SIEBENTES KAPITEL
Das Ende
Juarez war nun wieder Alleinherrscher von Mexiko. Kurt hatte der Hinrichtung nicht beigewohnt. Es widerstrebte seinem Gefühl, einen Mann sterben zu sehen, den er hatte retten wollen. Er saß zur Zeit der Exekution mit dem kleinen André in seinem Zelt. Er hörte das Trauergeläut. Die Exekutionsschüsse drangen an sein Ohr.
„Jetzt! Jetzt sind sie tot!“ rief André.
„Er war bereits tot, als er mich von sich wies“, antwortete Kurt.
„War keine Rettung mehr möglich? Man hätte ihn vielleicht doch heimlich aus seinem Gefängnis entführen können.“
„Ehe Max gefangen war, konnte ich ihn retten, ohne ein Verbrechen zu begehen.“
„War es denn später eins?“
„Gewiß, und zwar ein Verbrechen, welches von jedem Gesetzbuch mit hoher Strafe belegt wird. Es ist widerrechtliche Befreiung eines Gefangenen.“
„Nun, so wäre die Befreiung erst auch widerrechtlich gewesen.“
„Nein, er befand sich noch mitten unter den Seinigen. Sobald er aber in die Gewalt der Republikaner geraten war, sah ich mich gezwungen, die Hand abzulassen.“
„Hm. Sie mögen recht haben. Er hat es nicht anders gewollt.“
„Und so brauchen wir uns keine Vorwürfe zu machen. Hier aber haben wir nichts mehr zu tun. Ich wollte nur noch diese verhängnisvollen Schüsse hören. Nun bin ich Zeuge eines der größten geschichtlichen Trauerspiele gewesen, und werde Querétaro verlassen.“
„Ohne Abschied oder Urlaub?“
„Ich bin von Eskobedo nicht abhängig.“
„Wohin gehen Sie?“
„Zu Juarez.“
„Ah, darf ich mit?“
„Natürlich“, nickte Kurt.
„Ah, da werde ich Señorita Emilia sehen! Geht Herr Doktor Sternau auch mit uns?“
„Ich hoffe es. Reiten Sie voraus zu ihm, damit ich ihn bereit finde, wenn ich komme.“
Am anderen Morgen ritten die drei unter Begleitung der beiden Indianerhäuptlinge nach San Louis Potosí. Als sie durch Guanajuato kamen, hielt der ‚Kleine André‘ an.
„Ah, meine Herren, kennen sie dieses Pferd?“
Dabei deutete er auf ein gesatteltes Pferd, welches vor einer Venta hielt.
„Das Pferd des ‚Schwarzen Gerard‘“, antwortete Sternau.
„Er muß hier abgestiegen sein. Gehen wir hinein.“
Aber sie brauchten nicht in das Haus zu treten. Gerard hatte sie schon gesehen und kam heraus. Er war in Santa Jaga gewesen und hatte sie aufsuchen wollen, um ihnen mitzuteilen, daß dort alles in Ordnung sei. Natürlich schloß er sich ihnen an.
Als sie Potosí erreichten und ihre Pferde untergebracht hatten, begab sich Sternau mit Kurt sofort zu dem Präsidenten, welcher sie empfing, obgleich er mit Geschäften überhäuft war.
„Sie bringen Trauriges?“ fragte er ernst, nachdem die Begrüßungsworte gewechselt worden waren.
„Ja“, antwortete Kurt. „Ich bringe den Schall der Schüsse, unter denen Max von Österreich gefallen ist.“
„So waren Sie bei der Exekution zugegen?“
„Nein. Ich mußte verschmähen, ein Schauspiel anzustaunen, welches ich hatte kommen sehen.“
„Eskobedos Kurier ist bereits angelangt. Maximilian ist mutig und als Mann gestorben. Ich war sein politischer Gegner, aber nicht sein persönlicher Feind.“
Es war, als ob er es für nötig gehalten hätte, diese Entschuldigung hier auszusprechen; daher fiel Sternau schnell ein:
„Wir wissen das am besten, Señor!“
„Ah!“ sagte Juarez, indem er ein leises, geheimnisvolles Lächeln bemerken ließ. „So hatten Sie mich verstanden!“
„Ja, Señor, und Sie haben sich bemüht?“ frag Sternau.
