen«, hatte sie gestammelt, »ihr müßt tun, worum er euch bittet! Wie könntet ihr mit reinem Gewissen weiterleben?«

Tara und Katherine sahen sich in der Runde um, suchten einen Verbündeten, aber sie sahen nur Milo, Timothy, Sandro, Liv und natürlich JaneAnn, und alle sahen sie an, als hätten sie zwei Mörderinnen vor sich.

»Fintan ist sich seiner eigenen Sterblichkeit bewußt«, erklärte Liv und zitierte direkt aus Gut getrauert, ihrem Buch der Woche. »Weil die Zeit knapp wird, erscheint sie plötzlich sehr kostbar. Nicht nur seine Zeit, sondern die von allen anderen auch.«

Alle drei konnten das einen Moment lang verstehen, aber der verging schnell.

»Nur«, sagte Tara hoffnungsvoll, »daß das so nicht stimmt, denn er stirbt nicht. Er bekommt sehr starke Medikamente, und beim HodgkinSyndrom gibt es große Heilungschancen.«

Liv konnte das so nicht stehenlassen. »Die Schwellung an seinem Hals ist nicht zurückgegangen, und die Zwischenuntersuchungen haben bisher keine Reaktion auf die Behandlung gezeigt. Du bist in der Phase des Leugnens, weil du nicht erkennen willst, wie schlimm die Dinge wirklich stehen.«

»In ein, zwei Tagen könnte das alles vorbei sein«, sagte Katherine frohgemut. »Die letzten Tage waren hart für ihn, kein Wunder, daß er ein bißchen komisch im Kopf ist.«

Livs Miene verfinsterte sich. »Er ist überhaupt nicht komisch im Kopf. Ich finde, er hat recht. Du solltest Thomas wirklich verlassen«, sagte sie zu Tara, und Katherine schrie sie an: »Und du – was dir fehlt, dich müßte mal einer ordentlich hernehmen!«

Die anderen Gäste im Pub drehten sich nach ihnen um. Bevor Tara und Katherine aus ihrer Erstarrung erwachten und Liv zurechtstutzen konnten, war die aus dem Pub gestampft.

»Was hat sie nur?« rief Tara aus.

»Woher soll ich das denn wissen?« gab Katherine gereizt zurück.

Sie saßen in grollendem Schweigen. Tara rauchte, und Katherine spielte mit Taras Autoschlüsseln.

»Kannst du damit verdammt noch mal aufhören?« fauchte Tara und schlug Katherines Hand weg. »Du machst mich noch ganz verrückt.«

Katherines Miene versteinerte, aber sie ließ die Schlüssel in Ruhe.

»Wir sollten wieder ins Krankenhaus gehen«, sagte Tara schließlich.

»Jetzt noch nicht.«

»Gut, ich will auch nicht wieder hin. Falls sie alle wieder damit anfangen.«

»Die können mich mal«, schnaubte Katherine.

»Vielleicht solltest du Thomas verlassen, und ich schlafe mit Joe Roth.«

Sie lachten nervös und waren halbwegs wieder versöhnt.

»Oder glaubst du…« Tara brach ab. Sie mußte die richtigen Worte finden. »Glaubst du, daß Fintan uns darum bittet, weil er verbittert ist? Weil er krank ist und wir nicht? Glaubst du, es könnte eine Art Rache sein? Daß unser Leben auch zerstört werden muß?«

Das ging Katherine zu weit. »Ich glaube, daß es einfach eine verrückte Idee von ihm ist«, erwiderte sie heftig. »Das hier ist alles zuviel für ihn, und er ist ein bißchen übergeschnappt.«

»Das möchte ich hoffen«, sagte Tara drohend, »denn wenn er nicht damit aufhört, komme ich ihn nicht mehr besuchen.«

»Wie kannst du so etwas Schreckliches sagen?« fragte Katherine, die genau den gleichen Gedanken hatte.

»Für dich ist es ja leicht«, verteidigte Tara sich. »Du hast doch eine schöne Aufgabe bekommen. Du sollst mit einem attraktiven Mann schlafen, während ich den Mann, den ich liebe, verlassen soll.«

»Es ist nicht so, wie du denkst«, sagte Katherine gereizt. »Ich bin wie gelähmt, wenn ich nur dran denke.«

»Ja, genau!«

»Es stimmt! Du weißt genau, daß ich es nicht könnte.«

»Was nicht könntest? Einen netten Mann anmachen, der sowieso schon scharf auf dich ist? Aber ich soll aus einer zwei Jahre langen Beziehung aussteigen und mit einunddreißig noch mal von vorn anfangen. Das ist lähmend. Und außerdem, warum willst du dich denn nicht an diesen Joe ranmachen?«

Bevor Katherine sagen konnte, daß sie diese Frage nicht beantworten werde, stieß Tara den Rauch ihrer Zigarette unerwartet heftig aus. Plötzlich wußte sie, was sie zu sagen hatte. »Ich will mal ganz offen sein mit dir, Katherine«, hörte sie sich sagen und sah Katherine mit wildem Blick an. »Ich wollte es eigentlich nicht, aber es muß mal ausgesprochen werden. Fintan hat recht, was dich angeht. Du solltest dich wirklich mehr einlassen, auf das Leben und auch auf einen Mann.« Sie konnte sich nicht mehr bremsen. All ihre aufgestauten Gefühle brachen aus ihr heraus, als sie aufgewühlt weitersprach. »Wie du lebst, ist doch lächerlich, mit deinen Unterhosen und deiner Beherrschung und deiner sauberen Wohnung und deiner Liebhaberlosigkeit. Fintan ist kein bißchen übergeschnappt, er hat völlig recht, was dich angeht! Er mag dich, und er will, daß du glücklich bist!«

Katherines Gesicht verfinsterte sich zusehends, während Tara immer heftiger und immer lauter wurde. »Das, was damals in Limerick passiert ist, das kannst du doch nicht ewig als Ausrede benutzen, was immer es war, und ich habe keine Ahnung, und dabei bin ich deine beste Freundin.«

Endlich fand Katherine ihre Stimme wieder. »Bei mir liegt er richtig?« empörte sie sich. »Bei mir? Du bist zu blöd! Ich wollte ja nichts sagen, aber jetzt sag ich es trotzdem. Fintan hat nur dein Bestes im Sinn. Und du weißt ganz genau, daß du Thomas verlassen solltest, deswegen bist du so böse auf Fintan –«

»Das ist überhaupt nicht wahr –«

»Und du redest davon, daß mein Leben daneben ist! Was ist mit deinem?« fragte Katherine, und ihr Gesicht war dunkelrot angelaufen. »Du bleibst lieber bei einem, der so furchtbar ist wie Thomas, statt allein zu leben. Das ist so was von erbärmlich. Und guck dich doch mal an, wie fett du geworden bist!«

Tara zuckte zusammen, und innerlich zuckte auch Katherine zusammen, aber dann sprudelte es weiter aus ihr heraus, und sie konnte sich nicht zurückhalten. »Du ißt zuviel, weil er dich unglücklich macht. Und dann hast du die Stirn zu sagen, Fintan will dein Leben zerstören, wenn ein Blinder sehen kann, daß er dir helfen will, weil er dein Freund ist.«

»Wie kann er mein Freund sein?« Die ganze Wut der vergangenen Wochen machte sich Luft. »Wo er mir sagt, ich soll den Mann, den ich liebe, verlassen?«

»Ich kann mir nichts Besseres vorstellen, als Thomas zu verlassen.« Katherine versprühte Gift und Galle. »Ich sage dir, ich würde sogar dafür bezahlen, um den Ausdruck auf seiner Fresse zu sehen, wirklich wahr.«

»Warum bist du so gemein zu ihm?« zischte Tara mit zusammengebissenen Zähnen.

»Hat er immer noch das kleine braune Portemonnaie?« fragte Katherine voller Verachtung.

»Warum sollte er es nicht mehr haben?«

»Das würde mir schon reichen.«

»Ich gehe.« Tara schnappte sich die Autoschlüssel. »Ich laß mich nicht länger beschimpfen und meinen Freund beleidigen.«

»Wie habe ich dich beschimpft?«

»Du hast mich blöd genannt.« Taras Stimme bebte. »Und hast gesagt, ich bin fett.«

»Du hast angefangen«, rief Katherine ihr nach. »Du hast über meine Unterhosen hergezogen!«

Aber Tara war verschwunden, war auf einer Welle des Hasses aus dem Pub herausgetragen worden, während Katherine zitternd am Tisch sitzen blieb. Was war nur los? In dieser schrecklichen Zeit sollten sie zusammenhalten. Warum gingen sie sich gegenseitig an die Kehle? Waren sie nicht immer beste Freundinnen gewesen?

45

Joe Roth dachte, er hätte Halluzinationen. Als er am Donnerstagmorgen zur Arbeit kam, hatte Katherine, dieselbe, die ihn der sexuellen Belästigung bezichtigt hatte, ihn angelächelt. Sie hatte gelächelt. Ihn angelächelt. Und anscheinend steckte keine Böswilligkeit dahinter. Es diente nicht als Einleitung zu der Mitteilung, daß sie sein Spesenformular verloren habe oder daß sie angewiesen worden sei, seine Abfindung auszurechnen. Nein, sie lächelte, sah ihn aus grauen Augen freundlich an, ließ den Blick einen Bruchteil zu lang auf ihm verweilen und sagte – freundlich! -: »Guten Morgen, Joe.«

Was sollte das bedeuten? Über eine Woche war seit dem Tag vergangen, als sie vor ihm in Tränen ausgebrochen war und gesagt hatte, sie habe schlechte Nachrichten erhalten, aber unmittelbar darauf hatte sie ihr übliches distanziertes, abweisendes Verhalten wieder angenommen. Ihre Freundlichkeit traf ihn völlig unerwartet. Und als sie zu ihrem Schreibtisch ging, bemerkte er, daß an ihrer Kleidung etwas verändert war. Kürzer? Oder enger? Jedenfalls gefiel es ihm. Wenn er es nicht besser wüßte – aber er wußte es besser –, würde er denken, sie flirte mit ihm.

Als Katherine bei ihrem Schreibtisch ankam, zitterte sie. Wenn es jetzt nicht funktionierte? Wenn das einzige, was er an ihr mochte, ihre Unnahbarkeit war? Dann würde sie nur ihre Zeit verschwenden, indem sie freundlich und zugänglich war.

Es ging ihr sehr gegen den Strich, sich so zu verhalten, aber sie hatte keine Wahl. Immer mußte sie alles selbst machen. Sie bebte vor empörter Selbstgerechtigkeit. Man konnte sich auf keinen verlassen! Sie mußte immer die Rechnungen bezahlen, anderen Geld leihen, an die Geburtstage denken, die anderen nach Hause fahren, wenn sie sich die Hucke vollgesoffen hatten. Und jetzt mußte sie Fintans Leben retten. Es hatte gar keinen Zweck, darauf zu warten, daß die verantwortungslose, egoistische, feige Tara Butler auch nur einen Finger krümmen würde, um zu helfen.

Bei dem Gedanken an Tara überkamen Katherine heftige Schuldgefühle: Sie hatte das größte Tabu durchbrochen und Tara gesagt, sie sei fett. Obwohl sie ja nur eine Tatsache ausgesprochen hatte, dachte sie zur eigenen Rechtfertigung. Alles, was sie gesagt hatte, entsprach der Wahrheit. Gott, dachte sie, ich werde noch wie Thomas. Immer frei von der Leber weg. Vier Tage waren vergangen, seit Katherine und Tara ihren schrecklichen Streit hatten, und obwohl sich beide mit Liv wieder versöhnt hatten, waren sie miteinander immer noch zerstritten. Den O’Gradys zuliebe sprachen sie mit kühler Höflichkeit miteinander.

Obwohl Katherine wußte, daß es lächerlich war zu behaupten, die Art, wie sie ihr Leben gestaltete, habe auf die Krebserkrankung eines anderen einen Einfluß, war es so wie mit dem Dreck: Wenn man nur genug davon warf, blieb doch etwas hängen. Die Vorstellung, daß die O’Gradys, Sandro und Liv sie argwöhnisch musterten, verfolgte sie. Mit jedem Tag, der verging, wurde sie paranoider. Sie hatte zunächst das Gefühl, daß die Krankenschwestern sie mißbilligend ansahen, dann die anderen Patienten, die Fremden auf der Straße…

Was das Ganze noch verwirrender machte, war ihre übermächtige Liebe für Fintan. Immer wieder mußte sie daran denken, wie er vor der Krankheit war – strotzend vor Energie, kräftig wie ein junges Tier, mit glatter Haut, dichtem Haar und glänzenden Augen. Und jetzt – das eingesunkene Gesicht, die teilnahmslosen Augen, die paar Büschel Haare, die Schwellung am Hals – die Möglichkeit, daß er vielleicht nie wieder gesund würde! Und in diesen Augenblicken des bodenlosen Entsetzens und der unerträglichen Trauer war sie bereit, alles für ihn zu tun. Alles!

Manchmal, aber seltener, konnte sie sich vorstellen, wie es sein würde, nur noch sechs Monate zu leben zu haben, und dann war sie auch aufrichtig der Meinung, daß man aus jedem Tag das meiste machen mußte. Dann wurde sie von einer prickelnden Lebensfreude mitgerissen, und alles schien so wunderbar einfach und freudvoll. Natürlich würde sie sich alle Mühe mit Joe Roth geben!

Doch der Augenblick verging, und dann landete Katherine mit einem dumpfen Aufprall wieder in der Normalität. Und hatte Unmögliches zu bewältigen, was ihr noch fünf Minuten zuvor wie das Leichteste auf der Welt vorgekommen war.

Dann wandelte sich ihre Stimmung wieder, und sie sah Fintans Aufforderung aus einem noch anderen Blickwinkel. Fintan war ihr Freund. Er wollte das Beste für sie, sie würde ihm also vertrauen können, oder? Oder?

Ein paar Augenblicke konnte sie sich davon überzeugen, dann verpuffte auch dieses Gefühl.

Alle Stimmen in Katherines Kopf wurden lauter und beharrlicher. Alle – manchmal sogar sie selbst – drängten sie in Richtung Joe Roth, und sie wußte, sie würde keine ruhige Minute haben, wenn sie es nicht wenigstens versuchte.

Weil sie von Natur aus zaghaft war, vergingen Tage, in denen sie die Sache hin und her wälzte und ihr ein Versuch völlig absurd, dann regelrecht wünschenswert und wieder komplett hirnrissig erschien, bevor sie eine Entscheidung traf.

Letzten Endes schien es leichter, den Versuch zu wagen, als es sein zu lassen, weil so viele Schuldgefühle, so viel Druck und Angst, so viele Gewissensbisse damit einhergingen. Und es gab noch einen anderen Faktor. Unter all den anderen Gefühlen vergraben lag ein anderes, das sie selbst unter Folter nicht gestanden hätte: Sie wollte Joe Roth. In gewisser Weise, auf beschämende Art, war Fintans Aufforderung eine willkommene Ausrede.

Am Donnerstagmorgen kam es ihr vor, als zöge sie in eine Schlacht. Sie nahm allen Mut zusammen und trug einen kurzen schwarzen Lycra-Schlauchrock zur Arbeit. Ihr kam es vor, als wäre sie nackt, und obwohl sie einen Mantel trug, der alles verhüllte, fiel es ihr schwer, die Wohnung zu verlassen. Sie war überzeugt, daß jeder Mann bei Breen Helmsford sie anstarren und sofort erahnen würde, was sie vorhatte.

Natürlich wußte sie, daß ihre Auffassung von eng und kurz eher von klösterlicher Gediegenheit war, verglichen mit den winzigen Drapierungen, mit denen manche Kolleginnen kaum den Po bedeckten, aber alle diese Dinge sind relativ.

Auf dem Weg ins Büro betete sie, daß Joe nicht da sein möge. Irgendwo zu Dreharbeiten oder krank oder tot. Doch als sie zur Tür hereinkam, war er der erste, den sie sah. Er lehnte entspannt in seinem Stuhl – seine Haut, seine Wangenknochen, seine lange, schlaksige Gestalt. Lähmender Schrecken überfiel sie. Wie konnte sie mit ihm flirten? Sie war viel zu scharf auf ihn. Sofort gab sie alle ihre Pläne auf. Sie würde gar nichts machen und sich wie immer verhalten. Ihn einfach übersehen.

Dann dachte sie an Fintan im Krankenhaus und kam sich vor wie John Malkovich in Gefährliche Liebschaften. Ich habe es nicht unter Kontrolle, sagte sie sich. Ich habe es nicht unter Kontrolle. Sie mußte es tun.

Sie fing damit an, daß sie ihr aufreizendes Röckchen vor allen zeigte. O nein! Einen Moment überlegte sie, ob sie sich im Mantel an die Arbeit setzen sollte, aber widerstrebend mußte sie erkennen, daß das mehr Aufsehen erregen würde. Es kostete sie alle Mühe, den Mantel auszuziehen, erst den einen Ärmel, dann den anderen. Während sie wie wild um sich sah, ob alle Männer sich gegenseitig in die Rippen stießen und dumme Bemerkungen abließen, machte sie sich für den Gang durchs Büro bereit.

Würde bewahren im Angesicht des Feindes, sagte sie sich. Stell dir Padraig Pearse vor dem Erschießungskommando vor, Johanna von Orleans auf dem Scheiterhaufen. Sie warf die Schultern zurück, hob den Kopf, widerstand dem Drang, sich den Rock zurechtzuziehen, und machte sich auf den Weg in seine Richtung.

Stell Blickkontakt her! befahl sie sich im Kommandoton.

Blickkontakt hergestellt.

Lächeln!

Sie lächelte.

Gefühlvoll!

Sie lächelte gefühlvoll.

Nicht aufhören!

Sie lächelte weiter.

Sprich mit ihm! Gib dir Mühe!

Mit einem Gefühl im Mund, als wäre ihre Zunge auf das Zehnfache ihrer normalen Größe geschwollen, sagte sie: »Guten Morgen, Joe.«

Besser ging es nicht? Sehr bedauerlich! Dann mußt du wohl doch noch mit dem Po wackeln.

Sie versuchte einen Hüftschwung, der aber unbeholfen und wenig anmutig ausfiel, als sie sich auf den Weg zu ihrem Schreibtisch machte und endlich mit dem Zirkus aufhören konnte.

Zitternd setzte sie sich auf ihren Stuhl und wartete darauf, die Früchte ihrer Bemühungen ernten zu können. Mit ihrem aufreizenden Verhalten hatte sie ihm eine klare Einladung gegeben. Würde er darauf eingehen und zu ihr kommen, um sich mit ihr zu verabreden? Vielleicht nicht, mußte sie sich eingestehen, wenn ihm bisher nur ihre Unnahbarkeit gefallen hatte.

Und dann war da noch der Angie-Faktor. Katherine hatte immer noch keine festen Beweise, daß Joe und Angie eine Beziehung hatten, aber falls es so war, wäre das schlecht für Katherine. Und für Fintan.

Ihr Vormittag verging voller Unbehagen und besorgter Spekulationen, während sie Joe diskret beobachtete. Sie sah, wie er sich mit seinen langen, feingliedrigen Fingern durch die Haare fuhr, und hätte sie zu gern berührt. Es drängte sie, ihre Arme um seine schlanke Taille zu legen.

Bis zum Mittag war er noch nicht bei ihr gewesen, also rüstete sie sich, lächelte ihn wieder an und sagte: »Schöne Mittagszeit.« Keiner würde sagen könne, Katherine Casey habe ihre Pflicht nicht getan!

Den Nachmittag über wartete sie angespannt darauf, daß er zu ihr herüberkam. Sie beobachtete ihn die ganze Zeit, hatte ein Auge auf seinen Schreibtisch geheftet und sah, wie er sich auf seinem Stuhl zurücklehnte und am Telefon mit dem Gesprächspartner am anderen Ende lachte. Oder wie er mit einem Kollegen sprach und neue Ideen ins Spiel brachte. Oder wie er sich mit dem Kugelschreiber an die Zähne tippte und ganz in sich versunken schien. Es verursachte ein warmes, nervöses, erwartungsvolles Kribbeln in ihrem Bauch.

Aber er war immer noch nicht an ihren Schreibtisch gekommen. Also lächelte sie ihm gegen fünf Uhr wieder zu, als Andeutung, daß sie bereit war, nach der Arbeit mit ihm in den Pub zu gehen. Aber er lächelte nur zurück, vorsichtig, und sagte auch nichts. Katherine fing an, sich zu ärgern, weil sie die ganze Arbeit machen mußte. Er leistete nicht gerade seinen Beitrag, dachte sie eingeschnappt. Oder kam ihr entgegen.

Als der lange, lange Tag endlich zu Ende ging und Katherine ihre Sachen zusammenpackte, versuchte sie mit ihrer entschlossenen Haltung zum Ausdruck zu bringen: Ich geh jetzt. Wirklich, ich gehe. Die letzte Gelegenheit für alle Joe Roths, sich mit einer Katherine Casey auf einen Drink zu verabreden. Aber nichts passierte.

