56

Joe wartete, wie verabredet, im Schalterraum der U BahnStation Finsbury Park. Es liefen so viele Leute in Arsenal-Hemden herum, daß sie ihn einen Moment lang nicht sah. Dann entdeckte sie ihn, er lehnte an der Wand und hatte die Hände in den Jackentaschen. Er trug verblichene Jeans, dicke Arbeitsstiefel und eine große Lederjacke mit breiten Schultern. Eine Strähne seines dunklen Haars war ihm in die Stirn gefallen, und sein Blick war in die Ferne gerichtet. Als sie nervös auf ihn zuging, blieb sein Gesicht verschlossen, fast feindselig. Für einen Augenblick bedauerte sie, daß sie gekommen war.

Sie stand praktisch schon vor ihm, als seine Miene sich aufhellte.

»Katherine!« Er stieß sich von der Wand ab und richtete sich auf, und gleich war er viel größer als sie. »Ich habe Sie nicht erkannt.« Dann musterte er unverhohlen ihre Haare, ihre Jacke, die Jeans und die Stiefel und sagte noch einmal: »Ich habe Sie nicht erkannt.« Er schüttelte ungläubig den Kopf, stieß den Atem aus, schob die Strähne aus der Stirn und sagte: »Wow!«

Sie wand sich vor Verlegenheit. »Ich sehe doch kaum anders aus als sonst.«

»Schon, aber…« Sein Grinsen wurde breiter, seine Zustimmung war unübersehbar.

Sie lächelte ihn kurz an, dann senkte sie den Blick, verlegen und glücklich. »Tut mir leid, daß ich zu spät bin«, sagte sie.

Er sah auf seine Uhr und sog scharf die Luft ein. »Dreieinhalb Minuten, Katherine. Ich hatte schon angefangen, mir Sorgen zu machen.« Das stimmte. »Aber Sie sind da, das ist die Hauptsache. Hier entlang.« Er ging mit ihr zur Straße. Auf dem Weg zum Stadion berührte er sie nicht, er nahm weder ihre Hand noch ihren Ellbogen, um sie zu führen. Aber er ging nah neben ihr und schuf ein sicheres Kräftefeld um sie herum. Er war so freundlich wie damals, als er im Büro immer zu ihr gekommen war, aber sie betrachtete das nicht mehr als Grund, grausam und abweisend zu sein.

Das Stadion war riesig. Nachdem sie den Eingang passiert hatten, gingen sie auf einen kleinen Drink in die Bar. Dann brauchten sie fast zehn Minuten, um im Gedränge mit Hunderten von Fans auf schmalen Gängen und über Treppen in die kalte Novemberluft zu gelangen, wo ihnen kräftiges Singen aus nah und fern entgegenschallte.

Die Plätze waren numeriert, und eine enorme Überdachung bot Schutz vor schlechtem Wetter. Alles war sehr zivilisiert und gar nicht vergleichbar mit der Vorstellung, die Katherine sich ursprünglich gemacht hatte. Sie hatte gedacht, man würde auf einem Stehplatz auf den Rängen im Regen stehen, dabei versuchen, über die Köpfe vor einem zu sehen, und ständig die Ellbogen der anderen in die Rippen bekommen.

Und es waren Frauen da, viele Frauen. Sie war keineswegs eine Ausnahme. Joe und sie gingen durch eine Reihe mit Plastiksitzen nach der anderen und dann viele Stufen hinunter, bis sie ihre Plätze gefunden hatten. Sie setzten sich, die Sitze waren eng nebeneinander, ihre Oberschenkel berührten sich fast, ihre Arme waren aneinandergedrückt, Joes große schwarze Schulter überragte Katherines schmale blaue. Sie war erstaunt, wie viele Menschen da waren. Tausende. Unter ihr reihenweise Köpfe, bis zum Spielfeldrand. Sie drehte sich um und sah eine endlose Menge von Oberkörpern, die eine fast senkrecht ansteigende Fläche bis zu der Metallüberdachung bildeten. Dann beugte sie sich vor: meterweise Knie in beide Richtungen. Auch die anderen drei Ränge waren voller Zuschauer. In der Ferne sah das Gewimmel der Menschen wie rote Seealgen im Wasser aus. Es war ehrfurchtgebietend.

Das Klatschen und Stampfen hallte von dem Metalldach wider und füllte das Stadion mit einem ohrenbetäubenden, irgendwie urzeitlichen Lärm. Mächtig und machohaft. Ihr Herz klopfte im Rhythmus mit dem donnernden Stampfen. Sie spürte die Vibrationen in ihrem Körper.

Joe beugte sich zu ihr und sagte: »Alles in Ordnung?«

»Alles in Ordnung.« Sie nickte zu ihm hinauf, mit einer winzigen Andeutung von einem Lächeln.

»Ist Ihnen warm genug?«

Sie nickte wieder.

»Können Sie sehen?«

Noch ein Nicken.

»Nicht, daß es jetzt schon was zu sehen gäbe«, fügte er hinzu.

Nach einer kurzen Pause fragte er: »Möchten Sie einen Hamburger? Oder das Programm haben?«

Joe war plötzlich von Panik ergriffen, daß Katherine vielleicht nicht so begeistert von dieser Verabredung war wie er.

Seine Sorge gefiel ihr, und sie sagte: »Ich hatte nicht gedacht, daß es so…«

Er betrachtete sie erwartungsvoll. »So…?«

»So aufregend sein würde.«

Dankbarkeit und Freude durchströmten ihn. Er hatte recht, er hatte von Anfang an recht gehabt mit ihr! In ihr loderte ein unerkanntes Feuer, und eine Leidenschaft schlummerte unter dem kühlen Äußeren.

»Wenn Sie das hier schon aufregend finden«, sagte er und grinste, »dann machen Sie sich auf was gefaßt.«

Befremdet riß sie die Augen auf. Wie vermessen von ihm!

»Wenn das Spiel angefangen hat«, stammelte er.

Um sie herum fingen die Menschen an zu singen.

»My old man

Said, ›Be an Everton fan‹,

I said, ›Fuck off, bollocks, you’re a…‹«

Zum Glück stimmte Joe nicht mit ein. Sie war sich nicht ganz sicher, wie sie das aufgenommen hätte. Aber die rohe Kraft war unmittelbar, überschäumend, sehr männlich und sehr sexy.

»Sind Sie schon lange Fußballfan?« fragte sie schüchtern.

»Oh, ja. Lange bevor Nick Hornby Fußball für die Mittelschicht akzeptabel gemacht hat. Ich bin seit meinem vierten Lebensjahr ein treuer Fan von Torquay United.«

Mit einem Gefühl der Sehnsucht stellte Katherine sich Joe als vierjährigen Jungen vor. »Ist Torquay United ein guter Verein?«

»Himmel, nein.« Er schüttelte heftig den Kopf und grinste. »Sie sind … wie soll ich sagen? Sie haben nicht den rechten Erfolg. Beziehungsweise sie haben nicht die rechten Talente. Sie sind in der dritten Liga.«

»Warum unterstützen Sie sie dann? Weil Sie sich auf die Seite der Schwächeren schlagen wollen?«

Wieder schüttelte er den Kopf. »Nein, es hat damit zu tun, wo man zur Welt kommt und wo man aufwächst. Ich bin aus Torquay, ich habe also keine Wahl.«

»Kismet.« Sie verstand.

»Richtig.« Was für eine Frau! »Schicksal.« Alle anderen Frauen in seiner Bekanntschaft, wo immer sie zu Hause waren, unterstützten Manchester United und wollten ihn auch dazu überreden. Er lächelte sie von der Seite her an. Jedesmal, wenn ihre Blicke sich trafen, hatte sie Schmetterlinge im Bauch.

»Und wieso gehen wir dann zu einem Arsenal-Spiel?« fragte sie.

»Als ich nach London kam, war mir gleich klar, daß ich nicht jedes Wochenende nach Devon fahren konnte. Und da ich gleich neben dem Arsenal-Stadion wohne und lieber irgendeinen Verein als keinen sehen wollte…«

»Ich verstehe«, sagte Katherine ernst. »Sie sind also kein richtiger Arsenal-Fan?«

»Inzwischen schon«, beeilte er sich, ihr zu versichern. »Aber damals hätte ich mich mit jedem eingelassen.« Er lächelte. »Aber damals war ich unerfahren, noch ein richtiger Junge, und wußte nicht, was Treue ist.«

»Und jetzt sind Sie reifer?« fragte Katherine und erwiderte sein Lächeln.

»Oh, um vieles.«

»Freut mich zu hören.«

»Und schließlich habe ich mich doch verliebt, obwohl es seine Zeit brauchte.« Nach einem hastigen Schlucken fügte er hinzu: »In Arsenal, natürlich.«

Vor ihnen lag das Spielfeld, riesig, grün-grün gestreift und noch leer.

»Es mußte bald anfangen«, sagte Joe. Völlig unbefangen nahm er ihr Handgelenk und sah auf ihre Uhr. Eine unerhebliche Geste, jeder hätte es tun können, aber es war intimer als alles andere, was bisher zwischen ihnen stattgefunden hatte. Ihr stockte der Atem, als seine kühlen Finger ihr Handgelenk hielten. Dann sagte er: »Danke«, und ließ sie wieder los. Es war vorbei. Sie brauchte einen Moment, bis sie wieder normal atmete.

Plötzlich schien die Spannung im Stadion noch zu steigen. »Es fängt an«, sagte Joe, als alle Zuschauer, wie aus einem Guß, unter Klatschen, Pfeifen und Grölen aufstanden. Anscheinend war das Arsenal-Team auf den Platz gekommen, aber Katherine konnte nur die Rücken und Köpfe der Zuschauer vor sich sehen. Aus den anschließend ertönenden Buh-Rufen und dem Pfeifkonzert folgerte sie, daß die Everton-Spieler auch draußen waren.

Alle setzten sich wieder. In dem Moment, als das Spiel angepfiffen wurde, verdichtete sich die Atmosphäre auf den Rängen, war wie elektrisiert vor Erwartung und Spannung. Die Aggressivität, die bis dahin gezügelt worden war, brach nun aus. Katherine spürte eine Erregung, die zum Glück nicht in Furcht umkippte.

»Die in Rot und Weiß sind unsere Jungs«, murmelte Joe ihr zu.

»Ich weiß!« Tara hatte sie mit ein paar grundlegenden Fakten vertraut gemacht.

»Gut gemacht«, lobte Joe. Es wurde immer besser.

Der Mann, der auf der anderen Seite neben Katherine saß, war ein besonders hartgesottener Fan, der eine persönliche Fehde gegen Everton zu führen schien. Immer wieder sprang er auf und brüllte: »Nun kommt schon, zeigt mal, was ihr könnt, wenn ihr glaubt, ihr seid hart genug.«

Als Everton eine Tormöglichkeit verpatzte, fing er aus vollem Halse an zu singen: »Sie ham verschossen, am Tor vorbeigeschossen…«

Dann stieß er Katherine den Ellbogen in die Rippen und sagte: »Komm, Mädel, sing mal mit! Diese Schlappschwänze…«

»Bin heiser«, murmelte sie. »Kann nicht singen.«

Joe sang zwar nicht mit, aber er war sehr konzentriert und sehr interessiert an dem Geschehen. Katherine dachte, das müsse sie eigentlich stören – warum hatte er sie mitgenommen, wenn er sie dann ignorierte? –, aber sie konnte sich nicht ärgern. Mit zusammengekniffenen Augen folgte er dem Ball. Während Joe das Spiel ansah, beobachtete Katherine ihn: seine ausgeprägten Backenknochen, seine zu Berührungen einladende Haut, sein Haar, das nicht so ordentlich gekämmt war wie im Büro. Immer wieder überzeugte er sich, daß sie neben ihm ihren Spaß hatte; er schien sich Sorgen zu machen, daß ihr kalt war, aber obwohl ihre Wangen gerötet waren, spürte sie die Kälte nicht.

Zwanzig Minuten nach Spielbeginn beugte er sich in seiner dicken Lederjacke zu ihr. »Alles in Ordnung?« fragte er zum soundsovielten Mal.

»Ja.« Sie lächelte ihn an.

»Ich kann nichts hören«, sagte er und kam mit seinem Gesicht näher zu ihr. »Rücken Sie dichter heran.«

Sie dachte, es läge an dem Gesang um sie herum, und sagte ganz nah an seinem Gesicht: »Ich sagte, ja.«

»Ich kann Sie immer noch nicht hören«, sagte er wieder, und seine Augen funkelten dunkel, »noch näher.«

Es war ihr peinlich, ihm so auf die Pelle zu rücken, aber sie kam näher und sagte: »Ja, es ist alles in Ordnung.«

Sie war so nah, daß sie die Konturen seines Bartwuchses um die Wangen und den Mund erkennen konnte.

»Ich höre nichts«, sagte er wieder. Seine eigene Stimme war fast tonlos, so daß sie die Worte von seinen Lippen ablas.

Verwirrt rückte sie noch näher an ihn heran, so daß ihr Atem sich mit seinem vermischte, und sagte: »Alles in Ordnung.«

»Ich höre nichts«, machten seine Lippen.

Zwischen ihnen waren nur noch wenige Zentimeter, sein apfelwarmer Atem war eine Überraschung für ihr kaltes Gesicht. Näher konnte sie nicht rücken. Und da verstand sie…

Irgendwo, in einer anderen Dimension, verpatzte Everton die zweite Torchance, und als ihre Ohren sich mit den Stimmen von dreißigtausend Arsenal-Fans füllten, die sangen: »Ihr Schlappschwänze, geht doch nach Hause«, überbrückte Joe Roth die restliche Entfernung, verdunkelte ihr Blickfeld – und küßte sie.

57

Rob wäre tief unglücklich gewesen, wenn er den Verdacht gehabt hätte, daß seine kostbaren Eintrittskarten dazu benutzt worden wären, während des ganzen Spiels zu knutschen. Zum Glück küßten sie sich nur einmal. Aber, dachte Katherine, was für ein Kuß!

Ihre Augen waren geschlossen, ihre Hände berührten

Joes Gesicht, ihre Fingerkuppen strichen über seine Stoppeln. Ein spezieller limonenklarer Duft, der Geruch eines reinlichen Mannes, drang zu ihr, und irgendwie registrierte sie, wie fest und trocken seine Lippen waren. Er zog sie näher zu sich heran, seine Hand lag auf ihrem Hinterkopf, und der Kuß wurde drängender und tiefer, die Hitze ihrer erregten Münder stand im scharfen Kontrast zu der kalten Haut und machte die Berührung noch geheimnisvoller und köstlicher.

Dann, zu schnell, war es vorbei. Widerwillig machten sie die Augen auf und rückten voneinander ab. Sie gaben der übergroßen Begierde nicht nach, und die Wirklichkeit machte sich wieder bemerkbar.

»Entschuldigung, ich hätte das nicht tun sollen … Das hier ist nicht der Ort«, murmelte Joe, die Augen verhangen und verwirrt.

»Das stimmt«, sagte sie ganz benommen – und verdutzt, daß sie nicht die einzigen Menschen auf der Welt waren.

Sie sahen sich den Rest des Spiels durch den Schleier sehnlichen Wartens an. Offenbar gewann Arsenal das Spiel.

Dann nahmen sie ein Taxi und fuhren zu ihr nach Hause.

Als sie ankamen, wurde Katherine von Panik ergriffen. Es war erst halb sechs, viel zu früh, um miteinander ins Bett zu hopsen. Ein Fehler.

Seine Gegenwart erfüllte die Wohnung, und sie wünschte ihn sich weg. Das Gefühl, daß sie sich mehr vorgenommen hatte, als sie bewältigen konnte, behagte ihr überhaupt nicht.

»Das ist das Wohnzimmer«, sagte sie nervös und flattrig. »Setz dich doch, ich mache Kaffee –«

Sie brach sofort ab, als Joe seine Finger in die Gürtelschlaufe ihrer Jeans steckte. »Komm her«, sagte er sanft und zog sie zu sich. Sie spürte die Anziehung, spürte, wie sie sich auf ihn zubewegte, wie sie vor ihm zum Stehen kam. Still sah sie den zärtlichen, bedeutungsvollen Blick, als er sein Gesicht zu ihr hinunterbeugte. Ihre Haut wurde gewärmt von seinem Atem, dann legte sich sein Mund auf ihren.

Als sie die Augen schloß, spürte sie, wie sich ihr Körper wie eine Blume öffnete. Es ist zu früh, sagte sie sich und versuchte sich zum Aufhören zu überreden. Es ist zu früh, und gleich höre ich auf.

Aber Joe war es, der sich von ihr löste. Er versuchte, sich zu beruhigen, und lächelte bedauernd. »Ich muß dir sagen, daß ich nie bei der ersten Verabredung mit jemandem ins Bett gehe.«

»Ich auch nicht«, entgegnete sie spitz.

»Dann ist es ja gut, daß wir später noch eine zweite Verabredung haben, findest du nicht?« sagte Joe und grinste.

»Bilde dir bloß nicht ein –«

»Keineswegs«, sagte er zerknirscht. »Ob du’s glaubst oder nicht, es war ein Witz.«

»Ach. Du schläfst also doch bei der ersten Verabredung mit einer Frau?«

»Nein, ich … Oh, ich verstehe, auch ein Witz.« Und sie lächelten sich an.

»Und was ist mit der zweiten Verabredung?«

»Ich habe ja gesagt, daß ich dich zum Essen ausführe.«

»Und?«

»Ich dachte, wir gehen aus. Wäre das in Ordnung?«

»Wohin?«

»Ehm … ins Ivy«, sagte er, einen Augenblick verlegen, weil er ein so vornehmes Restaurant ausgewählt hatte.

Aber sie sagte einfach: »Gut. Hättest du was dagegen, wenn wir uns da treffen?«

Ihn im Wohnzimmer zu wissen, während sie sich fertigmachte, bedeutete im Moment eine Nähe, auf die sie noch nicht vorbereitet war.

Er sah enttäuscht aus, sagte aber: »Der Tisch ist für acht Uhr reserviert. Wir sehen uns dort.«

Er küßte sie auf die Wange, und als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, vollführte Katherine einen für sie völlig untypischen Tanz. Sie wußte, wie schwer es war, einen Tisch im Ivy zu bekommen.

Dann lief sie ins Schlafzimmer und zog eine weitere Tüte unter dem Bett hervor, der sie ein schwarzes, auf Figur geschnittenes Kleid mit engen Ärmeln entnahm. Es war nicht unbedingt ein Minikleid, aber für sie war es kurz. Doch er führte sie schließlich ins Ivy aus, da war das nur fair.

Weil sie so aufgeregt war, riß sie in den ersten Strumpf ein Loch. Zum Glück gehörte sie zu den Frauen, die immer mehrere heile Paare in ihrer Kommode hatten. Dann hatte sie einen Moment der Unentschlossenheit, als sie zwischen schwarzen hochhackigen Stiefeletten aus Satin und schwarzen Lackledersandalen mit Absatz zu wählen hatte. Sie entschied sich für die Stiefeletten, weil die offenen Schuhe ihre Füße zu verletzbar machten. Zum Schluß zog sie einen todschicken Mantel von Jil Sander an, den sie im letzten Winterschlußverkauf bekommen hatte, und war fertig.

Sie konnte dem Wunsch, Tara anzurufen, nicht widerstehen. Tara würde natürlich wissen wollen, wie der Nachmittag verlaufen war. Aber als jemand am anderen Ende den Hörer abnahm, dachte sie, sie hätte die falsche Nummer gewählt. Sie erkannte die heisere Stimme nicht, die ein Hallo krächzte.

»Tara?« fragte sie zögernd.

»Oh, Katherine.« Dann versagte ihr die Stimme.

Katherine wurde klar, daß es Tara war und daß sie vor Weinen kaum sprechen konnte. »Was ist los? Ist was mit Fintan?«

»Nein, es ist nichts, wirklich.«

»Das kann nicht sein.«

»Es ist nur Thomas. Er ist so ein Arsch.«

»Was hat er gemacht?« fragte Katherine entsetzt. Sie wäre nicht überrascht, wenn Thomas eine Affäre hätte.

»Er ist einfach ein kompletter Arsch.«

»Ja, aber…« Katherine wußte nicht, was sie sagen sollte. Natürlich war Thomas ein Arsch, das wußte sie schon lange. Aber es mußte etwas passiert sein. »Hat er etwa eine Affäre?«

»Warum? Meinst du, es gibt in dieser Welt noch eine andere Frau, die so dumm ist wie ich? Oh, gerade fällt es mir ein«, unterbrach Tara sich mit tränenerstickter Stimme. »Du bist bei deiner Verabredung. Bitte, sag mir, daß du glücklich bist. Geht alles gut?«

»Das ist doch jetzt egal. Erzähl mir, was geschehen ist.«

»Morgen. Bitte, Katherine, ich will ernsthaft wissen, wie es läuft.«

»Er hat mich zweimal geküßt, und wir gehen zum Essen ins Ivy.«

»Ins Ivy! Ich bin so froh. Offenbar meint er es ernst.« Tara gab sich Mühe, fröhlich zu klingen. »Wenn du die zweifarbige Mousse au chocolat ißt, denk an mich.«

»Möchtest du, daß ich zu dir komme?« Katherine schloß die Augen, schickte ein Stoßgebet zum Himmel und hoffte inständig, daß Tara nein sagen würde.