„Sogar sehr eifrig, aber ohne Erfolg, sogar Leutnant Helmers hier wurde abgewiesen“, antwortete Juarez.
„So hielten Sie es also doch für möglich, Herr Leutnant, den Erzherzog – Sie verstehen?“
„Es war sogar sehr leicht“, antwortete Kurt.
Da schüttelte Juarez den Kopf, trat an das Fenster und sah lange schweigend hinaus. Dann drehte er sich rasch wieder um und sagte:
„So hat er es nicht anders gewollt. Er ist tot, richten nicht auch wir noch über ihn. Ihnen aber danke ich, daß Sie meine Andeutungen verstanden und danach gehandelt haben. Man wird mich falsch beurteilen, Sie aber kennen mich besser, obgleich Sie schweigen müssen, solange ich noch die Zügel der mexikanischen Angelegenheiten in den Händen halte. Während dieser Zeit darf kein Republikaner wissen, was ich tat und wünschte. Aber wenn ich einmal abgetreten oder tot sein werde, dann denken Sie daran, daß die Zeit gekommen sei, der Welt mitzuteilen, wie gern ich meinen Gegner retten wollte. Dies ist das Vermächtnis, welches ich Ihnen anvertraue, wenn Sie das Land verlassen, welches der Schauplatz einer Tragödie war, welche ich weder veranlaßt, noch verschuldet habe.“
Er sprach ernst und aus bewegtem Herzen. Die beiden Zuhörer waren ebenso bewegt. Es entstand eine Pause, die Juarez mit der Frage beendete:
„Und nicht wahr, daß Sie Mexiko verlassen, wird sehr bald geschehen?“
„Wir hoffen es allerdings“, antwortete Sternau. „Aber einige Zeit werden wir immer noch unter Ihrem Schutz bleiben müssen, Señor.“
„Das freut mich. Sie wissen, daß alles geschieht, was ich für Sie tun kann. Wir müssen, ehe Sie abreisen, die Angelegenheit der Rodriganda beenden, soweit dieselbe nämlich vor das mexikanische Forum gehört.“
„An welchen Richter haben wir uns da zu wenden?“
„An mich selbst. Ich werde dafür sorgen, daß Ihre Sache in ebenso gerechte wie eifrige Hände gelegt wird. Die Gefangenen befinden sich noch im Kloster della Barbara?“
„Ja. Sie sind sehr gut bewacht.“
„Holen Sie sie. Lassen Sie auch Marie Hermoyes, den alten Haziendero Pedro Arbellez nebst seiner Tochter und die Indianerin Karja herbeirufen.“
„Nach Potosí hier?“
„Nein. Ich werde nach der Hauptstadt gehen. Dorthin haben Sie die Gefangenen zu bringen.“
„Stehen nicht nur diejenigen, welche hier geboren oder naturalisiert sind, unter Ihrer Jurisdiktion?“
„Allerdings. Ich kann zwar alle in Anklagestand versetzen, aber nur über Pablo Cortejo und dessen Tochter aburteilen.“
„Und die anderen?“
„Führen Sie nach Spanien, wo die Angelegenheit zu beenden ist.“
„An welche Behörde haben wir uns da zu wenden?“
„An das Obertribunalgericht zu Barcelona.“
„Ich danke. Werden Sie die Untersuchung hier öffentlich führen?“
„Natürlich!“
„Ich möchte dagegen Einspruch erheben.“
„Warum?“
„Es würde von der Sache, ehe wir hier mit derselben fertig sind, so viel nach Spanien verlauten, daß die Schuldigen, welche sich dort befinden, Zeit gewinnen, sich der Gerechtigkeit zu entziehen.“