Was konnte sie noch tun? fragte sie sich. Sie konnte ja nicht über ihn herfallen. Oder vor ihm eine Brust entblößen.

Also war’s das jetzt. Sie war enttäuscht, aber auch erleichtert – und nicht völlig überrascht. Sie hatte schon vorher gemerkt, daß Joe Roth stur und hartnäckig sein konnte. Wenn man ihn einmal ordentlich zurückstieß, versuchte er es nicht ein zweites Mal.

Wenigstens hatte sie sich bemüht. Vielleicht, wenn sie ganz ehrlich mit sich war, hatte sie es halbherzig getan. Und natürlich hatte es nicht den gewünschten Erfolg gehabt. Aber jetzt konnte sie zu Fintan gehen und ihm ehrlich sagen, daß sie es versucht hatte.

Und er würde hoffentlich nicht länger seine Genesung aufschieben, wie ein Klient, der seinem Anwalt das Honorar nicht zahlt, wenn der den Fall verliert. Kein Sieg, kein Honorar. Kein Fick, keine Genesung.

46

Als Katherine ins Krankenhaus kam, hingen ausnahmsweise keine Trauben von Besuchern um Fintans Bett, und Sandro und Fintan hatten die seltene Gelegenheit, ganz intim miteinander zu sprechen. Sie hielten sich bei den Händen, wirkten sehr vertraut und redeten leise miteinander. Sandro sagte etwas, worauf Fintan lächelte. Und als Katherine näher kam, konnte sie ihn hören.

»… Süßwasser-Pool, Masseurin im Haus, preisgekrönter Küchenchef, abendliche Unterhaltung, Tagesausflüge in den Urwald, mit Gelegenheit zum Ausritt auf Elefanten.«

»Hallo«, sagte Katherine ganz leise und zog einen Stuhl heran.

»Thailand«, sagte Fintan tonlos. »Der Orchideenhain in Chiang Mai.«

»Hört sich großartig an.«

»Wir machen eine Rundreise durch Thailand«, erklärte Sandro.

»Nächste Station ist Phuket.«

»Ein 5-Sterne-Hotel.«

»Wasserski, unter anderem.«

»Wenn Fintan wieder gesund ist, fahren wir wirklich hin.«

»Nach der Safari in Kenia. Und den zwei Wochen in La Source in Grenada. Zeig Katherine den Prospekt von La Source, Sandro.«

Sandro suchte in dem Stapel von Reiseprospekten den über La Source, und als er ihn fand, äußerte Katherine höflich ihre Begeisterung. Als Sandro hinausging, um etwas zu trinken zu holen, sagte Katherine zu Fintan: »Ich habe gute Neuigkeiten für dich. Ich habe Joe Roth angemacht.«

Vielleicht war »angemacht« nicht ganz das richtige Wort für dreimal lächeln und fünf Worte, aber das brauchte Fintan nicht zu wissen.

»Wunderbar!« Freudig erregt wollte Fintan sich aufsetzen, aber er hatte nicht die Kraft.

»Wie geht es dir?« fragte Katherine besorgt. »Warum bist du so schwach? Du kriegst seit drei Tagen keine Chemotherapie mehr.«

»Mein Immunsystem ist außer Gefecht, die weißen Blutkörperchen sind alle dahingerafft.« Er verdrehte die Augen. »Eine Nebenwirkung. Obwohl inzwischen alles

eine Nebenwirkung ist. Wenn ich von der Leiter fallen und mir ein Bein brechen würde, wäre es eine Nebenwirkung.«

»Das hört wohl gar nicht wieder auf.«

»Ach, laß mal.« Er wandte sich angenehmeren Dingen zu. »Erzähl mir von Joe Roth. Seid ihr verabredet?

Wann? Was macht ihr?«

»Ehm, wir sind nicht verabredet.« Katherine tat es weh, ihn enttäuschen zu müssen. »Er hat mich nicht gefragt.«

»Aber du hast gesagt, du hättest gute Neuigkeiten für mich.«

»Habe ich doch auch.« Katherine zwang sich zu einem Lächeln. »Ich habe getan, worum du mich gebeten hast.

Ich habe mich bemüht, freundlich zu sein und mit ihm zu sprechen. Ich weiß, daß ich kein Ergebnis vorweisen kann, aber das ist wohl kaum meine Schuld.«

Fintan sagte nichts.

»Ich habe getan, worum du mich gebeten hast«, beharrte sie.

»Aber das reicht nicht«, erklärte Fintan ungeduldig.

»Das reicht auf keinen Fall.«

Katherine wurde mulmig zumute, und wieder streifte sie der Gedanke, die Freundschaft mit Fintan aufzugeben. »Hast du dich bei ihm dafür entschuldigt, daß du ihm sexuelle Belästigung vorgeworfen hast?« fragte Fintan. »Also, nein…«

»Wie kannst du dann erwarten, daß sich etwas ergibt, wenn das noch zwischen euch steht?« schimpfte Fintan.

»Du weichst aus, Katherine Casey!«

»Aber was kann ich denn tun?« fragte sie störrisch.

»Gesagt ist gesagt.«

»Entschuldige dich bei ihm!«

»Das kann ich nicht.« Sie sollte demütig und zerknirscht vor ihn treten? Allein bei dem Gedanken überlief sie ein Schauder.

»Du kannst Menschen nicht so behandeln«, sagte Fintan ernst. »Was du getan hast, war falsch.«

»Du warst ja nicht dabei«, erwiderte Katherine unwirsch. »Er war so aufdringlich und wollte mich nicht in Ruhe lassen.«

»War es wirklich eine Belästigung?« fragte Fintan.

»Warst du ihm ausgeliefert? Mußtest du ihm zu Willen sein, um deine Stelle nicht zu gefährden?«

»Nein, aber…«

»Hat er dich berührt? Oder anzüglich gesprochen?«

»Ja!« sagte Katherine mit Überzeugung. Er hatte schließlich gesagt, wie sehr ihm ihr Akzent gefalle und daß sie wunderbar sei.

»Komplimente fallen nicht darunter.« Manchmal war Fintan sehr klarsichtig. »Und er hat dich in Ruhe gelassen, nachdem du es gesagt hast, oder?«

»Ja, aber bis dahin war er sehr aufdringlich«,

insistierte Katherine. »Er hat, er hat – immer mit mir gesprochen.«

»Wenn du dich mal hören könntest – du bist verrückt.«

»Und er hat mich mindestens viermal gefragt, ob ich mit ihm zum Mittagessen gehe.«

»Du machst es nur noch schlimmer für dich. Nicht mehr lange, und du bist so verschroben wie deine Mutter.

Alles ist ganz einfach – du entschuldigst dich bei ihm, dann fragst du ihn, ob er mit dir in den Pub kommt. Und wenn er nein sagt? Ein Nein hat noch keinen umgebracht.

Nun mach schon! Du weißt, daß du es selbst willst.«

Seine Augen blitzten vielsagend.

»Das stimmt überhaupt nicht.«

»Und ob. Ich kenne dich, du bist sehr störrisch. Du hättest ihm auch nicht zugelächelt, wenn du es nicht wirklich gewollt hättest. Ich bin nur der Auslöser.

Obwohl du dich pausenlos über mich beschwerst, erweise ich dir einen großen Dienst mit meiner Krankheit, Katherine Casey.«

Katherine fühlte sich sehr unbehaglich und fragte sich, ob er das ernst meinte.

»Ist es nicht ein Segen für dich und dein Liebesleben?« Fintan lachte.

»Wie kannst du so etwas sagen?« wehrte sich Katherine. »Du liegst völlig falsch. Ich habe gelächelt, damit du mir nicht mehr im Nacken sitzt.«

»Meinetwegen«, sagte Fintan fröhlich. »Wenn du es so sehen willst, dann sage ich dir jetzt, daß ich dir immer noch im Nacken sitze.«

Gab es denn keinen Ausweg? Katherine wollte sich herauswinden.

»Bitte, Katherine«, bedrängte Fintan sie, »du bist meine einzige Hoffnung. Die Chance, daß die weichherzige, duldsame Tara Butler diesen Ekeltypen Thomas verläßt, ist ja gleich null. Wenn man sich auf jemanden verlassen möchte, muß man Katherine Casey fragen, die enttäuscht einen nicht.«

Katherine richtete sich vor Stolz auf – bis ihr bewußt wurde, daß er sie nur tiefer in die Falle gelockt hatte.

»Du hast dich verändert«, seufzte sie. »Du bist sehr manipulativ geworden.«

»Aber du versuchst es?«

Was konnte sie darauf sagen? »Ja, meinetwegen.«

»Jetzt sieh mich mal genau an, Katherine«, sagte Fintan. »Du siehst vor dir einen Mann der Muße!« Bei dem Wort »Muße« hatte man eher ein Bild von lässigem Genuß vor Augen: David-Niven-Schnurrbärte, Zigarettenspitzen, Martinigläser, Motorboote, Cabrios.

Sie betrachtete Fintans ausgemergeltes Gesicht, seine geröteten Augen, sein spärliches Haar, das stündlich lichter wurde. Himmel! »Wie meinst du das?«

»Sie haben mich rausgesetzt!«

»Wer hat dich rausgesetzt?«

»Meine Chefin – was dachtest du denn? Dr. Singh? Dale Winton? Richard und Judy? Rikki Lake? Meine Güte«, sagte er plötzlich erstaunt, »meine Welt ist ganz schön geschrumpft.«

»Aber ich meine…«

»Es war Carmella. Höchstpersönlich. In scharfem Aufzug, kokainbenebelt.«

»Du meinst, sie ist extra ins Krankenhaus gekommen und hat dir, während du hier im Bett liegst, gekündigt? Warum? Kann einem gekündigt werden, weil man krank ist?«

»Sie war besorgt – hör dir das an –, daß ich ein falsches Bild von der Firma vermittle.

Plötzlich dämmerte es Katherine. »Sie glaubt, du hast Aids.«

Fintan nickte.

»Aber das ist doch so was von ungerecht«, protestierte Katherine. »Ich dachte, die Modebranche hätte eine offene Einstellung gegenüber Menschen mit Aids.«

»Vielleicht hat sie mir auch gekündigt, weil ich kein Aids habe«, sagte Fintan pikiert. »Ich weiß es nicht.«

Sein Mund war eine schmale Linie. Dann brach die Starre in seinem Gesicht, seine Unterlippe fing an zu zittern, und seine rot geränderten Augen füllten sich mit Tränen.

»Was wird denn aus mir?« schluchzte er. »Wie geht es weiter? Ich meine nicht nur das Geld.« Katherine war hilflos, sie wußte nicht, was sie sagen sollte. »Ich arbeite

seit acht Jahren für sie«, sagte Fintan erregt. »Ich dachte, wir seien Freunde. Sie hat immer gesagt, sie baue auf mich, und jetzt wirft sie mich einfach weg – nicht mehr

zu gebrauchen. Ich habe mir diese schreckliche Krankheit nie gewünscht, und ich liebe meine Arbeit. Ich bin so allein. Wenn ich Aids hätte, dann wären andere mit mir

in der gleichen Situation, und wir könnten uns über THelfer-Zellen unterhalten und Händchen halten und uns in den Arm nehmen und … und … eine Patchworkdecke machen!«

»Es gibt auch Gruppen für Menschen mit HodgkinSyndrom«, warf Katherine ein. Seit Fintans Diagnose bekannt war, hatte Liv vorgeschlagen, er solle sich anderen mit der gleichen Krankheit anschließen. Sie hatte auch hinzugefügt, daß sie alle in eine entsprechende Gruppe gehen sollten – für Mütter von Krebskranken, Partner von Krebskranken, Geschwister von Krebskranken, Freunde von Krebskranken.

»Katherine, ich weiß, daß ich angeblich stark bin, und keiner mag es, wenn jemand in Selbstmitleid zerfließt, aber ich muß dir etwas gestehen«, sagte Fintan.

»Was denn?«

»Ich habe Angst vor den Schmerzen. Ich habe furchtbare Angst, daß ich unter qualvollen Schmerzen sterben muß und daß sie mir nicht genug Morphium geben.«

»Dazu wird es nicht kommen«, sagte Katherine ohne rechte Überzeugung. »Ah, da ist Sandro.«

Sandro warf einen Blick auf Fintan, stellte die Getränke hin, nahm einen Reiseprospekt und fing an zu lesen: »Sans Souci Lido, Jamaika. Luxushotel, alles inklusive, Privatstrand, Wassersportmöglichkeiten, Reflexzonenbehandlung, Aromatherapie, Restaurants mit karibischer und europäischer Cuisine…«

47

Thomas, willst du mich heiraten?« Thomas sah Tara mit glänzenden Augen an. »Tara«, sagte er mit gefühlvoller Stimme, »ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.«

»Sag einfach ja«, erwiderte sie.

»Dann sage ich – ja! Ich wäre hoch erfreut. Geehrt.« Ein Gefühl der Erleichterung durchströmte Tara. Beryl kam und gratulierte ihr mit einem breiten Lächeln, und Tara stellte ihren Futternapf in die Geschirrspülmaschine. Aber Moment mal – sie hatten gar keine Geschirrspülmaschine. Und Beryl lächelte sie nie an, Beryl haßte sie. Da rief Thomas: »Wie bitte? Ich soll dich heiraten? Ich dachte, du hättest mich gefragt, ob ich dein ganzes Geld haben will. So ein Fehler kann jedem mal passieren.« Und im nächsten Moment wachte Tara mit klopfendem Herzen auf.

Tara hatte in letzter Zeit häufiger Alpträume gehabt, oft dann, wenn sie noch wach war. Und immer handelten sie davon, daß sie Thomas einen Heiratsantrag machte.

Sie gab Fintan die Schuld. Und Katherine Casey, die einen Felsklumpen da hatte, wo bei anderen das Herz saß. Aber am meisten machte sie ihre Kollegen verantwortlich. In erster Linie Ravi. Mittwochmittag hatte er in dem nahezu leeren Büro zu ihr rübergerufen: »Guck nicht so traurig! Möchtest du den Deckel von meiner Mousse au chocolat ablecken?«

»Danke.« Zögernd nahm Tara den runden Aluminiumdeckel entgegen und leckte ihn halbherzig ab, während Ravi den Kopf zurücklegte und den Inhalt des Bechers in seinen Mund kippte, wobei er manchmal mit dem Finger nachhelfen mußte.

Dann riß er die Verpackung von einem Schinkensandwich auf. »Möchtest du an dem Papier riechen?« bot er ihr freundlich an.

Schweigend nahm sie das Angebot an.

Nachdem er das Sandwich mit wenigen Bissen vertilgt hatte, zog er ein Crunchie aus der Tasche und rief: »Crunchies! Gesund und voller Nährstoffe.«

Neidisch sah Tara zu, wie er es im Nu verschlungen hatte.

»Wie geht’s Fintan?« fragte er, den Mund voll mit Honigmasse und Milchschokolade.

Tara dachte nach. Gute Frage. Wie ging es Fintan denn? Die Schwellung an seinem Hals war nicht im geringsten zurückgegangen. Auch nicht die Knoten auf seiner Bauchspeicheldrüse, die jeder fühlen konnte – nicht, daß man es unbedingt wollte –, indem man auf die linke Seite drückte. Sollte sie erwähnen, wie unglücklich er war, als er herausfand, daß die Chemotherapie ihn unfruchtbar machen würde? Und daß der Onkologe gemeint hatte, es sei ja nicht so schlimm, weil Fintan schwul war?

»Er kommt am Samstag raus«, sagte Tara. Das klang wenigstens positiv.

»Es geht ihm also besser. Zum Glück!«

»Es geht ihm nicht besser!« widersprach Vinnie und sah mit strengem Blick von seiner Arbeit auf. »Es ist nicht so, als hätte er sich den Arm gebrochen oder den Fuß verstaucht. Der Mann hat Krebs, das ist man nicht nach ein paar Wochen im Krankenhaus los. Das dauert Monate!« Er rieb sich nervös die kahler werdende Kopfhaut und wandte sich wieder seinem Bildschirm zu.

Tara und Ravi steckten die Köpfe enger zusammen und setzten die Unterhaltung leiser fort.

»Der Druck auf Vinnie steigt«, sagte Ravi. »Sein Schwanz liegt endgültig auf dem Schafott, und er ist in Panik.«

»Mach dir nichts draus«, sagte Tara leise. »Und es besteht immerhin eine Chance, daß es Besserung für Fintan gibt. Wir wissen es einfach noch nicht. Manchmal muß man sich der Behandlung neun Monate unterziehen, bevor man weiß, ob sie angeschlagen hat.«

»Warum lassen sie ihn dann aus dem Krankenhaus?«

»Weil er nicht unbedingt da sein muß. Danach kriegt er die Chemotherapie zweimal im Monat ambulant.«

»Zweimal im Monat?« sagte Ravi skeptisch. »Das ist doch nicht genug. Die sollen die Dosis erhöhen. Verdoppeln. Damit es wirkt.«

Tara hatte einen riesigen Knoten im Magen. Wenn es doch so einfach wäre! Man konnte die Dosis nicht endlos erhöhen, wenn man den Patienten nicht damit umbringen wollte.

»Bleiben seine Mutter und seine Brüder die ganzen neun Monate da?«

»Nein, sie fliegen am Sonntag zurück. Beziehungsweise JaneAnn und Timothy fliegen.

Ravi packte Tara vor Aufregung bei den Schultern. »Heißt das…l Heißt das, Milo bleibt hier?«

»Nicht nur bleibt er hier«, sagte Tara bedeutungsvoll, »sondern er bleibt auch – bei wem wohl?«

Ravi verschlug es fast die Sprache. »Bei Liv?« quiekte er. »Das ist ja scharf.«

»Nur für ein paar Wochen«, schränkte Tara ein.

»Und was ist mit Lars? Hat sie es ihm gesteckt?«

»Hat sie. Gestern abend.«

»Oh. Das hätte ich gern gehört.«

»Das wäre gegangen. Sie hat das Telefon auf Lautsprecher gestellt, als sie mit ihm redete.«

Ravi war fast sprachlos vor Enttäuschung. »Warum hast du mir das nicht gesagt? Ich wäre zu gern dabeigewesen.«

»Tut mir leid, tut mir wirklich leid. Aber in letzter Zeit war alles etwas viel. Ist dir vielleicht schon aufgefallen. Außerdem war es längst nicht so lustig, wie man denken könnte. Sie haben nämlich beide schwedisch gesprochen.«

»Mist.«

»Tut mir leid, Ravi, wirklich.«

»Hat er geweint?«

Tara zögerte einen Moment, nickte aber dann.

»Ach, Mist. Hat er gesagt, er würde seine Frau verlassen, und hat sie darauf gesagt, es sei zu spät?«

Taras Blick wich Ravis anklagenden Augen aus. »Ich kann kein Schwedisch, aber ich glaube schon«, meinte sie.

»Hat er gesagt, er würde alles tun, und hat sie darauf geantwortet, es gebe nichts mehr, was er tun könnte?«

Tara ließ beschämt den Kopf hängen.

»Und ich kann mir nicht einmal die Zusammenfassung am Sonntag im Fernsehen ansehen«, beklagte Ravi sich.

Sie saßen schweigend da.

»Hast du dich mit Katherine zerstritten?« fragte Ravi plötzlich.

»Wie kommst du darauf?«

»Weil die durchschnittliche Anzahl deiner Telefonate pro Tag seit letztem Freitag um siebzehn Komma vier Prozent zurückgegangen sind. Teddy hat das mit einem Spezialprogramm ausgerechnet. Was ist passiert?«

»Nichts.«

»Komm, erzähl es mir! Ich verstehe es sowieso nicht.«

Die Erleichterung, jemanden zu haben, der so unkompliziert war wie Ravi! Plötzlich war ihr Bedürfnis, jemandem das Herz auszuschütten, überwältigend. Tara machte den Mund auf, und alles strömte hervor, wie Wasser bei einem geborstenen Damm. Mit unterdrückter Stimme, aber in einem Ton, der sagen wollte: Und du glaubst nicht, was dann passiert ist! erzählte sie Ravi von Fintans unglaublicher Drohung, daß er sterben würde, nur um sie zu demütigen, wenn sie Thomas nicht verließe oder ihn bitten würde, sie zu heiraten. Sie erzählte von dem schrecklichen Streit mit Katherine – erwähnte aber nicht, daß Katherine sie fett genannt hatte. Sie berichtete von den O’Gradys, die sie ansahen, als hätte sie Fintan mit einem Schlachtermesser angegriffen, und von ihrem eigenen nicht kleinzukriegenden Aberglauben. »Ich glaube ihm, wenn er sagt, er wird sterben und mich verfolgen, wenn ich nicht das tue, was er verlangt«, gestand sie. Zum Abschluß sagte sie fröhlich: »Fintan ist total übergeschnappt, findest du nicht?«

Ravi sagte gar nichts. Ein Gedanke nach dem anderen huschte über sein Gesicht, so wie ziehende Wolken eine Landschaft abwechselnd in Licht und Schatten tauchen.

»Du brauchst nur zu nicken, Ravi«, sagte Tara ängstlich.