Tara lachte gequält. »Auf gar keinen Fall.«

»Aber meinst du, du kommst klar?«

»Ja, natürlich. Es tut mir leid, daß ich damit in deinen aufregenden Tag hineingeplatzt bin. Ich wünsche dir einen wunder-, wunderschönen Abend – und fordere deine ehelichen Rechte ein.«

»Wenn du dir sicher bist…«

»Ich schwör’s, bei dem Leben meiner Großmutter.«

Als das Taxi beim Ivy ankam, war es gerade acht Uhr vorbei. Katherine zwang sich zu einem kleinen Spaziergang. Wenn sie sich mit Tara und den anderen im Restaurant verabredete, war es nicht von Bedeutung, wenn sie als erste ankam und warten mußte, aber dies hier war etwas anderes. Mit großer Willensanstrengung schaffte sie es, volle zehn Minuten zu spät zu kommen. Nicht unbedingt den Launen eines Supermodels gemäß, aber immerhin revolutionär für sie.

»Ich bin mit Mr. Roth verabredet«, sagte sie zu dem Oberkellner.

Er fuhr mit dem Finger auf der Liste entlang und sagte: »Es tut mir leid. Wir haben keine Reservierung auf den Namen Roth.«

Katherine wurde von Angst gepackt. Panikerfüllt sah sie sich um und war erleichtert, als sie Joe hinter einer Trennwand entdeckte. Auch er hatte sie gerade erspäht und stand hastig vom Tisch auf.

»Oh, er ist schon da, es ist alles in Ordnung.« Sie lächelte und zeigte auf Joe.

»Das ist Mr. Stallone«, sagte der Oberkellner mit undurchdringlicher Miene.

»Wirklich…?«

Joe war zu ihnen getreten.

»Ihr Gast ist eingetroffen, Mr. Stallone«, sagte der Oberkellner höflich.

»Ehm, danke. Hier entlang, Katherine.«

»Mr. Stallone?« flüsterte Katherine, als Joe den Stuhl für sie zurechtrückte.

»Sonst hätte ich in der Kürze der Zeit keinen Tisch bekommen«, murmelte er.

Es folgte eine kleine Pause der Überraschung, dann brach eine Welle der Erheiterung aus ihr heraus. »Mr. Stallone«, platzte sie heraus und fing an zu lachen und konnte nicht wieder aufhören. Ihr Körper wurde geschüttelt vor Lachen, und die Tränen rannen ihr über die Wangen. Er beobachtete sie mit Geduld und Nachsicht. »Oh, Gott«, keuchte sie und wischte sich die Tränen fort. »Ich habe seit Jahren nicht mehr so gelacht.«

»Ich hatte gehofft, du würdest es nicht herausfinden. Ich habe nach dir Ausschau gehalten, aber die dumme Trennwand hat mir die Sicht genommen.«

»Ich freue mich aufrichtig, daß ich es rausgefunden habe.« Sie sah ihn mit einem Strahlen an. »Ich schwöre es.«

Die Speisekarte wurden ihnen gereicht, und sie bestellten ihr Essen und den Wein.

Obwohl es so vieles gab, was sie voneinander nicht wußten, sprachen sie hauptsächlich über ihr Essen. Er beschrieb seinen überbackenen Camembert in allen Einzelheiten, und sie schilderte die Beschaffenheit und den Geschmack ihres Salats mit Schinkenspeck in großer Ausführlichkeit. So wie ich mich auch mit Tara oder Fintan unterhalten würde, dachte Katherine überrascht. Besonders mit Tara.

Die Sache ließ sich sehr gut an.

Als das Hauptgericht kam, fragte sie mit ehrlichem Interesse: »Ist deine Seezunge gut?«

»Ja«, sagte Joe. »Möchtest du probieren?« Schon hielt er ihr einen Bissen auf seiner Gabel entgegen.

»Ehm … nein.« Ihr wurde heiß vor Verlegenheit.

»Mach schon«, sagte er leise. »Es ist köstlich.«

»Das ist die anzüglichste Bemerkung, die ich seit langem gehört habe«, sagte sie. Aus ihrem Peinlichkeitsgefühl heraus wollte sie ihn aus seiner Stimmung holen. Aber es gelang ihr nicht.

»Mach schon«, sagte er wieder.

Und von seiner Stimme und der Intimität der Geste erregt beugte Katherine sich vor und erlaubte Joe, ihr die Gabel in den Mund zu schieben.

»Schmeckt’s?« fragte Joe mit einem bedeutungsvollen Blick.

»Sehr gut«, nickte sie befangen.

Er sah ihr die ganze Zeit beim Essen zu, beobachtete ihren Mund, wenn sie einen Bissen nahm, und sein Blick ruhte auf ihren Lippen, wenn sie kaute. Sie war so erregt, daß sie nach dem Hauptgang auf die Damentoilette flüchten mußte, um der sexuellen Spannung am Tisch zu entgehen.

Als es Zeit für das Dessert war, bestellte sie Tara zu Ehren eine zweifarbige Mousse au chocolat. Sie schob einen Löffel der weißen und dunklen Schokoladenmasse in den Mund und spürte seinen verlangenden Blick auf ihr. Die Verbindung aus dem Geschmack der Schokolade auf ihrer Zunge und dem Versprechen in seinen Augen verursachte ein Prickeln, als hätte sie gerade einen Miniorgasmus erlebt.

Ihr Körper bebte mit solcher Erwartung, daß ihr fast angst wurde. Es könnte heute passieren. Es könnte wirklich passieren.

58

Dann standen sie draußen im Dunkeln. Es war kalt. Was jetzt? »Wir können bei mir einen Kaffee trinken«, schlug Joe vor. »In Battersea?« antwortete Katherine in einem Ton, der deutlich machte, daß die Idee absurd war. Sie schlüpfte wieder in die Rolle der Lehrerin. »Warum nicht?« fragte er. Anscheinend machte ihm ihr Spott nichts aus.

Du muß ihn warten lassen, ermahnte sie sich, laß ihn warten, sei nicht zu schnell bereit.

»Nein«, sagte sie.

Sie sah, wie sein erwartungsvolles Lächeln verschwand, und verspürte eine heftige Genugtuung. Dann sagte sie: »Wir fahren zu mir.«

Im Taxi hielten sie sich schweigend an den Händen. Ohne ein Wort machte sie die Tür zu ihrer Wohnung auf und schloß sie sorgfältig hinter sich zu. Sie war bereit, sich zum ersten Mal seit zwei Jahren der Fleischeslust mit einem Mann hinzugeben.

Es war, als wären sie aufeinander zu katapultiert worden. Sie standen bei der Tür und waren noch in Mänteln, als sie sich schon in den Armen lagen und sich heftig, verlangend küßten. Katherine merkte kaum, wie Joe ihr geschickt den Mantel von den Schultern streifte, und ließ ihn achtlos auf den Boden im Flur fallen. Er führte sie ins Wohnzimmer, zum Sofa. Er küßte sie ohne Unterlaß und zwang sie mit sanftem Druck auf das Sofa, bis sie auf dem Rücken zu liegen kam. Er küßte sie immer weiter, stundenlang, so schien es ihr. Immer wenn sie sich aufrichten oder etwas sagen wollte, drückte er sie wieder in die Kissen und küßte sie erneut. Er küßte sie mit Hingabe. Das Küssen ist eine eigene Kunstform, dachte sie benommen, nicht nur die Einführung zum Hauptereignis.

Sie hatte die Augen geschlossen und fühlte sich wie in Trance. Tief in ihrem Innersten flog sie davon über Felder voller Farben, über eine Landschaft von Sternen. Wozu Drogen? dachte sie.

Es war lange her, daß jemand sie so geküßt hatte. Es war lange her, daß jemand sie überhaupt geküßt hatte. Wie hatte sie das Leben ohne Küssen ertragen?

Sie wußte kaum noch, wo sie war, und als sie die Augen öffnete, war sie überrascht, das ihr vertraute Wohnzimmer zu sehen.

Und die ganze Zeit, während er sie küßte, streichelte er sie, mit langsamen, sie wild machenden Bewegungen. Ganz leicht berührte er sie mit seinen langen, empfindsamen Fingern, berührte ihr Gesicht, ihren Hals, ihre Arme. Dann streichelte er ihren Bauch durch das Kleid, und seine Hand bewegte sich langsam höher, zu ihrem Brustkorb, und noch höher, bis er fast ihre Brüste erreicht hatte. Unter ihrem Spitzen-Büstenhalter bildeten ihre Brustwarzen zwei kleine Zelte und bettelten darum, berührt zu werden, aber seine Hand fuhr unter ihren Brüsten entlang, an den seitlichen Rundungen, zwischen ihren Brüsten hindurch. In langsamen, immer kleiner werdenden Kreisen bewegte er seine Hand nach innen, bis er die sanfte Schwellung ihrer rechten Brust berührte. Langsam, ach so langsam, streichelte er sie durch den enganliegenden Stoff und kreiste immer wieder um die Brustwarze. Als er nach einer Ewigkeit, so kam es ihr vor, endlich ihre Brustwarze erreichte und sie mit dem Zeigefinger zart schnipste, hatte sie das Gefühl, einen Orgasmus zu haben.

Er lag halb auf ihr, seine Erektion rieb sich an ihrem Hüftknochen, was ihr unglaubliche Lust bereitete.

Als er seine Hand auf ihr Bein legte, sie langsam unter dem Kleid nach oben gleiten ließ und dann herausfand, daß sie – wie er gehofft hatte – Strümpfe trug, und keine Strumpfhosen, da verlor er fast seine Beherrschung.

Er begann, ihre Schenkel zu streicheln. Erst oben, dann außen, dann die zarte Haut der Innenseite, und wieder zurück.

»Nein«, schalt er sie, als sich ihre Hüften aufbäumten, und zwang sie mit sanftem Druck der Handfläche auf ihr Schambein auf das Sofa zurück. Und wieder prickelte süße Lust durch sie hindurch.

Es drängte sie danach, ihn zu berühren, mit ihren Fingern über seine Brust zu fahren, die Muskeln seiner Oberschenkel zu spüren. Mit zitternden Fingern knöpfte sie ihm das Hemd auf, richtete sich auf und legte ihre Hand flach auf seine behaarte Brust. Sie überraschte ihn, indem sie ihn nach hinten drückte. Plötzlich lag er auf dem Rücken, und sie sah von oben zu ihm hinunter.

Sie lächelten sich schweigend, benommen vor Lust, an.

Sein Hemd war aufgeknöpft, und der Spalt, der sich zwischen seinem flachen Bauch und dem Bund seiner Jeans bildete, lockte, so daß Katherine ihre Hand hineingleiten ließ. Mit der Handfläche fühlte sie an der Haarlinie entlang, die sich wie ein ausgefranstes Seil über seinen Bauch zog. Ihre Finger glitten tiefer, und noch mal tiefer, bis sie sein Schamhaar berührten.

Fr stöhnte und murmelte: »Katherine…«

Als er ihr in die Augen sah, konnte er das zugeknöpfte Wesen vom Büro kaum in ihr erkennen. Sie war eine gierige, verschlingende Frau.

Wieder fing er an, sie zu küssen. Fr drehte sie herum, so daß sie unter ihm lag. Aber sie konnte nicht mehr warten.

»Bitte«, bettelte sie und bauschte mit hastigen Bewegungen ihr Kleid um die Taille. Er stand auf, machte Gürtel und Knöpfe auf, und stieg aus Jeans, Unterhosen und Socken. Seine Haut war klar wie Mondstein, so weiß, daß das Dunkel seiner Schamhaare wie ein Schock war. Seine Taille war winzig, sein Bauch konkav, die Haut straff gespannt. Seine Schenkel waren lang und mager, seine Hüften schmal wie ihre, sein Glied stand steif und bebend. Fr war schön.

Fr half ihr, das Kleid auszuziehen, aber in gegenseitigem, stummem Einverständnis behielt sie ihre Unterwäsche an. Joe kniete mit einem Bein zwischen ihren und streifte sich ein Kondom über, dann zog er den Steg ihres Spitzenhöschens zur Seite. Als er in sie eindrang und sein Gewicht langsam auf sie legte, dachte sie, sie sei gestorben und in den Himmel gekommen.

Anschließend war er voll des Staunens. »Ich hatte nicht gedacht, daß dies passieren wurde«, sagte er und sah sie an.

»Wirklich nicht?« fragte sie sachlich.

»Ich war schon lange verrückt nach dir, und jetzt kann ich kaum glauben…«

Schweigend lagen sie ineinander verschlungen, bis seine Hände erneut anfingen, sie zu streicheln. Sanft löste er den Verschluß ihres Büstenhalters, enthakte die Strümpfe, zog ihr Strapse und Höschen aus. Sie ließen ihre Kleider in dem unaufgeräumten Wohnzimmer verstreut liegen und gingen ins Schlafzimmer, wo sie sich ein zweites Mal liebten.

Danach machte Joe keinerlei Anstalten zu schlafen, was Katherine gut paßte.

»Komm«, sagte sie und stieß ihn an.

»Wohin?«

»Ins Bad, wir gehen duschen.«

»Warum? Mußt du zu deiner Frau nach Hause?«

»Komm schon.«

Lachend stolperten sie ins Badezimmer. Sie kletterten in die Badewanne, und Katherine reichte ihm einen Schwamm und Duschgel. »Du mußt mich waschen.«

»In Ordnung«, sagte er, musterte erst ihren schlanken Körper, dann den Schwamm in der Hand. »Aber erst müssen wir dich naß machen.«

Er drehte das warme Wasser an und zog Katherine unter den Strahl. Es war erregend zu sehen, wie er schweigend und prüfend ihren Körper ansah, während das Wasser über ihre Brüste und die aufgerichteten Brustwarzen rann, und wie er das Duschgel sorgfältig auf den Schwamm drückte.

»Du bist ganz schmutzig«, sagte er streng.

»Ich weiß.« Sie konnte kaum sprechen.

Langsam begann er sie mit dem Schwamm einzuseifen und fuhr in kreisförmigen Bewegungen über ihren nassen Körper, den Bauch, die Arme und die Beine. Dann die Brüste, die er mit dem seifigen Schwamm massierte, bis die Haut ganz schlüpfrig war. »Da ist besonders viel Schmutz«, sagte er.

»Ich weiß«, stöhnte sie.

Er fuhr mit dem Schwamm zwischen ihre Beine, und sie wand sich vor Begierde. »Steh still«, befahl er ihr.

Sie versuchte es, aber seine festen, massierenden Bewegungen machten es ihr unmöglich. Das warme Wasser, sein nasser Körper, ihre glitschige Haut – die Begierde war zu groß.

Sie hatte den Rücken gegen die kalten Kacheln gepreßt und ihre Beine um Joes Taille geschlungen, als er erneut in sie eindrang. Ein paar berauschende Augenblicke hielten sie so ganz still, die Zähne vor Lust zusammengepreßt. Dann fing er an, sich rhythmisch zu bewegen. Im nächsten Moment verlor er den Halt in der nassen Wanne, er stolperte, und sie gingen zu Boden und kugelten umher, während sie sich aneinander festhielten und lachten und lachten.

Am nächsten Morgen erwachte Katherine früh und drehte sich zur Seite. Da war er! Joe. Joe Roth. Joe Roth aus dem Büro. Ohne seinen Anzug. In ihrem Bett. Und schlief und sah schön aus, mit den dichten Augenwimpern, dem stoppeligen Bartwuchs auf der Wange, und dem Geruch seines Andersseins, der das Zimmer erfüllte.

Das Hochgefühl war ähnlich der Freude am Weihnachtsmorgen, wenn man aufwachte und feststellte, daß Santa Claus dagewesen war.

Ich mache das nicht kaputt, ich mach das nicht kaputt, diesmal nicht…. sagte sie sich immer wieder.

Sie wußte, daß dies der schwierigste Moment war. Tara hatte ihr versichert, daß es für jeden schwierig war. Aber Katherine hatte das Gefühl, daß es für sie besonders schwierig war, weil Männer in ihrer Unnahbarkeit oft einen speziellen Reiz fanden. Der verschwand, wenn sie mit ihnen geschlafen hatte – es war ziemlich unmöglich, mit jemandem zu schlafen und dabei unberührbar und kalt zu bleiben. Wenigstens nicht, wenn man zu seinem Vergnügen kommen wollte. Viele Männer, die Katherine wochen-und monatelang nachgestellt hatten und die ihre Unerreichbarkeit fast wahnsinnig gemacht hatte, hatten jedes Interesse an ihr verloren, nachdem sie mit ihr geschlafen hatten. Katherines mystische Aura war verflogen, und sie war nur eine gewöhnliche Frau, die von ihrem Podest gestürzt worden war und um ihren Mann kämpfte, wie jede andere auch.

Und dazu kam, daß die neue Begegnung alte Feuer in ihr wieder auflodern ließ. Zweifellos war dies ein heikler Moment.

Joe öffnete die Augen, die Augenlider schwer, der Blick bedeutungsvoll. »Morgen«, sagte er verschlafen.

»Morgen«, flüsterte sie.

»Was für ein schöner Anblick beim Aufwachen.« Er griff nach ihr und zog sie unter der zerknautschten Bettdecke auf sich. Ihr Herz klopfte höher, als sie seinen warmen Körper spurte. Sie lagen Brust an Brust, ihr glattes Bein rieb sich an seinem behaarten. Sie schloß die Augen, um die Zartheit der trägen, morgendlichen Berührungen auszukosten, und als sie sich liebten, war es ohne die Hast des Abends zuvor und mit großer Zärtlichkeit.

Danach ging Joe ins Badezimmer. Katherine versuchte sich die Haare zu ordnen, indem sie mit den Händen hindurchfuhr, und wischte sich Reste von Rouge und Mascara unter den Augen mit den Fingern ab. Als Joe aus dem Badezimmer kam, wirkte er unsicher. Nachdenklich rieb er sich mit der Hand über den Mund, zog die Mundwinkel in die Länge und ließ die Haut wieder zurückspringen.

»Ich sollte jetzt vielleicht gehen«, sagte er fragend.

»Vielleicht«, sagte Katherine mit einem rätselhaften Lächeln. Aber sie war zutiefst enttäuscht. Was war mit den Croissants, dem frisch gepreßten Orangensaft, den weißen, gestärkten Servietten auf einem vergoldeten Tablett, wie die Werbung es versprach? Mußte sie nicht das Oberteil des Schlafanzugs tragen und Joe die Hosen dazu? Mußte sie nicht in die Daunenkissen sinken, während Joe sie mit Joghurt fütterte? Und dann mußte er ihr einen Klecks auf die Nase machen, und sie würden beide vor Freude auflachen?

Und anschließend mußten sie einen Spaziergang machen, sich an den Händen halten, die Enten füttern, während ihr verliebtes Lachen durch den Park schallte. Und mußte Katherine nicht die Zehen ins Wasser stecken und einen dummen Hut tragen, der nur auf dem Kopf blieb, wenn sie ihn mit der Hand festdrückte?

Joe ging aus dem Schlafzimmer, und als er zurückkam, war er angezogen. Plötzlich hatte sie ein schrecklich leeres Gefühl.

»Ich rufe dich an«, versprach er.

»Ja?« Katherine lächelte ironisch, um ihm zu verstehen zu geben, daß sie ihn durchschaute, falls das nicht seine Absicht war. Und wenn er sie wirklich anrufen wollte, dann gehörte zu seiner Erinnerung auch dieses Bild der geheimnisvollen Katherine, auf die er ja so scharf war. Himmel, es war so anstrengend!

»Und natürlich sehen wir uns im Büro«, sagte er.

»Das ist allerdings wahr«, stimmte sie ihm zu.

»Und danke für einen wunderbaren Abend. Und einen wunderbaren Tag«, fügte er noch hinzu.

Sie senkte anmutig den Kopf. »Keine Ursache.«

Das Zuschlagen der Tür fand ein Echo in dem Donnerschlag der Trostlosigkeit tief in ihr. War das alles gewesen?

Aber wenigstens hatte sie ihre überwältigende Bedürftigkeit gezügelt. Besser gezügelt. Besser als beim letzten Mal. Vielleicht war sie endlich darüber hinweg. Wenn das der Fall war, dachte sie traurig, dann hatte es zwölf Jahre gedauert.

59

Die erste Verletzung geht am tiefsten. Und bei Katherine ging sie tiefer als bei den meisten anderen. Sie war neunzehn, als sie ihren ersten Liebeskummer erlebte – ziemlich alt. Vielleicht war das Teil des Problems. Dann, kaum einen Monat später, schrieb sie an ihren Vater und erfuhr, daß er gestorben war. Der Schmerz wurde dadurch noch pointierter.

Als Tara eine Woche später zu ihr sagte: »Fintan und ich haben genug Geld gespart, um aus Knockavoy wegzugehen, und wir finden, du solltest mit uns kommen«, hatte Katherine das Gefühl, daß man ihr eine Lebensrettungsleine zuwarf. Einerseits war ihr Leben vorüber, so daß es ohne Bedeutung war, wo sie den Rest ihrer Tage verbrachte, aber andererseits hatte die Vorstellung zu fliehen einen wilden Reiz.

»Wohin wollt ihr?« fragte sie.

»In eine weit entfernte Stadt«, sagte Tara lockend. »Nicht Limerick?« hatte Katherine mit unsicherer

Stimme gesagt.