„Das ist allerdings richtig. Wir werden also vorsichtig sein, und die Untersuchung so diskret wie möglich führen müssen. Um aber allem vorzubeugen, werde ich mich nach Spanien unter Beifügung der Gründe mit der Bitte wenden, den Grafen Alfonzo unter eine wenn auch heimliche, aber desto strengere Polizeiaufsicht zu nehmen. Genügt Ihnen das?“
„Vollständig, Señor!“
„Zum Transport der Gefangenen vom Kloster della Barbara nach der Hauptstadt stelle ich Ihnen ein hinreichendes Militärdetachement zur Verfügung. Wann reisen Sie ab?“
„Morgen früh. Wir wollen bis dahin die Pferde ausruhen lassen.“
„So werde ich die nötigen Befehle geben.“
Damit war die Unterredung beendet. Sternau besprach sich mit den anderen, wer nach der Hacienda reiten werde, um die Bewohner derselben zu holen. Da Emma, Resedilla und Karja sich dort befanden, wurden ‚Donnerpfeil‘, Gerard und ‚Bärenherz‘ gewählt. Am anderen Morgen wurde aufgebrochen.
Vorher aber wurde noch ein Herz glücklich gemacht, welches ein solches Glück nicht für möglich gehalten hätte.
Nach der erwähnten Besprechung begab sich André zu Señorita Emilia, welche sich ja in Potosí befand. Es war Abend, und das Gemach, das sie mit noch zwei anderen bewohnte, war von einer Lampe hell erleuchtet. Juarez hatte sie für die ihm geleisteten Dienste so freigebig belohnt, daß sie imstande war, sich einer fein ausgestatteten Wohnung zu bedienen.
Als André eintrat, lag das schöne Mädchen hingegossen auf einer Ottomane. Sie stand zwar nicht mehr in den Tagen der ersten, der besten Jugend, aber ihre Schönheit gehörte zu denen, welche nicht verschwinden, sondern mit den Jahren an Zauber zu gewinnen scheinen.
Als sie ihn erblickte, erhob sie sich rasch aus den Kissen.
„Ah, Monsieur André!“ rief sie. „Ihr wieder hier? Das freut mich, das freut mich wirklich recht herzlich!“
Der kleine Jäger machte ein halb seliges und halb verlegenes Gesicht und fragte:
„Freut Ihr Euch denn wirklich, daß so ein alter Büffeltöter zu Euch kommt, Mademoiselle?“
„Natürlich. Natürlich! Seht Ihr denn nicht, daß ich Euch beide Hände entgegenstrecken?“
„Alle Wetter, ja! Aber – hm!“ Er zögerte, ihre Hände zu nehmen und sprach:
„Diese kleinen, schönen, weißen Patschchen, und da meine sonnenverbrannten Tatzen. Paßt das zusammen?“
Da ergriff sie seine Hände, um sie kräftig zu schütteln, und dann fuhr sie fort:
„Ihr scheut Euch vor meinen Händen; wißt Ihr denn, was ohne Euch aus denselben geworden wäre?“
„Na, was denn, Mademoiselle?“
„Sie wären jetzt kalt, starr und faulten unter der Erde!“
„Donnerwetter, das wäre weiß Gott zu jammerschade. Aber, hm, wo denn eigentlich?“
„In Tula, wo ich ja erschossen oder gar gehängt worden wäre, wenn Ihr mich nicht gerettet hättet.“
„Ich?“ fragte er verwundert.
„Ja, Ihr!“ antwortete sie.
„Unsinn! Der Retter war dieser famose Leutnant Helmers, aber doch nicht ich.“
„Ihr habt beide gleichviel getan, einer soviel wie der andere. Kommt, setzt Euch doch endlich nieder.“
Sie wollte ihn nach der Ottomane ziehen; er aber sträubte sich.