Ravis glattes, jungenhaftes Gesicht drückte Verunsicherung aus. »Aber Fintan ist dein bester Freund«, fing er schließlich an. »Er würde dir doch keinen Kummer machen wollen. Du kennst ihn doch, seit du vierzehn bist, stimmt’s?«

Tara nickte zögernd.

»Und jetzt bist du – was? – achtundzwanzig?«

»Einunddreißig, du Riesentrottel.«

»Wirklich? So alt?«

»Ja, so alt.«

»Na gut. Und wenn man jemanden so lange kennt, ist er nicht gegen einen«, sagte Ravi mit einem gewinnenden Lächeln. Das schien ihm sehr einleuchtend. Warum sah sie also immer noch so bekümmert aus?

»Ravi, ich glaube, du hast nicht richtig zugehört«, sagte sie. »Er will, daß ich Thomas verlasse. Er ist krank, er weiß nicht, was er sagt.«

»Ich bin mir da nicht so sicher«, meinte Ravi nachdenklich. »Ich hab da mal einen Dokumentarfilm gesehen über einen Mann, der mit seinem Schiff in einen Sturm gerät. Wochenlang treibt er auf dem Schiff umher, kriegt Frostbeulen an den Ohren, muß das Holz von seinem Schiff essen, wäre fast draufgegangen. Dann wird er von einem Fischerboot gerettet und krempelt danach sein Leben um. Er ist zu allen freundlich, verkauft sein Geschäft und lebt sein Leben in vollen Zügen. Und sagt, das solle jeder tun. Bei Fintan klingt das so ähnlich. Ein anderer, in einem Flugzeug, das gekidnappt wurde –«

»Nein, Ravi, bitte!« Tara war zutiefst enttäuscht. »Ich habe immer darauf vertraut, daß du wie ein Kind bist. Emotional unterentwickelt. Ich will nicht, daß du plötzlich Erkenntnisse hast. Du warst mein einziger dunkler Fleck in einer entsetzlich hellen und furchterregenden Welt.«

»Tut mir leid!«

»Du solltest mir sagen, daß Fintan übergeschnappt ist und ich ihn gar nicht beachten soll.«

»Wie du willst. Tara – Fintan ist übergeschnappt. Am besten, du beachtest ihn gar nicht.«

»Zu spät.«

»Ich weiß«, sagte Ravi. Er hatte eine Eingebung. »Du kannst Fintan belügen. Sag ihm, du hast Thomas verlassen, obwohl es nicht stimmt.«

»Daran habe ich schon gedacht. Aber er auch. Er hat gesagt, er wüßte, wenn ich lüge. Und er würde bei Thomas anrufen, wie die Fernsehgebührenleute. Er würde mich sogar überwachen lassen.«

»So ein Mist.« Ravi saugte geräuschvoll die Luft ein. »Ich hab’s! Du könntest Thomas verlassen und das Fintan erzählen, dann wartest du, bis Fintan wieder gesund ist, und gehst zu Thomas zurück.«

»Und wenn Thomas nicht auf mich warten würde?«

»Dann war es nicht die große Liebe«, sagte Ravi fröhlich. Das war doch sonnenklar. Sogar er konnte das sehen!

Tara hatte ein dumpfes, ahnungsvolles Gefühl in der Magengrube. Ravi sagte nicht das, was sie sich von ihm erhoffte. Gab es denn niemanden, der ihr zustimmte?

»Wenn das hier ein Film wäre«, sagte sie, »würde ich Thomas sofort verlassen. Es läge auf der Hand. Aber so einfach ist das nicht. Fintan ist mein bester Freund, ich will unbedingt, daß es ihm wieder bessergeht, und wenn nicht … Aber ich liebe Thomas eben auch.«

»Vielleicht brauchst du ihn ja nicht zu verlassen.« Ravi versuchte es mit einem neuen Vorschlag.

»Du hast recht«, sagte Tara aggressiv. »Ich brauche das nicht zu tun.«

»Ich meine, es gibt noch eine andere Lösung. Warum fragst du ihn nicht, ob er dich heiraten würde, so wie Fintan gesagt hat? Wenn Thomas ja sagt, bist du aus dem Schneider.«

Tara zuckte die Schultern.

»Frag doch Thomas einfach, was seine Absichten sind.«

Genau das wollte sie nicht tun. Sie hatte den Verdacht, daß sie wußte, was seine Absichten waren. Sie hatte das Gefühl, daß er keinerlei Absichten hatte. Seit dem Abend nach ihrem Geburtstag zweifelte sie kaum noch daran. Doch solange sie es nicht genau wußte, konnte sie die Augen davor verschließen.

Dennoch sagte ihr Gefühl ihr, daß die Krise unaufhaltsam nahte und daß sie an der Beziehung festhielt wie jemand, der sich mit den Fingerspitzen an eine Felswand klammerte. Es wäre so leicht, loszulassen, zu fallen. Vor Verzweiflung legte sie die Hände vors Gesicht. »Ich kann ihn nicht verlassen, Ravi«, flüsterte sie. »Die Beziehung muß halten.«

»Warum denn?« Ravi geriet in Panik. Frauen weinen zu sehen, machte ihn hilflos. Sie bemühte sich, die Tränen zu trocknen. »Vielleicht ist es nicht so schlimm, wenn sie nicht hält?« versuchte er sie zu trösten. »Er macht dich doch dauernd unglücklich, Tara.«

Als Tara die Hände von ihrem vor Entsetzen erstarrten Gesicht nahm, wußte Ravi plötzlich, was er sagen mußte. »Denk doch mal daran, wie glücklich du mit Alasdair warst.«

Alasdair! Alasdair. Ravi war stolz auf sich und seine rettende Idee, und Taras Erinnerungen an vergangene Zeiten wurden wach. Sie und Alasdair. Herr im Himmel!

»Alasdair war ein richtig netter Bursche«, sagte Ravi.

»Und dann hat er mich sitzengelassen und diese Schnepfe geheiratet.« Tara hatte die Zähne fest zusammengebissen.

»Er hat dir immer gesagt, wie toll er dich findet. Er hat mir gesagt, daß er dich toll findet. Ich mußte ihn meiden, wenn er zu unseren Büropartys kam, weil er immer von dir sprach.«

»Und dann hat er mich sitzengelassen und diese Schnepfe geheiratet«, wiederholte Tara tonlos.

»Wenigstens ist er zu unseren Büropartys gekommen. Im Gegensatz zu anderen.«

»Und dann hat er mich sitzengelassen und diese Schnepfe geheiratet.«

»Als du mit Alasdair zusammen warst, hast du nie Diät gehalten und so etwas.«

»Doch, habe ich wohl.«

»Nein, das hast du nicht. Du hast immer gegessen. Weißt du das nicht mehr? Jeden Montagmorgen hast du versucht, mich unglücklich zu machen, und mir erzählt, in welchem schicken Restaurant ihr am Sonntag zum Lunch wart.«

»Und dann hat er mich sitzengelassen und diese Schnepfe geheiratet.« Tara ließ nicht locker.

Aber sie war in Gedanken wieder in der Vergangenheit. In einer glänzenden, goldenen Vergangenheit. Ihre Zeit mit Alasdair schien ihr wie eine Wiese in weiter Ferne, die in Sonnenlicht gebadet dalag, während jetzt eine bleierne Wolke über ihr lag. Es stimmte, er hatte sie sitzengelassen und eine Schnepfe geheiratet, aber hatten sie nicht eine wunderbare Zeit zusammen gehabt? Verglichen mit dem Minenfeld, das das Zusammenleben mit Thomas war. Alasdair hätte ihr alles gegeben, was sie wollte, alles. Bevor er sie sitzengelassen und eine Schnepfe geheiratet hatte. Aber das war damals, und jetzt war sie hier. Ein Spatz in der Hand ist besser als zwei, die einen sitzenlassen und eine Schnepfe heiraten. Alasdair war längst in der Versenkung verschwunden, aber Thomas gab es noch.

»Ravi, wenn es deine Absicht war, mir zu helfen, so muß ich dir leider sagen, daß sie fehlgeschlagen ist.«

»Ich bin nur ein Kind«, sagte er zerknirscht. »Es konnte ja nicht funktionieren.«

»Es liegt doch auf der Hand, was du tun solltest«, war plötzlich eine erregte Stimme zu hören.

Tara und Ravi sahen überrascht auf. Vinnie war aufgesprungen, hatte die Ärmel seines ungebügelten Jacketts hochgeschoben und ging auf und ab. »Ich sehe das so«, sagte Vinnie und ließ einen Kugelschreiber auf der Handfläche hüpfen, wie bei einem Brainstorming. »Als erstes mußt du Thomas fragen, ob er dich heiraten will.«

»Ist denn nichts heilig? Wir haben ein Privatgespräch geführt.«

»Die von MenChel bezahlen hundert Pfund die Stunde für mein Expertenwissen«, erwiderte Vinnie, »du kannst froh sein, daß du es umsonst kriegst. Wo waren wir stehengeblieben? Laß uns logisch vorgehen.«

Eilenden Schrittes ging er zu der Bürotafel und fing an, mit quietschenden Markern ein Diagramm aufzumalen. »Das ist der Ausgangspunkt.« Er zeigte auf ein wacklig gemaltes rotes Oval und malte einen Pfeil, der aus ihm herauskam. »Solange Thomas dich nicht abgewiesen hat – und vielleicht tut er es auch nicht –, gibt es kein Problem. Also mußt du ihm einen Antrag machen.«

»Warum? Werde ich entlassen, wenn ich es nicht tue?«

Vinnie sah sie verdutzt an.

»Na ja«, sagte Tara. »Mein Freund hat mir mit Sterben gedroht, wenn ich es nicht tue. Es würde mich also nicht überraschen, wenn du mir mit Entlassung drohst.«

»Es tut mir leid.« Plötzlich merkte Vinnie, daß sein Verhalten nicht richtig war. »Ich habe mich hinreißen lassen. Ich hätte euer Gespräch nicht belauschen dürfen. Aber es ist so interessant … eine richtige Herausforderung … Ihr müßt verstehen, ich habe in letzter Zeit nicht viel schlafen können – mein kleiner Sohn bekommt gerade Zähne…«

»Er hat recht«, murmelte Ravi, als Vinnie, sich heftig am Kopf kratzend, wieder zu seinem Schreibtisch gegangen war. »Ich sage es nicht gern, aber er hat einfach recht. Frag Thomas, ob er dich heiratet. Du weißt genau, daß es der richtige Weg ist!«

»Aber…« Wie konnte sie erklären, daß sie schreckliche Angst davor hatte, daß das ganze Kartenhaus in sich zusammenbrechen würde, wenn sie daran rührte.

»Zeit, wieder an die Arbeit zu gehen«, sagte Ravi mit einem Blick auf die Uhr. »Aber erst muß ich mir die Hände waschen.«

Als Ravi aus dem Raum war, nahm Tara den Hörer auf und wählte eine Nummer. »Hallo«, sagte sie, »ich habe eine Bitte. Meine Brieftasche mit meiner Visa Card ist mir gestohlen worden. Könnten Sie mir bitte eine neue ausstellen?«

48

In dem Wirrwarr der Gefühle, die in Katherine tobten, gab es eins, das ihr sagte, sie habe nichts mehr zu verlieren. Die schrecklichen Ereignisse der vergangenen Wochen hatten sie aus der Bahn geworfen, und die Orientierungspunkte in ihrem Leben waren verschwunden.

Liv, Sandro und die O’Gradys waren sauer auf sie, Tara sprach nicht mehr mit ihr. Sie sprach nicht mit Tara. Und irgendwie hatte sie Fintan schon Lebwohl gesagt. Jetzt hatte sie keinen mehr. Was könnte es jetzt noch schaden, wenn sie sich bei Joe Roth entschuldigte? Selbst wenn er ein Scheusal war, so war einer mehr oder weniger auch schon egal.

Ein seltsamer Wagemut überkam sie. Die Abenteuerlust, die sie immer geleugnet und unterdrückt hatte. Letzten Endes war sie doch die Tochter ihrer Mutter, und das würde sich eines Tages zeigen.

Das hinderte sie aber nicht daran, ein schrecklich flaues Gefühl im Magen zu haben, als sie am Freitagmorgen zur Arbeit ging. Und sie dachte, am Vortag sei sie nervös gewesen! Mit ihrem nicht gerade überschwenglichen Lächeln und einer Handvoll Wörter war das kaum mehr als eine wenig überzeugende Generalprobe gewesen. Jetzt ging es ums Ganze. Heute würde scharf geschossen. Es könnte Verletzte geben.

Vor Angst wurde ihr schwindelig.

Joe trug einen gutsitzenden Anzug von der Farbe dunkler Auberginen und ein blendendweißes Hemd. Er sah umwerfend aus.

Katherine war sehr aufgeregt, aber sie wollte die Sache möglichst schnell hinter sich bringen. Warten war noch schlimmer als Handeln. Von dem Moment an, als sie – endlich – ihren Mantel ausgezogen hatte, versuchte sie, mit Joe allein zu reden, damit nicht die halbe Belegschaft mithören würde, was sie zu sagen hatte. Das erwies sich jedoch als unmöglich. Joe war ein beschäftigter und beliebter Mann, der viele Besprechungen hatte, dauernd telefonierte und mit vielen Kollegen plauderte, die an seinem Schreibtisch haltmachten. Jedesmal, wenn er frei zu sein schien, hievte Katherine sich mit großer Anstrengung von ihrem Stuhl – da klingelte schon wieder sein Telefon, oder ein anderer Kollege trat an seinen Schreibtisch, und alle ihre Bemühungen waren umsonst gewesen. Sie arbeitete den ganzen Morgen nicht, ihre Frustration erreichte ein Stadium, wo sie am liebsten geschrien hätte, und ihre Adrenalinproduktion war außer Rand und Band.

Mittags verließ er das Büro für ein Treffen mit Kunden, so daß sie zwei nervenraubende Stunden damit zubrachte, ihre Entschlossenheit nicht zu verlieren. Und als er um drei wieder zurückkam, wurde er den Nachmittag über ebenfalls von Anrufern und Kollegen in Beschlag genommen.

Sie fühlte sich den Tränen nah. Sie war drauf und dran, den Versuch, Fintans Forderung zu erfüllen, fallenzulassen. Das ganze freigesetzte Adrenalin arbeitete gegen sie und machte sie mutlos und niedergeschlagen.

Aber als sie um zwanzig vor vier von der Damentoilette kam, stand er in dem kleinen Glaskabuff, wo die Bindemaschine stand, und er war allein! Jetzt war der Zeitpunkt. Jetzt! Atemlos eilte sie den Korridor entlang, der ihr so lang wie die Serengeti breit schien, und hoffte, daß sie niemandem begegnete. All ihre Energie setzte sie dafür ein, daß keiner sich ihm näherte. Noch ging alles glatt. Er war allein. Oh, nein! Hinter sich hörte sie jemanden. Eine Frau, den Schuhen nach zu urteilen. Auch mit eiligen Schritten. Als Katherine das Glaskabuff erreichte, sah sie sich um. Es war Angie, natürlich, mit einem Stapel Papier im Arm.

Joe sah Katherine unbeteiligt an. »Bin gerade fertig.« Er zeigte auf die Maschine. »Sie können dran.«

Erschreckt stellte Katherine fest, daß sie keine Papiere in der Hand hielt, die sie hätte binden können. Und in dem Glaskabuff könne man nichts tun außer binden.

Die beiden sahen auf ihre leeren Händen. Ihre Augen schienen sich daran festzusaugen, und Katherine hatte das Gefühl, daß ihre Hände immer größer wurden, so groß wie Teller.

»Oh, jetzt habe ich…«, sagte Katherine kleinlaut, »… ich habe meinen Bericht vergessen.«

Angie nickte und sah Katherine argwöhnisch an. »Klar.«

»Mach du nur deins«, sagte Katherine zu Angie und ging zur Tür.

»Ist in Ordnung«, sagte Angie. »Joe, kannst du mir zeigen, wie dieses Ding funktioniert?«

Als Joe wieder an seinen Schreibtisch kam, war er überraschenderweise ganz ungestört. Aber Katherine nahm die Gelegenheit nicht wahr. Wozu? fragte sie sich. Wenn ich erst all meinen Mut zusammengenommen habe, kommt doch wieder jemand vorbei, und es war umsonst.

Aber als sie ein paar Minuten später wieder zu ihm rüberblickte, war er immer noch allein und beschäftigte sich mit einigen Papieren.

Und bevor sie sich aufhalten konnte, war sie aufgestanden und eilte – es kam ihr vor wie ein Alptraum – in ihrem winzigen Röckchen durch das Büro. Schon stand sie vor seinem Schreibtisch. Zitternd und zagend sah sie ihn an und hörte sich sagen: »Kann ich einen Moment mit Ihnen sprechen?«

Mit einer anmutigen Handbewegung deutete Joe auf einen Stuhl. Sein Gesicht drückte Neugier aus. Fast schon Mißtrauen. Sie setzte sich benommen und stützte die Ellbogen auf den Tisch. Dann wurde ihr klar, daß der Augenblick gekommen war. Oh, Jesus, Maria!

»Vielleicht erinnern Sie sich«, fing sie stockend an, »vor einiger Zeit, ehm…«

Er sah unfreundlich aus. Kein hilfreiches Lächeln oder ermunterndes Nicken, keine Wärme in seinen Augen.

Sie fing noch einmal von vorn an. »Vor ein paar Wochen«, sagte sie, »kamen Sie an meinen Schreibtisch und sagten etwas. Und vielleicht haben Sie gedacht, daß ich Sie –« Sie brach ab. Sie fing an, sich über sich selbst zu ärgern. »Ich habe Sie der sexuellen Belästigung bezichtigt«, erklärte sie ohne weitere Umschweife.

»Weniger eine Bezichtigung als eine Andeutung.« Joe senkte den Blick. »Aber ich erinnere mich, ja.«

Er lachte nicht, machte keinen Witz, und ihr wurde klar, daß sie darauf gehofft hatte. Seine Miene war finster und ernst, und plötzlich sah sie das Ganze aus seiner Sicht. Es hätte ihn seinen Job kosten können.

»Ich möchte mich entschuldigen«, sagte sie und war zum ersten Mal wirklich beschämt über ihr Verhalten. »Es tut mir leid. Es stimmte nicht, und ich hätte das nicht sagen dürfen.«

Sein Gesicht war ausdruckslos. »Ich akzeptiere Ihre Entschuldigung. Und«, fügte er hinzu, die braunen Augen kühl auf sie gerichtet, »ich muß mich bei Ihnen entschuldigen. Ich hätte Sie nicht bedrängen sollen.«

Das war keinesfalls, was sie hören wollte! »Nein, nein!« rief sie. Als sie seine fragende Miene sah, hätte sie beinahe die Nerven verloren. Ihre Stimme war nur ein Piepsen, als sie sagte: »Wenn das Angebot auf einen Drink noch steht, dann würde ich es gerne annehmen!«

Sie wand sich vor Unbehagen. Ich hasse dich, Fintan O’Grady.

Joe sah sie an und musterte ihr rot angelaufenes Gesicht. Sie erwiderte den Blick und versuchte zu erraten, was in ihm vorging. Sie verabscheute ihre Verletzbarkeit. Sie konnte es nicht ertragen, jemandem ausgeliefert zu sein. Schon gar nicht einem Mann. Und dann noch einem Mann, auf den sie scharf war.

Endlich brach er das Schweigen und sagte: »Ich überlege es mir.«

Sie dachte, sie mußte jemanden umbringen. Sie nickte, hochrot im Gesicht zwang sie sich zu einem Lächeln und stand mit zitternden Knien auf. Blind vor Zorn und Angst stolperte sie zu ihrem Platz zurück.

Sie mußte raus. Sie ging eine Runde um den Hanover Square und dann die Oxford Street entlang. Und immer wieder sagte sie zu sich mit affektierter Stimme: »Ich überlege es mir. Ich überlege es mir.«

Ihr Zorn breitete sich aus wie ein Virus, und sie schwor sich, daß Fintan O’Grady dafür büßen würde.

Sie ging ins Büro zurück, nahm ihre Steptanzsachen, die sie seit dem Ausbruch von Fintans Krankheit nicht gebraucht hatte, und machte sich auf den Weg ins FitneßStudio. Normalerweise ging sie nicht in den Fitneßraum, aber sie hatte das Gefühl, einen Sandsack durchprügeln zu müssen, da es gesetzlich nicht gestattet war, Joe Roth zu verprügeln. Oder Fintan O’Grady.

Der Trainer versuchte ihr zu erklären, daß sie nicht die richtigen Schuhe trug, aber irgendwie setzte ihre Wut sich durch. Und als sie anfing, auf den Sandsack einzuschlagen, vollführten ihre Arme einen einzigen Trommelwirbel. Das Gesicht knallrot vor Wut, in knappen Shorts und lackledernen Tanzschuhen mit einer Schleife auf dem Rist, reagierte sie ihren Zorn ab: auf Joe und Fintan und Tara und weiß der Himmel, wen noch alles.