»Großer Gott, nein. Weiter weg.«

»Dublin?«

»Noch weiter weg«, hatte Tara geprahlt. »Nicht … nicht New York, oder?« Katherine konnte ihre Aufregung kaum verhehlen.

»Ehm … nein, nicht New York.« Tara war ein wenig beschämt. »Was hältst du von London?«

Katherine wäre lieber noch weiter weg gegangen, nach Los Angeles. Oder nach Wellington. Oder auf den Mond. Aber London wäre auch recht. Am frühen Morgen des 3. Oktobers 1986 waren sie zu dritt an der Euston Station ausgestiegen, hatten sich den Evening Standard gekauft und eine Wohnung in Willesden Green gefunden.

In der Woche darauf fand Tara eine Arbeit bei einer Computerfirma, Fintan wurde von einem exklusiven Herrenausstatter eingestellt, und Katherine konnte eine Ausbildungsstelle als Buchhalterin ergattern – und ihr neues Leben begann.

In London gab es viele Männer. Viele, viele Männer. Tara und Fintan krempelten die Ärmel hoch und machten sich ans Werk, während Katherine sich zurückhielt. Das fiel ihr nicht schwer. Doch ihr mangelndes Interesse wurde nicht immer respektiert. Nicht, daß ihr die Männer in Scharen nachliefen, aber gelegentlich wollte sich jemand mit ihr verabreden. Es kostete sie keine Anstrengung, nein zu sagen, und zwar so unhöflich, wie sie konnte. Niemand fragte sie ein zweites Mal.

Doch eines Abends, nachdem sie schon ein Jahr und zwei Monate in London lebten, traf Katherine sich nach der Arbeit mit Tara und ihren Arbeitskollegen in einem Pub. Unter anderem wurde sie einem Simon Armstrong vorgestellt, dem offiziellen Herzensbrecher in der Firma. Selbstbewußt, charmant, gut gebaut und blond wie er war, hatte er bei Frauen viel Erfolg. Aber Katherine nahm kaum Notiz von ihm. Mit großer Feinfühligkeit spürte Simon, daß sie ehrlich nicht an ihm interessiert war – so etwas konnte man nicht vorspielen. Er hätte jede der anwesenden Frauen haben können, aber er wollte unbedingt Katherine. Ihre Unnahbarkeit reizte ihn wie verrückt, und sein Ego sagte ihm, er sei der Mann, der ihre Maske abreißen könnte – er mußte es tun.

Katherine war nicht so elegant und attraktiv wie die Frauen, mit denen er sich sonst verabredete, doch deshalb war es für ihn noch wichtiger, sie zu erobern. Er fing an, ihr nachzustellen, ihr den Weg zu versperren und grinsend zu sagen: »Widerstand ist zwecklos.«

Die anderen Frauen sahen konsterniert zu und spotteten über Katherines ordentlich frisiertes Haar und ihre unauffällige Erscheinung. »Vielleicht fühlt er sich an seine Mutter erinnert«, mutmaßten sie.

Simon ließ sich von Tara Katherines Telefonnummer im Büro geben und fragte sie, ob sie mit ihm ausgehen würde. Sie sagte nein. Er rief wieder an. Sie sagte wieder nein. Er sagte, nein sei keine Antwort, die er akzeptieren könne.

Anfangs fand Katherine seine Bemühungen bedrohlich. Dann fühlte sie sich geschmeichelt, und dann erregte es sie. Die Aufmerksamkeit, mit der Simon sie überschüttete, durchbrach ihre Schutzwälle, so daß alte, vergrabene Sehnsüchte an die Oberfläche kamen. Sie wollte geliebt werden. Und wenn sie mit diesem Simon Armstrong eine Beziehung haben konnte, würde ihr Leben wieder ins Lot kommen. Ende gut, alles gut.

Also verabredete sie sich mit ihm. Dann ein zweites Mal. Dann noch einmal. Und nach drei Wochen schlief sie mit ihm. Als er morgens bei ihr aus dem Bett stieg, sagte er, er würde sie abends anrufen – aber er tat es nicht. Also rief sie ihn früh – zu früh – am nächsten Tag an. Sie versuchte das Beben in ihrer Stimme zu unterdrücken und fragte, ob sie sich abends sehen könnten. Als Simon ausweichend antwortete, sagte sie, die Augen fest geschlossen: »Tu mir das bitte nicht an.« Worauf Simon sich natürlich aus dem Staub machte.

Er hatte ohnehin das Interesse verloren. Sie war zu jung und unerfahren, nicht hart genug im Nehmen, und er hatte nur diese Beharrlichkeit entwickelt, um am Ende einen Erfolg verbuchen zu können. Das einzige, was er wirklich faszinierend an ihr gefunden hatte, war ihre Unnahbarkeit, die in dem Moment verflog, als er mit ihr geschlafen hatte. Sie war zwar schlank und hübsch, aber kein Klasseweib, und er mochte Klasseweiber. Ganz abgesehen davon, daß er ihre Bedürftigkeit zu spüren begann, und das machte ihn nervös und rastlos.

Er erkannte Obsession, wenn er die Ursache dafür war. In den Wochen und Monaten darauf war Katherine völlig benommen und unfähig, die Ereignisse zu verstehen. Sie konnte nicht glauben, daß sie erneut verlassen worden war. Anscheinend war sie noch weniger als vorher in der Lage, mit Männern umzugehen, und sie hatte immer mehr das Gefühl, ihr Leben nicht im Griff zu haben.

Das war das letzte Mal, daß sie sich mit einem Mann eingelassen hatte, schwor sie sich. Diesmal hatte sie ihre Lektion endgültig gelernt.

In den nächsten zwei Jahren ordnete sich ihr Leben: Sie arbeitete viel, bestand ihre Buchhalterprüfungen, lebte mit Fintan und Tara zusammen und wurde Zeugin von deren Liebesabenteuern, während sie sich von alldem fernhielt. Man merkte es ihr nicht an, daß sie der Liebe abgeschworen hatte: Sie kaufte sich schicke, wenn auch nicht zu schicke Kleidung, gab viel Geld für den Friseur aus, plauderte gern mit Männern und ging mit ihren Mitbewohnern aus. Der Unterschied war der, daß sie immer allein nach Hause ging. Bis sie Alex Holst kennenlernte.

Inzwischen waren fast vier Jahre vergangen, seit sie nach London gekommen waren. Fintan hatte angefangen, für Carmella Garcia zu arbeiten, und Alex war eins der Models in ihrer Agentur. Er hatte einen Dreitagebart, perfekt überkronte Zähne, rabenschwarze Haare und ein unruhiges, freches Lächeln. Als er Katherine vorgestellt wurde, registrierte er alarmiert, daß ihre Augen nicht begehrlich glitzerten. Sie war höflich, aber sehr distanziert, und das raubte ihm den Nerv. Sein alles verschlingendes Ego verlangte nach ihrer Bewunderung.

Er war ein zutiefst unsicherer Mensch, weil er seine Kindheit als übergewichtiger Fettkloß verbracht hatte. Mit Hilfe von Bodybuilding und Bulimie war es ihm gelungen, zu einem schlanken, hübschen Mann zu werden, aber seine Gefühle hatten nicht mitgehalten. In seinem Kopf war er immer noch der kleine Dicke, von den anderen ausgestoßen und verlacht. Als Katherine sich von ihm abwandte, hörte er wieder den Spottgesang der Kinder: »Dickmops, Dickmops.«

Er war zärtlicher, als Simon gewesen war, aber ebenso hartnäckig. Er rief sie laufend an, schickte Blumen und schrieb ein Gedicht, in dem stand, sie sei die interessanteste und faszinierendste Frau, der er je begegnet war.

Katherines Widerstand war viel heftiger als bei Simon. Als Alex ihr sagte, er verfolge Frauen normalerweise nicht mit dieser Beharrlichkeit, sagte sie abfällig: »Ich wette, das erzählst du jeder.« Als er schwor, daß er kein Schürzenjäger sei, lachte sie und sagte: »Du mußt mich für eine Idiotin halten.« Als er sie eines Abends vor dem Büro abpaßte, sagte sie kalt, es sei ein Vergehen, eine Frau zu verfolgen.

Aber er ließ sich nicht abwimmeln, und langsam wurde sie weicher. Sie konnte nicht anders. Seine Bemühungen waren sehr verführerisch, und mit der Zeit schenkte sie seinen Liebesbeteuerungen Glauben, weil sie es sich so sehr wünschte. Dann, eines Abends, erzählte er ihr von der Scham seiner pummeligen Kindheit, und die letzten Barrieren wurden von einer Welle des Mitgefühls fortgerissen.

So wie Simon bot auch Alex eine Möglichkeit, das zu berichtigen, was in ihrer Vergangenheit schiefgelaufen war. Und schließlich, nachdem sie die Zähne zusammengebissen und sich geschworen hatte, daß sie nicht bedürftig erscheinen würde, verabredete sie sich mit Alex.

Es dauerte ein bißchen länger als mit Simon, aber schon bald bemerkte sie, daß sein Interesse nachließ. Als sie ihn danach fragte, leugnete er, daß seine Zuneigung abgenommen habe, aber sie glaubte ihm nicht. Sie bemerkte selbst, wie sie sich von einer fröhlichen, selbstgenügsamen jungen Frau in einen verzweifelten, paranoiden, unsicheren Wurm verwandelte. Und sie konnte nichts tun, um diesen Prozeß aufzuhalten. Sie beschuldigte Alex, daß er anderen Mädchen nachsah und sich nicht genügend um sie kümmerte. Er protestierte, nicht sehr glaubwürdig, daß sie ihm viel bedeute, aber dann rief er drei Tage nicht an. Und als er schließlich doch anrief, teilte er ihr mit, daß er eine andere Frau kennengelernt habe.

Alle ihre alten Wunden rissen wieder auf. Das kränkende Gefühl, daß sie nicht gut genug war, der bodenlose Schmerz, verlassen zu werden, stürzten wieder auf sie ein. Und sie tauchte erneut hinunter in die Hölle des Selbsthasses. Der Schmerz war unerträglich. Sie kam sich vor wie eine Idiotin, wie eine schreckliche Versagerin.

Mit der Zeit rappelte sie sich wieder auf. Und obwohl sie sich schwor, nie, nie wieder, so lange sie lebte, etwas mit einem Mann zu tun zu haben, überzeugte sie sich selbst nicht. Sie hatte sich zweimal ausgetrickst und lebte in Angst und Schrecken, daß sie es wieder tun würde.

Wenn sie mit niemandem zusammen war, verlief ihr Leben in geordneten Bahnen. Sie legte alle Prüfungen zur Prokuristin ab, sie kaufte sich ihr Auto, und schließlich wurde sie Wohnungsbesitzerin. Als sie im Beruf mehr Selbstvertrauen gewann, wandelte sie sich von dem mädchenhaften Typ zu der eleganten, zierlichen Frau, die sie jetzt war.

Aber die Sehnsucht nach Liebe ließ sich nicht unterdrücken. Immer wieder kam sie zurück, wie ein Bumerang, und meistens dann, wenn sie von einem gutaussehenden Mann umworben wurde.

»Vielleicht solltest du dich nicht mit solchen Prachtexemplaren abgeben«, hatte Tara angedeutet. »Die sind meistens in sich selbst verliebt und haben nichts für andere übrig.«

»Ich möchte darüber nicht sprechen«, fuhr Katherine sie an.

»Ich weiß«, seufzte Tara.

Katherine konnte nicht mit einem normalen Mann ausgehen, normale Männer interessierten sie einfach nicht.

Vor Joe hatte sie mit sechs Männern geschlafen. Die längste dieser »Liebesaffären« hatte sieben Wochen gedauert, und alle Männer hatten sie sitzengelassen. Nicht ein einziges Mal hatte sie das gehabt, was sie sich wünschte, nämlich die Oberhand.

Die Angst, verlassen zu werden, führte dazu, daß sie diese Situation vorwegzunehmen versuchte. Sie konnte es nicht ertragen, so lange zu warten, bis der Mann zu der Erkenntnis gelangte, daß sie nur eine normale Frau war und nicht das geheimnisvolle Wesen, das er sich erträumt hatte. Sie nahm die Ereignisse vorweg und verhielt sich von Anfang an wie eine psychotische Hysterikerin. Um damit den unvermeidlichen Ausgang zu beschleunigen. Und so schleppte sie sich durch das Leben – lange Phasen der Enthaltsamkeit, durchbrochen von kurzen Liebesaffären, gefolgt von ausgedehnten Phasen des Wundenleckens. Jedesmal, wenn ein Mann das Interesse an ihr verlor und andeutete, daß sie ihm nicht genügte, wurde die alte Lawine des Schmerzes losgetreten.

Wenn sie die Dinge klar sehen konnte, erkannte sie, daß sie in der Vergangenheit verhaftet war, und das war nicht normal. Sie hatte bis zu ihrem siebenundzwanzigsten Lebensjahr gebraucht – also bis vor vier Jahren –, um den Gedanken zuzulassen, daß es vielleicht die Nachricht vom Tod ihres Vaters so kurz nach der ersten Enttäuschung war, die sie so sehr aus der Bahn geworfen hatte. Schließlich wird jeder einmal sitzengelassen, und nur die, die eine Macke haben, überwinden es nicht. Doch die doppelte Verletzung hatte die Wirkung, daß sie wie eingeschlossen war, hinter einer Mauer. Auf diese Weise waren zwölf Jahre vergangen, und sie konnte wirklich nicht sagen, wo die Zeit geblieben war.

Dann kam der Tag vor zwei Monaten, als sie dem neuen Werbeleiter Joe Roth vorgestellt wurde, und er fing an, sie auf eine Art und Weise mit Aufmerksamkeit zu überschütten, die ihr beängstigend vertraut war.

60

Aber diesmal habe ich es richtig gemacht, dachte Katherine nicht ohne Stolz und betrachtete das zerwühlte Bett. Die Leere nach Joes Abschied war verflogen, jetzt war Katherine aufgekratzt und überdreht nach der Nacht mit ihm.

Sie nahm ein Kissen und preßte es an ihr Gesicht. Gierig atmete sie Joes Geruch ein. Die Erinnerung ließ ein Prickeln der Erregung durch sie hindurchströmen, und sie dehnte und wand sich lustvoll. Sie mußte es unbedingt jemandem erzählen. Es war schon fast Mittag – zu früh, um Tara anzurufen?

Oh, Himmel – Tara! Was war gestern nur passiert? Katherine ging zum Telefon, erreichte aber nur Taras Anrufbeantworter. Sie versuchte es mit Taras Mobiltelefon und wurde mit der VoiceMail verbunden. Dann wählte sie Livs Nummer und hatte es mit deren Anrufbeantworter zu tun. Sie hinterließ eine Nachricht und rief Fintan an.

»Hallo«, sagte er unfreundlich.

»Ich bin’s. Soll ich vorbeikommen?«

»Jetzt nicht. Heute abend.«

»Oh, na gut. Du kannst mich auf meinem Mobiltelefon erreichen, wenn du es dir anders überlegst.«

Plötzlich wußte sie nicht, was sie tun sollte. Es kam ihr so vor, als wäre dies der erste Sonntag seit Monaten, an dem die O’Gradys nicht bei ihr waren. Sie war es nicht gewöhnt, Zeit für sich zu haben. Besonders dann nicht, wenn das Beste vom Tag schon passiert war.

Sie hätte die Wohnung von oben bis unten saubermachen können, aber sie war zu aufgedreht für langweiliges Putzen. Sie hätte den Tag auch vor dem Fernseher verbringen und sich die Zusammenfassungen der Serien von der Woche ansehen können. Aber sie fand, daß ihre Fernbedienung sie anklagend ansah. Katherine verspürte plötzlich den Drang, sich bei ihr zu entschuldigen und ihr zu versichern, daß sie immer noch geliebt wurde. Schließlich fuhr sie zu Selfridges, wo sie nicht schnurstracks in die Abteilung für Damenbekleidung ging, sondern sich plötzlich in der für Herrentoilettenartikel wiederfand. Ziellos nahm sie ein After-shave in die Hand, roch daran und stellte es wieder hin. Sie nahm das nächste. Dann das nächste. Sie schlenderte weiter und ging von Auslage zu Auslage, bis sie eine Flasche in der Hand hatte, daran roch und beinahe in Ohnmacht gefallen wäre. Alle Lust und alle Begierde der letzten Nacht stürzten wieder auf sie ein. Sie roch noch einmal an der Flasche, saugte den Duft ganz tief ein, die Augen geschlossen bei der Erinnerung. Ein Rausch! Und wieder. Sie spürte seine Haut, die Erregung, die sich in ihr aufgebäumt hatte wie ein Tier im Käfig, seine zärtlichen, bewundernden Blicke. Sie öffnete die Augen und las das Etikett. Davidoff For Men. Das also benutzte Joe Roth. Die Versuchung, eine Flasche zu kaufen, war mächtig, aber es gelang ihr, sie zu unterdrücken. So etwas zu tun war ein Zeichen von Wahnsinn. Es war nichts dagegen einzuwenden, wenn man daran roch, aber eine Flasche zu kaufen war einfach zu traurig.

»Ihr habt eine gefallene Frau vor euch«, erklärte Katherine, als sie, im Nachglanz ihres Liebesabenteuers erstrahlend, bei Fintan eintraf. »Ich will davon nichts hören«, sagte Fintan abweisend.

»Ich schon«, sagte Tara, die blaß und erschöpft aussah.

»Und wir auch«, sagten Liv und Milo wie aus einem Munde.

»Und ich auch«, stimmte der leidgeprüfte Sandro mit ein.

Es war am Abend desselben Tages, die Pizzabestellung war schon aufgegeben.

Obwohl Katherine nur wenig geschlafen hatte und sie von dem Gedanken umgetrieben wurde, daß Joe nicht wieder anrufen würde, war sie noch wie im Rausch und gierte danach, die ganze überwältigende Erfahrung noch einmal zu durchleben.

Als sie die Geschichte in allen Einzelheiten erzählte – das Fußballspiel, der Kuß, das Essen im Ivy, das Mr.Stallone-Drama –, unterbrachen die anderen sie mit Fragen.

»Riecht er gut?« fragte Tara.

»Welche Gefühle hattest du dabei?« fragte Milo.

»Wer hat mit allem angefangen?« fragte Sandro.

»Wußtest du, daß er dich küssen würde?« fragte Liv.

»Hast du die zweifarbige Mousse au chocolat genommen?« fragte Tara.

»Und er hat die Rechnung bezahlt, als du auf die Toilette gegangen bist?« fragte Liv.

»Warst du aufgeregt?« fragte Sandro.

»Hat er dein Höschen bewundert?« fragte Tara.

»Hast du die Adresse von Agent Provocateur?« fragte Milo.

Bei jeder Einzelheit staunten sie und freuten sich, während Katherine vor Glück überschäumte.

»Das ist so gut wie Sex«, keuchte Tara, dann wurde sie plötzlich traurig und still. Sie hatte sich geweigert, Katherine zu erzählen, was am Vortag passiert war. »Ich will wirklich nicht darüber sprechen«, sagte sie und fügte dann hinzu: »Mein Gott, ich rede schon wie du.«

Während Katherine von ihren Erlebnissen berichtete, lag Fintan, eine Mary-Quant-Perücke auf dem Kopf, mit miesepetriger, schmollender Miene auf dem Sofa. Doch als die Geschichte auf ihren Höhepunkt zusteuerte, spitzte er ein Ohr (das niedriger sitzende) und hörte widerwillig zu. Dann setzte er sich auf, beugte sich gespannt nach vorn, drückte lautmalerisch seine Zustimmung aus und fragte schließlich: »Und du hast deinen hübschen schwarzen Jil-Sander-Mantel die ganze Nacht einfach auf dem Fußboden im Flur liegenlassen?«

Katherine nickte. Sie war stolz und verlegen zugleich.

»Die ganze Nacht?«

Sie nickte wieder.

»Du hast dich zwischen den Ficks nicht rausgeschlichen, um ihn auf seinen speziellen Bügel zu hängen?«

Triumphierend schüttelte Katherine den Kopf.

»Er ist zwar vom letzten Jahr«, sagte Fintan, »aber immerhin.«

Keiner konnte es fassen, wie viele Einzelheiten Katherine zu berichten hatte. Als sie zu der Stelle kam, wo Joe mitten im Zimmer stand und sich splitternackt auszog, klammerten sie sich aneinander und riefen: »Oh, mein Gott!«

»Phantastisch!« kreischte Tara.

»Köstlich!« rief Liv schrill.

Es klingelte. Der Pizzaservice war da. Sandro war frustriert. »Warum kommt er jetzt?« beschwerte er sich. »Erzähl nicht weiter, kein einziges Wort, bis ich wieder da bin«, befahl er und rannte zur Tür. Als er wieder hereinkam, verschwand er fast hinter dem Stapel Pizzapackungen. »Habe ich was verpaßt?« fragte er ängstlich.

»Nein, aber jetzt kommen die Pizzen dran«, sagte Liv vernünftig.

Ein Chor der Empörung schallte ihr entgegen: »Unsinn! Das hier ist viel spannender. Erzähl weiter, Katherine. Er stand also in voller Größe in deinem Wohnzimmer…«

»In voller Größe ist genau richtig.« Sie lachte in Erinnerung an die Erregung.