„Nicht dorthin!“ sagte er. „Dieser Platz ist ja aus Samt fabriziert.“
„Was tut das?“
„Sehr viel! Meine Hosen und so ein Samt. Der ‚Kleine André‘ und so ein Kanapee, oder was es ist. Das würde gerade so passen wie eine Eidechse in den Milchreis oder in den Hirsebrei!“
Sie faßte ihn kräftig an und zog ihn neben sich in die schwellenden Polster nieder.
„Himmel, hilf!“ rief er. „Das geht tief hinab. So ein Polster gibt es ja selbst im besten Wald nicht.“
„Meint Ihr? Und diese Kissen haben noch dazu die Eigentümlichkeit, daß es sich darauf so recht gemütlich plaudern läßt.“
„Im Wald auf dem Moos auch.“
„Geht mir jetzt mit dem Wald. Wir sind hier und wollen von uns reden, aber nicht von Euren Büffeln und Bären.“
„Gut“, sagte er, sich scheu in die Ecke drückend, wo er aber auch von den Sprungfedern recht beunruhigend auf und nieder geschaukelt wurde.
„Also von uns wollen wir reden? So fangt einmal an!“
„Warum Ihr nicht?“
„Ich? Alle Wetter! Wovon sollte ich denn anfangen?“
„Von mir!“ lachte sie.
Er blinzelte furchtsam zu ihr herüber. Sie bemerkte das und fragte:
„Fürchtet Ihr Euch vor mir, oder redet Ihr etwa nicht gern von mir?“
Er nickte bedenklich mit dem Kopf und antwortete:
„Hm! Mit dem Fürchten ist es nicht so ganz richtig!“
„Ah! Warum?“
„Nun, das will ich Euch erklären. Sagt einmal, wenn hier der Teufel hereinkäme, würdet Ihr –“
„Pfui, der Teufel! Wie kommt Ihr auf den? Bin ich ihm etwa so ähnlich?“
„Gar nicht! Aber würdet Ihr Euch nicht vor ihm fürchten?“
„Ein wenig, ja.“
„Oder wenn ein Engel käme, würdet Ihr Euch da nicht auch fürchten?“
„Hm! Ein wenig scheuen würde ich mich allerdings.“
„Nun seht, Mademoiselle. Man fürchtet sich vor allem, was ganz häßlich und schlecht, oder ganz schön und gut ist. Man steht so sehr in der Mitte der beiden, daß man sich weder an das eine, noch an das andere getraut.“
„Das habt Ihr sehr gut erklärt, mein lieber André. Aber was wollt Ihr denn damit in Beziehung auf mich sagen?“
„Daß ich mich fürchte, weil Ihr ein Engel seid.“
Sie machte eine allerliebste, verwunderte Miene und rief:
„Wie? Ihr könnt auch galant sein?“
„Galant?“ fragte er erschrocken. „Ist das denn galant?“
„Natürlich!“
„Alle Wetter! Da bitte ich um Verzeihung! Nehmt mir das nur ja nicht übel. Ich habe es nicht böse gemeint!“
„Davon bin ich überzeugt. Aber, meint Ihr etwa, daß Ihr gegen mich nicht galant sein dürft?“
„Wie dürfte ich so etwas wagen?“
„Warum denn nicht?“
Sie rückte ihm dabei etwas näher und er drückte sich, als er dies bemerkte, soviel wie möglich in seiner Ecke zusammen.