Andere Besucher, hauptsächlich Männer, blieben stehen. So eine zierliche Frau und so viel Kraft! »Sie könnte für England antreten«, sagte ein riesiger, muskelbepackter Kerl bewundernd. Katherine hielt einen Moment inne. Normalerweise würde ein Blick der Stufe drei (Verachtung vermischt mit Feindseligkeit) oder Stufe vier (größere Verachtung mit heftigerer Feindseligkeit gepaart, dazu ein Zähnefletschen) genügen. Aber das war beileibe kein normaler Tag. Also bedachte sie ihn mit einem Blick der Stufe fünf (einem gewaltdrohenden Blick, der das Blut in den Adern gefrieren ließ) und gestattete sich ein verächtliches Lächeln, als er benommen zurücktaumelte. Dann fing sie aufs neue an und schlug wieder zu, um ihre Verletzbarkeit zu überwinden, das schreckliche Gefühl, ohne Schutz zu sein. Sie trommelte und trommelte und hoffte, so wieder zu sich zu kommen.

Mit einem Mal hörte sie auf. Die kleine Ansammlung, die sich um sie herum gebildet hatte, war enttäuscht. Ihr war plötzlich klargeworden, was sie zu tun hatte. Sie mußte zu jemandem gehen, der ihr helfen konnte. Der die Dinge wieder ins Lot bringen konnte. Der die Dinge immer ins Lot bringen konnte, so oder so. Zu Tara.

49

Als Tara die Tür öffnete, wäre Katherine bei dem Geruch, der ihr entgegenschlug, beinahe umgesunken, aber sie konnte sich von dem eigentlichen Zweck ihres Besuches nicht ablenken lassen.

»Es tut mir leid«, sagte Katherine schnell, bevor Tara ihr die Tür vor der Nase zuschlagen konnte. »Es tut mir wirklich sehr leid, wirklich.« Sie schluckte den dicken Kloß in ihrem Hals herunter. »Hier, die sind für dich!« Kloß in ihrem Hals herunter. »Hier, die sind für dich!« Stunden-Blumenladen entgegen. Tara kamen die Tränen. »Entschuldige, daß sie so ordinär sind und ganz zerrupft«, sagte Katherine mit unsicherer Stimme, »aber die anderen Blumenläden waren schon geschlossen.«

»Die sind doch schön.« Tara wischte sich verstohlen eine Träne weg. »Mir tut es auch leid, daß ich das alles gesagt habe, Katherine, ich hatte kein Recht dazu.«

»Und ob du ein Recht dazu hattest«, rief Katherine.

Von Gefühlen übermannt sanken sie sich in die Arme und ließen ihren Tränen freien Lauf. »Es tut mir leid, es tut mir so leid.«

»Oh, Tara, bitte sei lieb zu mir!« sagte Katherine an Taras Hals.

»Aber natürlich. Was ist denn?«

»Joe Roth war schrecklich. Ich fühle mich so gedemütigt. Wie kann ich je wieder ins Büro gehen?«

»Oh, mein Gott, heißt das, du hast es getan … Oh, arme Katherine.«

Tara drückte sie an sich und wiegte sie in ihren Armen, bis Katherine es nicht mehr aushalten konnte. »Tara?« fragte sie verlegen. »Was ist das für ein schrecklicher Gestank?«

Tara seufzte schwer und blickte in die Ferne. »Komm rein, und ich erzähl es dir.«

Katherine folgte ihr in die braune Höhle.

»Ich habe etwas gemacht, was ich besser hätte lassen sollen, aber ich konnte nicht mehr an mich halten«, erklärte Tara.

»Du hast aber…?« Katherine hatte Angst. »Oder hast du…?«

»Was habe ich?«

»Hast du Thomas umgebracht?«

Tara lachte. »Noch nicht. Nein, es ist mein altes Problem, mein immerwährender Kampf mit meinem Leibesumfang.«

Katherine wurde rot vor Scham. »Es tut mir leid, daß ich gesagt habe, daß du … ehm … nicht dünn bist.«

»Aber es ist die Wahrheit«, sagte Tara mit Bedauern.

In den drei Wochen, seit Fintan krank war, hatte sie derart viel zugenommen, daß sie am Freitagmorgen, als sie in den Spiegel blickte, von Panik ergriffen wurde. Es mußte etwas geschehen. Sie fühlte sich schwerfällig, nichts paßte mehr, die Blusen spannten, die Jacken saßen so stramm, daß sie die Arme nicht heben konnte, Rockbunde schnitten ihr ins Fleisch, die engen Sachen trieben ihr den Schweiß aus den Poren. Kleider waren ihre erklärten Feinde.

Es gab viele Leute, die das Gewicht gleich tonnenweise verloren. Wie zum Beispiel Oprah Winfrey. Es war also möglich, aber bei ihr mußte es schnell gehen. Nach der Katastrophe mit den Toning-Tables war sie vor Scharlatanen erst einmal gewarnt. Aber einschneidende Maßnahmen waren erforderlich. Und zwar dringend. »Wenn es so was wie Hinterhof-Liposuction gäbe, würde ich sofort hingehen«, gestand sie.

Dann erinnerte sie sich an einen Kosmetiksalon in ihrer Nähe, der ein Schild vor der Tür stehen hatte mit der Aufschrift: »Schlammpackungen – schwitzen Sie die überflüssigen Pfunde weg.« Beinahe hätte sie vor Erleichterung geweint. Was sie über Schlammpackungen gehört hatte, gefiel ihr. Die Vorstellung, von oben bis unten in eine warme, geschmeidige, schokoladenartige Substanz eingepackt zu sein und zu einer Art menschlichem Bounty zu werden, während das überflüssige Fett in Form von Schweiß von ihrem Körper in den weichen, warmen Schlamm troff, klang himmlisch in ihren Ohren. Abnehmen und Verwöhnen in einem. Was könnte schöner sein!

Sie rief bei dem Kosmetiksalon an und erfuhr, daß bei der Methode ein Mindestverlust von zwanzig Zentimetern garantiert wurde. Zwanzig Zentimeter! Sie war begeistert von der Vorstellung, zehn Zentimeter von ihrem Bauchumfang und jeweils fünf an den Oberschenkeln zu verlieren, und machte einen Termin für die Mittagspause. Wenn es klappte, konnte sie am Montag wieder hingehen und noch einmal zwanzig Zentimeter abnehmen, und dann wieder am Tag darauf. Und sie würde das so lange machen, bis sie so dünn war wie ihre neue Freundin Amy.

»Da fällt mir doch das alte chinesische Sprichwort ein«, bemerkte Ravi mit ernster Miene, als sie den Hörer auflegte, »ohne Fleiß kein Preis. Ich wollte dich an meinem Schokoladenpapier riechen lassen, aber das lasse ich jetzt besser. Hast du vor Thomas schon deinen Kniefall gemacht und ihm die Ehe angetragen?«

»Ich dachte, wenn ich mich erst mal entfette, würde er mir vielleicht einen Antrag machen.« Dann lachte sie, damit Ravi nicht denken sollte, sie sei zu jämmerlich.

Um halb eins machte Tara sich beschwingten Schrittes auf den Weg zu dem Salon. Dort begrüßte sie eine Kosmetikerin im weißen Kittel, die dünn wie ein Rennpferd war und soviel Make-up trug, daß es wie eine Maske von ihr abgefallen wäre, wenn jemand ihr einen Schlag auf den Hinterkopf gegeben hätte. Sie hieß Adrienne. »Was sind Sie von Beruf?« fragte Adrienne, als sie Tara in den kahlen, kühlen Raum geführt hatte.

»Computeranalystin«, sagte Tara.

»Ich bin keine Kosmetikerin, müssen Sie wissen«,

sagte Adrienne indigniert. »Eigentlich bin ich Schauspielerin. Wenn es Gerechtigkeit in der Welt gäbe –aber glauben Sie mir, es gibt sie nicht –, mußte ich dies hier nicht machen.« Adriennes Bitterkeit versetzte Tara in trübere Stimmung. Und als Adrienne Tara aufforderte, sich bis auf BH und Unterhose auszuziehen, sank die Stimmung noch einmal. Welche Schande. »Als würde man durchsucht«, sagte Tara nervös und versuchte, von den Speckrollen auf ihrem Bauch abzulenken. Adrienne beachtete sie gar nicht und nahm das Metermaß zur Hand, wobei sie ihre Bitterkeit kaum im Zaum halten konnte. Drei Jahre Schauspielausbildung, und jetzt das hier! Dann fing sie an, Maß zu nehmen.

»Ist das wirklich nötig?« fragte Tara betroffen.

Welche Schande, daß jemand ihre Maße kennen würde. »Wie sollen wir sonst wissen, wieviel Sie verloren haben?« fragte Adrienne. Wie konnte man nur so dumm sein!

»Meinetwegen, aber sagen Sie mir nicht, was mein PoUmfang ist oder mein Bauch«, sagte Tara in Panik. »Auch nicht meine Oberschenkel. Oder meine Oberarme.

Oder –«

»Ich sage Ihnen gar nichts«, erwiderte Adrienne und war gespannt, ob das Metermaß um Taras Hüften herumreichen würde. Was war nur los mit diesen dicken Frauen? Sie brauchten nur ein bißchen Willensstärke.

Eine Woche Hungerkur hatte noch keine umgebracht. In unbehaglichem Schweigen wurde Tara an mindestens vierzig verschiedenen Stellen gemessen, und ihr wurde schleichend bewußt, daß die versprochenen zwanzig Zentimeter schnell zusammen wären, wenn sie nur einen halben Zentimeter an jeder gemessenen Stelle dünner wurde, aber der Unterschied im Gesamtbild wäre unerheblich. Oh, nein.

Als alle Maße verzeichnet waren – was einige Zeit dauerte –, brachte Adrienne eine Wasserflasche von der Art zum Vorschein, mit der Leute wie Katherine ihre Pflanzen besprühten, und sprühte sie von oben bis unten mit Wasser ein. Tara sprang in die Höhe und schrie auf.

Ihre Massen vibrierten noch lange, auch als sie schon längst wieder stand.

»Das warme Wasser funktioniert nicht«, sagte Adrienne knapp, als sie Tara zittern sah.

»Jetzt der Schlamm.«

Tara hatte sich immer vorgestellt, daß sie in eine weiche, geschmeidige, cremeartige Masse eingewickelt und darin verweilen würde wie ein glückliches Nilpferd.

Aber während sie vor Kälte bibberte, kam Adrienne mit einer Schüssel und einem Holzspatel.

»Wollen Sie einen Kuchen backen?« fragte Tara scherzhaft.

Adrienne sah sie mit verächtlichem Mitleid an, nahm einen Spatel voll mit warmem, übelriechendem Matsch, klatschte ihn auf Taras Oberschenkel und strich ihn glatt.

Ohne Plan verstrich sie ein bißchen Matsch hier, ein bißchen Matsch da, bis die Schüssel leer war.

Tara betrachtete die braunen Streifen auf ihrem weißen Körper.

»Jetzt die Wickel«, sagte Adrienne.

»Aber es ist nicht überall Schlamm«, protestierte Tara. »Das macht nichts.«

Die »Wickel«, so stellte sich heraus, waren sechs zerschlissene, hautfarbene Bandagen, wie man sie bei Erste-Hilfe-Kursen benutzte, die um Taras Mitte, ihre Oberschenkel und Oberarme gewickelt und mit großen Sicherheitsnadeln befestigt wurden. Tara wollte sich nicht vorstellen, welches Bild sie abgab.

»Und jetzt«, erklärte Adrienne, »kommen Sie in einen speziellen Gummianzug, in dem sich der Schlamm aufheizt, wodurch sich der Toxinverlust erhöht.« Tara

schöpfte Hoffnung: Das klang wissenschaftlich.

Wissenschaftlicher als das Besprühen mit Wasser und das Einwickeln in alte Bandagen. Aber der Gummianzug war überhaupt kein Gummianzug, sondern ein billiger Kunststoff-Trainingsanzug, den ein zehnjähriges Mädchen tragen würde, wenn es auf eine Ladendiebstahltour geht. Tara hätte weinen mögen. Adrienne behauptete, der Entfettungsprozeß brauche ungefähr eine Stunde, um in Gang zu kommen. Sie ließ Tara auf dem Tisch in dem kahlen, kleinen Raum liegen.

Durch die dünnen Trennwände hörte Tara das rhythmische Ratschen der Wachsstreifen, mit denen anderen Kundinnen die Beine enthaart wurden, und hatte

nicht einmal eine Zeitschrift, um sich von ihrem unwürdigen Zustand abzulenken. Irgendwann döste sie ein – und wachte plötzlich von ihrem eigenen Gestank wieder auf.

Es wurde noch schlimmer. Nach einer Weile kühlten die Bandagen ab und fühlten sich in dem kalten Trainingsanzug feucht an. Das Gefühl von nasser, klammer Unterwäsche erinnerte sie an ihre erste Vorschulzeit, wo sie als Vierjährige manchmal in die Hose gemacht hatte, aber sich nichts anmerken lassen wollte.

Nach einer Stunde kam Adrienne zurück, nahm den Trainingsanzug wieder an sich, wickelte die Bandagen ab und maß Tara erneut. Diesmal zog sie das Maßband fest, als wollte sie die Gefäße abbinden. »Oh, ja«, sagte sie immer wieder und quetschte Tara die Blutzufuhr ab.

»Viel weniger.« Nachdem sie alles zusammengezählt hatte, sagte sie: »Zweiundzwanzig Zentimeter. Es sind zweiundzwanzig Zentimeter weniger.«

»Na klar«, flüsterte Tara. Sie war vielleicht fett, aber sie war nicht dumm. »Wo sind die Duschen?«

»Es gibt keine«, antwortete Adrienne.

»Aber ich bin eingesaut!« Die Schlammpackung war auf ihrer Haut getrocknet und platzte bei jeder Bewegung in kleinen Bröckchen ab.

»Ehm … der Schlamm hat noch vierundzwanzig Stunden lang entgiftende Wirkung«, erklärte Adrienne. Ach ja? drückte Taras Miene aus. Und das hat nicht zufällig damit zu tun, daß das warme Wasser nicht funktioniert?

Nachdem sie für die Erfahrung vierzig Pfund hingeblättert hatte, wollte sie den größtmöglichen Nutzen daraus ziehen. Also ließ sie den Schlamm soweit wie möglich dran, als sie sich anzog. Natürlich gab sie Adrienne ein üppiges Trinkgeld, weil sie sich aufgrund ihres Übergewichts Adrienne gegenüber unterlegen fühlte. Dann ging sie, ihre Moral und ihre Hoffnungen am Boden zerstört.

Als sie wieder ins Büro kam, fingen die anderen mit gerümpften Nasen an zu schnüffeln.

»Was ist das für ein widerlicher Gestank?« fragte Ravi.

Tara saß ganz still, weil bei jeder Bewegung trockener Schlamm abbröckelte.

»Jemand muß Hundedreck am Schuh haben«, meinte Vinnie. »Können alle mal unter ihren Schuhen nachsehen?«

Ein großes Stühlerücken hob an, als die ganze Belegschaft sich hochstemmte und unter ihren Sohlen nachsah.

»Du auch, Tara«, sagte Ravi mit gerunzelter Stirn. Ganz langsam und vorsichtig stand Tara auf, aber es war nicht langsam und vorsichtig genug, denn sie wirbelte eine Staubwolke hoch, in der sie plötzlich vor den Blicken der anderen verschwand.

»Was ist denn das?« fragte Ravi. »Bist du gerade exhumiert worden?« Er trat näher. »Oh, nein«, rief er theatralisch aus und hielt sich die Nase zu. »Ihr könnt die Suche einstellen« verkündete er. »Es ist Tara mit ihrer komischen Liposuction.«

»Es war keine Liposuction«, sagte Tara verärgert und richtete sich auf, worauf eine neue Staubwolke hochstob.

»Es war eine Schlammpackung. Für meine Haut!« Auf keinen Fall sollten die anderen erfahren, was sie alles anstellte, um dünner zu werden.

Mit großem Getöse schob Ravi seinen Schreibtisch von ihrem weg. »Es muß sein. Bei dem Gestank kann ich mich nicht konzentrieren«, behauptete er.

Schließlich wurde übereinstimmend beschlossen, Tara frühzeitig nach Hause zu schicken, und als sie ging, hinterließ sie eine Spur braunen Pulvers, als würde sie zu

Staub zerfallen.

»Komm erst wieder, wenn du dich gründlich abgeschrubbt hast«, befahl Vinnie ihr. Eigentlich reichten ihm seine vier Kinder daheim.

Tara ging nach Hause. Sie hätte zu Katherines Wohnung fahren sollen, um die O’Gradys abzuholen und ins Krankenhaus zu bringen, aber sie war zu deprimiert –

von dem Gestank ganz abgesehen. Allein in ihrer Geruchswolke saß sie in Thomas’ düsterer Wohnung und versuchte, Gesundheit für Körper und Seele von Louise L. Hay zu lesen, eins der vielen Bücher über alternative Heilmethoden, die sie gekauft hatte. Aber sie konnte sich nicht darauf konzentrieren. Statt sich Mühe zu geben,

Fintans Krebszellen und deren Verschwinden zu visualisieren, visualisierte sie ihr Verschwinden aus Thomas’ Leben. Zu viele Menschen hatten zu viel darüber gesagt, als daß sie einfach weiterhin den Kopf in den Sand stecken konnte.

Fintan war ihr bester Freund. Daran bestand kein Zweifel. Jetzt war er krank, und wahrscheinlich mußte er sterben, und er wollte, daß sie sich von Thomas trennte. Widerwillig mußte Tara zugeben, daß sie ihre Beziehung aus seiner Sicht sehen konnte. Im Vergleich zu der mit Alasdair konnte ihr Leben mit Thomas als ein

emotionaler Gewaltmarsch erscheinen. Für Außenstehende jedenfalls.

Sie ließ ihren Blick durch das Zimmer schweifen und stellte sich vor, daß sie ihre Bilder und Bücher und alle vier CDs zusammenpacken würde, die Tür zum letzten Mal hinter sich zuziehen und sich in die große, weite Welt hinauswagen würde. Die Vorstellung jagte ihr Angst ein. Sie konnte es einfach nicht tun. Sie klammerte sich an den Strohhalm, daß Thomas sie vielleicht heiraten würde. Sie mußte ihn nur fragen. Aber jetzt noch nicht… Sie sehnte sich nach Katherine. Sie vermißte sie, und

der Zorn, den sie nach dem Streit verspürt hatte, war verraucht. In dem Moment klingelte es an der Tür, und davor – als könnte sie Gedanken lesen – stand Katherine, in der Hand einen zerrupften Strauß Blumen, und sah so niedergeschlagen aus wie schon lange nicht mehr.

50

Am Samstagnachmittag brachten Tara und Sandro Fintan nach Hause. Er war fast drei Wochen im Krankenhaus gewesen. Er sah schrecklich aus und war so schwach, daß er auf dem Weg zum Auto von einem Krankenpfleger und Sandro gestützt werden mußte. Genaugenommen war Sandro mit seinen eins sechzig eher eine Behinderung als eine Hilfe, aber er ließ sich nicht davon abhalten zu helfen. Und die Anspannung war zu groß, als daß man ihm den Wunsch abschlagen wollte.

Fintan in der normalen Welt zu sehen, warf Tara fast um. Im Krankenhaus mochte es angehen, wenn jemand so aussah, als würde er jeden Moment sterben, dachte Tara. Das war dort nichts Ungewöhnliches. Aber draußen, wo die meisten Menschen gesund sind, war das etwas ganz anderes.

Eine positive Sache fiel Tara auf: Fintan trug den pistaziengrünen Schaffellmantel, den er sich aus dem Lagerraum seines Ateliers geborgt hatte. »Ich nehme an, der geht nicht zurück«, sagte Tara mit einem Zwinkern. »Meine Abfindung«, erwiderte er grimmig.

Tara und Sandro sahen sich an und verdrehten die Augen.

Als sie in der leeren Wohnung in Notting Hill ankamen, stellten sie fest, daß JaneAnn zur Feier von Fintans Entlassung eine Putzorgie veranstaltet hatte. Die nächsten Mahlzeiten konnten sie von dem Boden in der Küche essen. Sie hatte die teuren Teppiche beinahe fadenscheinig gesaugt und das Laminat von dem Estrich nahezu abgeschrubbt. Die Spiegel in den Alabasterrahmen waren trotz ihres heftigen Polierens zum Glück nicht gesprungen.

Ein großes, rosafarbenes Schild mit der Aufschrift »Willkommen zu Hause« hing über der Wohnzimmertür aus rostfreiem Stahl. Ballons und Girlanden waren mit Tesafilm an den echten Bildern, den japanischen Lampions und der Herrenkommode festgeklebt. Grußkarten waren auf den Philippe-Starck-Borden aufgereiht. In allen Zimmern standen frische Blumen.