»Oh, Mann!«

Sie ging sogar soweit, von dem mitternächtlichen Duschen zu erzählen. »Duschen! Heilige Mutter Gottes!« stöhnten sie.

Milo und Liv wechselten eindeutige Blicke.

»Eigentlich sollte ich das alles nicht erzählen«, sagte Katherine. »Vielleicht ruft er mich nie mehr an. Das ist früher auch vorgekommen.«

»Wenn er nicht anruft, dann rufst du ihn an«, bedrängte Tara sie.

»Nein, ich glaube…«

Milo und Liv hatten es plötzlich schrecklich eilig, ihre Sachen zusammenzusuchen. In großer Hast bedankten sie sich und verabschiedeten sich, dann waren sie weg.

»Aber wir hatten sie eine gute Stunde bei uns, bevor sie wieder miteinander ins Bett gehen mußten«, sagte Tara.

»Eine ganze Stunde?« Fintan grinste. »Dann ist die Liebe schon vorbei, würde ich sagen, von nun an geht’s bergab.«

Alle hatten es bemerkt, aber keiner ließ es sich anmerken: Fintan hatte gelächelt!

»Sie bleiben nur der Kinder wegen zusammen«, sagte Katherine und lachte.

»Der Bettdecke wegen, das auf jeden Fall«, sagte Tara. »Gestern haben sie sich eine große Bettdecke gekauft. Ich glaube, sie lieben sie inniglich.«

»Bist du jetzt nicht froh, daß ich dich auf so gemeine Weise zu deinem Glück gezwungen habe?« fragte Fintan mit einem verschlagenen Grinsen. »Schließlich hast du deine Nacht der Leidenschaft mir zu verdanken.«

»Ich dachte, es sei dir piepegal, was ich mache.«

»Ist es mir auch. Oder war es mir, aber da die Sache ja so blendend gelaufen ist, erkläre ich dir hiermit, daß mein Interesse wieder geweckt ist.«

»Wer sagt denn, daß es blendend war? Vielleicht bleibt es bei dieser einen Nacht, und das ist dann um so schlimmer, weil wir in derselben Firma arbeiten.«

»Aber du könntest heute abend eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter haben, wenn du nach Hause kommst«, sagte Fintan. »Möglicherweise versucht er in diesem Moment, dich zu erreichen. Hat er die Nummer von deinem Mobiltelefon?«

Sie schüttelte aufgeregt den Kopf. Vielleicht rief er wirklich an. Doch wie enttäuscht war sie, als sie nach Hause kam und die Anzahl der Nachrichten auf ihrem Anrufbeantworter gleich null war.

61

Ravi«, sagte Tara, »wo kriege ich einen Wagen her?«

»Einen Wagen? Meinst du einen Umzugswagen?«

»Keinen riesigen, aber ja.«

»Keine Ahnung, wir können die Großen fragen.« Er nickte Richtung Vinnie, Teddy und Evelyn.

Plötzlich wurde ihm die Bedeutung ihrer Frage bewußt, und sein Kopf schoß in die Höhe. »Warum? Was ist passiert?«

»Als erstes muß ich eine rauchen.«

»Auf ins Raucherzimmer!«

Tara saß in dem kleinen, gelb gestrichenen Zimmer und nahm einen tiefen Zug von ihrer Zigarette. Ravi, der ein überzeugter Nichtraucher war und nur bei Tara eine Ausnahme machte, sah ihr zu.

»Willst du Thomas verlassen?« Ravi konnte es kaum glauben.

»Sieht so aus.«

»Warum?«

Tara rang sich ein Lächeln ab. »Oh, Ravi. Sogar du hast mir klarzumachen versucht, daß die Sache mit Thomas in einer kompletten Schieflage ist, und du bist ein Kind!«

»Ja, aber du hast immer Gründe gewußt, warum es trotzdem in Ordnung ist.«

Tara wand sich. »Gott, lauter Entschuldigungen…«

»Verläßt du ihn, weil Fintan es will?«

»Nein, weil Fintan es nicht will. Er hat seine Meinung geändert, es interessiert ihn nicht mehr. Und ich dachte, ich würde mich darüber freuen. Aber weit gefehlt. Statt dessen war ich deprimiert und fühlte mich wie in der Falle.«

Ravi seufzte leise. Frauen waren so verdammt kompliziert.

»Und als ich am Samstagnachmittag nach Hause kam, ist es zur Explosion gekommen.

Wieder nahm Tara einen tiefen Zug, als sie die Szene vor ihrem inneren Auge noch einmal entstehen ließ. Kaum war sie zur Tür hereingekommen, hatte Thomas sie angebrüllt: »Bloß weil diese Schwuchtel sich eine unsoziale Krankheit zugezogen hat, ist das noch lange kein Grund für dich, deine Diät nicht einzuhalten, Tara.«

Er hielt die Verpackung von einem Bounty in die Höhe, die er in ihrer Sporttasche gefunden hatte, und in Tara schäumte heiße Wut hoch. Warum war sie mit diesem schrecklichen Mann zusammen?

»Wie bitte?« zischte sie.

»Ich habe gesagt«, wiederholte Thomas, »bloß weil diese Schwuchtel…«

Die ganze Zeit schon trieb er die Sache auf die Spitze und wurde immer gemeiner und dominierender, aber diesmal ging er zu weit.

»Wage es nicht, so von meinem Freund zu sprechen!« sagte Tara mit einem unterschwelligen Drohen in der Stimme.

»Aber ich –«

»Laß es, klar?«

»Ich habe eine Recht auf meine Meinung«, sagte er kämpferisch. »Oder etwa nicht?«

»Nein! Es ist grausam, und außerdem ist es keine unsoziale Krankheit, du unterstellst ihm, daß er selber schuld daran ist.«

»Habe ich ein Recht auf meine Meinung, oder nicht?«

»Aber –«

»HABE ICH EIN RECHT AUF MEINE MEINUNG ODER NICHT?« brüllte er. »Ja oder nein.«

»Es geht hier nicht um Meinungen.« Auch ihre Stimme wurde lauter.

»Ich habe recht. Er ist eine Schwuchtel. Ich sage nichts weiter als die Wahrheit.«

»Du bist widerwärtig und bigott«, sagte sie mit trügerisch ruhiger Stimme. »Ein Höhlenmensch mit rückständigem Macho-Gehabe.«

Zu ihrer Überraschung reagierte er mit einem herzlichen Lachen. »Das stimmt. Das gefällt mir. Sag das noch mal, das mit dem Macho-Gehabe.«

Tara schluckte, sie war sprachlos. Eine Erkenntnis überkam sie: Wer braucht noch Feinde, wenn er einen Freund wie diesen hat?

»Mach schon«, drängte er sie spielerisch, »sag es noch mal.«

»Ich meine es nicht als Kompliment.« Sie hatte die Kiefer zusammengepreßt.

»Ach nein? Es klingt aber wie eins. Ein Höhlenmensch mit rückständigem Macho-Gehabe.« Er lachte, aufrichtig amüsiert. »Aber deswegen liebst du mich.«

Das habe ich jetzt davon.

Jedesmal, wenn sie eine kleine Erkenntnis hatte, daß zwischen ihr und Thomas nicht alles zum Besten war, hatte sie sich alle Mühe gegeben, sie zu übertünchen. Aber alle Verschleierungsmanöver waren jetzt von der Wucht ihres Zorns weggerissen worden, so daß sie den Dingen ins Auge sehen mußte. Und was sie sah, bewirkte, daß sie nicht nur Thomas, sondern auch sich selbst verachtete. Sie hatte Schwulenhasser immer verachtet, und jetzt mußte sie erkennen, daß sie mit einem zusammenlebte. Wo waren ihre Prinzipien? Sie hatte sie auf Eis gelegt, weil ihr Bedürfnis nach einem Mann größer war.

Ein Dominostein nach dem anderen fiel um, und Tara erkannte, daß Thomas’ Weigerung, die O’Gradys kennenzulernen, völlig unverzeihlich gewesen war. Seine Weigerung, Fintan zu besuchen, seine gemeinen Anspielungen, was Fintans Krankheit anging, sein abschätziges Desinteresse an einer gemeinsamen Zukunft mit ihr, sein dauerndes Mäkeln an ihrem Gewicht, seine verletzende Kritik an ihrem Aussehen, seine fortwährende Untergrabung ihres Selbstvertrauens, sein ständiges Anpumpen, seine Bevorzugung von Beryl. Und am schlimmsten war, was sie alles zu seiner Entschuldigung angeführt hatte.

Sie hatte Fintan immer verteidigt, wenn Thomas anfing, über ihn herzufallen. Sich selbst hatte sie nie verteidigt, immer hatte sie sich gesagt, es sei zu ihrem Besten. Aber das war ein riesengroßer Irrtum gewesen, und jetzt schämte sie sich in Grund und Boden, und gleichzeitig war sie außer sich vor Wut.

Sie fing an zu weinen. Tränen der Scham, des Zorns und der Trauer.

»Warum flennst du?« fragte Thomas. »Hast du etwa deine Tage?«

»Nein.« Sie schluchzte, als würde ihr das Herz brechen.

»Ach, Tara, hör auf zu heulen. Soll ich dir einen Tee machen?«

»Nein. Laß mich einfach in Frieden.«

Erzürnt sah er sie an. Wie konnte sie nur? Wußte sie nicht, wie empfindlich er war? »In Ordnung«, sagte er beleidigt, »ganz wie du willst.«

Er stapfte aus der Wohnung, und sie weinte und weinte und weinte. Um die verschwendeten Jahre, um das Ende der Hoffnung, wegen der Gemeinheiten Fintan gegenüber, wegen ihrer beschämenden Selbsttäuschung, wegen des glücklichen Lebens, das ihr versagt war, und des leeren Lebens, das sich vor ihr erstreckte.

Irgendwann zwischendurch rief Katherine an, aber Tara keuchte und schluchzte und konnte kaum sprechen.

Sie zündete sich eine Zigarette an, starrte in die Ferne und fragte sich, warum bei ihr immer alles schiefging. Warum ich? Warum kann ich keine glückliche Beziehung haben? Warum endet es immer damit, daß ich allein bin?

Seit langem, besonders seit Fintan krank war, war es ihr gelungen, die Augen vor den sich häufenden Einsichten zu verschließen. Aber inzwischen war soviel zusammengekommen, daß sie nicht mehr davor weglaufen konnte.

War Thomas schon immer so gewesen? War er schlimmer geworden? Oder hatte sie es nicht gesehen? Sich geweigert, es zu sehen?

Sie war in einem Schockzustand. Es war Zuviel für sie. Etwas in ihr versuchte sie zu schützen und ihr die Wahrheit langsam nahezubringen. Sie versuchte sich einzureden, daß es keinen Grund gab, unglücklich zu sein. Schließlich hatte er angeboten, ihr eine Tasse Tee zu machen – vielleicht war er doch nicht so übel. Aber sie konnte das, was ihr aufgegangen war, nicht mehr wegschieben, obwohl sie das wollte. Ihre Erkenntnisse waren wie eine riesige Last, die sie zum Handeln aufforderte, auch wenn das hieß, daß ihr Leben vorbei war.

Ein paar Stunden später kam Thomas wieder und tat so, als wäre alles in Ordnung. Er wollte mit ihr ausgehen.

»Nein«, sagte sie blaß und unversöhnlich. »Du kannst allein gehen.«

Den ganzen Samstagabend saß sie in der Wohnung und sammelte Kraft, für den nächsten Schritt. Die riesige Kluft zwischen der Erkenntnis, daß sie Thomas verlassen mußte, und deren Ausführung war zu überbrücken.

Den Sonntag verbrachte sie bei Fintan und sagte kein Wort über die Kämpfe, die in ihr tobten. Das lag nicht daran, daß sie es nicht wollte, sondern sie konnte nicht darüber sprechen. Konnte nicht in Worte fassen, welche enorme Aufgabe vor ihr lag.

Sie beobachtete Milo und Liv, sie hörte sich Katherines berauschende Schilderung an und dachte: So mußte es eigentlich sein.

»Jetzt weißt du also«, sagte Tara mit einem gequälten Lächeln zu Ravi, »warum ich einen Wagen brauche.«

»Ich gucke gleich mal in den gelben Seiten«, versprach er.

»Du findest doch auch, daß ich ihn verlassen soll, oder?« fragte sie ihn angsterfüllt.

»Aber du hast mir doch gerade…«

»Ich hatte gehofft, du würdest mir sagen, daß ich völlig übergeschnappt sei.«

»Bist du aber nicht«, sagte er traurig.

»Ich habe solche Angst.« Sie steckte sich eine Zigarette in den Mund, und er gab ihr Feuer. »Vor dem Alleinsein. Alt zu sein und keinen abgekriegt zu haben. Ich werde nie wieder einen Mann finden.«

»Natürlich findest du jemanden.«

»Woher willst du das wissen? Eine dicke Tonne wie ich. Oh, Ravi, du hättest Katherine am Samstag sehen sollen. Diese Aufregung, diese Vorfreude. Es war wunderbar, als wäre sie wieder ein Teenager. Ich habe das richtig gespürt.«

»Ja, aber diese Aufregung dauert nicht lange«, sagte er besorgt. »Auch bei Danielle und mir –«

»Trotzdem«, unterbrach sie ihn, »wenn zwei Menschen eine Beziehung haben, dann sollten sie einander wenigstens mögen, oder?«

»Und du magst Thomas nicht?«

»Nein. Und er mag mich nicht. Wenn er mich mögen würde, dann würde er mir nicht dauernd erzählen, daß ich fett wie eine Tonne bin. Irgendwas stimmt doch nicht, wenn er mich dauernd verändern will, oder?«

»Ja, da hast du vollkommen recht. Das versuche ich dir schon seit langem zu sagen.«

Tara sah nachdenklich an ihm vorbei. »Ich habe es gewußt, und dann auch wieder nicht, falls du weißt, was ich meine.«

»Du hast es gewußt, aber du wolltest es nicht wissen.«

Die Schwarzweiß-Stummfilm-Version ihres Lebens in Zeitlupe schaltete plötzlich um auf Farbe mit Ton und lief in normaler Geschwindigkeit.

Der Schock ließ nach, die Trauer trat in den Hintergrund, jetzt hatte Tara nur noch Wut.

Massenhaft Wut.

62

Als Katherine am Montagmorgen zur Arbeit kam, war Joe schon da, aber er sah nicht einmal auf. Das war’s also, dachte sie mit unaussprechlicher Bitterkeit. Falsch verstanden. Mal wieder.

Bedrückt hängte sie ihren Mantel auf und schlich sich zu ihrem Schreibtisch. In dessen Mitte prangte ein Paket. Eingewickelt in blau-goldenes Designers-Guild-Papier; es enthielt also offensichtlich nicht die neuesten Ausdrucke der Steuergesetzänderungen von der Regierungsdruckerei.

»Was ist das?« fragte sie Charmaine.

»Keine Ahnung, es war schon hier, als ich kam.« Katherine nahm das Paket in die Hand und befühlte es.

Der Inhalt war weich und biegbar.

»Mach es auf«, sagte Charmaine.

»Na gut…«, sagte sie bedächtig. Ob es Grund zur Freude gab? Wer würde ihr ein Paket auf den Tisch legen, wenn nicht Joe?

Vorsichtig, damit das schöne Papier nicht einriß, zog Katherine das Tesafilm ab.

»Reiß es einfach auf!« drängte Charmaine sie. »Mach schon, laß dich gehen.«

Sie tat es, und heraus kam etwas Weißes aus Plastik, das sich vor ihr entfaltete.

»Was soll das denn?« fragte Charmaine.

Katherine betrachtete es und lächelte plötzlich über das ganze Gesicht.

»Was ist das?« fragte Charmaine. Sie war ganz verstört.

»Es ist eine Matte, die man in die Badewanne legt«, sagte Katherine grinsend. »Damit man nicht rutscht.«

Aus dem Augenwinkel sah sie zu Joe hinüber, aber der war sehr beschäftigt. Sehr konzentriert auf das, was er auf seinem Bildschirm sah. Außerordentlich konzentriert. Katherine konnte praktisch sehen, wie seine Nackenmuskeln vor Anspannung zitterten, weil er sich zwang, nicht aufzusehen.

»Und von wem ist das?« fragte Charmaine mißtrauisch.

»Keine Ahnung.«

»Ist keine Karte dabei?«

»Nein.«

»Komisch.«

Als Katherine ihren Computer anschaltete, stellte sie fest, daß sie eine E-Mail bekommen hatte, in der stand: »Damit wir beim nächsten Mal nicht rutschen.«

In Windeseile schrieb sie: »Wann möchtest du das nächste Mal nicht rutschen?«, schickte es ab und wartete. Dann war sie sich unsicher, ob sie zu aufdringlich gewesen war. Mach schon, drängte sie Joe, antworte mir.

Nach ungefähr drei Minuten sah sie, daß er etwas auf dem Bildschirm anklickte. Oh, er machte seine Mail auf, er las die Nachricht! Ohne eine Miene zu verziehen, schrieb er mit fliegenden Fingern.

Katherine wartete ungeduldig, daß das Mail-Zeichen aufleuchtete. Als es blinkte, klopfte ihr das Herz bis zum Hals. »Möchte so bald wie möglich nicht rutschen. Sag mir, wann es dir paßt«, stand da.

Sie überlegte fieberhaft und schrieb zurück: »Mittwochabend?« Sie fand, das klang ziemlich cool.

Sekunden darauf war seine Antwort da: »Fürchte, könnte bis dahin rutschen. Mittwochabend viel zu spät.«

»Verstehe. Morgen abend?« antwortete sie.

»Fürchte, könnte bis dahin rutschen. Morgen viel zu spät«, lautete seine Antwort.

Katherines Finger zitterten vor Freude, als sie schrieb: »Verstehe. Heute abend scheint der sicherste Termin.«

Nicht ein einziges Mal hatten sie Blicke gewechselt.

Den ganzen Tag über waren sie sehr höflich, wenn sie miteinander zu tun hatten. Einmal kam Joe ins Büro, als Katherine gerade hinausgehen wollte. Er trat zurück, um sie vorbeizulassen, und sie vermieden jede Berührung.

»Entschuldigung«, murmelte Katherine.

»Jederzeit.«

»Schönen Dank.«

»Keine Ursache.«

Zwischendurch hatte Katherine das Gefühl, die Aufregung nicht im Zaum halten zu können. Ihr schien es, als mußte sie jeden Moment vor Freude zerbersten. Sie rieb die Beine unter dem Schreibtisch aneinander, um die aufgestaute Erregung abzuleiten. Und dann, als sie Joe sah, groß und professionell in seinem Anzug, wollte sie aufstehen und durch das Büro rufen: »Ich habe Joe Roth splitternackt gesehen und könnte jeden Zentimeter von seinem Körper beschreiben. Er ist wunderschön.«

Am Nachmittag klingelte Katherines Telefon.

Es war Tara. »Kann ich dich um einen Gefallen bitten?«

»Nur zu«, sagte Katherine übermütig. Nichts konnte sie erschüttern.

»Kann ich bei dir einziehen?«

»Oh. Oje.«

»Es tut mir so leid«, sagte Tara zutiefst zerknirscht. »Ich habe natürlich den besten Zeitpunkt ausgewählt, ich weiß. Du und dein neuer Geliebter, ihr wollt es überall treiben, und du bist seit zwei Jahren mannlos, und in der ganzen Zeit hätte ich mich von Thomas trennen können, aber nein, ich mußte bis jetzt damit warten.«

»Hast du dich … von Thomas … getrennt?«

»Das kann man so nicht sagen. Aber ich werde mich von ihm trennen, nach der Arbeit. Ich packe einfach mein Auto voll, und Ravi organisiert im Laufe der Woche einen Wagen für den Rest.«

»Also, ich kann es kaum fassen. Ich bin hoch erfreut«, sagte Katherine aufgeregt. Natürlich war sie erfreut, aber mußte es wirklich jetzt sein…?

Eine Stunde später schickte Joe eine weitere E-Mail an Katherine, in der es hieß: »Bezugnehmend auf unser Nicht-Rutschen heute abend, wohin möchtest du gehen: in ein Restaurant, eine Bar, ins Kino, ins Theater, in einen Fish-and-Chips-Laden, einen Videoladen, einen Nachtclub, zum Kegeln, in ein Jacuzzi oder in meine Wohnung? Das Gewünschte bitte ankreuzen.«

Und Katherine mußte antworten: »Leider hat sich eine kleine Änderung ergeben. Meine Freundin Tara steckt mitten in einem Trennungsdrama…«

Weil Katherine auf keinen Fall wollte, daß die anderen im Büro die Sache mit ihr und Joe herausfanden, kam Joe eine halbe Stunde nach ihr in ihrer Wohnung an. Als sie die Tür öffnete, stand ein breites Lächeln auf seinem Gesicht, ein starker Gegensatz zu der kühlen Distanziertheit, mit der sie sich den Tag über begegnet waren.

Er umhüllte sie mit seinem Mantel und küßte sie erleichtert.