„Ich, der Andreas Straubenberger! Und Ihr, der Engel, die schöne Señorita Emilia. Das verhält sich ja geradeso wie die Stiefelschmiere zur Morgenröte!“
Sie lachte herzlich auf und meinte:
„Was war denn eigentlich Euer Vater, André?“
„Ein blutarmer Teufel in der Rheinpfalz.“
„Und mein Vater war ein blutarmer Teufel in Paris. Habt Ihr Euch da vor mir zu fürchten?“
„Der Väter wegen nicht, aber der Tochter wegen!“
„Da irrt Ihr Euch. Ich bin ein Mädchen, nichts weiter, eine Kundschafterin des Präsidenten. Ihr aber seid ein wackerer, tapferer Jäger, der hundert schöne, rühmliche Taten zu seinem Lob hat. Wißt Ihr noch, wie Ihr Euch damals in Chihuahua für Eure Freunde aufgeopfert habt?“
„Hm! Ja!“ Er dachte dabei an die Küsse, welche er von dem schönen Mädchen zum Lohn erhalten hatte.
„Und sodann habt Ihr mir das Leben gerettet!“
„Das ist ja nur eine Kleinigkeit!“
„Was? Ihr haltet mein Leben für eine Kleinigkeit“, fragte sie.
Er fuhr erschrocken empor.
„Alle Teufel, das habe ich nicht gemeint“, rief er. „Dem Kerl, der Euer Leben eine Kleinigkeit nennen wollte, den würde ich auf den Kopf schlagen, daß ihm die Seele zu allen zehn Fußzehen hinausfahren sollte!“
„Nun seht, Monsieur, und doch hing dieses Leben nur an einem Faden. Ihr habt mich gerettet. Ich wünsche sehr, ich hätte stets so einen Beschützer bei mir.“
Da blitzte sein gutes, ehrliches Auge vor Freude hell auf.
„Wirklich, wünscht Ihr das, Mademoiselle?“ fragte er rasch.
„Ja“, antwortete sie. „So einen Beschützer wie Ihr seid, oder am liebsten Euch selbst.“
„Nun, das könnt Ihr ja sehr leicht haben.“
„Wieso?“ fragte sie, gespannt auf die Antwort, die er ihr geben werde.
„Nun – hm!“ hustete er verlegen. „Braucht Ihr vielleicht einen hm – einen Diener?“
„Einen Diener? Warum?“
„Dann würde ich fragen, ob ich der Diener sein darf.“
„Ihr? O nein! Als Diener würde ich Euch nicht haben mögen.“
„Sapperment!“ meinte er enttäuscht. „Ich würde aber stets so treu und aufmerksam sein wie kein zweiter!“
„Das glaube ich Euch sehr gern, denn Ihr seid eine gute, treue Seele. Aber als Diener wäret Ihr ja mein Untergebener!“
„Das gerade will ich ja!“
„Aber ich will es nicht. Ich schätze Euch, ich achte Euch so hoch, daß ich Euch nie unter mich stellen könnte.“
„Nun, so stellt mich neben Euch!“
„Als was denn?“
„Hm! Das ist freilich eine ganz verteufelte Geschichte. Da hört meine Weisheit beinahe auf. Braucht Ihr nicht einen Reisebegleiter?“
„Vielleicht. Aber ich werde sehr wenig auf Reisen sein.“
„Nun, so stellt mich als Hausmeister an!“
„Ich habe kein Haus.“
„So baue ich Euch eins. Ich bin nicht ganz ohne!“
Er blinzelte dabei mit den Augen und machte mit den beiden ersten Fingern der Rechten das Zeichen des Geldzählens.
„So, so!“ lachte sie. „Das brauche ich nicht anzunehmen. Denn ich bin auch nicht ganz ohne.“
Sie blinzelte dabei ebenso wie er schalkhaft zu ihm hinüber und machte auch dieselbe Bewegung mit Daumen und Zeigefinger.