Ganz benommen setzte sich Fintan auf das Ledersofa, eine Sonderanfertigung, die sie speziell aus New York hatten kommen lassen, während Sandro sich wie eine alte Frau zu schaffen machte, die Blumen richtete, die Lederkissen aufschüttelte, den resopalbeschichteten Couchtisch aus den siebziger Jahren geraderückte. Dann brachte er eine Wolldecke im Schottenmuster und wollte sie Fintan über die Knie legen. »Ich habe sie für dich gekauft. Deine Mutter hat gesagt, daß diese Decken gut für Kranke sind.«

»Ich will das nicht.« Unmutig riß er die Decke weg und warf sie von sich.

»Oh, aber JaneAnn hat gesagt, daß du das gut finden würdest.«

»Ich bin zweiunddreißig, nicht zweiundachtzig. Wahrscheinlich werde ich auch nie so alt«, sagte er erbittert.

»Ehm, ich höre mal den Anrufbeantworter ab.« Sandro ging aus dem Zimmer.

»Bist du nicht froh, daß du zu Hause bist?« fragte Tara nervös.

»Wieso? Was ist denn dadurch anders? Und kann mal einer was mit den Blumen machen? Ich komme mir ja vor wie im Krankenhaus.«

»Ehm, Katherine hat ausgezeichnete Neuigkeiten für dich.« Eigentlich mußte Katherine selbst die Geschichte mit Joe Roth erzählen, aber Tara wollte unbedingt die Stimmung etwas aufheitern. »Sie hat sich gestern bei diesem Joe Roth entschuldigt.«

Ein desinteressiertes Schmollen war die Reaktion.

Sandro kam zurück und zählte stolz auf: »Es haben für dich angerufen Ethan, Frederick, Claude, Didier, Neville, Julia und Stephanie. Alle wollen dich besuchen, aber ich sage nein, sie müssen warten. Fintan ruft an, wenn er bereit ist und sich gut fühlt.«

»Und kein Anruf von Carmella Garcia mit einem Angebot, daß ich weitermachen kann?«

Sandro sah ihn erschrocken an.

»Das ist der einzige Anruf, der mich interessiert. Weißt du, was ich will?«

»Nein, was?« Sandro stand schon in den Startblöcken.

»Ich will mich vollaufen lassen.«

»Das darfst du nicht!« Tara war entsetzt. »Du bist krank. Du mußt erst wieder zu Kräften kommen.«

»Ich werde nie mehr zu Kräften kommen.«

»Aber natürlich! Du mußt positiv denken«, beharrte Tara. Das hatten die Krankenschwestern immer wieder hervorgehoben. Menschen mit einer positiven Einstellung hatten größere Chancen, gesund zu werden.

»Positiv denken?« Fintans Lachen klang freudlos. »Dazu habe ich nicht die Kraft.«

»Ich habe dir zu essen eingekauft«, sagte Sandro. »Deine Lieblingssachen. Erdbeeren? Schweinepastete? Petit Filous? Honig-Smacks? Toffee-Pops?«

»Ich will nichts essen.«

»Aber, bambino, du mußt etwas essen.«

»Aber ich will nicht«, brüllte Fintan plötzlich. »Ich habe es dir tausendmal gesagt – alles schmeckt scheußlich. Und du weißt genau, daß ich nur Rohkost essen soll!«

Sandro schluchzte auf und rannte in die Küche. Tara folgte ihm. Er stand neben einer blaßgrünen (nie benutzten) Alessi-Saftpresse über die Arbeitsfläche aus isländischem Lavagestein gebeugt und weinte sich die Augen aus.

»Alles, was ich mache, ist falsch.«

»Er ist krank. Er kann nichts dafür. Wenn du nichts getan hättest, wäre er auch böse.«

»Er ist wie verwandelt, so wütend und böse. Nicht mein Fintan.«

»Es ist alles sehr schwer für ihn«, tröstete Tara ihn.

»Aber für mich auch.«

»Komm.« Tara führte ihn ins Wohnzimmer, wo sie in gespanntem Schweigen saßen und darauf warteten, daß Katherine mit JaneAnn und Timothy vom Einkaufen kommen würde.

»Ich gehe duschen. Das habe ich seit Wochen nicht getan«, verkündete Fintan.

»Aber du kannst kaum stehen.«

»Ich komme schon klar.« Er funkelte sie böse an.

Sandro und Tara blieben im Wohnzimmer und konnten nicht begreifen, wie die Freude über Fintans Entlassung sich so hatte umkehren können.

Plötzlich hörten sie ein seltsames Geräusch, wie ein schrilles Kläffen, aus dem Badezimmer. Einen Moment lang sahen sie sich entgeistert an, dann sprangen sie auf und rannten ins Bad.

Fintan hockte auf dem Badezimmerboden, triefnaß und spindeldürr. Das Geräusch kam von ihm, und in seinem Gesicht stand das helle Entsetzen.

Er sah verändert aus, fand Tara. Irgendwas sah anders aus.

Dann wurde ihr klar, was es war.

Er war kahl.

Auf seinen Schultern und seiner Brust lagen Büschel von Haaren, aber sein Kopf war kahl.

Dann folgten sie seinem Finger, der auf etwas zeigte: auf den Abfluß in der Dusche. Der Abfluß war verstopft.

Mit Haaren.

Alles voller Haare. Schwarz, dicht und naßglänzend. Sie glitzerten in Regenbogenfarben von dem Shampoo, das er nicht hatte auswaschen können, bevor die Haare sich von der Kopfhaut gelöst hatten.

»Meine Haare«, stammelte er.

Tara hätte am liebsten geweint. »Es sind deine Haare«, bestätigte sie.

»Ich bin kahl.«

»Es wächst wieder, wenn es dir bessergeht.« Sandros Stimme zitterte.

»Sie haben dir doch gesagt, daß das passieren würde, oder?« fragte Tara sanft.

»Ja, aber ich habe nicht geglaubt, daß es mir passieren würde … ich meine, ich dachte nicht, da es so passieren würde … alle meine Haare«, stammelte er. »Guckt doch. Es ist wie in einem Horrorfilm.«

»Komm.« Sandro zog ein flauschiges Handtuch von der Stange und begann, Fintan abzutrocknen, wie eine Mutter ihr Kind. Seine Hände, seine Arme, seine Brust.

»Fuß hoch«, sagte Sandro, hockte sich hin und rieb die Zwischenräume zwischen Fintans Zehen trocken. Fintan stand wacklig auf einem Bein und stützte sich an der Wand ab. »Jetzt der andere.«

Tara sammelte die Haarbüschel auf. Sie war drauf und dran loszuheulen. Das war das Schlimmste. Das war das Allerschlimmste.

Fintan schlang sich ein Handtuch um den Kopf, warf sich im Schlafzimmer aufs Bett und fing an zu weinen. Eine halbe Stunde weinte er wie ein Baby, während Tara und Sandro hilflos dabeistanden.

»Ich sehe so scheußlich aus«, heulte er und schluchzte zwischen den Silben. »Ich. Seh. Scheuß. Lich. Aus. Ich. Seh. Scheuß. Lich. Aus.«

»Es wächst wieder, wenn es dir bessergeht.«

»Es geht mir nie wieder besser.«

Nach einer Weile setzte er sich auf und trat vor den Spiegel. Langsam, mit Mühe wand er das Handtuch vom Kopf und zwang sich, sein neues Aussehen in Augenschein zu nehmen. Zunächst betrachtete er nur sein Profil.

»Oh, verdammt.« Er zuckte zusammen, als er sich schließlich von vorn ansah. »Damit raube ich mir fast selbst den Schlaf.« Erbittert und untröstlich fuhr er sich mit der Hand über die glatte Kopfhaut. »Meine krönende Schönheit. Alles weg. Alles weg. Ich bin ein Ausbund von Häßlichkeit.«

»Das stimmt nicht! Das stimmt nicht!«

»Gott im Himmel.« Fintan war etwas aufgefallen. Er verbarg das Gesicht in den Händen. »Das eine Ohr sitzt tiefer als das andere.«

»Gar nicht wahr.«

»Doch. Guck doch!«

Es stimmte.

»Ich hatte keine Ahnung, daß mein Schädel so uneben ist. Oh, Mann, wie häßlich! Und das ist erst der Anfang. Dann kommen die Wimpern. Und die Augenbrauen. Und meine Die-da-unten.«

»Du kannst dir eine Perücke besorgen.« Tara war bedrückt. »Vielleicht nicht für Die-da-unten, aber für den Kopf. He«, sagte sie dann und zwang sich zu einem fröhlichen Ton, »du bist doch schwul, du hast bestimmt irgendwelche Perücken.«

»Jetzt, wo du es erwähnst.« Fintan wurde etwas froher zumute. »Ich habe eine Pamela-Anderson-Perücke.«

»Vielleicht hättest du nicht duschen sollen«, klagte Sandro. »Dann wäre es vielleicht nicht passiert.«

»Sie hingen nur noch an einem seidenen Faden«, sagte Fintan. »Es sah zwar so aus, als hätte ich noch Haare, aber eigentlich waren sie schon ausgegangen. Es war nur eine Frage der Zeit. Ich wollte das nur nicht wahrhaben.«

Wieso kam das Tara so bekannt vor?

Auch Katherine verbrachte einen ziemlich schwierigen Nachmittag. Sie waren sich einig gewesen, daß sie sich nicht alle gleichzeitig auf Fintan stürzen sollten, und deswegen war sie ausgesucht worden, JaneAnn und Timothy eine Zeitlang zu beschäftigen. Milo hätte gern geholfen, aber er war leider gebunden.

Buchstäblich.

Liv war entsetzlich.

Weil JaneAnn und Timothy am folgenden Tag nach Hause flogen und für Ambrose und Jerome und alle Nachbarn, die in ihrer Abwesenheit die Höfe versorgt hatten, Geschenke mitbringen wollten, ging Katherine mit ihnen einkaufen. Sie ging mit ihnen zu Harrods, weil Touristen dort am liebsten einkauften, aber das war ein Fehler.

JaneAnn hörte gar nicht mehr auf, sich über die Preise zu beschweren und darüber, wie unmoralisch es sei, soviel Geld zu verlangen, und Katherine fand es nicht leicht, sie bei Laune zu halten. Dabei hatte sie den Kopf voll mit Gedanken an Joe Roth, den sie am Montagmorgen im Büro sehen würde – oh, Schande! Während JaneAnn sich laut darüber wunderte, warum ein Brotmesser fünfundzwanzig Pfund kostete, wissend, daß es in Tullys Eisenwarenhandel auf der Main Street in Knockavoy ein völlig brauchbares Messer für vier Pfund fünfzig gab, war Katherine damit beschäftigt, sich auszudenken was passieren würde, wenn Joe »es sich überlegt« und beschlossen hatte, daß er nicht mit ihr ausgehen wollte?

»Und wenn es nicht mehr scharf genug ist, kannst du es zu Curly Tully bringen, und der schleift es dir umsonst.« JaneAnns Stimme drang zu Katherine durch. »Ich glaube nicht, daß sie das hier auch machen, Katherine. Eigentlich sollte ich es dem Mädchen sagen«, meinte JaneAnn und zeigte auf die junge Verkäuferin an der Kasse. »Vielleicht kann sie das ihrem Vater weitersagen.«

»Nein, lassen Sie mal«, sagte Katherine matt. »Sie ist hier nur angestellt. Ich glaube nicht, daß sie zu der Familie der Besitzer gehört.«

Timothy wollte seiner Frau Esther gern ein Geschenk mitbringen. »Kannst du JaneAnn eine Weile beschäftigen und mir zeigen, wo es zur Wäscheabteilung geht?«

Eine Viertelstunde später kam Timothy zurück mit einer Tüte voller schwarzer und roter Reizwäsche, die Esther einmal anziehen würde, um ihm einen Gefallen zu tun, und dann würde sie behaupten, sie sei ihr gestohlen worden.

Als sie aus Harrods herauskamen, ging JaneAnn zu einem Straßenverkäufer und kaufte zwei TShirts mit der Aufschrift »Meine Mutter war in London und hat mir nur dieses dumme T-Shirt mitgebracht«, drei mit der Aufschrift »Meine Schwiegermutter war in London und hat mir nur dieses dumme T-Shirt mitgebracht«, und sieben mit der Aufschrift »Meine Nachbarin war in London und hat mir nur dieses dumme T-Shirt mitgebracht«. Dann handelte sie so lange mit dem Verkäufer, bis er ihr die zwölf Hemden, die sieben Pfund fünfzig das Stück kosten sollten, für sechzig Pfund alle zusammen verkaufte. Während der Verkäufer verwirrt zurückblieb und nicht genau wußte, ob er ein Verlustgeschäft gemacht hatte, stiegen die drei in ein Taxi und fuhren zu Sandros und Fintans Wohnung.

Dort wurden sie von einem fremden Wesen begrüßt, das Fintans Gesicht hatte und dazu hüftlange blonde Haare.

Am Sonntagnachmittag fuhren sie nach Heathrow und brachten JaneAnn und Timothy zum Flughafen. JaneAnn war nur deshalb bereit, Fintan zurückzulassen, weil seine medizinische Versorgung von höchster Qualität war.

Es hatte Zeiten gegeben, da hatte sie für Medikamente kein gutes Wort übrig und vertraute allein auf die Macht des Gebets, besonders wenn der Kranke nicht in ihrer Familie war. Zahllose Male hatte sie auf der Main Street von Knockavoy gestanden und scheinheilig gesagt: »Die Ärzte können auch nicht alles, die wahre heilende Kraft liegt in der Macht der Gebete. Die kann Wunder bewirken.«

Es war ein bißchen wie die Sache mit dem Gürtel und den Hosenträgern. Sie wollte Sandro bitten, mit Fintan nach Lourdes zu fahren (oder nach Knock, wenn das Geld für Frankreich nicht reichte), aber sie wollte sich auch vergewissern, daß Fintan jedes Medikament bekam. Bei Katherine bedankte sie sich überschwenglich für deren Gastfreundschaft. »Ich habe dir eine Kleinigkeit gekauft«, sagte sie und reichte Katherine diskret ein kleines Paket. »Es ist eine Statue von dem Jesuskind von Prag. Mach dir nichts draus, wenn der Kopf abfällt, das bringt Glück.« Sie beugte sich zu Katherine hinüber. »Und paß auf Fintan auf, bitte. Und ruf mich regelmäßig an, ja? Wir sehen uns zu Weihnachten.« Sie kam noch näher. »Und streng dich an, daß das mit dem jungen Mann im Büro klappt. Die Liebe hält alles am Laufen. Sieh doch mal, wie glücklich Milo und Liv sind.«

»Ich werde mir Mühe geben«, murmelte Katherine.

Nun war Tara an der Reihe, und JaneAnn nahm ihr das Versprechen ab, daß sie Fintan unter Einsatz ihres Lebens bewachen würde. »Und sag deinem jungen Mann, daß es uns leid tut, daß wir ihn nicht kennengelernt haben, ja?« Das gab Tara einen Stich. Sie schämte sich wegen Thomas’ Unhöflichkeit. »Er hat sehr viel zu tun.

»Sicher, das weiß ich ja. Und er ist Lehrer, das ist ein sehr verantwortungsvoller Beruf. Na, vielleicht kommt er ja Weihnachten mit dir nach Hause. Außer du tust das, was Fintan will«, sagte sie milde, »dann würden wir ihn wahrscheinlich nicht kennenlernen.«

Tara war unbehaglich zumute. So oder so, JaneAnn würde ihn sicherlich nicht kennenlernen.

51

Am Montagmorgen schlich sich Katherine ins Büro, zittrig vor Nervosität und auf Demütigung gefaßt. Wie sollte sie Joe Roth gegenübertreten? Und was wäre, wenn er nicht auf ihre schamlose Anmache einging? Sie würde sterben.

Sie hatte tatsächlich erwogen, nicht zur Arbeit zu kommen. Zu entscheiden, ob sie eine dicke Schicht Make-up tragen sollte, um sich eine Maske der Gleichgültigkeit zu verleihen, oder ob sie gar keins tragen sollte, in der Hoffnung, daß ihr kleines blasses Gesicht dann unsichtbar wäre, hatte sie enorme Anstrengung gekostet. Sie wollte positiv denken. Nach der Rückkehr vom Flughafen hatte sie erst einmal ein Wiedersehen mit ihrer Fernbedienung gefeiert. Und Fintan war aus dem Krankenhaus entlassen. Das waren doch gute Nachrichten, oder nicht? Auch wenn er sauer und schlecht gelaunt war. Als sie ihm in aller Ausführlichkeit die schreckliche Geschichte erzählt hatte, wie sie vor Joe Roth zu Kreuze gekrochen war, hatte er kaum reagiert.

Trotz ihrer besten Absichten, jeden Blickkontakt mit Joe zu vermeiden, streifte ihr Blick seinen, als sie ihren Mantel auszog. Fast hätte sie sich den Hals verrenkt, so schnell zog sie den Kopf ein, aber sie hatte gesehen, daß er gelächelt hatte. Gelächelt? fragte sie sich, paranoid wie sie war, oder gelacht?

Am Wochenende und auch jetzt hatte sie darum gebetet, daß er ihrer Demütigung auf einen Schlag ein Ende machen würde, indem er sie einlud. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als daß er mit lässiger Anmut zu ihrem Schreibtisch herüberschlendern und sich auf die Kante setzen und sagen würde: »Übrigens, das Projekt, das Sie am Freitag erwähnten – wir sollten das beim Lunch besprechen.« Und nur sie und er würden die tiefere Bedeutung verstehen.

Aber er tat es nicht. Er blieb den Morgen über an seinem Schreibtisch sitzen, und sie schraubte ihre Erwartungen herunter. Es mußte nicht gleich Lunch sein. Ein Drink nach der Arbeit wäre auch gut. Aber das war auch nicht nötig. Einfach ein kleiner Spaziergang, ohne eine weitere Einladung. Und er mußte sie auch nicht persönlich fragen. Ein Anruf würde genügen. Oder eine E-Mail. Oder ein Memo. Als es ein Uhr war, wäre sie mit allem zufrieden gewesen. Ein Papierflieger mit einer Leuchtfarben-Aufschrift: »Wie wär’s mit einem Fick?« wäre willkommen gewesen.

Aber nichts geschah. Auch am Nachmittag kam er nicht zu ihr herüber, und sie veranstaltete einige Gehirnakrobatik, um es zu rechtfertigen. Vielleicht hatte er ein Verhältnis mit Angie – obwohl sie das nicht für wahrscheinlich hielt. Hätte er dann nicht gesagt: »Ich habe eine Freundin«, statt: »Ich überlege es mir«? Aber wenn Angie nicht das Hindernis war, dann hieß sein Verhalten möglicherweise, daß er Katherine nicht mehr wollte, und der Gedanke war äußerst unangenehm. Also, dachte sie und machte eine Kehrtwendung, war es vielleicht doch wegen Angie. Aber hätte er dann nicht gesagt: »Ich habe eine Freundin«? Und so weiter, im Kreis, wie ein Hamster in seinem Rad, bis es Zeit war, nach Hause zu gehen. Sie versuchte, mit ihrer Mimik auszudrücken: Ich habe mein eigenes Leben. Das hatte ich schon immer, verließ das Büro und ging zu Fintan.

Am Dienstag machte sie alles noch einmal durch, und Tara rief fast jede Stunde an, um sich über die nicht gemachten Fortschritte informieren zu lassen. »Ist er unfreundlich zu dir?« fragte sie.

»Nein. Er scheint freundlich, wenn ich seinen Blick erhasche. Das ist nicht so oft«, gab Katherine zu. »Ich halte den Blick möglichst gesenkt.«

»Wenigstens ist er freundlich«, tröstete Tara sie.

»Freundlich kann mir gestohlen bleiben. Ich habe genügend Freunde!«

Am Mittwoch sah Katherine der Tatsache ins Auge, daß sich nichts tun würde. Sie hatte Joe genug Zeit gegeben und den angemessenen Zeitraum immer wieder ausgedehnt. Ihre letzte Hoffnung verpuffte. Er hatte sie zurückgewiesen – das wußte sie nun offiziell. Er hatte es »sich überlegt« und beschlossen, daß er kein Interesse hatte.

Sie wartete auf den Einbruch. Eine Enttäuschung mit einem Mann rückte sie gewöhnlich ein bißchen mehr in Todesnähe. Trübte ihre Lebensfreude. Aber seltsamerweise kam der Absturz nicht. Warum nicht? Weil sie mit anderem beschäftigt war, nämlich mit Fintan? Aber ihre Sorge um Fintan hatte nicht verhindert, daß ihre Gedanken ständig um Joe Roth kreisten.

Was auch immer die Gründe waren, sie hatte ein merkwürdiges Vertrauen, daß das Leben weitergehen und sie überleben würde. Sie spürte die unberechtigte Hoffnung, daß eine Zukunft vor ihr lag. Zwar wollte Joe Roth sie nicht, aber solange sie lebendig war, konnte alles mögliche passieren.

An dem Abend ging sie zum ersten Mal seit sechs Wochen zum Steptanzen und anschließend mit Tara, Liv und Milo in die All Bar One. Sandro hatte sich einen Abend allein mit Fintan gewünscht.