»Ich hoffe, es ist dir keiner gefolgt«, sagte sie streng. »Doch, aber ich habe mich in eine chinesische Wäscherei geflüchtet und bin durch die Hintertür wieder raus.«

»In einen schmalen Gang zwischen den Häusern, vollgestellt mit Kartons?«

»Und lauter Hühnern. Dann bin ich eine Feuerleiter hochgeklettert und durch ein Fenster gestiegen.«

»In dem Zimmer lagen ein Mann und eine Frau im Bett?«

»Ich glaube sogar, es waren zwei Männer. Ich habe nur meinen Hut gelüftet und höflich gesagt: ›Entschuldigen Sie vielmals.‹«

»Und der eine sagte: ›Hast du das gesehen?‹, und der andere erwiderte: ›Was denn?‹«

»Aber ich war schon wieder weg.«

Sie lachten vor Vergnügen über die gemeinsam gesponnene Geschichte.

»Danke für die Badematte«, sagte sie verlegen.

»Wann können wir sie ausprobieren?«

Sie schüttelte den Kopf. »Heute abend müssen wir uns anständig benehmen. Tara könnte jede Minute mit einigen ihrer Sachen eintreffen. Es tut mir leid. Ich weiß, du hattest dir etwas anderes vorgestellt.«

»Wir können trotzdem zum Fish-and-Chips-Laden und in die Videothek gehen«, sagte er willig. »Noch ist nicht alles verloren.«

»Ja, aber…« Es war noch nicht der Zeitpunkt für Abende zu Hause mit einem Video und einem Essen aus dem Take-away. Das schickte sich frühestens nach drei Wochen. »Ich könnte uns etwas kochen«, schlug sie unsicher vor.

»Mir wäre es lieber, wenn du das nicht tun würdest.«

»Ah!«

»Du darfst nicht vergessen, Katherine, du hast mir vor geraumer Zeit erzählt, daß du nicht kochst.«

»Würdest du denn riskieren, einen von mir gemachten Tee zu trinken?«

»Da weiß ich noch was Besseres.« Er zog eine Flasche Wein aus seiner Manteltasche. »Wie findest du das? Das Beste, was Oddbins zu bieten hat.«

»Wie war dein Tag gestern?« rief sie aus der Küche, als sie den Korkenzieher holte.

»Er fing gut an«, sagte er langsam, »aber so nach elf war irgendwie die Luft raus. Und danach war der einzige Lichtblick ein kleiner Ausflug zu Homebase, um die Badematte zu kaufen.«

»Du hättest hier bei mir bleiben sollen«, sagte sie neckend.

»Meinst du?« Er klang überrascht. »Nichts hätte ich lieber getan, aber ich wollte dir nicht auf den Wecker fallen.«

Sie kam wieder ins Zimmer und hoffte, daß die Erleichterung in ihrer Miene nicht zu offensichtlich war.

Gemeinsam gingen sie zu dem Fish-and-Chips-Laden. Es hatte angefangen zu regnen. »Vom Ivy zum Fish-andChips-Laden in nur zwei Tagen«, sagte sie trocken und drückte die Tür auf.

»Was nimmst du?« fragte Joe und fing an, die Auswahl der Gerichte von der Tafel über der Theke abzulesen. »Würstchen im Teigmantel? Hühnerflügel? Cheeseburger?«

»Kommt drauf an, was du nimmst.«

»Zwei Gewürzwürstchen und Pommes. Vielleicht können wir uns eine Portion gebratener Zwiebelringe teilen?«

»Wenn ich dir von meinem geräucherten Schellfisch abgebe, kann ich dann was von deinem Würstchen haben?« fragte sie.

»Du kannst soviel von meinem Würstchen haben, wie du willst«, sagte er leise.

Und plötzlich verschwand der Laden um sie herum, und es gab nur noch sie zwei. Sie standen regungslos voreinander und sahen sich in die Augen. Erno hörte hinter seiner Theke aus Resopal und Glas auf zu hantieren und mußte ein paar Tränen verdrücken. Junge Liebe. Es gab nichts Schöneres.

Sie kauften zwei Dosen Tizer-Bier, die sie zum Essen trinken wollten, und Erno packte vier Tütchen Ketchup und ein Solei dazu. Das war seine Art, auf ihr Glück anzustoßen und ihnen alles Gute zu wünschen.

Dann gingen sie in den Video-Laden, wo Joe sofort nach Ein Herz und eine Krone griff. »Weißt du noch? Als wir zusammen zum Lunch waren?« Er wurde verlegen. »Als ich dich so lange bedrängt habe, bis du einverstanden warst.«

Jetzt wand sie sich verlegen. »Du hast mich nicht bedrängt.«

»Egal, wir haben darüber gesprochen, wie wir einen regnerischen Abend verbringen würden, und sind beide auf Roman Holiday gekommen. Erinnerst du dich?«

Natürlich erinnerte sie sich, aber sie sagte nur: »Ach, kann sein.«

Als der Film um halb zehn zu Ende war und Tara immer noch nicht erschienen war, fiel es ihnen immer schwerer, die Hände voneinander zu lassen.

»Wir dürfen nicht.« Katherine löste sich widerwillig aus einer leidenschaftlichen Umarmung. »Tara kommt bestimmt im ungünstigsten Moment.«

»Na gut«, sagte Joe ganz außer Atem. Als er wieder Luft geschöpft hatte, fragte er: »Warum trennt sie sich denn von ihrem Freund.«

Erst erzählte Katherine zögernd, dann berichtete sie ausführlich über Tara und Thomas und darüber, was für ein Scheusal er war. Dann erzählte Joe von Lindsay, mit der er drei Jahre lang zusammengewesen war.

»Wer hat die Beziehung beendet?« fragte sie und bemühte sich, unbeteiligt zu klingen.

»Saatchi and Saatchi.« Joe lachte. »Man hat ihr eine Stelle in New York angeboten«, erklärte er, »aber unsere Beziehung ging sowieso dem Ende zu.«

»Warst du…warst du … verletzt?« fragte sie »Ja, aber du weißt, was man immer sagt.«

»Was denn?«

»Die Zeit weilt alle Hunde.«

Dann erzählte Katherine von Fintan und seiner Krankheit.

»Einmal hast du bei der Arbeit geweint«, sagte Joe unsicher. »Ich wollte meine Spesenabrechnung einreichen, und du hast gesagt, du hättest schlechte Nachrichten bekommen. Hatte das mit Fintan zu tun?«

Sie sagte vage: »Wahrscheinlich schon.« Sie würde ihm nicht erzählen, daß sie jede Begegnung, die je zwischen ihnen stattgefunden hatte, genauestens im Kopf hatte.

Plötzlich fing sie an, von Milo, JaneAnn und Timothy zu reden und deren Besuch, ihrem ersten, in London. Und wie Milo und Liv sich ineinander verliebt hatten, obwohl für Liv Stil ein wichtiges Lebensprinzip war und Milo bis vor kurzem nie aus seinen abgetragenen Latzhosen herausgekommen war.

»Latzhosen!« rief Joe. Vielleicht war der Typ, mit dem er Katherine damals gesehen hatte, schlicht und einfach Fintans Bruder.

»Ja, genau, Latzhosen«, sagte Katherine verblüfft. »Man trägt sie doch nicht nur in Irland, oder? Es sind blaue Arbeitshosen mit einem Latz vorne –«

»Ich weiß«, sagte Joe und grinste. »Und was ist dieser Milo von Beruf?«

»Er ist Bauer.« Was für eine seltsame Frage.

»Er spielt nicht in einer Band oder so?«

»Milo? Machst du Witze?«

Um elf Uhr klingelte das Telefon. Katherine war überrascht, Tara am Apparat zu haben.

»Wo bist du?«

»Zu Hause. Ich konnte plötzlich nicht«, sagte Tara unglücklich. »Es tut mir leid, daß ich euch euren Abend kaputtgemacht habe.«

»Das hast du gar nicht. Wir hatten einen sehr schönen Abend. Mach dir keine Sorgen.«

»Vielleicht habe ich morgen den Nerv, es zu tun.«

»Genau.«

Katherine legte den Hörer auf. »Sie kommt nicht. Alle zum Einsatz auf der Badematte!«

63

Am Dienstagabend um sieben Uhr stand Tara inmitten von Kisten und Taschen im Wohnzimmer. Sie war früh aus dem Büro gekommen. Ihr Plan war, alles gepackt zu haben, damit sie ihre Ansprache halten und dann gehen konnte.

Am Abend zuvor war sie vor der letzten Hürde gescheitert, weil ihr der Schritt, ihren Freund und ihr Zuhause zu verlassen und ihr Leben als einsame alte Jungfer zu beschließen, zu gewaltig vorgekommen war. Es schien viel leichter, sich abzufinden und den Mund zu halten. Wozu brauchte man Selbstachtung, wenn man einen Freund hatte?

Und wie nicht anders zu erwarten, war Thomas sehr nett zu ihr gewesen, als ahnte er, daß etwas im Busch war. Er sagte ihr, sie sehe aus, als habe sie abgenommen. Er bot ihr an, das Abendessen zu kochen. Und jedesmal, wenn sie ihren Mut zusammennahm und ihm ihre Entscheidung mitteilen wollte, verwirrte sich alles in ihrem Kopf, und das ganze Vorhaben erschien ihr der reine Wahnsinn.

Aber in einem Rhythmus, bei dem sie zwei Schritte vor und einen zurück machte, erreichte sie schließlich doch den Punkt, an dem sie bereit war. Sie hatte die Dinge zu lange unter den Teppich gekehrt, doch jetzt blieb ihr keine Wahl mehr.

Sie rüstete sich mit den Bildern all der Male, als er sie wie Dreck behandelt hatte, und wollte endlich die Konsequenzen ziehen. Zwischendurch schossen ihr noch andere, fast vergessene Erinnerungen durch den Kopf und festigten ihre wütende Entschlossenheit. Sie wollte ihn verletzen und demütigen, wie er sie verletzt und gedemütigt hatte. Wie sie ihm erlaubt hatte, sie zu demütigen.

Als sie seinen Schlüssel in der Tür hörte, war ihr Mund plötzlich trocken. Nach einem Tag der Auseinandersetzungen mit aufmüpfigen Teenagern erschöpft, sah er sie kaum an und warf seinen (braune) Schultasche auf die (braune) Couch.

Dann fiel ihm auf, daß etwas anders war als sonst. Die Atmosphäre war anders. Warum stand Tara mitten im Zimmer? Warum saß sie nicht auf dem Sofa? Und wo waren die Bücher? Waren Einbrecher in der Wohnung gewesen?

»Thomas?«

»Was ist?«

»Ich muß dir etwas sagen.«

»Und?«

»Ich trenne mich von dir.«

Er stöhnte. »Ah, Tara, was ist in letzter Zeit bloß los mit dir? Ich komme gerade von der Arbeit und habe keine Lust auf eine von deinen hysterischen Diskussionen.«

»Ich glaube, du hast mich nicht richtig verstanden. Es gibt nichts zu diskutieren. Ich trenne mich von dir.«

Er sah sie an wie ein Goldfisch, seine Augen traten hervor. »Warum?« brachte er heraus.

»Mal sehen«, sagte sie und dachte nach. »Könnte es sein, weil du grundlos grausam bist? Oder krankhaft geizig? Oder ein besessener Kontrollierer? Oder weil du einfach unerträglich bist und ich dich nicht mehr mag? Es ist schwer, es genau zu sagen, Thomas. Ich weiß nur, daß ich nicht ganz bei Trost gewesen sein kann, weil ich zwei Jahre bei dir geblieben bin.«

Sein Gesicht verlor bei jedem Satz an Farbe. »Aber…«, fing er an und wand sich unter dem überraschenden Angriff. »Aber so bin ich nun mal. Ich sage die Dinge so, wie sie sind, aber ich liebe dich, und alles, was ich sage, ist nur zu deinem Besten.«

»Weißt du was«, sagte sie. »Ich glaube, du müßtest mal eine Therapie machen. Deine Haltung Frauen gegenüber ist wirklich krank.«

»Quatsch.« Thomas klang verächtlich. Seltsamerweise war es nicht das erste Mal, daß eine Freundin das vorschlug…

»Du magst mich nicht mal«, sagte Tara.

»Natürlich mag ich dich.«

»Nein, sonst wärst du viel netter zu mir gewesen.«

In dem Moment bemerkte Thomas erst richtig die Taschen und Kisten um Tara herum und verstand, daß sie und die leeren Regale zusammengehörten. Bücher, Videos, CDs – alles war eingepackt. »Sind das –« Er zeigte auf die Kartons. »Sind deine Sachen da drin?«

»Manche. Ich hole den Rest im Lauf der Woche.«

»Ich kann es nicht fassen.«

Tara registrierte mit einiger Genugtuung, daß er ziemlich benommen aussah.

»Wo würdest du hinziehen?«

»Ich ziehe aus«, sagte Tara mit Nachdruck, »zu Katherine.«

»Zu Katherine?«

»Als Übergang«, sagte sie mit Fassung. »Dann überlege ich mir, ob ich mir eine Wohnung kaufe.«

»Eine Wohnung kaufen?«

»Gibt es hier ein Echo?« Sie sah sich um.

»Laß uns noch mal drüber sprechen«, sagte er tapfer. Jetzt, wo sie schon auf dem Weg war, wollte er sie unbedingt zurückhaben. Er war wieder sieben Jahre alt.

»Wir haben schon darüber gesprochen.«

»Wann?«

»Am Tag nach meinem Geburtstag zum Beispiel. Als du gesagt hast, du würdest mich sitzenlassen, wenn ich schwanger würde.«

»Ach, das.«

»Und dann letzten Freitag, als ich dich gefragt habe, ob du mich heiraten würdest.«

»Ich wußte nicht, daß du es ernst meinst«, murmelte er.

»Genau!«

»Tara, verlaß mich nicht.« Er machte eine Pause. »Meine Liebe«, sagte er dann zögernd.

Ihr Entschluß geriet ins Wanken. Noch nie hatte er sie »meine Liebe« genannt.

»Ich gebe zu, daß ich nicht immer gut zu dir war«, sagte er flehend.

»Könntest du das noch mal sagen?«

»Ich gebe zu, daß ich nicht immer gut zu dir war«, wiederholte er, etwas schmollend.

»Das gefällt mir.« Sie lachte unergründlich. »Du warst nicht immer gut zu mir. So kann man es auch ausdrücken.«

»He. Keiner hat dich gezwungen, bei mir zu bleiben.«

»Ich weiß.« Sie lächelte. »Ist das nicht demütigend? Ob du es glaubst oder nicht, ich bin viel saurer auf mich als auf dich.«

»Wie kannst du mir das antun?« Er verlor seine Haltung.

»Wie oft soll ich es dir noch sagen? Weil du ein Scheusal bist.«

»Aber du weißt den Grund dafür. Ich habe es dir gesagt. Meine Mam hat mich verlassen, deshalb kann ich Frauen nur schwer vertrauen. Das hier ist wie damals, als ich am Sonntagmorgen aufgestanden bin, und alle ihre Taschen waren gepackt. Es war schrecklich, Tara.«

»Kannst du mal eine andere Platte auflegen?«

Thomas traute seinen Ohren nicht. Seine Wunde, die er gehätschelt und getätschelt, gepflegt und genährt hatte, wurde auf respektloseste Weise mißachtet. Es war sein kostbarstes Attribut, mit dem er Menschen so manipulieren konnte, wie es ihm paßte. Wie konnte es diese dicke Tonne wagen…!

»Oh, jetzt verstehe ich«, sagte er plötzlich wutschäumend, »du hast einen anderen kennengelernt. Jetzt wird mir alles klar.«

»Das stimmt nicht. Es hat nichts mit einem anderen Mann zu tun. Es hat mit dir zu tun. Und mit mir, leider.«

»Dieser Ravi, ich wette, du vögelst mit ihm.«

»Ich vögel mit niemandem.«

Er sah sie haßerfüllt an. »Nein. Das stimmt wahrscheinlich. Wer würde dich schon nehmen?«

»So kenne ich meinen Thomas. Also, das wär’s dann.« Sie zog sich den Mantel an. »Alles ist wirklich. Wirklich schrecklich, meine ich.«

Wie vor den Kopf geschlagen beobachtete er sie, wie sie die Kartons und Taschen zum Auto trug. Als sie wieder hereinkam, um die zweite Ladung zu holen, weiteten sich seine Augen vor Schreck. »He. Laß meinen Couchtisch stehen!«

»Wessen Couchtisch?«

»Meinen.«

»Und wer hat ihn bezahlt?«

Er antwortete nicht.

»Ich. Er ist also meiner, Thomas«, sagte sie triumphierend.

64

Yippie!« Fintan zog sich die Marilyn-Monroe-Perücke herunter und ließ sie auf der Faust über seinem Kopf kreisen. »Ich kann es nicht glauben. Glaubst du es, Katherine?« Bei dem Gedanken an Tara, die seit zwei Tagen ununterbrochen weinte, sagte Katherine: »Ich schon.«

»Erzähl mir, was sie dir erzählt hat. War er am Boden zerstört?«

»Ziemlich, soweit ich gehört habe.«

»Hoho.« Fintan ballte die Hände zu Fäusten. »Ich wäre gern eine Fliege an der Wand gewesen. Schade, daß sie kein Video davon gemacht hat. Wie geht es ihr?«

»Sie ist ziemlich fertig, ehrlich gesagt.«

»Roy Orbison?«

»Nein.« Katherine lächelte geheimnisvoll. Die CD mit Roy Orbison lag zur Zeit unter vier Photoalben in einem Schuhkarton, der bei ihr auf dem Schrank stand. Dorthin hatte Katherine sie verfrachtet, kaum daß Tara mit ihren Kisten eingetroffen war, denn sie hatte nicht vor, noch einmal zwei Monate lang »It’s oooooh-ver!« zu ertragen.

»Redet sie dauernd davon, daß sie lesbisch werden muß, weil sie nie wieder einen Mann kennenlernen wird?«

»Ja, wie damals.«

»Abendkurse?«

»Sie redet von Mosaikmachen, von einem Portugiesischkurs und Banjostunden. Ich warne dich jetzt schon mal, daß sie plant, dich mit einzubeziehen.«

»Du lieber Gott – Banjo-Stunden! Ist es da nicht ein Glück, daß ich morgen für die nächste Ladung Chemotherapie ins Krankenhaus muß und mir so elend sein wird, daß es mir schon reichen wird, ein Banjo auch nur anzugucken?«

»Wirklich ein Glück.«

»Glaubst du, sie wird zu Thomas zurückgehen?«

»Also, er hat schon angerufen und gefragt, ob sie weiterhin Freunde bleiben könnten.«

»Na klar, er wollte mit ihr ins Bett. Und was hat sie gesagt?«

»Sie hat gesagt – es war klasse, was sie gesagt hat, Fintan. Sie hat gesagt: › Weiterhin? Wie können wir weiterhin Freunde bleiben, wenn wir noch nie Freunde waren?‹«

»Oh, wunderbar! Sie kommt drüber hinweg. Aber wir dürfen auf keinen Fall anregen, daß sie sich mit ihm für gewisse Stunden trifft. Wir wissen ja, was nach Alasdair passiert ist.«

»Genau. Was ist das für ein Kasten da in der Ecke?«

»Mein Heimtrainer. Keine Angst, ich schicke ihn zurück. Jetzt erzähl mal, wie es dir geht.«

»Sehr gut.« Katherine grinste breit wie die CheshireKatze in Alice im Wunderland. »Sehr, sehr gut.«

»Immer noch drei Stunden Schlaf pro Nacht?«

»Wenn überhaupt.«

»Und sieh dich an! Das blühende Leben. Wann lerne ich ihn kennen?«

»Wann möchtest du?«

»Besser, wir warten, bis die Chemotherapie vorbei ist. Ich will ja nicht beim ersten Mal über deinen neuen Freund kotzen. Das wäre eine schlechte Umgangsform.« Das Telefon klingelte, und Fintan sagte: »Gehst du mal ran? Du sitzt näher. Wer kann es sein? Oh, diese ganzen gesellschaftlichen Verpflichtungen, meine Güte!«

»Hallo«, sagte Katherine. »Ah, hallo, Mrs. O’Grady. Wirklich? Sind Sie sicher? Nein, das wußte ich nicht. Nein, wirklich nicht. Ich schwöre es, ich habe keine Ahnung. Ich verstehe, ja – ich verst – genau – ich verstehe – Aber warten Sie mal einen Moment. Vielleicht sollten Sie sich erst vergewissern, daß es stimmt, bevor Sie jemanden umbringen.«

Katherine reichte Fintan den Hörer. »Deine Mutter. Hast du schon davon gehört, daß Milo den Hof verkaufen und nach London ziehen will?«

Tara stieg aus dem Bett und strich als erstes einen Tag auf dem Kalender aus, den Katherine ihr gegeben hatte. Zehn. Die zehnte Nacht hintereinander, die sie ohne Thomas verbracht hatte. Die zehnte unendliche, schlaflose Nacht, nachdem ihr Biorhythmus durch die Ortsveränderung und die großen Mengen Alkohol, die sie zu sich nahm, um den Schmerz und die Angst vor der gähnend leeren Zukunft zu betäuben, völlig durcheinandergeraten war.