„Das freut mich“, meinte er. „Also mit dem Haushofmeister ist es nichts. So macht mich zum Aufseher oder Verwalter!“
„Ich habe keine Fabrik oder ein Rittergut.“
„Das schadet nichts. Baut Euch eine Brauerei! Ich bin eigentlich ein Brauer.“
„Wenn ich bauen wollte, so würde ich auf die Brauerei verzichten und doch lieber auf Euren vorigen Vorschlag eingehen.“
„Ein Haus zu bauen? Sapperment! So werde ich Hausmeister!“
„Dann wäret Ihr doch immer mein Untergebener.“
„Das ist wahr. Aber wenn es sich um ein Haus handeln muß, so gibt es da ja nur den Hausherrn, der nicht Untergebener ist.“
„Richtig. Was aber hält Euch denn ab, das zu werden?“
„Nichts. Nur müßte ich es sein, der das Haus baut, nicht Ihr.“
„Aber wenn ich es dennoch baute?“
„So wäret Ihr die Herrin.“
„Wäre denn ein Herr da ganz und gar keine Möglichkeit?“
Er sah sie groß an, nickte mit dem Kopf und antwortete:
„Freilich doch, aber dann wäre er nicht Hausherr, sondern Haus –“
„Nun, warum stockt Ihr denn? Redet doch aus.“
„Hm! Es ist ein verteufelt dummes Wort.“
„Welches denn?“
„Haus – hm – Hausva – Hausvater!“
Endlich hatte er das Wort herausgebracht. Er holte tief Atem, legte den Kopf furchtsam nach hinten und machte die Augen zu, um nicht sehen zu müssen, wie zornig er sie gemacht habe. Aber anstatt Worte des Zornes zu hören, vernahm er in halb leisem, freundlichen Ton die Frage:
„Nun, Monsieur, ist das nicht ein schöner Posten? Möchtet Ihr ihn nicht haben? Möchtet Ihr denn nicht bei mir Hausvater sein?“
Da öffnete er langsam die Augen und sagte ebenso langsam:
„Aber wer sollte denn da die Hausmutter machen?“
„Nun, wer anders als ich?“
„Ihr?“ rief er.
Er war so erschrocken, daß er aufspringen wollte. Sie aber hielt ihn zurück und fragte:
„Glaubt Ihr etwa, daß ich eine schlechte Hausfrau sein würde?“
„Nein, nein! Ganz und gar nicht“, antwortete er. „Aber es geht nicht, es geht nicht.“
„Warum nicht?“
„Weil – Ihr dann ja meine – Frau werden müßtet.“
Sie lachte laut auf und fragte:
„Und dieses kleine Wort auszusprechen, ist Euch so schwer geworden?“
„Sehr schwer, ungeheuer schwer, fürchterlich schwer. Lieber will ich einen Bären mit einer Stricknadel erstechen, als daß ich mich auf so etwas einlasse.“
„So habt Ihr wohl noch niemals einem Mädchen eine Liebeserklärung gemacht?“
„Nein – hm, ja, nein, nämlich was man so eine richtige Liebeserklärung nennt.“
„Aber gut gewesen seid Ihr einmal einer?“
„Ja, höllisch gut. Aber mein Bruder war ihr lieber, und darum ging ich in die weite Welt.“
„Und seit jener Zeit bis heute seid Ihr keiner wieder so gut gewesen, Monsieur?“
Da machte er abermals die Augen zu, aber aus einem ganz anderen Grund als vorher. Sein Gesicht nahm einen eigentümlich seelenvollen Ausdruck an, welcher es verschönte, und ohne die Augen zu öffnen, antwortete er:
„O doch, Mademoiselle. Einer einzigen bin ich gut. Aber nein, gut sein, das ist nicht der richtige Ausdruck, das ist viel, viel zu wenig. Ich denke an sie bei Tag und Nacht. Ich träume von ihr. Ich möchte ihr jeden Tropfen meines Blutes einzeln opfern. Ich könnte auf alles und jedes Glück verzichten, um sie nur froh zu sehen. Ich wäre imstande, tausendfaches Herzeleid zu erdulden, nur damit sie mich einmal freundlich anblicken möchte.“