In der Bar saßen sie alle um einen Tisch herum, und Katherine war überrascht, als ein ungeheures Wohlgefühl sie überkam. Sie freute sich, den Abend mit Freunden zu verbringen und sich zu vergnügen. Nicht nur war die Nervosität gewichen, die sie bei dem Gedanken an Joe Roth befallen hatte, sondern auch die Sorge um Fintan, die sie niedergedrückt hatte wie ein Felsbrocken.

Milo war nicht wiederzuerkennen. Der grobe Klotz, der vor knapp einem Monat in London angekommen war, war poliert worden: Das Haar war in Form gebracht und gekürzt worden, so daß es nicht mehr aussah, als hätte er es mit einer Kettensäge geschnitten, und er trug nagelneue Kleidung, die in jeder Faser Zeugnis von Livs modischem, stilsicherem Geschmack ablegte. Er war erstaunlich attraktiv, ein kräftiger Mann mit schwarzen Locken und dunkelblauen Augen. »Guckt mal her!« Er lachte und zeigte auf die auffallenden asymmetrischen Schuhe, die er trug. »Findet ihr nicht, daß die ziemlich irrwitzig aussehen? Wir haben sie in einem verrückten Geschäft gekauft. Rot im Boot oder so ähnlich.« Er sah Liv hilfesuchend an.

»Rot oder tot«, murmelte sie. Für sie war es etwas Neues, daß sie diejenige war, die korrigierte, statt korrigiert zu werden. Das gefiel ihr außerordentlich gut.

Milo und Liv waren in der ersten, sehr unsozialen Phase der Frischverliebten. Zwar gaben sie sich halbwegs Mühe, mit Tara und Katherine ein Gespräch zu führen, aber dann kicherten und flüsterten sie miteinander, sie waren ineinander verschlungen und hatten nur Augen füreinander. Milo flüsterte Liv etwas ins Ohr, und Liv senkte den Blick, lächelte breit, stieß Milo in die Rippen und murmelte mit gespielter Empörung: »Laß das.«

Milo flüsterte wieder etwas. Anscheinend war es noch anzüglicher, denn Liv grinste noch breiter und sagte wieder mit einem Kichern: »Laß das.«

Wieder kam Milo mit seinem Mund nah an Livs Ohr, Liv zwickte ihn ins Knie, und Tara und Katherine wechselten vielsagende Blicke.

»Herr im Himmel«, beschwerte sich Tara.

»Was möchtest du trinken?« fragte Katherine Milo. Er beachtete sie gar nicht und wisperte Liv weiter irgendwelche Anzüglichkeiten ins Ohr.

»Was möchtest du trinken?« fragte sie wieder, etwas lauter.

Beim vierten Mal sah Milo sie wie aus der Ferne an und sagte: »Oh, ehm, tut mir leid, hast du was gesagt?«

Tara sagte zu Katherine: »Sieht ganz so aus, als mußten wir miteinander vorlieb nehmen.«

Als die Gläser mit dem Wein vor ihnen standen, fing Tara mit ihrem Kreuzverhör an. »Bist du am Boden zerstört wegen Joe?«

»Es geht mir eigentlich ganz gut damit«, sagte Katherine.

»Aber du würdest es nicht zugeben, wenn es dir schlechtginge«, sagte Tara betrübt. »Du sagst es nie.«

»Nein, ehrlich.« Katherine war ganz ernst. »Es stimmt wirklich. Es tut mir weh, daß er mich zurückgewiesen hat, aber ich habe etwas Gutes getan. Ich war mutig und bin ein Risiko eingegangen.«

»Das sagst du nur, damit ich mich von Thomas trenne.« Tara zog an ihrer Zigarette, als saugte sie das Gift aus einer Wunde. »Ein krasser Fall von Schleimerei. Du tust, was Fintan gesagt hat, und zeigst mit dem Finger auf mich, weil ich mich nicht traue.

»Nein, wirklich nicht.« Katherine winkte ab. »Warte, und ich versuche es dir zu erklären. Du erinnerst dich daran, wie wir uns vorgestellt haben, daß wir nur noch sechs Monate zu leben hätten?«

Tara zuckte zusammen.

»Dieses Gefühl, daß das Leben dazu da ist, gelebt zu werden? Weil man nur einen Versuch hat? Du erinnerst dich.«

»Das Leben ist keine Generalprobe. Tot ist man lange genug. Jeder hat nur eine Chance.« Taras Sarkasmus war fast greifbar.

»Genau! Das –«

»Offenbar ist dir meine Ironie entgangen«, sagte Tara ängstlich.

»Ach so, du hast das ironisch gemeint? Na, in dem Fall. Ich meinerseits habe das Gefühl, daß ich lebendig bin. Und darüber bin ich froh«, sagte Katherine schlicht.

»Aber du bist immer so zynisch«, entgegnete Tara hilflos. »Und ein liebenswerter Mann hat dich zurückgewiesen. Für jede andere Frau wäre das das Ende.«

»Wer weiß«, sagte Katherine mit einem vielsagenden Blick, »vielleicht lerne ich einen anderen Mann kennen.«

»Aber…« Tara war verwirrt. Normalerweise sagte Katherine so etwas nicht.

»Einen wie ihn.« Katherine deutete zur Bar, wo ein gutaussehender blonder Mann an der Theke lehnte.

Als Tara sich zu ihm umsah, lächelte er, und zwar lächelte er Katherine an. Tara wandte sich Katherine zu, und die strafte ihn nicht mit einem Blick der Stufe eins (eisige Verachtung) oder der Stufe zwei (eisige Verachtung mit einem Schuß knallharter Feindseligkeit), sondern erwiderte sein Lächeln. Kein breites Lächeln von einem Ohr zum anderen, aber immerhin ein Lächeln.

Und dann fiel der Groschen bei Tara: Katherine erwiderte nicht das Lächeln des Mannes – sie hatte ihn zuerst angelächelt.

Was war hier los? Irgendwie war Katherine wie losgelassen. Sie sah auch anders aus als sonst, erinnerte Tara an jemanden. Wer konnte es sein? Jemand Vertrautes, und dann auch wieder nicht. Ah! Plötzlich wußte sie es mit Gewißheit. Welche Überraschung! Sie sah aus wie ihre Mutter Delia.

Am Donnerstag ging Katherine mit einem kleinen Kater zur Arbeit und wappnete sich gegen einen weiteren JoeRoth-freien Tag. Sie war zwar enttäuscht, aber dennoch seltsam sicher, daß das Leben weitergehen werde.

Zum Glück lenkte die Arbeit sie ab. Doch während sie einen Aktivpostenplan in den Computer eingab, überfiel sie plötzlich das Verlangen, Joe anzusehen. Sie hielt den Blick auf den Bildschirm gerichtet und widerstand. Und widerstand. Aber das Verlangen war so stark, daß sie es nicht länger unterdrücken konnte. Sie bewegte kaum merklich den Kopf und erlaubte sich den allerwinzigsten Blick aus dem allerletzten Winkel ihres Auges.

Und die Röte schoß ihr ins Gesicht, als sie sah, daß er sie beobachtete. Von der Seite, versteckt, aber mit großer Hingabe. Dann trafen sich ihre Blicke, und er lächelte. Breit, vertraulich, bedeutungsvoll.

Was hatte er zu grinsen?

Sie sah wieder auf ihren Bildschirm. Links oben in der Ecke blinkte ein kleiner Umschlag. Post für Sie. Sie klickte ihn an und öffnete die Datei. Es war eine E-Mail.

Von Joe.

52

An dem Tag, als Katherine sich bei Joe Roth entschuldigte, hatte er gesagt, er würde es sich überlegen. Und Joe Roth war ein Mann, der sein Wort hielt. Also überlegte er es sich.

Er war auch ein pragmatischer Mann, und als Katherine ihn mit ihrer Andeutung der sexuellen Belästigung zurückgewiesen hatte, hatte er seine Gefühle für sie auf Eis gelegt. Er hatte sie jedoch nicht in Bitterkeit ertränkt, wodurch sie korrodiert und zerstört worden wären. Obwohl sie ein wenig in den Hintergrund geraten waren, konnten sie doch jeden Augenblick hervorgeholt und wiederbelebt werden.

Nicht nur wollte Joe mit Katherine ausgehen, er wollte sie zu etwas ganz Speziellem einladen und etwas machen, das ungewöhnlich und atemberaubend war.

Es sollte etwas Magisches und Bedeutungsvolles sein. Etwas, womit er sein tiefes Interesse an ihr bezeugen konnte. Aber was? Ein Abendessen in einem ganz besonderen Restaurant? Eine Ballonfahrt? Ein Wochenende auf dem Land? In ein hübsches kleines Hotel? Nach Reykjavik? Oder nach Barcelona?

Am Wochenende überlegte er hin und her, kam aber zu keinem Ergebnis. Montag und Dienstag quälte er sich, es fiel ihm nichts ein.

Und plötzlich am Mittwoch hatte er es. Mit einem Mal war es sonnenklar. Es war eindeutig das Richtige für eine Frau von Katherines Kaliber.

Aber wie konnte er es bewerkstelligen? Bis zum nächsten Samstag? Dergleichen dauerte gewöhnlich Monate – selbst Mitglieder mußten acht Wochen warten.

Es war ihm klar, daß er die Unterstützung seines Freundes Rob brauchte, es ließ sich nicht vermeiden. Allein konnte er es nicht auf die Beine stellen. An dem Abend stattete er Rob einen Besuch ab – eine so große Bitte ließ sich nicht anders verhandeln. »Ich habe eine Frau kennengelernt«, leitete Joe die Unterhaltung ein.

»Ich weiß.«

»Nein. Eine andere.«

»Donnerwetter.«

»Sie heißt Katherine und ist etwas ganz Besonderes.«

»Das freut mich für dich.«

»Und ich möchte dich bitten, das ultimative Opfer zu bringen.«

Robs Augenlid zuckte. »Wovon redest du?«

»Samstag…«

»Samstag!« rief Rob aus. Er konnte doch nicht wirklich…?

»Samstag«, wiederholte Joe bedeutungsvoll.

»Keine Chance, mein Guter«, sagte Rob und wich zurück. »Kommt nicht in Frage. Du bist nicht an der Reihe – versuch es also erst gar nicht. Ein Nein ist oft schwer zu ertragen.«

»Eine Faust in den Magen ebenfalls.«

»Es ist dir also ernst.«

»Es war mir nie ernster.«

»Wir sind schon so lange befreundet, aber ich habe nicht geglaubt, daß du mir das je antun würdest.«

»Ja, es tut mir auch leid. Wirklich. Aber es geht nicht anders.«

»Wer ist die Frau? Pamela Anderson?«

»Besser. Was sagst du also: Ja oder nein?«

»Kannst du mit ihr nicht woanders hingehen?«

»Nein. Für Katherine ist nur das Beste gut genug.

Mach schon Rob, ich werde mich auch großzügig zeigen.

Ich bezahle jeden Preis.«

»Geld ist unwichtig, das weißt du. Ich fühle mich beleidigt.«

»Heißt das, es ist ein Ja?«

»Ich denke drüber nach.«

»Nein, ich muß es jetzt wissen.«

Rob sah Joe verblüfft an. »Mann, es muß dich ganz schön erwischt haben.«

»Vielleicht hast du recht.«

»Ich habe bestimmt recht.« Rob sah Joe wild an. »Meinetwegen. Aber ich bitte dich. Zweihundert Pfund?«

Rob seufzte. Er konnte sich nicht durchsetzen. »Also gut. Zweihundertfünfzig, und die Sache geht in Ordnung.« Am Donnerstagnachmittag klingelte Taras Telefon. Es war Katherine. Sie klang bedrückt.

»Was ist los?« fragte Tara, die immer auf schlechte Nachrichten von Fintan eingestellt war.

»Ich habe eine E-Mail von unserem Kandidaten bekommen.«

»Und?«

»Er hat mich für Samstag eingeladen.«

Tara bekam fast einen Herzanfall. »Das ist ja unglaublich! Ich dachte, du hättest gesagt, er sei schrecklich und hätte dich die ganze Woche links liegenlassen. Und jetzt erzählst du mir, daß du am Samstagabend mit ihm ausgehst! Das ist doch wunderbar!«

»Nicht Samstagabend. Samstag!«

»Paris mit dem Eurostar?«

Katherines Lachen klang merkwürdig bitter.

»Ach so. Lunch? Was Aufregendes?«

»Nein.«

»Was dann? Nicht in den Zoo, oder? Im November?«

»Nein, ehm…« Katherine brachte es kaum über sich, es zu sagen, so peinlich war es ihr.

»Was? Nun sag schon!«

»Er … ehm … er will … ehm…«

»Was will er?«

»Er will mit mir zu einem Fußballspiel gehen«, platzte sie endlich heraus, rot vor Scham. Sie wußte schließlich, was eine öffentliche Demütigung war. »Fußball ist das, was früher Rock ‘n’ Roll war«, sagte Tara, auf der Hut.

»Du brauchst nicht diplomatisch zu sein.«

»Wer spielt denn?« Davon hing eine Menge ab. Würde Katherine den Samstagnachmittag mit drei anderen auf einem matschigen Rasen irgendwo in den Vororten dabei zugucken, wie zwei Amateur-Mannschaften die Zuschauer zu Tode langweilten? Oder würde sie in ein großes, aufregendes Stadion gehen, wo es Sitzplätze, Imbißbuden, Programme und Souvenirs gab, und dort ein Spiel der ersten Liga sehen, für das der Eintritt mehr als Theaterkarten im West End kosteten?

»Ach, weiß ich nicht. Arsenal gegen irgendwen.«

»Arsenal!«

»Ich weiß. Gott, Tara, hätte ich mich doch bloß nicht auf das Ganze eingelassen. Ich könnte vor Scham vergehen. So eine Frechheit. Wenn es nicht um Fintan ginge –«

»Aber die Karten für Arsenal-Spiele sind kostbar wie Diamanten!«

»Wirklich?« Plötzlich sahen die Dinge schon besser aus.

»Es ist schwieriger, eine Karte für ein Arsenal-Spiel zu bekommen, als es für mich wäre, mich in eine Jeans Größe sechsunddreißig zu quetschen.«

»Woher weißt du das?«

»Ravi ist ein Gunners-Fan.«

»Wer ist das denn?«

»Die Gunners sind Arsenal. Himmel, du mußt noch viel lernen. Wir sollten dich zu Ravi in einen Intensivkurs schicken.«

Ravi machte eine Geste, als wollte er ihr die Kehle aufschlitzen. Er hatte höllische Angst vor Katherine. Er hatte für ihre rätselhafte Art nicht viel übrig und fand sie einfach nur ein bißchen unheimlich.

»Woher weißt du soviel über Fußball?« fragte Katherine.

»Weil Ravi für uns ein Fußball-Toto macht. Erzähl mir, was Joe in seiner E-Mail sagt.« Aufgeregt drückte Tara den Hörer dichter ans Ohr. »Lies mir Wort für Wort vor, was er geschrieben hat.«

Katherine sah sich vorsichtig im Büro um und senkte ihre Stimme noch mehr. »Er schreibt: ›Samstagnachmittag, Highbury. Ein Bier, Arsenal gegen Everton, und Sie? Wie wär’s? Ich verspreche, die Abseitsregel zu erklären und Sie anschließend zum Essen auszuführen.‹«

Tara konnte nicht sprechen, weil sie zu Tränen gerührt war. »Das ist so schön«, quiekte sie. »Und er geht mit dir essen. Das hattest du noch gar nicht gesagt.«

»Na jaaa…« Katherine wurde ganz warm vor Stolz.

»Na ja – also wirklich!«

»Also, ehm«, sagte Katherine förmlich, »könntest du bitte bis nach Samstag warten, bis du bei Thomas ausziehst? Ich brauche meine Wohnung vielleicht selbst.«

»Mist«, erklärte Tara. »Dabei wollte ich unbedingt heute abend ausziehen.«

»Wenn das mal stimmte!«

»Was wirst du anziehen?« fragte Tara gespannt. »Zieh Jeans an! Ich wünschte, ich könnte Jeans anziehen. Eine dreifache Herausforderung, Jeans anzuziehen. Mach schon. Mit seitlichen Reißverschlüssen. Eine vierfache Herausforderung. Fünffach.«

»Und wenn…?«

»Wenn was?«

»Na ja, sagen wir, wenn es … gleich klappt?«

»Katherine Casey! Bei der ersten Verabredung? Ich bin schockiert.«

»Dann habe ich die Jeansabdrücke auf dem Bauch. Und das ist nicht sehr sexy. Und was ist mit meiner Unterwäsche?« fragte sie vorsichtig.

Tara war überrascht über diese Offenheit. »Meinst du Strapse und das ganze Zeug?«

»Mmmm.«

»Na, ich bin hoch erfreut. Es ist auch an der Zeit, daß ein Mann die mal zu Gesicht bekommt. Aber du hast recht, mit Jeans kannst du die nicht anziehen. Warum ziehst du nicht Unterhosen an, auf denen steht: ›Ich habe in Highbury einen Volltreffer gelandete? Das gefällt ihm bestimmt. Solange du dir die Schamhaare rasierst, wird es ihm gefallen! Hahaha.«

Katherine bereute, daß sie Tara je von der GilletteSache erzählt hatte.

»Fintan wird begeistert sein.« Tara sang vor sich hin und war selbst auch begeistert. Je mehr Katherine und Joe Wirklichkeit wurden, desto größer die Chance, daß Fintan weniger Druck auf Tara ausüben würde. Allerdings hatte er jetzt schon mehrere Tage nicht mehr davon gesprochen, daß Tara Thomas verlassen sollte, fiel ihr da ein. Es war sogar fast eine Woche her. Nicht, daß das ein Grund für sie war, sich bequem zurückzulehnen.

53

»Sieh an, sieh an!« sagte Ravi anerkennend, als Tara auflegte. »Das kann man wohl sagen«, pflichtete Tara ihm bei. »Sie hat also eine Verabredung mit dem Typen aus dem Büro in der Tasche.«

»Sieht ganz so aus.«

»Und er ist Arsenal-Fan. Hört sich gut an. Nur ‘n bißchen komischen Geschmack, was Frauen angeht.«

»Ravi!« Tara wollte ihn tadeln, hielt sich aber statt dessen den Bauch. »Oh, Ravi…«

»Was denn jetzt?«

»Mandeln. Mandelhörnchen!«

Tara war wieder auf strenge Diät gesetzt, und das bewirkte nicht nur, daß sie bei allem, was sie sah und hörte, ans Essen denken mußte, sondern jetzt waren es auch die Gerüche, die sie quälten.

Es fing schon am Morgen an: Das Duftspray, das sie im Auto benutzte, roch nach Erdbeeren und ließ sie an gezuckerte Weingummis denken. Sie war wie getrieben von dem überwältigenden Bedürfnis, vor einem Kiosk zu halten und den gesamten Bestand an Weingummi aufzukaufen. Als sie auf den Westway einbog, verspürte sie plötzlich den dringenden Wunsch, sich selbst abzulecken. Sie roch köstlich, nach süßen Bountys oder nach Kokosnußeis. Das machte sie halb verrückt, bis ihr einfiel, daß die Körperlotion, die sie nach dem Duschen aufgetragen hatte, einen Kokosnußduft hatte. Als sie im Büro ankam, blies ihr der Geruch von ZitronencremeKuchen entgegen. Das ganze Gebäude war von dem köstlichen Duft erfüllt. Sie überlegte schon, ob dies das endgültige Zeichen war, daß sie verrückt wurde, doch dann erklärte Ravi ihr, daß die Reinigungsmittel, die für den Fußboden benutzt wurden, einen Zitronengeruch hatten.

»Wie kommst du auf Mandelhörnchen?« fragte Ravi.

Tara zeigte auf Evelyn und Teddy, worauf Ravi aufstand und die beiden schnüffelnd umrundete.

»Was machst du?« wollte Teddy wissen.

»Wegen Tara. Hat einer von euch irgendwas mit Mandeln benutzt? Parfüm? Oder Seife?«

»Ja«, sagte Evelyn erstaunt, »ich habe mir heute morgen die Haare mit Mandelshampoo gewaschen.«

»Vielleicht könntest du, bis Tara wieder mit dem Fasten aufhört, eine andere Geruchsrichtung benutzen?« fragte Ravi. »Etwas, das nicht eßbar ist.«

»Klar.« Evelyn warf Tara einen mitleidigen Blick zu. »Wäre Eukalyptus okay?«

»Entschuldigt«, murmelte Tara, »hört gar nicht auf ihn…«

Taras Gedanken kreisten unentwegt ums Essen. Als sie und Ravi mittags zu einer ihrer Bummeltouren aufbrachen, war sie nur kurz von den neuen kußechten Lippenstiften von Clinique abgelenkt – lange genug jedoch, um zwei Farbtöne zu kaufen. Aber als sie wieder auf die Straße traten, erinnerten sie die Ampeln mit ihren roten, gelben und grünen Lichtern an Riesenbonbons, und fast mußte Ravi Tara gewaltsam daran hindern, daß sie an einem der Pfähle hochkletterte. »Ich kaufe dir eine Rolle Drops«, bot er ihr an.