Ihr unerschütterlicher Mut, den sie gegenüber Thomas an den Tag gelegt hatte, war schon verflogen, bevor sie bei Katherine angekommen war. Fast hätte sie kehrtgemacht und wäre zurückgefahren. Aber sie wußte, daß ihr dieser Weg versperrt war, weil sie Thomas so gründlich gedemütigt hatte. Alle sagten, sie würde über ihn hinwegkommen, aber sie wußte, daß ihr Leben zu Ende war. Sie dachte zurück an die ausgelassenen, sorgenfreien Tage, als sie Ende zwanzig war und noch viel Zeit vor sich hatte. Natürlich, als Alasdair sie damals sitzengelassen hatte, war sie auch überzeugt gewesen, daß es für sie zu spät sei, aber diesmal, zwei Jahre später, war es wirklich aus und vorbei.

Sie hatte nicht mehr die Kraft, sich aufzurichten und weiterzumachen, die sie früher hatte. Das war ihre letzte Chance gewesen, und sie hatte sie vertan.

Der Gedanke, wieder zu Thomas zu gehen, war sehr verführerisch. Jetzt, nach vollzogener Trennung, kam er ihr nicht mehr so übel vor. Seine Reizbarkeit schien kein so hoher Preis mehr für Zweisamkeit. Zwar hatten sie ihre Unstimmigkeiten, aber sie kannten sich sehr gut. Wieviel Vertrautheit lag doch in dem schnippischen Ton ihrer Unterhaltungen. Besser man hatte jemanden, mit dem man sich streiten konnte, als überhaupt keinen zu haben. Und wenn sie den Mut hatte, sich selbst gegenüber ehrlich zu sein, mußte sie zugeben, daß ihr der Status, Teil eines Paares zu sein, fehlte. Allein fühlte sie sich unvollständig, eine Versagerin.

Doch trotz ihrer Einsamkeit war sie für Augenblicke tief überzeugt, daß es falsch wäre, zu ihm zurückzukehren. Es sei denn, er würde sich von Grund auf verändern. Und sie wollte sich auf keinen Fall ein zweites Mal so demütigen lassen wie nach der Trennung von Alasdair. Bitte, lieber Gott, laß mich Thomas nicht anrufen, betete sie tausendmal am Tag. Bitte, lieber Gott, gib mir Kraft. Mach, daß er anruft. Mach, daß er mir sagt, er habe sich verändert.

Katherine war in der Küche und machte für sich und Joe Kaffee. »Hallo«, sagte sie fröhlich. Sie verbrachte nur einen geringen Teil der Nacht schlafend, war aber hellwach und voll präsent, abgesehen davon, daß sie gelegentlich in angenehme Träume abdriftete.

Sie sah auch anders aus. Jedem fiel das auf. Als sich kürzlich ihr kleiner, straffer Po an Fred Franklins Glaskasten vorbeischob, hatte Fred Myles angestoßen und gesagt: »Klasse Arsch. Wenn man dran könnte.«

Dann war Fred erstarrt. »Wessen Arsch war das denn? Der von der Eiskönigin? Verdammt noch mal, tatsächlich! Und darüber habe ich was Nettes gesagt!«

Tara, in Katherines Küche, rang sich ein Lächeln ab. »Tara«, sagte Katherine bedächtig.

»Was?«

»Guck mal.« Katherine steckte zwei Finger in Taras

Rockbund und zog. Eine große Lücke klaffte.

»Oh.« Tara sah erstaunt an sich hinab.

»Ißt du überhaupt was?«

»Das ist der Gang der Dinge. Du trennst dich von

einem Mann und kannst nichts essen, dann wirst du elfenhaft schlank und lernst einen neuen Mann kennen. Der Trostpreis der Natur.« Tara lächelte schwach.

»Aber du mußt was essen, Tara.«

»Keine Lust.«

»Laß dich nicht so hängen«, sagte Katherine streng.

»Es lohnt sich nicht für ihn.«

»Er war nicht nur schlecht«, sagte Tara. »Manchmal

war er nett.«

»Wann, zum Beispiel?«

Tara dachte einen Moment nach. »Er hat immer meine

Formulare ausgefüllt. Versicherungs-und Steuersachen.

Er wußte genau, wie sehr mir das zuwider war.«

»Das war ja wohl das mindeste, wo du ihn überall

hingefahren hast. Gib mir noch ein anderes Beispiel.«

»Er war höflich. Er hat mir die Türen aufgemacht und

Stühle zurechtgerückt.«

»Sexistisches Gehabe.«

Tara seufzte schwer. »Also gut, er war sehr geschickt

mit den Händen. Als sich meine Silberkette völlig verheddert hatte, hat er sie wieder entwirrt, und sie ist

nicht kaputtgegangen. Ich hätte nie die Geduld gehabt.« Katherine machte: »Hah«, als wäre sie nicht ganz

sicher, wie sie ihren Spott für Thomas’ geschickte Hände

äußern könnte.

»Und wir haben zusammen geraucht und haben

versucht, zusammen aufzugeben, und haben es nicht

geschafft.« Tara seufzte. »Er hat mir meine Zigaretten

angezündet, und ich ihm seine. Das schafft

Gemeinsamkeit, und außerdem war ich nie ohne

Zigaretten, denn wenn ich keine mehr hatte, hatte er

welche.«

»Du meinst, er hat sie dir umsonst gegeben?«

»Nein, bezahlt habe ich sie natürlich.« Tara versuchte

ein kleines Lächeln zustande zu bringen. »Aber trotzdem,

ich hatte immer welche zur Hand.«

»Nimm’s nicht so schwer, es ist gut, daß du ihn los

bist. Außerdem war es ja nicht die größte Liebesaffäre

der Welt«, sagte Katherine mit mildem Spott.

Da hatte sie recht, mußte Tara zugeben. Dazu war sie

weder tragisch noch romantisch genug gewesen. Aber es

war ihre gewesen. Mit gesenktem Kopf sagte sie: »Ich

weiß, daß er dominant ist, und ich weiß, daß er geizig ist,

und ich stimme dir zu, daß es für mich wahrscheinlich

besser ist, ihn los zu sein, aber wenn man jemandem ein

Bein amputiert, weil es von Wundbrand befallen ist, tut

es trotzdem weh.«

Katherine freute sich, daß Tara Thomas mit einem von

Wundbrand befallenen Bein verglich. Das war ungerecht

dem befallenen Bein gegenüber, aber es bedeutete einen

Fortschritt.

»Danke, wegen gestern abend«, murmelte Tara dann. »Schon in Ordnung. Ehm, tut mir leid, daß ich dir den

Pullover aufgetrennt habe.«

»Das macht nichts. Ich habe mir was vorgemacht.« Am Abend zuvor hatte Tara zu Katherines Entsetzen

den Pullover, den sie für Thomas strickte, hervorgeholt

und gesagt: »Ich stricke ihn fertig und schenke ihn

Thomas. Es wäre schade, ihn zu verschwenden.«

»Nein!« Katherine war aufgesprungen, hatte die

Nadeln genommen, sie aus dem halb gestrickten Ärmel

gezerrt und angefangen, alles aufzutrennen, Reihe für

Reihe. »Es ist nur eine Entschuldigung, ihn zu sehen, wie

das Geld, das er dir schuldet, und der Duschvorhang, den

du dagelassen hast, und wie die Tatsache, daß du

vergessen hast, Beryl einen Tritt zu versetzen. Nein,

Tara, nein!«

Tara sah sie mit erstaunten Augen an. »Ist schon gut«,

flüsterte sie.

Katherine stampfte zu ihrem Platz neben Joe und

murmelte: »Tut mir leid, daß du Zeuge dieser Szene

geworden bist.«

»Mir wird ganz angst und bange!« Er tat verschreckt,

worauf sie lachten und die Spannung sich löste.

Tara fand ihn entzückend. Und so entgegenkommend!

Tara vermutete, daß Katherine und Joe die meiste Zeit in

Katherines Wohnung waren und sich nicht in trauter

Zweisamkeit in Joes Wohnung zurückzogen, damit sie

Tara im Auge behalten konnten. Katherine hatte sogar

das Telefon aus dem Wohnzimmer ins Schlafzimmer

gestellt und Taras Mobiltelefon konfisziert. »Ich kann

nicht verhindern, daß du ihn vom Büro aus anrufst, aber

wenigstens kannst du es nicht tun, wenn du betrunken

nach Hause kommst.«

Eines Nachts hatten Joe und Katherine sich Tara in

den Weg gestellt, als sie betrunken mit dem Auto losfahren wollte. »Ich will nicht zu ihm fahren«, hatte Tara ärgerlich erklärt, »ich will nur bei ihm

vorbeifahren.«

»Das erlaube ich nur, wenn du ihn im Vorbeifahren

erschießen willst«, hatte Katherine gesagt. »Und jetzt ab

ins Bett!«

Tara zwang sich aufzustehen und strich das Datum aus. Zwanzig Tage. Fast drei Wochen. Und nach drei Wochen wäre es bald ein Monat.

Bisher hatte sie es geschafft, ihn nicht anzurufen. Aber das war nur ihrer übermenschlichen Stärke zu verdanken. Jeder Tag kam ihr vor wie ein Tausendkilometermarsch, auf dem sie dauernd an der Gelegenheit vorbeikam, ihn anzurufen. Manchmal hatte sie regelrecht Schweißausbrüche, solche Anstrengung kostete es sie, ihn nicht anzurufen.

Am Wochenende, ohne die Ablenkung der Arbeit, war die Qual hundertmal so groß.

Nachdem der erste Schmerz der Trennung nachgelassen hatte, mußte sie erkennen, daß sie nicht nur Thomas vermißte, sondern auch alles, was das Zusammensein mit ihm bedeutete: Akzeptanz, Unterstützung, jemand, mit dem man Pläne machen und dem man berichten konnte. Sie war zutiefst dankbar, daß sie Freunde hatte, aber ohne die Selbstverständlichkeit des gemeinsamen Tagesablaufs mit einem Geliebten fühlte sie sich wie ein ungebundenes Element im weiten Raum.

Sie hatte Thomas nie gern angerufen, um zu sagen, daß sie spät zu Hause sein würde, aber jetzt, da es keinen kümmerte, ob sie überhaupt nach Hause kam, schien ihr das etwas Wünschenswertes. Und obwohl sie und Thomas nie richtig in die Ferien gefahren waren, konnte sie jetzt nur hoffen, daß ihre Freunde – vielleicht Milo und Liv oder Katherine und Joe – sie aus Mitleid mitnahmen, wenn sie verreisten. Sie wußte, wie unangemessen diese Gefühle waren, aber dennoch konnte sie sie nicht verdrängen. Am Schluß fühlte sie sich nicht nur einsam, sondern auch noch schuldbewußt.

Ihre nostalgischen Gefühle waren so stark, daß sie sogar die schreckliche, braune, höhlenähnliche Wohnung vermißte. Zwar gehörte sie Thomas, aber es war ihr Zuhause gewesen. Und jetzt lebte sie wie ein Flüchtling im Gästezimmer der Wohnung ihrer Freundin, wo sie befürchtete, Katherine auf die Nerven zu gehen, und sich nicht entspannen konnte. Sie hatte Angst, zuviel Zeit im Bad zu verbringen, traute sich nicht zu sagen, was sie gern im Fernsehen ansehen wollte, befürchtete, zuviel Strom zu verbrauchen, und war sich bewußt, daß jede Unordnung sofort aufgeräumt werden mußte.

Sie labte sich an Phantasievorstellungen, daß Thomas zu ihr kommen und sie leidenschaftlich bitten würde, zu ihr zurückzukommen. Aber abgesehen von dem einen Anruf, als er gefragt hatte, ob sie befreundet bleiben könnten, hatte sie nichts von ihm gehört. Wenn sie ehrlich war, wußte sie, daß es auch keinen geben würde. In seinem Macho-Kodex war es unehrenwert, Schwäche oder Bedürfnisse zuzugeben. Auch wenn er vor Sehnsucht sterben würde, würde er sie nicht anrufen.

Zu der Durchhalteübung eines Lebens ohne Thomas kam noch die kräftezehrende Sorge um Fintan. Nach drei Schüben der Chemotherapie hatte sein Körper immer noch keine Reaktion gezeigt. Die Blutbilder ergaben, daß sich nichts verändert hatte, und man mußte ihn nur ansehen, um sich davon zu überzeugen, daß die KiwiSchwellung nicht an Größe eingebüßt hatte.

Die Onkologen sagten immer wieder, daß es seine Zeit dauern würde und daß es ihm schlechtergehen würde, bevor eine Besserung eintreten könne, aber Tara konnte sich damit nicht abfinden und griff alles auf, was sie über alternative Behandlungsmethoden finden konnte. »Zwanzig Tage – hurra!« Katherine und Joe fingen wild an zu klatschen, als Tara in die Küche kam.

Tara zuckte zusammen. »Es ist Montagmorgen – wie könnt ihr so fröhlich sein?«

»Zeit für deinen morgendlichen Katzenjammer«, sagte Katherine strahlend.

»Danke. Mein Kummer heute ist, daß ich keinen habe, der mit mir den Pferdeflüsterer sehen will.«

»Aber Thomas wäre nie mit dir gegangen.«

»Laß mir bitte meine rosige Sicht auf die Vergangenheit«, sagte Tara mit Würde.

»Wir wollen den Pferdeflüsterer auch nicht sehen«, sagte Katherine.

»An welchem Abend wollen wir ihn uns nicht ansehen?« fragte Joe und blickte Katherine mit einem strahlenden Lächeln an.

Einige Sekunden vergingen, in denen sie sich entrückt ansahen, bevor Katherine sagte: »Nächsten Dienstag.«

»Ihr braucht ihn nicht zu sehen«, erklärte Tara. »Bei euch findet die romantische Liebesaffäre im wirklichen Leben statt. Ich gehe zur Arbeit.«

»Viel Spaß an deinem einundzwanzigsten Tag ohne Thomas.«

»Heute wird es spät werden.« Sie machte eine Pause und hoffte, jemand würde darauf bestehen, daß sie zeitig wieder nach Hause käme, aber als niemand etwas sagte, fuhr sie fort: »Ich gehe ins Fitneß-Studio, und dann gehe ich aus.«

»Mit wem?«

»Kommt drauf an, wen ich finden kann – Ravi, einen Obdachlosen, mir egal. Ich weiß, ich verhalte mich genauso, wie in jedem Ratgeber beschrieben, mit den ganzen Ablenkungsmanövern und Sauftouren.«

»Aber wenigstens hast du mit der Tradition gebrochen und bisher noch keinen abgeschleppt«, sagte Katherine verständnisvoll.

»Und zwar jemanden, den man nie eines zweiten Blickes gewürdigt hätte, wenn man nicht gerade eine Trennung hinter sich hätte«, fügte Joe mit einem wissenden Lächeln hinzu.

»Laßt mir Zeit. Wer weiß, was noch passiert.«

Als Tara die Tür hinter sich zuzog, wurde ihr bewußt – wie so häufig in letzter Zeit –, daß alles ganz falsch war. Warum mußte sie die Tür einer anderen Wohnung auf-und zumachen, wenn ihre eigene Wohnungstür ganz in der Nähe war?

Es war gar nicht weit von hier. Sie stand auf der Straße und stellte sich die Häuser und Straßen und Büros vor, die sich zwischen ihr und ihrem eigentlichen Zuhause, ihrem eigentlichen Leben erstreckten.

Ich will nach Hause.

Das geht aber nicht, sagte sie sich. Sie riß sich zusammen und ging zu ihrem Auto.

»Morgen, Tara«, begrüßte Ravi sie fröhlich, als sie das Büro betrat. »Ich habe großartige Neuigkeiten. Hier in Elle steht, daß es einen neuen Lippenstift von Max Factor gibt. Sie sagen nicht, daß er unauslöschlich ist, aber daß er sich selbst erneuert, was – ich weiß ja nicht, was du denkst, aber ich glaube, das ist ebenso gut. Mein Gefühl sagt mir, daß wir Boots bald einen Besuch abstatten werden.«

»Wirklich?« Tara war angetan. »Erzähl mir genau, was da steht, Ravi.«

»Anscheinend trägt man ihn auf, und jedesmal, wenn man denkt, die Farbe ist schwächer geworden, preßt man die Lippen zusammen…« Ravi machte es ihr mit einem Schmatzen vor, »… und schon ist er wieder so frisch wie in dem Moment, als man ihn auf getragen hat.«

Taras Telefon klingelte. Liv war am Apparat. »Was ist los?« fragte Tara. »Wieder JaneAnn?«

Liv seufzte. »Die Frau ist wie ein Racheengel. Aber nein, hast du zufälligerweise Drogen?«

»Wie bitte?«

»Haschisch.«

»Nicht zur unmittelbaren Verfügung. Wozu brauchst du das?«

»Für Fintan. Er fühlt sich hundsmiserabel nach der Chemo vor zwei Tagen, und jemand hat ihm gesagt, daß Haschisch die Übelkeit lindert. Aber ich habe keine Ahnung, wo man welches bekommt. Ich bin Innenarchitektin! Mir bietet man höchstens Kokain an.«

65

He, Mann, ich habe libanesischen Roten besorgt«, sagte Tara und schwenkte einen Beutel mit einem kleinen braunen Plättchen vor Fintan. »Kann auch marokkanischer Schwarzer sein. Ich habe keine Ahnung, was der Unterschied ist. Das Theater, das Ravi und ich hatten, das Zeug aufzutreiben. Ein Freund eines Freundes eines Freundes hat eine Schwester, die einen Freund hat, deren Kollege sich mit uns in einer Billardhalle in Hammersmith getroffen hat, wo er uns den Stoff verkauft hat. Mann. He«, rief sie plötzlich, »was ist das für ein köstlicher Duft? Kuchen?«

Fintan führte sie in die Küche, wo auf einem Backblech noch ein Kuchenstück übrig war.

»Haschplätzchen«, erklärte Fintan. »Tut mir leid, Tara. Sandro hat heute nachmittag zwanzig Gramm Blem erstanden. Du und Ravi, ihr hättet euch die Mühe sparen können. Mann«, fügte er noch hinzu.

»Ah, mach dir keine Gedanken über uns – wir hatten einen Riesenspaß. Habe seit Ewigkeiten so was nicht mehr gemacht. Also Plätzchen helfen auch gegen Übelkeit?«

»Ich habe sie gerade erst verdrückt. Aber ich hoffe doch stark, daß sie die gewünschte Wirkung haben. Es ist einfach so langweilig, wenn man dauernd das Gefühl hat, sich übergeben zu müssen.«

»Ich drück dir die Daumen. Was sollen wir heute abend machen?« fragte Tara. »Die Idee, daß wir uns sinnlos bekiffen, ist sehr verlockend. Dann könnten wir zu der Rund-um-die-Uhr-Tankstelle gehen und deren Vorrat an Bounties aufkaufen –«

»– wobei wir allerdings kein Wort rausbringen, weil wir uns die ganze Zeit grundlos ausschütten vor Lachen.«

»Wir dürfen natürlich nicht vergessen, daß das Zeug aus rein medizinischen Gründen hier ist. Mißbrauch nicht erlaubt. Aber es würde Spaß machen, wenn wir uns bekiffen könnten. Es ist Jahre her.«

»Das Problem ist nur«, sagte Fintan, »daß ich ausgehe.«

»Du gehst aus? Wohin?«

»Zu Sandros Weihnachtsfeier.«

»Jetzt? Es ist gerade mal der erste Dezember.«

»Der einzige Abend, an dem sie einen Tisch im Nobu bekommen konnten. Kannst du dir vorstellen, daß es bis zum vierten Januar ausgebucht ist?«

»Hast du denn die Kraft zu gehen?«

»Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.« Er lachte. »Ich will mich amüsieren. Essen, trinken, fröhlich sein.«

»Bist du dir sicher? Ich meine, du bist krank…«

»Oh, es klingelt, das muß mein Taxi sein.« Fintan stand auf und ging zur Tür. Tara entdeckte etwas, das ihr die Kehle zuschnürte.

»Ist es eine Weihnachtsfeier mit Verkleiden?«

»Nein.«

»Warum hast du dann einen Spazierstock?«

»Ach, der. Ich habe ganz vergessen, dir davon zu erzählen, wegen der ganzen Aufregung mit dem Haschisch und der Übelkeit.«

»Und das wäre?«

»Die letzte Chemo hat den Nerven in meinen Füßen übel mitgespielt.«

»Inwiefern übel mitgespielt?« fragte sie. Bodenlose Angst breitete sich in ihr aus. Das hier wurde immer schlimmer.

»Ich habe so ein empfindliches Gefühl in den Füßen, sie tun weh, wenn ich sie zu sehr belaste, und da hilft ein Stock.« Er lachte, als er ihr Gesicht sah. »Oh, mach nicht so ein trauriges Gesicht! Es ist doch nur vorübergehend, Tara. Wenn ich mit der Chemo fertig bin, wird das alles wieder gut. Jetzt sag mir lieber, ob meine Perücke richtig sitzt.«

Sie sah zu, wie seine abgemagerte Gestalt mit der Tina-Turner-Perücke auf unsicheren Beinen zur Tür humpelte, und dachte: Er ist nur ein Jahr älter als ich. »Soll ich morgen vorbeikommen?« fragte sie. Er ging voraus und knipste die Lichter aus, und sie folgte ihm.