Da wurde das Auge Emilias groß und feucht. Ihr schönes Angesicht zeigte einen tiefen Ernst, und ihre Stimme vibrierte leise, als sie fragte:
„Darf ich nicht wissen, wer die ist, die Ihr so unendlich liebt?“
Da öffnete er, wie erschrocken, rasch die Augen und antwortete:
„Nein, um Gottes willen, nein!“
„Warum nicht?“
„Weil Ihr zornig, entsetzlich zornig werden würdet.“
„Nun, wenn Ihr es mir nicht mitteilt, so will ich es Euch sagen.“
„Das könnt Ihr nicht. Ihr wißt es ja nicht.“
„Ich will es Euch beweisen, daß ich es weiß. Legt einmal den Kopf so nach hinten und macht dazu die Augen zu, gerade wie Ihr es vorhin getan habt.“
Er gehorchte, ohne zu ahnen, was sie wollte. Da, kaum hatte er die Augen geschlossen, so fühlte er sich von zwei warmen, weichen Armen umfangen; seine Wange wurde an einen vollen Busen gedrückt, unter dem er das Klopfen eines Herzens deutlich hörte und fühlte; zwei Lippen legten sich auf seinen Mund, und dann hörte er die leisen, liebevollen Worte:
„Ich bin es, ich! Nicht wahr, ich weiß es, wen du lieb hast?“
Er antwortete nicht, er öffnete auch die Augen nicht. Er bewegte sich nicht, sondern er blieb liegen wie ein Hund, den die schöne Herrin liebkost, und der vor Freude und Entzücken darüber vergehen und sich in Wonne auflösen möchte.
Sie drückte ihn an sich, küßte ihn abermals und fragte wieder:
„Antworte mir, André. Nicht wahr, ich bin es, die du so unendlich lieb hast?“
„Ja“, wagte er ganz leise zu sagen.
„So mache deine Augen auf.“
Er gehorchte. Er erblickte ihr schönes, freudeglänzendes Gesicht so nahe an dem seinigen. Er fühlte, daß der Hauch ihres Atems ihn berührte; es war ihm so eigentümlich, so traumhaft, so wirr im Kopf. Er strich sich langsam die Haare aus der Stirn und fragte:
„Träume ich oder ist es wirklich wahr? O Gott, es ist des Glücks zuviel.“
Sanft entwand er sich den Fesseln der Liebe und erhob sich.
Langsam und fast taumelnd schritt er zum Fenster. Dort stand er lange, lange Zeit mit gefalteten Händen, und in die Nacht hinaus zu den Sternen emporblickend. Sie ließ ihn ruhig gewähren. Sie hatte den Wert dieses rauhen Mannes kennengelernt. Wurde sie auch nicht von der Glut zu ihm gezogen, welche sie Gerard gegenüber gefühlt hatte, so war sie ihm, ihrem Lebensretter, dagegen mit jenem stillen, reinen Gefühl ergeben, welches der Volksmund ‚von Herzen gut sein‘ nennt, und welches mehr Bürgschaft eines dauernden Glücks bietet als ein hell aufloderndes, aber ebenso schnell wieder in sich zusammensinkendes Herzensfeuer.
Sie war Spionin gewesen. Was hatte sie zu hoffen? Sollte sie ihre Schönheit einem auf Adel oder Reichtum stolzen Protzen opfern, um dann von ihm verlassen zu werden? Nein. Sie wußte, daß sie schön war, aber sie wußte auch, daß sie mit dieser Gottesgabe hier einem braven Mann ein unendliches Glück bereiten werde, und sie zog dies letztere vor, nicht aus Berechnung, sondern weil ihr Herz sie dazu trieb. Sie war ihm ja so herzensgut, diesem einfachen, biederen Andreas, dessen Charakter ihr mehr Gewähr eines wirklichen und dauerhaften Glücks bot, als die egoistische, genußsüchtige Liebe all der vornehmen Anbeter, welche sie bisher gehabt hatte.