Tara schüttelte den Kopf. »Ich habe alle Kalorien für diese Woche gestern abend zu mir genommen. Daran ist Milo O’Grady schuld. Er bestand darauf, daß wir nach dem Pub noch in ein vietnamesisches Lokal gehen. Er will unbedingt alles ausprobieren, was London zu bieten hat.«

»Du solltest normal essen«, sagte Ravi, ausnahmsweise einmal vernünftig. »Wo Fintan krank ist und alles so schwierig.«

»Das Leben geht weiter.«

»Du bist hart im Nehmen.«

»Überhaupt nicht. Ich bin ein Wrack. Auf der einen Seite Thomas, auf der anderen Fintan, das macht mich völlig fertig.«

»Wie sieht’s denn aus mit Thomas und dir?«

»Schrecklich! Ich weiß nicht genau, wie es so weit kommen konnte, aber wir schaffen es gerade noch, höflich zueinander zu sein. Ich habe dauernd das Gefühl, daß etwas Schreckliches passieren wird.«

»Vielleicht denkst du die ganze Zeit an Fintan.«

»Leider nicht«, sagte sie. »Wenigstens nicht nur. Deswegen fühle ich mich auch noch schlechter. Wie kann ich mir Sorgen über meine Beziehung machen, wenn mein bester Freund so krank ist? Aber natürlich hat Fintan, obwohl er furchtbar krank aussieht, noch die acht Monate Behandlung vor sich«, fügte sie rasch zur Rechtfertigung hinzu, »er kann also wieder gesund werden. Und weil es ihm nicht dauernd schlechtergeht, kommt es mir … na ja, nicht gerade normal vor, aber ich habe mich dran gewöhnt. Katherine geht es genauso. Liv behauptet, es sei eine Überlebensstrategie. Man könne nicht auf Dauer in einem Zustand des Schocks oder der Trauer leben. Man müsse das Unnormale normalisieren.«

»Ihr Frauen. Warum macht ihr immer alles so kompliziert?«

»O nein, gerade stand es mir klar vor Augen!« Tara blieb wie angewurzelt stehen, so daß einige Passanten sie anrempelten und schon losschimpfen wollten, als sie das helle Entsetzen in ihrer Miene sahen. »Daß er nicht gesund wird. Wie ein Blick in die Hölle. Es kommt mir … böse vor!«

»Du brauchst was zu trinken.« Ravi nahm sie am Ellbogen und steuerte mit ihr in den nächsten Pub. Er führte sie zu einem Tisch und besorgte ihr einen Gin Tonic. »Ist er etwas freundlicher geworden, seit er aus dem Krankenhaus gekommen ist?«

»Ach wo.« Tara nahm einen Schluck aus ihrem Glas und spürte einen Schauer der Erleichterung. »Danke, Ravi, du hast mich gerettet. Nein, er ist unmöglich. Du hast bestimmt schon von Menschen gehört, deren Leben im Angesicht des Todes in Reinheit erblüht, oder? Also, bei Fintan ist das nicht so. Praktisch seitdem er nach Hause gekommen ist, benimmt er sich wie ein richtiges Ekel – er ist häßlich, unzufrieden, schlecht gelaunt. Man kann es ihm kaum zum Vorwurf machen. Als seine Haare ausfielen, wäre er beinahe gestorben.« Sie schrak zusammen. »Das ist wohl falsch ausgedrückt. Er fühlt sich so schlecht, weil seine weißen Blutkörperchen nach der hohen Chemodosis ziemlich dezimiert sind. Außerdem ist er wütend und hat Angst. Aber es ist nicht leicht, nett zu ihm zu sein.«

Als Tara Ravi ansah, standen Tränen in ihren Augen. »Manchmal möchte ich ihn schlagen, weil ich auch Angst habe und wütend bin. Und ich habe solche Schuldgefühle!«

Unbeholfen streichelte Ravi über Taras Hand. »Das ist bestimmt normal.« Er hatte zwar keine Ahnung, wie, aber er wollte so gern helfen. »Möchtest du noch einen Gin?« fragte er, obwohl sie kaum aus ihrem Glas getrunken hatte. »Und bestimmt wird er sich freuen, wenn er hört, daß Katherine sich mit dem Typen aus dem Büro verabredet hat.«

»Das kann ich nur hoffen. Ich schaffe es einfach nicht, das zu tun, was er will, und deswegen habe ich auch solche Angst und solche Wut.«

»Man weiß nie, wozu man fähig ist, wenn man es nicht versucht.«

»Ich weiß es, das kannst du mir glauben. Ich war mir nie so sicher. Ich schaffe es nicht, Thomas zu verlassen, und damit basta.«

»Aber du hast gesagt, daß es zwischen euch nicht stimmt.«

»Ja, schon … aber das ist vorübergehend. Er ist eifersüchtig auf Fintan, und weil ich so unter Druck stehe, esse ich zuviel und … Keine Sorgen, das renkt sich wieder ein. Schon bald.«

»Hoffentlich«, sagte Ravi freundlich. »Das ist ja alles kein Zuckerschlecken.«

»Sprich nicht vom Essen«, sagte Tara. »Es ist ein richtiger Zwang.«

»Nimm’s nicht so schwer.«

»Du bist lieb.« Voller Dankbarkeit bettete Tara ihren Kopf an Ravis Schulter, und er legte nervös einen Arm um sie.

»Mmmmm.« Tara schmiegte sich an ihn. »Du duftest herr-« Dann zog sie den Kopf zurück. »Crème brûlée! Du riechst nach Crème brûlée. Vanilleschoten und karamelisierter Zucker. Wie heißt dein After-shave?«

»JPG. Hat mir Danielle gekauft. Und wo du es sagst, fällt mir auch wieder ein, daß sie was von Herznote Vanille gesagt hat, oder so ähnlich.«

Nach der Arbeit ging Tara zu Fintan und brachte ihm einen Zeitschriftenartikel über chinesische Kräuterheilmethoden, den Vinnie ihr gegeben hatte.

Sandro kam ihr an der Tür entgegen. »Fintan ist komplett ausgerastet mit dem TV-Shopping-Kanal«, flüsterte er. »Er hat einen Heimtrainer gekauft, ein Country-Western-Album, das es in den Geschäften nicht mehr gibt, eine schreckliche Goldkette mit Armband als Set und eine Skilanglauf-Maschine. Er hängt dauernd am Telefon und gibt unsere Kreditkartennummer durch.«

Fintan thronte auf dem Sofa, einen Diana-VreelandTurban um den Kopf gewickelt, und machte ein sauertöpfisches Gesicht. Seit seiner Entlassung aus dem Krankenhaus war er unausstehlich, wie saure Milch. Er würdigte den Artikel von Vinnie kaum eines Blickes und warf ihn zur Seite. »Tara, jedesmal, wenn du kommst, hast du eine neue Hokuspokus-Therapie entdeckt, die ich ausprobieren soll. Homöopathie, Akupunktur, Rohkostdiät, Massage, Farbentherapie, Meditation – und jetzt sind es chinesische Kräuter.«

»Aber Fintan«, sagte Tara verzweifelt, »es lohnt sich, das zu probieren. Schaden kann es nichts.«

»Mach den Fernseher an«, fuhr er ihr grob über den Mund. »Wenn, dann mochte ich unterhaltsamen Schwachsinn sehen, statt mir diesen langweiligen Schwachsinn anzuhören.«

»Fintan«, sagte Sandro und rang die Hände, »sei bitte nicht so grob. Bald hast du keine Freunde mehr, du bist so unfreundlich…«

»Bei Tara brauche ich mir keine Sorgen zu machen«, sagte Fintan. »Je schlechter die Männer sie behandeln, desto anhänglicher ist sie.«

Tara zuckte zusammen, als hatte Fintan sie geschlagen, aber Fintan bemerkte gar nicht, daß er sie getroffen hatte, und drückte auf die Fernbedienung. Als das Flackern auf dem Bildschirm begann, saß Tara schweigend da, und ihr Gesicht brannte vor Scham. Sie haßte es, das Ziel für Mitleid und Spott zu sein, aber was sollte sie tun?

Katherine kam – seltsamerweise erst um neun – und brachte ihren Taschenrechner mit, angeblich, um Fintan und Sandro dabei zu helfen, einen Finanzplan zur Überbrückung aufzustellen, bis Fintan eine Abfindung oder Krankengeld bekam.

»Du mußt aufhören, soviel Geld auszugeben«, sagte Sandro flehend, was Fintan mit einem bösen Funkeln erwiderte.

»Ach, übrigens«, sagte Katherine und zog eine Zeitungsseite aus ihrer Handtasche, »heute kam im Independent was über Chakra-Heilen. Das sollte man sich vielleicht mal ansehen…«

Fintan rang sich ein Lächeln ab, allerdings ein bitteres. In der Hoffnung, daß Katherines wunderbare Neuigkeit von Joes E-Mail Fintan aus seiner gallenbitteren Stimmung herausholen würde, verabschiedete Tara sich und ging nach Hause.

Als sie zur Holloway Road kam und auf der Suche nach einem Parkplatz mehrmals um den Block gefahren war, kam ihr aus heiterem Himmel der Gedanke: Wenn ich hier nicht mehr wohnte, würde ich mir eine Wohnung in einer Gegend mit Anwohner-Parkplätzen suchen.

Sie war von sich selbst überrascht. Als Fintan zum ersten Mal davon sprach, daß sie Thomas verlassen sollte, hatte sie sich automatisch dagegen gewehrt, aber etwas mußte durchgesickert sein.

Dann stellte sie sich vor, wie es wäre, wenn sie allein lebte, und ihr Innerstes krampfte sich zusammen.

Sie schloß die Haustür auf. Jeden Abend fragte sie sich als erstes, in welcher Stimmung Thomas sein würde. Diesmal saß er über einen Stapel Aufsätze gebeugt und verwandelte jedes Blatt mit seinem roten Stift in ein Blutbad.

»Wo warst du?«

»Bei Fintan.«

»Ach so.«

»Und wie geht es Fintan?« hörte Tara sich plötzlich in sarkastischem Ton fragen. »Nicht besonders, Thomas, aber danke der Nachfrage.«

»Und was ist mit mir?« fragte Thomas. »Wann kriege ich dich zu sehen?«

Thomas wurde von Mal zu Mal ungehaltener, weil Tara soviel Zeit und Aufmerksamkeit für Fintan erübrigte. Das lag natürlich an seiner Verunsicherung. Aber Tara hatte keine Lust mehr, ihn zu entschuldigen. Und nichts anderes war es, fiel es ihr plötzlich wie Schuppen von den Augen.

»Ich dachte, wir könnten heute abend mal ausgehen«, sagte Thomas, »zu dem Inder.

»Ich faste.«

Thomas saß in der Zwickmühle. »Sehr gut, Tara«, lobte er sie, aber er wollte nicht allein in das indische Restaurant gehen. »Aber du könntest ja heute eine Ausnahme machen.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Als Fintan im Krankenhaus war, hast du dauernd gegessen!«

Ich mußte mir ein Auto mieten, dachte sie, meine Sachen passen nicht alle in den Käfer. Dann, als sie sich das Leben allein vorstellte, schloß sich diese Öffnung wieder.

Sie schaltete den Fernseher an, wo interessanterweise ein Dokumentarfilm über Frauen gezeigt wurde, die nach Jahren der Mißhandlung eines Tages ausrasten und ihren Partner umbringen.

»So könnte es mir gehen«, lachte Tara und beobachtete Thomas’ Reaktion.

»Eher mir«, entgegnete er selbstbewußt.

Während Tara zusah, wie Thomas die Aufsätze seiner Schüler korrigierte, erkannte sie mit plötzlicher Klarheit, wie sehr zuwider ihr Thomas seit Fintans Krankheit geworden war. Ihr übliches Zaudern hörte plötzlich auf, und sie wurde wagemutig. So wagemutig, daß sie – ironischerweise – dachte, jetzt sei der Zeitpunkt gekommen, die große Frage zu stellen.

Als sie den Mund aufmachte, begann ihr Herz wie wild zu klopfen.

Sie wußte nicht, wie sie die Frage stellen sollte.

»Thomas?« fragte sie. Sie hörte die Nervosität in ihrer Stimme, was ihr nicht gefiel.

»Was ist?« Er sah nicht mal von den Aufsätzen auf.

»Nichts.«

Wieder schwieg sie. Dann überkam sie das Gefühl erneut.

»Thomas?«

»Was?«

»Warum heiraten wir nicht?«

Die Augen auf das Blatt gerichtet sagte er schmunzelnd: »Wieso fragst du?«

»Oh. Nur so.«

»Das gefällt mir.« Er lachte leise vor sich hin. »Wir und heiraten!«

Und wieder herrschte Schweigen in dem braunen Wohnzimmer, und die Atmosphäre war freudlos und schwer. Tara spürte merkwürdigerweise nichts – keinen Verlust, keine Enttäuschung, keine Überraschung – nichts. Sie hatte erwartet, am Boden zerstört zu sein.

»Warum?« fragte Thomas nach einer Weile. »Bist du schwanger?«

»Wohl kaum.« Seit ihrem Geburtstag vor über einem Monat hatten sie nicht mehr miteinander geschlafen.

Wieder vergingen zehn Minuten im Schweigen.

»Du könntest schwanger sein, so wie du aussiehst«, sagte er.

»Du bist auch nicht gerade schlank wie ein Supermodel«, entgegnete Tara.

Er sah von seinen Korrekturen hoch, auf seinem Gesicht lag ein verletzter, kindlicher Ausdruck. »Das war gemein.« Er war überrascht.

»Jetzt weißt du, wie es mir geht.«

»Aber ich sage es, weil es zu deinem Besten ist.«

»Ich auch.«

Thomas sah sie an, dann wechselte seine Stimmung abrupt, und er grinste sie anzüglich an. »Man braucht einen großen Hammer, um einen großen Nagel einzuschlagen!« Sein lüsternes Grinsen sprach Bände.

Sie betrachtete ihn verwirrt. Sie hatte die Stirn gerunzelt, als wollte sie etwas Kleingedrucktes entziffern. Warum sah er aus wie ein Gartenzwerg?

Sie wollte nicht mit ihm schlafen, das war das einzige, was sie mit Sicherheit wußte.

»Du lachst bei dem Gedanken, mich zu heiraten, und dann erwartest du, daß ich mit dir ins Bett gehe? Irgendwas stimmt da nicht.«

Thomas sah sie verwirrt an. »Ach, Tara, komm schon«, sagte er kläglich. »Du hast mich ganz scharf gemacht. Sei nicht so verzickt.«

»Sieh zu, wie du damit klarkommst.« Sie stand auf und ging aus dem Zimmer.

Sie war nicht traurig. Sie wußte nicht, was sie empfand. Außer Hunger hatte sie keine Gefühle.

Aber bei dem Gedanken an Essen wurde ihr übel.

Früher hatte sie, wenn der Hunger so groß war, daß sie nicht schlafen konnte, zwei Nytols genommen. Es hatte damals geklappt, und es klappte auch diesmal. Aber der letzte Gedanke, als sie in den künstlich erzeugten Schlaf sank, war nicht – wie sonst – der an ein Bacon-Sandwich, sondern der an Alasdair. Wie es ihm wohl ging?

54

Am Freitagmorgen erwachte Tara mit einem unheilvollen Gefühl. Ihre Kiefer taten ihr weh, weil sie im Schlaf mit den Zähnen geknirscht hatte. Sie empfand Thomas’ Reaktion als Demütigung. Was war daran so erheiternd, wenn man heiraten wollte? Sie waren seit zwei Jahren zusammen. Manchmal heirateten die Menschen, da gab es nichts zu lachen. Die grobe Abfuhr tat ihr weh, auch wenn sie das in dem Moment nicht gemerkt hatte.

Obwohl sie ohne rechte Überzeugung behauptete, sie sei sich selbst nicht sicher, ob sie überhaupt heiraten wolle – schließlich hatte sie als Teenager über die Ehe als bürgerliche Institution geschimpft –, wünschte sie sich ein Zeichen dafür, daß Thomas ihre Beziehung ernst nahm.

Auf der Fahrt zur Arbeit zermürbte sie die Frage, was als nächstes geschehen würde. Es konnte einfach nicht so weitergehen? Oder doch? Sie hatte das schreckliche Gefühl, daß sie aus Gründen der Selbstachtung irgend etwas tun mußte, sich eindeutig verhalten mußte. Wie sie es vor einem Monat hätte tun sollen.

Aber das wollte sie nicht. Sie wollte lieber auf Zehenspitzen durch ihr Leben gehen, wie durch ein Abrißgebäude. Voller Angst, daß das alte Gemäuer einstürzen würde, wenn sie einen Fuß falsch aufsetzte. Oder wenn sie auf eine morsche Bohle trat oder sich an einem losen Balken festhielt.

Früher war es so schön mit Thomas gewesen, dachte sie. Wunderschön sogar. Vielleicht gab es keinen Grund, sich Sorgen zu machen, redete sie sich in einem Anflug wilder Hoffnung ein. Die Beziehung war noch nicht in tausend Scherben. Eigentlich hatte sich nichts verändert, das Gerüst schien noch tragfähig.

Vielleicht war tragfähig nicht das richtige Wort, mußte sie zugeben. Aber es sah immer noch aus wie früher. Einigermaßen. »Wie ist der neue Lippenstift?« begrüßte Ravi sie, als sie ins Büro kam. »Kußecht?«

»Wie soll ich das wissen?«

»Möchtest du probieren, ob er Doughnut-echt ist?« Er hielt eine mit Zucker bestäubte Doughnut vor ihr in die Höhe. Als sie zurückzuckte sagte er: »Tut mir leid. Wie wär’s mit einem Kaffee?«

Ravi holte ihr einen Becher Kaffee. Vinnie, Teddy, Evelyn, die schlanke Cherry und der dösige Steve wandten unwillkürlich ihren Blick von den Bildschirmen ab, um zu sehen, was passieren würde, wenn Taras Lippen mit dem Becher in Berührung kamen. Sie hob den Becher an den Mund, nahm einen kleinen Schluck und hielt ihn hoch, so daß alle ihn sehen konnten. Wie aus einem Munde riefen sie: »Oh!«, als sie den weinroten, halbmondförmigen Bogen des Lippenabdrucks am gelben Becherrand gewahr wurden. »Es hieß, er sei lange haltbar«, tröstete Ravi sie, »nicht unauslöschlich.«

Tara seufzte und sagte: »Ich glaube, ich geb auf. Offenbar ist mir kein Erfolg beschieden.«

Nach der Arbeit ging sie mit Ravi und den anderen Kollegen in den Pub und erwähnte weder Thomas noch Fintan noch sonst etwas Unangenehmes. Aber in ihrem Kopf spukte alles mögliche umher. Sie wurde das Gefühl eines allgegenwärtigen, nicht faßbaren Schreckens nicht los.

Sie ging nach Hause. Als sie Thomas sah, wuchs das Gefühl der Kränkung. Sie bemühte sich um einen normalen Ton und sagte: »Weißt du was? Katherine ist morgen mit einem Mann verabredet.«

Er schnaubte. »Ob sie wohl das Vorhängeschloß von ihrem Höschen nimmt?«

Sie zwang sich, nichts zu sagen. Sie konnte es sich nicht leisten, wütend zu werden. Aber sie sah sie beide plötzlich wie aus großer Entfernung und dachte, daß dies doch eine merkwürdige Art des Umgangs für zwei Menschen sei, die sich angeblich liebten.

Was für ein groteskes Leben. Was für eine Verschwendung.

Sie konnte nicht sagen, wann sie die Grenze überschritten hatten, aber sie wußte, daß es nicht immer so gewesen war.

Sie war es so leid. All diese schwierigen Dinge in ihrem Leben – sie konnte nicht mehr.

»Hol mir was zu trinken«, sagte sie. »Ein Glas Weißwein.«

Verdutzt gehorchte er.

Etwas Grundlegendes war in Gang gekommen. Sie wußte nicht, was es war. Und sie war sich nicht sicher, ob sie es herausfinden wollte.

55

Tara hatte längst gelernt, ihr Leben in verschiedene Abteilungen zu gliedern. Thomas hatte sich nie mit ihren Freunden einlassen wollen. Als sie am Samstagmorgen zu Katherine fuhr, um ihr bei den Vorbereitungen für die Verabredung mit Joe Roth zu helfen, fiel es ihr deshalb leicht, ihr Gekränktsein und das Gefühl, daß eine Veränderung in ihrem Leben mit Thomas bevorstand, zurückzulassen. Sehr leicht sogar. Ihr Leben war in letzter Zeit sehr unangenehm geworden, es verwirrte und verunsicherte sie, so daß es geradezu ein Vergnügen war, für kurze Zeit daraus zu entkommen. Berstend vor Aufregung kam sie bei Katherine an.

Katherine trug einen BH und enge Jeans. Der Reißverschluß betonte ihren flachen Bauch und die Hüftknochen.

»Du ziehst sie an, weil du weißt, wie gern ich welche tragen würde, stimmt’s?« sagte Tara erfreut. »Weil du mich magst.«

»Ich ziehe sie an, weil ein Fußballstadion nicht der geeignete Ort für das kleine Schwarze ist«, erwiderte Katherine.