»Nein. Ich gehe mit siebenundzwanzig meiner engsten Freunde in einen Club, aber du kannst gern mitkommen.«

»Du gehst in einen Club?«

»Du hast ganz richtig gehört, in einen Club.« Fintan klang gereizt. »Rage, rage against the dying of the light – ja, der Zorn gegen das vergehende Licht. Genau das habe ich vor: Ich will meinen Zorn loswerden.«

Tara wurde das Herz schwer, als sie erkannte, daß Fintan nicht ganz der Zen-Bekehrte war, wie sie gedacht hatte. »Du bist wütend?«

»Nicht richtig wütend. Zumindest nicht gerade jetzt. Aber wenn meine Tage gezählt sind, dann will ich soviel wie möglich aus ihnen herausholen.«

Darauf konnte sie nichts erwidern, eine seltsame Mischung aus Scham und Bewunderung machte sie stumm.

»Ich werde kämpfen«, versprach er, »oder wenigstens tanzen. Solange noch das Blut in meinen Adern fließt und Sister Sledge sich auf dem Plattenteller dreht, geht das Leben weiter.«

66

Ich komme gerade aus dem Büro«, stöhnte Tara, als sie, nach Zigarettenrauch und Alkohol riechend, in die Wohnung kam. »Das macht mich noch ganz fertig.«

»Viel zu tun?« fragte Katherine verständnisvoll. »Und wie!« erklärte Tara. »Gestern abend das

Projektessen, gestern mittag der Teamlunch, dann der Bürolunch am Tag davor, heute Drinks auf unserer Etage, morgen der Lunch von unserer Abteilung, am Nachmittag Glühwein in der Marketing-Abteilung, und einen Abend später die Weihnachtsfeier der Firma. Verdammte Weihnachtszeit, sie bringt mich noch um. Und meine Leber bettelt schon um Gnade.«

»Ich weiß genau, was du meinst«, sagte Katherine.

Bei Breen Helmsford war jedoch der Unterschied zwischen der Weihnachtszeit und dem Rest des Jahres hinsichtlich der Häufigkeit der Festivitäten nicht so deutlich spürbar.

Die Weihnachtszeit mit all den Feiern hätte für Tara zu keinem besseren Zeitpunkt kommen können. Der viele Alkohol und die allgemeine Ausgelassenheit vertrieben die bösen Geister von ihrer Tür. »Ich muß allerdings zugeben, daß ich so pleite bin wie alle Länder der dritten Welt zusammen« sagte Tara. »Du bist immer pleite«, erinnerte Katherine sie.

»Aber jetzt ist es noch schlimmer. Alkohol und Taxis, Taxis und Alkohol. Und natürlich Klamotten. Vielleicht muß ich meine Kreditkarten wieder zerschneiden.« Tara konnte nicht aufhören, sich Sachen zum Anziehen zu kaufen, obwohl es für sie ein trauriger Trost war, daß sie wieder in Größen hineinpaßte, an die noch vor sechs Wochen gar nicht zu denken war. »Noch zwei Wochen dieser Qualen«, klagte sie, zwang sich dann aber zu einem Lächeln, »dann passe ich wieder in Jeans. Guck mal, was für einen hübschen Rock ich mir für den Abteilungslunch morgen gekauft habe.«

»Sehr schön«, sagte Katherine bewundernd. »Wo findet er statt? Geht ihr in ein Restaurant?«

»Ehrlich gesagt, nein.«

Es war beschlossen worden, den Abteilungslunch in der Firma abzuhalten, weil es unmöglich war, in den umliegenden Restaurants einen Tisch zu bekommen. Entweder waren sie ausgebucht, oder sie hatten Wind davon bekommen, daß sich im Jahr zuvor die Lunchparty der Entwicklungsabteilung von GK Software bis zum Abend ausgedehnt und die Reservierungen für den Abend durcheinandergebracht hatte.

Obwohl inzwischen fast ein Jahr vergangen war, bekreuzigte sich der polnische Restaurantbesitzer jedesmal, wenn er an GK Software vorbeikam, und wechselte auf die andere Straßenseite, um bloß nicht einem der wilden Angestellten der Firma zu begegnen.

Diesmal begann alles etwas gemessen. Die Frauen verließen um halb elf ihre Arbeitsplätze, um sich zurechtzumachen, obwohl der Lunch erst um ein Uhr stattfinden sollte. Sowieso wurde den Morgen über nicht gearbeitet, weil alle behaupteten, sie seien zu aufgeregt. Natürlich stimmte das nicht, aber eine gute Gelegenheit, sich vor der Arbeit zu drücken, ließ man sich nicht entgehen.

»Wie findest du ihn, Ravi?« fragte Tara und führte ihm ihren neuen Rock vor.

»Was soll ich beurteilen? Rock oder Lippenstift?«

»Ach, blöde Lippenstifte! Leider war der Selbstauffrischer auch nicht das Gelbe vom Ei. Wieder reingefallen.«

»Oh, Tara, ich hab hier was für dich.« Ravi wühlte in seiner Schreibtischschublade. »Das könnte die Antwort auf alle deine Probleme sein. Hier, ich hab’s.« Er schwenkte eine Seite, die er aus einer Zeitschrift herausgerissen hatte. »Tätowierung! Man kann sich die Lippen tätowieren lassen. In Kalifornien. Hört sich ziemlich scheußlich an, aber wenigstens müßtest du dir nie mehr Gedanken über deinen Lippenstift machen.«

»Danke, Ravi, aber ich glaube nicht.« Tara war gerührt. »Das ist ganz lieb von dir, aber was ist, wenn ich plötzlich eine andere Farbe haben will?«

»Schade. Ich wollte es dir auf jeden Fall sagen.«

»Du bist so aufmerksam!«

Um ein Uhr drängten sich dreißig Mitarbeiter im

Konferenzzimmer, wo Sherry, aufgewärmter Truthahnbraten und pappige Cracker auf sie warteten. Dem Sherry wurde herzhaft zugesprochen. Wie immer saßen Tara und Ravi nebeneinander und machten ihre amüsierten Bemerkungen über das Geschehen um sie herum.

»Sieh dir Vinnie an.« Tara lachte, ihr Gesicht war gerötet. »Er hat einen Schwips. Sogar sein Schädel ist rot.«

»Er hat ja nicht viel Gelegenheit auszugehen. Wahrscheinlich ist er aus der Übung, was das Trinken angeht.«

»Gieß mir doch noch mal von dem süßen Sherry ein, Ravi, mein Guter.«

»Nur noch ein Glas«, sagte er und ahmte eine verkniffene Damenstimme nach. Sie prosteten sich zu.

Sehr viel später gingen einige verantwortungsbewußte Menschen wie Vinnie wieder an die Arbeit, andere, allen voran Tara und Ravi, blieben und amüsierten sich prächtig.

Doch gegen halb fünf, als die Kombination aus der Mangelernährung der letzten Wochen und dem exzessiven Alkoholgenuß des Tages bei Tara ihre Wirkung zeigte, schlug ihre Stimmung um. Sie weinte wegen Fintan, dann wegen Thomas, dann wieder wegen Fintan. »‘siso schrecklich«, schluchzte sie, »‘sis nicht zum Aushalten. Und wenn er stirbt? Sag nich, daß er nich stirbt, denn wahrscheinlich stirbt er. ‘s bricht mir noch das Herz. Viel schlimmer, als Thomas zu verlieren, viel, viel schlimmer.«

Dann sah sie Ravi flehentlich an und sagte: »Ravi, mir iss schlecht.«

»Achtung!« brüllte Ravi, als er Tara zur Damentoilette halb zog und halb trug. »Entschuldigung, die Damen«, sagte er zu dem überraschten Trio, drei Mädels aus der Gehaltsabteilung, die sich für ihr Abteilungsweihnachtsessen fein machten. »Es ist ein Notfall.«

»Das sieht man«, sagten sie und machten rasch Platz.

»So wird es uns in zwei Stunden auch gehen«, sagten sie erwartungsvoll, als sie zusahen, wie Ravi Tara das Haar aus dem Gesicht hielt, während sie sich ins Waschbecken hinein von einem Teil des Sherrys wieder trennte.

»Ich möchte nach Hause, Ravi«, sagte Tara, als sie fertig war. »Kannst du mich nach Hause bringen?«

»Klar. Bleib, wo du bist, und ich besorge ein Taxi. Paßt auf sie auf«, sagte er zu den Mädels aus der Gehaltsabteilung.

Als Ravi weg war, nahm eins der Mädchen eine Tube Zahnpasta aus der Tasche und bestand darauf, daß Tara sich den Mund ausspülte. »Laß mich in Ruhe!« sagte Tara und wedelte sie mit der Hand fort.

»Das ist doch ein Süßer«, sagte das Mädchen.

»Gar nicht Süßer, das ist Ravi.«

Doch die Mundspülung erwies sich als überflüssig, denn kaum war sie vollzogen, mußte Tara sich erneut übergeben. Und dann wieder.

Der dösige Steve kam und klopfte an die Tür der Damentoilette, als das Taxi da war.

»Mußt du noch mal … noch mal … du weißt schon, bevor wir gehen?« fragte Ravi diskret. Doch nein, Tara hatte alles von sich gegeben, vorerst wenigstens. Statt dessen flossen ihr wieder die Tränen.

Die Tür wurde aufgerissen, und herein kam Amy, gertenschlank und wunderhübsch. »Tara«, sagte sie überrascht, »was hast du denn? Warum weinst du?«

Obwohl sie sich seit Wochen nicht gesehen hatten, hatte Amy nicht vergessen, wie freundlich Tara zu ihr gewesen war, nachdem Amy die Polizei auf Lorcan gehetzt hatte.

»Mein Freund stirbt, und mit meinem Lover ist es vorbei.«

Amy erkannte die schlechte Nachricht sofort. »Oje, das ist ja schrecklich! Das mit deinem Lover, oh, du Arme, du Arme.« Dann hatte sie eine wunderbare, eine phantastische Idee. »Ich weiß was! Mein Freund hat einen richtig netten Freund. Der würde dir bestimmt gefallen. Er heißt Benjy. Wir können im Januar mal zu viert ausgehen.«

»Gute Idee«, sagte Tara mit tränenerstickter Stimme. »Findest du nicht, Ravi?«

»Großartig.«

»Solange du dich nicht in Lorcan verliebst.« Amy kicherte nervös.

»Mach ich nicht.«

Ravi führte Tara, tränenüberströmt und auf wackligen Beinen, durch den Eingangsbereich, wo sich eine Gruppe elegant gekleideter Männer aus der Gehaltsabteilung versammelt hatte, um zu ihrem Abteilungsweihnachtsessen zu gehen. Mit offenen Mündern starrten sie hinter Tara mit ihrem verquollenen Gesicht her.

»Sie hat was Schlechtes gegessen«, behauptete Ravi.

Als Ravi ihr die paar Stufen zum Ausgang herunterhalf, würgte Tara erneut.

»Warte…«, keuchte Ravi und sah sich nach einem geeigneten Behälter um. »Versuch es –«

Doch zu spät. Tara erbrach den Rest des Sherrys über das Treppengeländer. »Tut mir leid, Ravi«, sagte sie mit belegter Zunge, »‘sis eklig.«

»Mach dir nichts draus, Tara«, besänftigte Ravi sie und hoffte inständig, daß der Taxifahrer sich nicht weigern würde, sie zu befördern. »Kann das jemand wegwischen, bitte?« rief er über die Schulter, aber natürlich eilte niemand hilfsbereit herbei. Die Männer aus der Gehaltsabteilung hatten nicht die Absicht, sich ihre Anzüge mit dem Erbrochenen eines anderen zu beschmieren. Das einzige Erbrochene, das sie auf ihren Jacketts dulden würden, wäre ihr eigenes.

Wenig später kam Alvin Honeycomb, der Geschäftsführer von GK Software, aus dem Lift und eilte durch den Empfangsbereich. Groß und gutaussehend, mit silbergrauen Schläfen, rauschte er in seinem dunkelblauen Kaschmirmantel, einen Lederaktenkoffer in der Hand, an den wartenden Männern vorbei. Auch er hatte noch etwas vor. »Schönen Abend noch«, rief er mit seiner wohltönenden Stimme, als er dem Ausgang zustrebte. Er rühmte sich seines freundlichen Umgangs mit seinen Mitarbeitern und wartete auf die vielstimmige Antwort: »Guten Abend, Mr. Honeycomb.« Die paar Stufen zum Ausgang pflegte er im Laufschritt zu nehmen

– es war wie ein kleiner Tanz, eine perfekte Folge eleganter Schritte in seinen weichen italienischen Mokassins – und dann auf die Straße zu treten, wo er jedesmal das leere Taxi, das zufällig gerade vorbeikam, herbeiwinkte. Doch diesmal, als er das Geländer umfaßte und im Begriff war, seinen kleinen Steptanz zu vollführen, legte er seine Hand in Taras oral ausgeschiedenen Sherry. Mr. Honeycomb riß die Augen weit auf, als seine Hand auf dem glitschigen Erbrochenen bis zum Ende des Geländers glitt und seinen Körper mit sich riß, als würde er in ein Schwimmbecken stürzen. Seine Füße suchten auf den Stufen Halt und fanden ihn nicht, und bevor er wußte, wie ihm geschah, war er die sieben Stufen hinuntergepurzelt und auf die Straße hinausgerollt, was ihm eine gestauchte Schulter und eine Platzwunde am Kinn einbrachte. Sein Aktenkoffer hüpfte über den eisigen Bürgersteig, und für ein paar Sekunden blieb Mr. Honeycomb völlig benommen auf dem Bauch ausgestreckt liegen. Ein festlich gekleidetes Paar auf dem Weg zu einer Weihnachtsfeier ging um ihn herum, und der Mann sagte: »Also ehrlich, manche übertreiben es mit dieser Feierei. Sie sollten nicht soviel trinken, wenn sie es nicht vertragen.«

Als Tara am folgenden Morgen aufwachte, fühlte sie sich nicht so schlecht. In ihrem Kopf war ein schwaches Brummen, und sie fühlte ihre Füße auf dem Boden nicht, aber sie konnte aufstehen und duschen und sich anziehen, und dann richtete sie ihr kleines Schwarzes und die schwarzen Keilsohlensandalen für die Party am Abend her.

Sie fuhr zur Arbeit, ohne richtig wahrzunehmen, was sie tat. Als sie ins Büro kam, begegnete sie Mr. Honeycomb auf der Treppe. Woher er wohl die Wunde am Kinn hatte? fragte sie sich. Wahrscheinlich war er im Vollrausch auf die Schnauze gefallen. Ein leuchtendes Beispiel für seine Mitarbeiter!

Sie winkte ab, als die anderen in ihrer Abteilung sich besorgt nach ihr erkundigten, und lächelte ihnen beruhigend zu. »Danke«, hauchte sie Ravi zu. Zum Glück spürte sie keine Schuldgefühle und keine Scham. Sie war wie betäubt.

Dann stellte sie fest, daß jemand – wahrscheinlich Vinnie – ihr einen Termin um zehn mit zwei erzürnten Kunden aufgedrückt hatte. Sie waren schon da und sahen tatsächlich ziemlich erzürnt aus. Zum Glück war sie zur Arbeit gekommen, statt den Tag im Bett zu verbringen und hin und wieder nach einer Brechschüssel zu verlangen, wie man hätte erwarten können.

Doch als Tara die Kunden in ein Besprechungszimmer bat, wurde ihr plötzlich bewußt, daß sie immer noch sturzbetrunken war. Schlimmer noch, sie konnte ihre Worte nicht richtig artikulieren. »Mister Förde, Mister Ransom, setzen Sie sich doch.«

Ihre Zunge war dick geschwollen und ließ sich nicht von ihrem Gaumen lösen. Vor Angst brach ihr der Schweiß aus. »Ja, ich verstehe ihre Beschwerde über den Service unserer Firma sehr gut«, sagte sie verzweifelt.

War sie in einem Traum?

Sie konnte sich nicht verteidigen, ihr fielen nicht die passenden Argumente ein. Ihr zentrales Nervensystem funktionierte nicht richtig, die Signale, die normalerweise von den Nervenenden zu ihrem Gehirn sausten, versickerten in einer sirupähnlichen Masse.

Es war viel zu heiß in dem kleinen Zimmer.

Und dann roch sie es. Ein Geruch, der zu keinem Zeitpunkt in einem Besprechungszimmer angemessen war, und keinesfalls um Viertel nach zehn am Morgen.

Alkohol. Sie konnte den Alkohol riechen. Warm und abgestanden drang er aus all ihren vor Angst geweiteten Poren.

Das reicht, beschloß sie in dem Moment. Es war genug. Sie hatte die obligatorische Phase des Trinkens und Feierns und der Selbstzerstörung im Anschluß an eine Trennung durchlaufen. Jetzt mußte sie versuchen aufzuhören.

67

Das erste, was Frank Butler jedesmal fragte, wenn er Tara am Flughafen Shannon abholte, war: »Wann fliegst du wieder?« Aber als er Tara und Katherine diesmal am Mittwoch vor Weihnachten abholte, kam diese Frage an zweiter Stelle. Das erste war: »Ich habe gehört, daß Fintan Aids hat.«

»Nein, Dad, es ist kein Aids. Er hat Krebs.«

»Von wegen Krebs! Die versuchen einen für dumm zu verkaufen. Hier lang, das Auto steht da drüben.« Er schlängelte sich durch die Menschenmenge in der Ankunftshalle und sagte: »Denken die denn, daß wir nie die Zeitung lesen oder die Nachrichten gucken?«

»Es stimmt wirklich, Mr. Butler«, schaltete Katherine sich ein, in einem Ton, der eine gute Mischung aus Höflichkeit und Bestimmtheit war. »Es ist kein Aids.«

Das verunsicherte Frank. Katherine Casey log nicht. Sie war ein braves Kind. Obwohl er eine Veränderung an ihr bemerkte. Ja, wenn das nicht so völlig unwahrscheinlich wäre, würde er sagen, daß Verwegenheit das richtige Wort sei.

»Wann fliegst du wieder?« herrschte er Tara an. »Neujahr.«

»Wahrscheinlich soll ich dich bringen.«

»Ganz recht.«

Dann fiel ihm etwas ein, und seine Miene erhellte sich. Hier kannte er die Fakten. »Na«, sagte er, »ich habe gehört, daß Milo O’Grady sich mit einer Geschiedenen aus der Schweiz zusammengetan hat, und jetzt will sie, daß er die Farm verkauft.«

»Sie ist nicht aus der Schweiz!«

»Und sie ist auch nicht geschieden, Mr. Butler.«

»Und sie will auch nicht, daß er die Farm verkauft. Es ist seine eigene Entscheidung.«

»Aber die zwei haben sich zusammengetan, Mr. Butler, wenn das ein Trost für Sie ist.«

Frank war entmutigt. Mit finsterer Miene warf er ihre Koffer in den Kofferraum seines Cortina, dann musterte er Tara. »Hast ganz schön abgespeckt.«

»Danke, Dad!«

»Du warst aber auch richtig in die Breite gegangen. Mit so einem Vollmondgesicht, hahaha!«

Déjà vu, dachte Tara verdutzt. Genauso hat sich Thomas auch immer angehört. Ich muß verrückt gewesen sein, daß ich mir das habe bieten lassen. Und zum ersten Mal wußte sie, daß sie lieber ein Leben lang einsam sein würde, als noch einmal so zu leben.

Katherine und Tara waren für zehn Tage in Irland. Weil die Flüge zwischen London und Irland in der Weihnachtszeit so begehrt waren, hatten sie ihren schon im März gebucht. Damals war Katherine stolz auf ihre weise Voraussicht gewesen, doch jetzt bereute sie sie bitter. Die Vorstellung, zehn Tage ohne Joe zu sein, war schrecklich.

Fintan war in London geblieben, weil die nächste Chemo fällig war. Er hatte darauf bestanden, daß Tara und Katherine nach Irland reisten. »Man wird mir die Bude einrennen«, beschwerte er sich. »Sandro ist hier, und Milo und Liv bleiben auch. Harry, Didier, Neville, Geoff, Will, Andrew, Claude, Geraint und Stephanie bestehen darauf, am ersten Weihnachtstag zu uns zu kommen. Und JaneAnn und Ambrose kommen aus

Irland.«

»Holla«, sagte Tara staunend. »JaneAnn und Liv! Hat

deine Mutter Liv inzwischen verziehen, daß sie Milo aus

Knockavoy gestohlen hat?«

»Nein, aber sie wird sich benehmen müssen.«

»Wo ist Mam?« fragte Tara ihren Vater, als sie nach Hause kamen.

»Hier!« Fidelma eilte ins Zimmer und strahlte vor Freude. Sie trug ein T-Shirt mit der Aufschrift: ›Meine Nachbarin war in England und hat mir nur dieses dumme T-Shirt mitgebracht‹, das über und über mit Federn bedeckt war. »Ich habe gar keine Zeit«, erklärte sie. »Ich wollte nur schnell guten Tag sagen. Wir sind gerade beim Truthahnrupfen im Schuppen. Es sind so viele Federn in der Luft, daß ich beinahe fliegen kann. Meine Güte«, sagte sie dann, »du bist ja ein richtiges Dünnerchen geworden. Ist das wegen dem Freund?«

Tara nickte. Ihre Unterlippe begann zu zittern, und die Tränen traten ihr in die Augen. Aber Weinen war in Ordnung, sie war bei ihrer Mutter.

»Und bestimmt auch wegen Fintan.« Fidelma wäre am liebsten selbst in Tränen ausgebrochen, aber es war nicht der richtige Zeitpunkt. »Vergiß deine Sorgen einfach mal«, sagte sie tröstend und schloß Tara in die Arme. »Jetzt bist du ja erst einmal zu Hause. Paß auf, wenn du wieder fährst, sieht alles ganz anders aus.«

Tara schmiegte sich an die weiche Wärme des mütterlichen Körpers und atmete die heilende Kraft der Mutterliebe ein. Jetzt mußte sie nicht mehr tapfer sein, ihre Mammy würde die Last eine Weile für sie tragen. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte sie sich geborgen. Tara hatte ein schönes Weihnachtsfest. Sie freute sich, zu Hause zu sein, und sie freute sich, ihre drei Brüder wiederzusehen, die sich trotz ihres fortgeschrittenen Alters – sie waren dreiundzwanzig, vierundzwanzig und achtundzwanzig – wie ausgelassene pubertierende Jugendliche gebärdeten. Katherine jedoch zählte die Tage, bis sie wieder nach London zurückkehren konnte. Sie telefonierte stundenlang mit Joe in Devon, und keiner von beiden konnte das Gespräch beenden.

»Leg du auf.«

»Nein, du.«

»Nein, du.«

»Also gut, wir zählen bis drei, dann legen wir beide auf.«

»Ist gut.«

»Also, eins…«

»… zwei…«

»… drei!«

»Joe?«

»Ja?«

»Du hast nicht aufgelegt.«

»Ich weiß. Entschuldige bitte. Aber du auch nicht.« Am Weihnachtsmorgen fragte ihre Großmutter sie: »Hat er dir eigentlich was zu Weihnachten geschenkt, dein junger Mann?«

»Ja, Granny«, schnurrte Katherine, »er hat mir einen Stern geschenkt.«

»Was meinst du damit, er hat dir einen Stern geschenkt?«

»Er hat einen neuen Stern nach mir benennen lassen.

Irgendwo da oben«, sagte sie und deutete mit dem Kopf in die Höhe, »gibt es einen Stern, der Katherine Casey heißt. Er hat gesagt, ich sei ein Stern, verstehst du?« sagte sie vertraulich. »Deswegen schien es das Richtige, einen Stern nach mir zu benennen.«

»Als ich jung war, haben wir uns gefreut, wenn wir einen Anhänger für unser Armband bekamen«, murmelte Agnes. Alle Anzeichen wiesen darauf hin, daß die kleine Katherine, wenn auch spät, so werden würde wie ihre Mutter.

Und Frank Butler und Agnes waren nicht die einzigen, die Katherines Veränderung bemerkten. »Keine Ahnung, wieso, aber sie wird immer mehr wie ihre Mutter«,

sagten die Menschen in den Geschäften und Pubs von Knockavoy kopfschüttelnd.

»Nicht daß sie diese Hippiekleider trägt oder so.«

»Nein, nein, sie zieht sich hübsch an. Guckt nur, da geht sie!«

Alle Männer, die bei Formans an der Theke standen, drehten sich nach Katherine um, die draußen in einem kurzen schwarzen Lederrock und einer enganliegenden

Jacke vorbeiging.

»Die Typen in Foremans’ Alki-Ecke starren dir nach«, murmelte Tara. Katherine warf einen Blick in die Richtung und sah, daß eine ganze Reihe von Gesichtern mit Knollennasen sie betrachteten. Tara erwartete, daß der Blitz in die Bar einschlagen würde, so daß den Männern Hören und Sehen verging. Aber Katherine lächelte freundlich, und Tara seufzte. Sie hatte vergessen, daß es eine neue, bessere Katherine Casey gab. Die Männer an der Bar brummten übereinstimmend:

»Sie hat so ein Funkeln in den Augen.«

»… sieben, sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins. Frohes neues Jahr!«

Tara betrachtete die halb gerauchte Zigarette in ihrer Hand. »Jetzt habe ich sie angefangen, also muß ich sie zu Ende rauchen«, murmelte sie. Anschließend zerbröselte und zerbrach sie mit großem Zeremoniell die restlichen sechzehn Zigaretten in der Packung und warf alles in den Aschenbecher in Formans’ Pub.

»Aua.« Timothy O’Grady wand sich. »Wetten, daß das weh getan hat?«

»Nein«, log Tara unbekümmert. »Hiermit beginnt mein eigener, persönlicher Fastenmonat. Kein Essen, kein Trinken und auf gar keinen Fall Rauchen!« Vierzehn Stunden später saßen Katherine und Tara in der Nichtraucherhalle von Shannon und warteten auf ihren Flug nach Heathrow.

»Jetzt habe ich seit vierzehn Stunden keine Zigarette geraucht«, verkündete Tara stolz. »Vierzehn Stunden.«

»Elf davon hast du verschlafen«, sagte Katherine nüchtern.

»Guck dir den Mann da drüben an.« Tara zeigte auf einen Mann in der Raucherhalle, der an seiner Zigarette zog, als würde sein Leben davon abhängen. »Ist doch eklig, oder? Wie kann er sich das nur antun? Diese ganzen Stoffe, die in seinen Körper gehen?«

Zehn Minuten später öffnete Tara eine Packung Nicorette-Kaugummi. »So geht es doch auch«, sagte sie und kaute wie wild. »Wer braucht schon Zigaretten?« Zwanzig Minuten später saß Tara in der Raucherabteilung. Sie kaute immer noch auf dem Kaugummi, und gleichzeitig zog sie heftig an der Zigarette, die sie von dem Mann geschnorrt hatte. »Ich bin Raucherin«, erklärte sie ihm traurig. »Damit muß ich mich wohl abfinden.«

68

Tara fing mit Abendkursen an. Sie betrank sich jetzt nicht mehr jeden Abend, sondern beschränkte sich auf jeden zweiten, manchmal sogar jeden dritten Abend, so daß sie die übrige Zeit irgendwie ausfüllen mußte, und Besuche im Fitneß-Studio und bei Fintan lenkten sie nicht hinreichend ab. Aber den Banjounterricht gab sie nach einem Abend wieder auf. »Es war zu schwer«, sagte sie. »Und hast du eine Ahnung, was so ein Banjo kostet? Das bringt einen an den Bettelstab.«

Auch im Mosaikkurs erging es ihr nicht viel besser. »Viel zu fummelig. Diese ganzen kleinen Plättchen, das macht einen ganz verrückt.«

Und über den Portugiesischkurs sagte sie: »Die Leute in dem Kurs hatten alle ‘ne Macke. Na ja, macht nichts, im Meditationskurs, im Batikkurs und beim Kanufahren sind noch Plätze frei. Irgendwas davon macht bestimmt Spaß.« Mitnichten.

»Meditation. Mein Gott, wie langweilig! Ich war mit den Nerven am Ende, weil es so still war. Wie bei einer schrecklich schwierigen Abendeinladung.«

Nach einem Abend im Batikkurs fragte sie empört: »Sehe ich etwa aus wie eine Hippiebraut?«

Über das Kanufahren sagte sie nicht viel, als sie, die Haare naß und strähnig, in die Wohnung humpelte.

»Hat es Spaß gemacht?« fragte Joe.

»Nicht besonders. Sie haben mich mit dem Kanu eine Rolle machen lassen, und ich dachte, ich würde ertrinken. Dann habe ich mir das Knie aufgeschlagen, und meine Haare sind auch hinüber.«

An dem Abend hatte sie einen Tiefpunkt, und ihr Status als Alleinlebende wurde ihr besonders schmerzlich bewußt. Sie sehnte sich nach Trost und Wärme, nach jemandem, der sie in den Arm nahm und ihr über den Schock, ins kalte Wasser gestoßen worden zu sein, hinweghalf, nach jemandem, der ihr angeschlagenes Knie heil pustete.

Abendkurse waren gestrichen, beschloß sie. Zu Beginn eines Kurses spürte sie jedesmal ein Gefühl der Hoffnung in sich aufkeimen, eine Erwartung, daß es ihr gleich bessergehen werde. Und dann kam die Enttäuschung. Es hatte keinen Sinn, darauf zu bauen, daß sie ihre Einsamkeit durch ein neues Hobby überwinden könnte.

Ihr einziges Hobby war jetzt: Thomas-nicht-anrufen. Eine Aufgabe, der sie sich mit zusammengebissenen Zähnen stellte. Kein Tag verging, an dem sie nicht als erstes beim Aufwachen an ihn dachte. Aber Katherine erinnerte sie daran, wieviel schlimmer es am Anfang gewesen war, und seitdem waren schon zehn Wochen vergangen. »Weißt du noch«, sagte sie, »du hast kaum geschlafen und nichts gegessen. Und daß ich dich das letzte Mal daran hindern mußte, nachts zu ihm zu fahren, ist auch schon vor Weihnachten gewesen.«

»Wahrscheinlich hast du recht«, sagte Tara langsam. »Für mich ist es ein echter Erfolg, daß ich ihn nicht angerufen habe. Wenn man bedenkt, wie schwach ich bin. Ich habe die Willensstärke einer Zecke.«

»Du hast das ganz großartig gemacht. Und du wirst um so schneller über ihn hinwegkommen, wenn du keinen Kontakt hast. Wenn man die Trennung in Schritten vollzieht, verlängert man nur den Schmerz. Als würde man ein Pflaster langsam abziehen. Wenn man es brutal macht, ist der Schmerz am Anfang schlimmer, aber auf lange Sicht ist es leichter.«

Was Katherine sagte, tröstete Tara, aber es machte sie auch unglücklich. Sie wollte Thomas hinter sich lassen, doch gleichzeitig – und das war das Verrückte und Paradoxe daran – war sie traurig bei dem Gedanken, daß er dann für immer ihrer Vergangenheit angehören würde.

Sie schleppte sich durch ihr Leben. Manchmal konnte sie sich selber sehen: eine Frau über dreißig mit einer guten Stelle – auch wenn sie arm wie eine Kirchenmaus war, lag das nicht an ihrem Gehalt –, die viel arbeitete, täglich ins Fitneß-Studio ging, schöne Kleider kaufte, mannlos ihr Leben fristete und die Lücken mit guten Freunden und Weißwein füllte. All das war klischeehaft, und sie empfand sich als Versagerin.

Sie sehnte sich nach den Zeiten, als sie so moppelig war, daß sie sich die Vogue nicht mehr kaufte, weil es ihr das Herz brach, all die schönen Kleider anzusehen, die ihr niemals passen würden – damals hatte sie wenigstens einen Freund.

Die Besuche bei Fintan waren für Tara, Katherine, Milo und Liv zur Routine geworden, so wie das Zähneputzen am Morgen. Wenn sie ihn einen Tag nicht zu sehen bekamen, fanden sie das komisch.

Die extremen Gefühle, die sie empfanden, als seine Diagnose ganz frisch war, hatten sich eingependelt. Obwohl sie nun mit einer schrecklichen, dauerhaften Belastung lebten und bei jedem kleinsten Zwicken, das Fintan spürte, in Panik gerieten, war das Entsetzen nicht mehr so unmittelbar. Der akute Schock war gewichen, das die Norm Überschreitende war assimiliert worden. Anders wäre es auch nicht möglich, erklärte Liv. »Wenn man eine Last trägt, gewöhnt man sich mit der Zeit daran. Es ist immer noch eine Last und eine Bürde, aber der Schock, den man in dem Moment gespürt hat, da sich das Gewicht auf einen legt, vergeht.«

Auch hatte niemand mehr dieselbe Hoffnung wie am Anfang – nach vier Anwendungen von Chemotherapie war bei Fintan keine sichtbare Besserung eingetreten.

Selbst Fintans Gefühlsschwankungen zwischen Zorn, Verzweiflung und Hoffnung waren nicht mehr so extrem. In gewisser Weise schien alles sehr normal.

Hin und wieder jedoch brach der bizarre Schrecken der Situation durch. Wie an dem Abend, als Katherine, Joe und Fintan ins Theater gingen und anschließend kein Taxi für Fintan bekommen konnten.

»So ein Mist, daß ich dich nicht mitnehmen kann«, klagte Katherine, während sie am Straßenrand warteten und ein Taxi nach dem anderen an ihnen vorbeifuhr, und jedes hatte das Licht ausgeschaltet. »Das ist das Problem mit einem Zweisitzer.«

»Ich setze mich auf Joes Schoß«, schlug Fintan vor.

Lachend schimpfte Katherine mit ihm, weil er fortwährend mit Joe flirtete, dann erkannte sie, daß er es ernst meinte. Schockiert stellte sie fest, daß es tatsächlich möglich wäre, so dünn und abgemagert war Fintan.

Auf der Fahrt nach Hause, bei der Fintan wie die Puppe eines Bauchredners auf Joes Schoß saß und Joe beschützend die Arme um ihn gelegt hatte, war Katherine stumm vor Trauer.

Milo wollte seinen Hof verkaufen und verkündete, daß er Landschaftsgärtner werden wollte. »Mir gefällt es in London, aber ich vermisse das Land«, sagte er. »Ich möchte die Erde zwischen meinen Fingern fühlen. Jeder lebt auf seine Weise.«

Liv sah aus, als würde sie vor Bewunderung in Ohnmacht fallen.

»Bist du glücklich, Liv?« fragte Tara sie.

»Glücklich?« erwiderte Liv zögernd. »Glücklich gibt’s bei mir nicht, aber ich nehme kein Prozac, kein Johanniskraut, kein Nachtkerzenöl, kein Vitamin B mehr und habe schon seit Ewigkeiten nicht mehr an Selbstmord gedacht.«

»Aber mit Milo, bist du mit ihm glücklich?«

Livs Augen leuchteten. »Oh, er ist wunderbar! Für mich ist er ein richtiger Glücksfall. Er hat meine Sichtweise von der Welt verändert. Wenn es zu regnen anfängt, macht er sich keine Sorgen darüber, daß seine Haare sich krausen könnten – das kommt ihm gar nicht in den Sinn –, sondern er sagt: ›Das ist ein schöner Regen, gut für die Pflanzen.‹ Und für ihn hat alles seine Zeit: Er ist nicht traurig, wenn der Löwenzahn verblüht, sondern er freut sich über die Pusteblume. Aber natürlich«, fügte Liv eilig hinzu, damit man nicht denken könnte, in ihrem Garten blühten nur Rosen, »man darf nicht vergessen, daß wir uns wegen Fintans Krankheit kennengelernt haben. Das hat uns einander sehr nahe gebracht, aber andererseits … es heißt auch, daß wir Sorgen und Schuldgefühle haben. Und natürlich ist JaneAnn sauer auf mich. Es ist eben nichts vollkommen.«

»Das stimmt«, sagte Tara und versuchte, nicht zu lächeln.

»Aber«, gab Liv dann fairerweise zu, »es könnte nicht besser sein.«

Ungefähr Mitte Februar erreichte sie die Nachricht, daß Thomas eine neue Freundin hatte. Es war Marcy, die Frau, die auf Eddies Geburtstagsparty erzählt hatte, sie hoffe, durch künstliche Befruchtung schwanger zu werden.

»Das paßt«, sagte Tara tapfer. »Sie muß es bitter nötig haben.«

Obwohl alle ihr zur Seite standen, war die Nachricht ein heftiger Schlag für sie. »Die Eifersucht bringt mich um«, gestand sie. Sie war blaß und angespannt. »Ich muß immer daran denken, wie nett er zu mir war.«

»Er war nie nett zu dir«, erwiderte Katherine.

»Doch, das war er, Katherine. Am Anfang war er richtig süß. Warum hätte ich mich sonst mit ihm zusammengetan? Und warum bin ich so lange bei ihm geblieben?«

»Das weißt du am besten.«

»Weil ich wollte, daß es wieder so wie am Anfang werden würde. Ich weiß, daß die Trennung besser für mich ist, aber irgendwie denke ich immer noch, daß er mir gehört. Und jetzt ist er zu ihr süß, und nicht zu mir.«

»Er wird ihr das Leben noch vergällen.«

»Das ist kein Trost. Denn eigentlich sollte es mein Leben sein, das er vergällt.« Tara vergrub den Kopf in den Händen und klagte: »Ich bin es so leid, diese Gefühle zu haben. Und was es noch tausendmal schlimmer macht, ist die Tatsache, daß sie so dünn ist.«

»Hast du in letzter Zeit mal in den Spiegel geguckt?« Katherine ließ den Blick über Taras durch Hungern und Fitneß-Übungen schlank gewordenen Körper gleiten.

»Sie ist dauerhaft dünn«, flüsterte Tara. »Sie ist eine echte Dünne. Ich bin nur eine Hochstaplerin, und es wird nicht lange dauern, dann bin ich wieder dick.« Dann riß sie sich zusammen und sagte tapfer: »Es ist einfach ein weiterer Schritt. Wenn ich den hinter mich gebracht habe, wird es mir viel besser gehen. Es bedeutet nur«, sagte sie traurig, »daß es jetzt wirklich kein Zurück mehr gibt.«

»Wolltest du etwa zu ihm zurück?« fragte Sandro schockiert.

»Nein, das nicht, aber … wenn der Verflossene eine neue kennenlernt, ist es eine neue Stufe des ›Vorbei‹.« Sie versuchte ein Lächeln. »Es ist ein Schock. Und es ist nicht angenehm zu denken, daß er in seinem Leben ohne mich zurechtkommt.«

»Aber du kommst in deinem Leben auch ohne ihn zurecht«, tröstete Liv sie.

»Ach, das stimmt nicht. Ich habe niemanden kennengelernt. Es macht mich richtig sauer, daß Männer sich im Handumdrehen mit einer Neuen arrangieren. Bei ihm hat es nur drei Monate gedauert. Ich finde das unfair.«

»Du könnstest dich auch mit jemandem zusammentun, wenn du es unbedingt wolltest«, sagte Fintan. »Zum Beispiel hast du in den letzten vier Wochen mit zwei Männern geschlafen.«

Tara schüttelte sich. »OneNight-Stands im Zustand der Volltrunkenheit mit zwei der häßlichsten Männer in der nördlichen Hemisphäre. Mit dem Elefantenmenschen und seinem häßlichen Bruder. Das habe ich nur gemacht, weil ich mich nach Zärtlichkeit gesehnt habe.«

»Das sind die Regeln«, frohlockte Fintan. »Frauen gehen mit Männern ins Bett, um Zärtlichkeit zu bekommen, und Männer sind zärtlich zu Frauen, damit sie mit ihnen ins Bett gehen.«

»Aber diese Geschichten für eine Nacht bringen es nicht. Danach fühle ich mich nur noch mieser«, behauptete Tara.

»Was macht denn dein liebster Ravi?« fragte Fintan ganz unschuldig.

»Ravi? Der Ravi, mit dem ich arbeite? Der Ravi, der drei Jahre jünger ist als ich? Der Ravi, der die ganze Nacht aufbleibt und Nintendo spielt? Der Ravi, der dachte, Stirb langsam sei ein Dokumentarfilm? Der Ravi? Der freut sich des Lebens, Fintan, warum fragst du?«

»Nur so, aus Höflichkeit.« Er grinste. »Ist er noch mit Danielle zusammen?«

»Nein, Weihnachten haben sie sich getrennt.«

»Ist das wirklich wahr?« Fintan und Sandro stießen sich vor Vergnügen in die Rippen. »Ist – das – wirklich – wahr? Er ist also frei? Es gäbe Schlimmeres, als es mit ihm zu versuchen.«

Tara sah Fintan finster an. »Wenn ich nur einen Gedanken daran verschwende, dann sollte mich jemand erschießen.« Am nächsten Tag begegnete Tara Amy in der Eingangshalle ihres Bürogebäudes.

»Hallo.« Amy strahlte. »Wie geht’s? Hab dich seit einer Ewigkeit nicht gesehen. Seit vor Weihnachten.«

»Oh, Mann.« Tara schlug die Hände vor das Gesicht. »Jetzt fällt es mir wieder ein. Wir haben uns an dem schrecklichen Tag gesehen, als ich im Vollrausch war und mich dauernd übergeben mußte. Schande, Schande.«

»Mach dir nichts draus. Ich habe mir an dem Abend eine Alkoholvergiftung zugezogen, und sie haben mir eine Spritze in den Po gegeben, damit ich aufhöre, mich zu übergeben.«

Tara lachte erleichtert. Sie bewunderte Amys präraffaelitische Schönheit und nahm beruhigt zur Kenntnis, daß sie auch nur menschlich war.

»Wir sollten mal zusammen ausgehen«, sagte Amy. »Oder bist du wieder mit deinem Freund zusammen?«

Bekümmert schüttelte Tara den Kopf.

»Ich weiß nicht, ob du dich daran erinnerst, aber ich habe dir von dem Freund meines Freundes erzählt, Benjy. Der ist richtig nett, und ich mache jede Wette, daß ihr euch gut verstehen würdet. Wie wär’s, wenn wir alle zusammen mal ausgehen würden?«

»Okay«, sagte Tara und spürte ein leichtes Kribbeln. Vielleicht wäre er ja halbwegs passabel. »Wann?«

»Samstagabend?«

»Geht nicht. Der Samstag danach?«

»In Ordnung.«

»Und er ist nett, dieser Barney?«

»Benjy. Ja, richtig nett.«

»Na, wenn er so ist wie dein Freund, dann ist er ganz große Klasse«, schwärmte Tara. Weil sie sich abwandte, bemerkte sie nicht den entsetzten Blick in Amys hübschen Augen.