»Stimmt ja gar nicht, du tust deiner dicken alten Freundin einfach einen Gefallen und läßt mich teilhaben an den Jeans. Ich wünschte, ich wäre schlank wie du«, sagte Tara mit Bedauern, »du mit deinem flachen Po und den dünnen Beinen. Zum Glück bist du meine Freundin, sonst hätte ich dich schon längst umgebracht.«

Tara sah sich in der Wohnung um. Etwas war anders als gewohnt. Die Zimmer waren immer noch in einem heillosen Durcheinander, obwohl die O’Gradys vor fast einer Woche abgereist waren. Dem Teppich im Wohnzimmer hätte es gutgetan, wenn er mal gesaugt worden wäre, die Möbel waren staubig, die Dinge standen nicht an ihrem Platz, und durch die offene Küchentür sah man die schmutzigen Teller unordentlich im Spülbecken stehen.

»Ach, das.« Katherine winkte ab. »Ich weiß. Ich wollte einen Großputz machen, als sie abgefahren sind, aber, na ja…« Dann fügte sie hinzu: »So schlimm ist es ja nicht. Mir macht es nichts. Ein bißchen unordentlich, aber wenigstens ist es sauber.«

Es war nicht sauber, aber Tara schluckte ihre Bemerkung schnell hinunter und schwieg.

»Weiß du, ich vermisse sie regelrecht«, bekannte Katherine. »Ich hatte mich an sie gewöhnt.«

»Aber sie haben dich wahnsinnig gemacht«, rief Tara. »Milo, der deine Coco-Chanel-Lotion benutzt hat, zum Beispiel.«

»Wir haben keine Beweise dafür, daß es Milo war«, verteidigte Katherine ihn. »Vielleicht war es auch JaneAnn oder Timothy.«

»Wenigstens roch es so, als wäre er es gewesen. Weißt du, ich glaube, er hat ein richtiges Faible für schöne Dinge.«

»Er fühlt sich mit Livs Lebensstil pudelwohl, das finde ich auch«, stimmte Katherine ihr zu.

Tara schnüffelte. »Was riecht hier so komisch?« Sie schnupperte erneut. »Angesengtes Haar?«

Katherine sah sie verlegen an. »Ich glaube, ich habe zuviel Entkrauser genommen.«

»Meine Güte, du meinst es ernst mit deinem Joe-RothProjekt. Und was ist, wenn ihr zusammen ins Bett gehen wollt? Meinst du nicht, daß deine Wohnung ein bißchen…« – sie zögerte – »… ein bißchen unordentlich ist?«

»Ich habe teure Unterwäsche gekauft«, gestand Katherine. »Mehr kann ich das Schicksal nicht herausfordern.«

»Noch mehr Unterwäsche?« Tara riß die Augen weit auf. »Wenn du ab heute bis zu deinem Tod jeden Tag frische Unterhosen anziehen würdest, hättest du am Schluß immer noch ein oder zwei Paar übrig!«

»Siehst du«, sagte Katherine fröhlich, »du gehst immer davon aus, daß wir ewig leben.«

Tara wurde blaß. »Jedesmal, wenn ich dran denke, ist es so schlimm wie beim ersten Mal. Er kommt doch durch, oder?«

»Vielleicht. Hoffentlich!«

Der Gedanke an den Tod stand im Raum, bis Katherine sagte: »Komm, wozu bist du denn hier? Hilf mir lieber beim Anziehen.«

Trotz allem ließ Tara sich von der Aufregung anstecken.

»Was soll ich obenrum anziehen?« fragte Katherine.

Tara ging alle Sachen auf den Bügeln in Katherines aufgeräumtem Kleiderschrank durch. »Du mit deiner Kombinationsgarderobe«, murmelte sie vor sich hin. »Man kaufe neutrale Farben, achte darauf, daß ein neues Teil zum Rest der Garderobe paßt, zu Beginn der Saison kaufe man ein paar Grund-Kleidungsstücke – einen grauen Hosenanzug, ein dunkelblaues Kostüm, schwarze Hosen mit schmal geschnittenen Beinen und ein schwarzes Hemd – und baue darauf auf.« Sie war am Ende der Bügel angekommen. »Tut mir leid, Katherine, ich sehe keine Oberteile, die sexy sind, und zu den Jeans kannst du wohl kaum eine Bürobluse anziehen.« Als wäre sie mit ihrer Weisheit am Ende stemmte sie die Hände in die Hüften. »Und so, im BH, kannst du schlecht gehen, oder?«

Zu ihrer Überraschung sagte Katherine, während sie ein Tüte unter dem Bett hervorzog: »Na ja, ich war noch mal einkaufen … und habe das hier gefunden. Aber es paßt nicht richtig zu mir«, fügte sie entschuldigend hinzu. »Es ist ein Bumerang.«

Tara sah sie verständnislos an.

»Ich meine, ich bringe es zurück«, erklärte Katherine.

»Laß mich mal sehen.« Tara zog einen himbeerfarbenen kurzen Pullover aus der Tüte. »Anziehen!« befahl sie. »Sofort.«

»Aber –«

»Anziehen!«

Unsicher stand Katherine vor Tara. Sie sah bezaubernd aus. Das Dunkelrosa brachte ihr Gesicht zum Leuchten, als wären kleine Strahler in den Pullover eingestrickt. Das glänzende Material war figurbetont und so kurz, daß es einen verführerischen Ausschnitt von Katherines flachem Bauch freiließ. Sie hätten Katherine ein Bauchnabel-Piercing machen lassen sollen, dachte Tara – sie selbst hätte auch gern eins, aber die Fettschichten, die man durchbohren mußte, waren so dick, daß der Ring den Durchmesser eines Tellers hätte haben müssen.

»Du mußt ihn anziehen!« sagte Tara überschwenglich.

»Ich kann das nicht tragen«, protestierte Katherine. »Alles zeichnet sich darunter ab. Außerdem ist das zu jung für mich.«

»Bitte«, sagte Tara. »Du siehst sexy und verführerisch aus. Und er ist es so gewöhnt, dich bis oben hin zugeknöpft in deinen anständigen Kostümen zu sehen, daß er nicht wissen wird, wie ihm geschieht.«

»Aber es ist November. Ich werde mich erkälten.«

»Erkältungen werden durch Viren übertragen. Und du hast doch einen Mantel. Welchen ziehst du an?«

Es entstand eine kleine, verlegene Pause. Katherine sah sie schuldbewußt an. »Als ich einkaufen war, hab ich das hier gesehen«, sagte sie und zog eine weitere Tüte unter dem Bett hervor. »Aber ich hätte sie nicht kaufen sollen. Ich bringe sie am Montag zurück. Sie ist nur für ein kurzes Wochenende hier. Ich weiß nicht, was mich geritten hat…«

Tara entriß ihr die Tüte und zog eine dreiviertellange petrolblaue Jacke aus weichem Leder heraus, die noch in Seidenpapier eingewickelt war. »Meine Güte! Was hast du sonst noch da drunter?« Tara warf sich auf den Boden wie eine Geisel bei einem Banküberfall.

»Nichts«, sagte Katherine hastig. »Nur noch ein paar Stiefel. Und ein bißchen Schmuck und Make-up. Oh, und Unterwäsche, aber die ist bestimmt nicht das Richtige für mich – bei den anderen Sachen kann man ja noch streiten, aber das war ein riesiger Fehler.«

»Stie-hie-fel!« Taras Kopf war unter dem Bett verschwunden, so daß ihre Stimme gedämpft, aber dennoch ekstatisch darunter hervorklang.

Katherine entnahm daraus, daß Tara die Prada-Stiefel gefunden hatte. »Komm wieder hoch.«

Tara kroch unter dem Bett hervor. »Deswegen bist du am Donnerstag erst um neun bei Fintan gewesen. Du warst einkaufen!«

Ehrfurchtsvoll faltete sie die Jacke auf. »O Gott, ich kann es nicht fassen«, rief sie aus, als sie den Namen sah. »Dolce and Gab –«

»Laß uns lieber nicht darüber sprechen«, unterbrach Katherine sie. »Unerträgliche Schuldgefühle, du weißt schon.«

Tara war erleichtert. Katherine hatte ganz entgegen ihrem Wesen ein Vermögen für unpraktische und teure Sachen ausgegeben, aber wenigstens war sie so anständig, schreckliche Gewissensbisse zu haben.

Endlich war Katherine fertig. Sie trug den neuen Pullover, die Jacke, Stiefel, Ohrringe, Tangahöschen, einen Spitzen-BH, Lippenstift, Lidschatten und einen Tropfen Boudoir an ihrem Hals und auf ihrem kleinen Dekolleté. Dann gestattete sie, daß Tara ihre Haare zu Zöpfen flocht.

»Du siehst aus wie vierzehn«, sagte Tara. »Gehe hin und sündige, mein Kind.«

»Darauf kannst du dich verlassen.«

»Wirklich? Bei der ersten Verabredung?«

»Man soll das Leben in vollen Zügen leben«, sagte Katherine spitz. »Morgen sind wir vielleicht schon tot.«

Sie schien davon tatsächlich überzeugt, und in Tara kam wieder die Angst hoch. Sie konnte darauf verzichten, daß Katherine diese merkwürdigen Dinge sagte.

Als sie aus dem Haus traten, sah Tara sich vorsichtig um.

»Nach wem hältst du Ausschau?«

»Nach Ravi. Es würde mich nicht überraschen, wenn er dir auflauert und einen überbrät und sich dann mit deinen Sachen als du verkleidet, um ins Stadion zu kommen.«

»So begehrt sind die?« sagte Katherine zufrieden.

Fintan war auch zu der großen Vorbereitungszeremonie bei Katherine eingeladen worden, hatte aber schroff abgelehnt. In der Hoffnung, ihn aufheitern zu können, beschlossen Tara und Katherine, ihm die Früchte ihrer Bemühungen vorzuführen, bevor Katherine sich mit Joe traf.

Sandro kam zur Tür, blaß und besorgt und ganz der Leidgeprüfte. Ohne ein Wort, mit zusammengepreßten Lippen deutete er auf das Wohnzimmer.

Fintan lag auf dem Sofa. Er trug eine Afro-LookDiana-Ross-Perücke. Der erste Anblick seines abgemagerten, grauen Gesichts war immer ein Schock. Obwohl man sein Erscheinungsbild mit den Auswirkungen der Chemotherapie und dem Rückgang der weißen Blutkörperchen erklären konnte, war es unmöglich, nicht im ersten Moment zu denken, man starre dem Tod ins Gesicht. Aber sie überwanden den Schreck – schließlich hatte man ihnen erklärt, daß es Fintan schlechtergehen würde, bevor Besserung eintreten konnte.

»Wie geht es dir?« fragte Tara.

»Beschissen!« erklärte er.

»Aber nicht schlechter?« fragte Katherine.

»Nein«, gestand er unwillig ein.

Noch vor zwei Wochen hatten sie jedesmal eine halbe Stunde darauf verwandt, seinen Gesundheitszustand zu erörtern, aber da sie sich versichert hatten, daß es keine neuen Tumore oder Schwellungen gab, keine unerklärlichen Schmerzen, schien alles fast normal. »Hast du es bequem?« frage Tara, worauf die Anspannung stieg.

»Nein. Ich sitze auf den blanken Knochen.«

»Wie er wieder angibt. Bist du soweit, Katherine?« Sie nickte, und Tara verkündete: »Trara, trara! Und hier kommt Katherine Casey, Überbaby, Sex-Mieze und JoeRoth-Fan. Dieses Mädel hat sich was vorgenommen, überzeugen Sie sich selbst.«

Katherine kam in den Raum gesprungen und vollführte einen kleinen Tanz, sie präsentierte ihre neuen Kleider, knöpfte die Jacke auf und reckte ihre mageren Hüften hierhin und dorthin. »Tanzen konntest du noch nie«, sagte Fintan, worauf Katherine gekränkt und stumm stehenblieb.

In dem Moment bemerkte Tara eine Dose Bier auf dem Couchtisch. Die Angst sprang sie an, ihr wurde kalt. Ihre Augen begegneten Katherines, die die Dose auch bemerkt hatte.

»Heute hat Katherine ihre Verabredung mit Joe Roth.« Unwillkürlich verfiel Tara in die langsame und deutliche Art zu sprechen, wie man es bei Verrückten oder Geisteskranken tat. »Meinetwegen braucht sie es nicht zu tun«, sagte Fintan böse.

»Aber freust du dich nicht?« fragte Tara entmutigt.

Katherine stand schweigend daneben. »Bist du nicht aufgeregt? Ich meine, es ist nur deinetwegen soweit gekommen. Gewissermaßen, sozusagen…«

»Ich glaube, du verwechselst mich mit dem Krebspatienten, den so was noch interessiert.«

»Aber sie hat es für dich getan.« Plötzlich hatte Tara ein unwiderstehliches Verlangen nach einer Zigarette. »Das stimmt nicht«, sagte Fintan. »Sie hat es für sich getan.«

»Ich habe es wirklich für dich getan«, beharrte Katherine mit einem Krächzen.

»Und jetzt kannst du damit aufhören.«

»Dazu ist es jetzt zu spät.«

»Gar nicht. Es ist nie zu spät. Du bist wieder frei. Ich möchte sogar, daß du dich nicht mit ihm triffst«, sagte Fintan in verletzendem Ton.

»Das kannst du nicht tun.« Taras Stimme überschlug sich fast. »Sie hat eine Jacke von Dolce and Gabbana gekauft. Und Unterwäsche von Agent Provocateur. Und

Prada-Stiefel – zeig ihm die Stiefel, Katherine, zieh die Jeans hoch, sieh dir diese Absätze an, Fintan. Der Pullover ist zwar nur von French Connection…« Als Katherine gehorsam die Jeans hochzog, stand ein flehender Ausdruck in ihrem Gesicht. Die Vorstellung, nicht zu der Verabredung mit Joe Roth zu gehen, enttäuschte sie mehr, als sie sagen konnte.

»Siehst du«, sagte Fintan, den Mund zu einem bitteren Lächeln verzogen, »du willst dich mit ihm treffen. Es hat nichts mit mir zu tun. Ich war nur der Auslöser.« Katherine war in tiefe Konflikte gestürzt. Sie hatte nichts mit Joe zu tun haben wollen. Also, eigentlich schon, aber sie hätte nie etwas getan, um es möglich zu machen. Und sie hatte wirklich Angst gehabt, daß Fintans Zustand sich verschlechtern würde, wenn sie nicht tat, worum er sie bat. Aber sie mußte zugeben, daß ein Teil von ihr froh war, einen Grund gehabt zu haben, Joe anzumachen. Und jetzt wollte sie nicht aufhören. Sie hatte das Gefühl, daß es nichts mehr mit Fintan zu tun hatte.

Und vielleicht hatte es sowieso nie etwas mit ihm zu tun gehabt, außer daß seine Krankheit alles ins Rollen gebracht hatte.

All das war für sie schrecklich unangenehm, und plötzlich verstand sie, wie Tara sich gefühlt haben mußte, als Fintan von ihr verlangte, sie solle Thomas verlassen.

»Aber warum hast du mich dann gebeten, wenn es dir hinterher gleichgültig ist?« murmelte sie.

»Ich habe Krebs, meine Gute. Ich kann machen, was ich will.« Fintans Stimme war voller Überdruß. »Damals schien es mir eine gute Idee, Katherine. Wirklich. Ich dachte, du und Tara, wenn ihr euer Leben voll auslebt, dann würde ich durchkommen. Liv hat mir erklärt, daß ich mich in der dritten Phase befand, in meiner Reaktion auf eine schlechte Nachricht – und da will man einen Handel abschließen.«

»Was sind die ersten beiden?« fragte Tara.

»Leugnen und Depression.«

»Und in welcher bist du jetzt?«

»Ich bin in der vierten versumpft.«

»Und was ist das für eine?«

»Selbstmitleid. Merkt man das nicht?«

»Es ist kein Selbstmitleid«, sagte Katherine, die sich mit Liv unterhalten hatte. »Es ist Zorn.«

»Auch egal.«

»Gibt es eine fünfte Phase?« fragte Tara, auf alles gefaßt. Was würde ihnen noch bevorstehen?

»Ja. Sich abfinden, anscheinend. Aber bis dahin bin ich tot.«

Tara wollte in einer automatischen Antwort diese Möglichkeit leugnen, aber Fintan ließ es nicht zu. »Laß das, bitte. Wie ein Kind behandelt zu werden macht mich so unglaublich sauer. Guck mich doch an – ich habe immer noch einen Kiwi-Hals, trotz enormer Dosen schauderhafter Chemotherapie. Ich bin ein lebendiger Krebstumor, ich kann an nichts anderes denken.« Zu Katherine gewandt sagte er: »Geh du mal. Triff dich mit ihm, vergnüg dich, mach dir einen schönen Tag.« Sie zögerte zuzugeben, daß sie sich mit Joe Roth verabredet hatte, weil sie selbst es wollte. Aus dem Bedürfnis heraus, Fintan mit einzubeziehen, sagte sie: »Wenn es gutgeht, bringe ich Joe vorbei, damit du ihn kennenlernst.«

»Mach dir keine Mühe.«

»Ich glaube, ich sollte gehen«, sagte Katherine. »Sonst komme ich noch zu spät.«

Auf dem Weg zur U-Bahn-Station legte sie auf ihren zehn Zentimeter hohen Absätzen ein beträchtliches Tempo vor und versuchte so, den Zorn und die Verwirrung, die in ihr tobten, abzuschütteln.

Tara blieb mit Fintan allein. Sie fühlte sich äußerst unwohl mit ihm. Anscheinend ging es Sandro nicht anders, denn er vermied es, ins Zimmer zu kommen. Früher war Fintans Leben ein überschäumender Quell süßer Freude gewesen. Jetzt war es ein verkümmertes, bitteres, wertloses Ding. Sie hoffte inbrünstig, er würde Thomas nicht erwähnen. Zwar hatte er Katherine freigesprochen – obwohl die gemeine Art, wie er es getan hatte, nicht wie eine Absolution schien –, doch Tara wußte nicht, ob das gleiche auch für sie galt. Vielleicht hing jetzt alles an ihr, und sie konnte sich nicht überwinden zu fragen.

»Meinst du, es ist eine gute Idee, wenn du das trinkst?« Mit dem Kopf deutete sie auf die Bierdose auf dem Tisch.

»Warum fragst du? Möchtest du es haben? Ist es nicht ein bißchen früh für dich, um damit anzufangen?«

»Ich könnte dich dasselbe fragen.«

»Ja, aber ich habe Krebs.«

Tara seufzte innerlich. »Noch mehr Grund.« Sie nahm allen Mut zusammen und fragte: »Sollen wir zusammen eine Visualisierung machen?«

»Was für ein Ding?«

»Eine Visualisierung. Wie es beschrieben wird. Du weißt schon, wir stellen uns vor, daß du Güte und Reinheit und Licht und so in dir aufnimmst.« Angesichts seines bitter-amüsierten Blicks wurde ihre Stimme immer leiser.

»Wie geht’s Thomas?« fragte er sie. Genau die Frage, die sie befürchtet hatte.

»Ehm, ich hab mit ihm gesprochen, mit dem Heiraten, das wird wohl nichts, und ich hab auch nicht vergessen, was du gesagt hast – daß ich ihn verlassen soll –, ich denke daran, und ich –«

Sie war überrascht, als er sie unterbrach und das wiederholte, was er schon zu Katherine gesagt hatte: »Mach dir keinen Kopf meinetwegen.«

»Was meinst du damit?«

»Mir ist es scheißegal, was du machst. Bleib dein Leben lang bei ihm, wenn du willst.

»Du willst nicht, daß ich ihn verlasse?«

»Nein, Tara. Es interessiert mich wirklich nicht die Bohne. Heirate ihn oder laß es. Bleib bei ihm, laß dich weiterhin als Fußabtreter benutzen, ganz wie du willst. Es ist dein Leben, nicht meins, also kannst du damit machen, was du willst. Verschwende es, meinetwegen – so wie alle anderen auch.«

»Ah, gut.«

»Das Leben«, sagte Fintan bitter, »ist ein weggeworfenes Geschenk für die Lebenden.«

»Ich bin also aus dem Schneider?« fragte Tara vorsichtig.

»Frei, das zu tun, was du willst.«

»Oh, das ist ja gut.« Sie lächelte gequält. »Ich wußte nicht, ob du deine Ansicht nur bei Katherine geändert hattest. Aber, ehm … danke.«

Sie wartete darauf, daß die Last von ihr abrollte, daß sie sich frei, befreit, leicht fühlen würde. Alles war wieder in Ordnung. Sie konnte bei Thomas bleiben. Fintan hatte ihr seinen Segen gegeben, und sie konnte bei Thomas bleiben, so lange sie wollte.

Yippie, rief sie innerlich. Sie konnte für immer bei Thomas bleiben. Sie konnte bei Thomas bleiben, für immer!

Warum erschien ihr das plötzlich wie ein Alptraum, und nicht wie ein Traum, der wahr geworden war?