Da drehte er sich um und kehrte langsam zu ihr zurück. Sein ehrliches Gesicht glänzte wie verklärt, und in seinen Augen standen Tränentropfen, welche ihm über die Wange rollten.
„Weißt du, was ich jetzt getan habe?“ fragte er.
„Was? Sage es.“
„Gebetet. Ja, gebetet habe ich, daß der liebe Gott mir den Verstand und die Gedanken lasse. Ich habe jetzt erkannt, daß es ebenso schwer ist, sich in ein großes Glück zu finden wie ein schweres Herzeleid. Und nun sage mir, ob du wirklich im Ernst gesprochen hast und ob es wahr ist, daß ich dich in Wirklichkeit besitzen soll, dich, die ich im stillen angebetet habe, als ob du meine Königin seist, und ich bin der Sklave, der Untertan, welcher bereit ist, für dich zu leben und aber auch für dich zu jeder Stunde in den Tod zu gehen!“
Die Frage, welche er aussprach, glänzte ihr auch aus seinen ehrlichen, treuen Augen entgegen, und zwar so angstvoll und unsicher, daß sie beide Hände ausstreckte, die seinigen ergriff und schnell antwortete:
„Ja, es ist wahr, mein lieber André. Ich will dein Weib sein, deine Hausfrau, bei der du eine Heimat findest, nachdem du solange Jahre ruhe- und heimatlos gewesen bist.“
Da stieß er einen Ruf des höchsten Entzückens aus. Er schlang die Arme um sie, drückte sie fest und innig an sich und sagte:
„Gott segne dich für dieses Wort! O, nun bin ich ein ganz anderer Kerl! Nun tausche ich nicht mit Sternau oder Mariano, mit keinem einzigen Menschen! Mögen sie mich immerhin den ‚Kleinen André‘ nennen. Ich fühle mich jetzt auf einmal so groß, so groß, daß es mir gar nicht einfallen kann, einen von ihnen zu beneiden.“
Da schob sie ihn leise von sich, maß unter einem glücklichen Lächeln seine Gestalt, zog ihn wieder an sich heran, sodaß sie wieder Brust an Brust standen und sagte: „Messen wir uns einmal, lieber André. Bin ich etwa länger als du?“
Er verglich ihre Höhe mit der seinigen und meinte ganz erstaunt:
„Wahrhaftig, ich bin noch einen Zoll länger als du. Wer hätte das gedacht!“
„Du siehst, daß der Schein trügt. Wir Frauen sehen größer aus als wir sind. Wir passen sehr gut zusammen. Nicht?“
„Außerordentlich gut. Ich bekomme Respekt vor mir selber. Und nun sollst du sehen, daß auch die anderen den gleichen Respekt haben sollen. Die Liebe ist doch ein wunderbares Ding, ich glaube, daß sie gar imstande sein wird, aus dem ‚Kleinen André‘ einen großen Kerl zu machen.“ – – –
Einige Zeit später hielt der wieder zu seinen Ehren und Würden gelangte Präsident Juarez seinen Einzug in der Hauptstadt Mexikos. Es herrschte ein unbeschreiblicher Jubel unter der Bevölkerung, als der Zapoteke, welcher einst zur Flucht gezwungen gewesen war, aber trotzdem seinen starren Mut nicht verloren und auf seinen Titel verzichtet hatte, nun als Retter des Vaterlandes in der Stadt einritt. Alle Straßen waren mit Ehrenpforten, Girlanden und Flaggen geschmückt, und ein wahrer Regen von duftenden Blumen flog auf ihn und das Pferd, welches ihn trug, und mit stolzen Schritten über die lieblichen Kinder Floras hinwegtänzelte.
Aber am ersten Tag nach seinem Einzug hatte sich der laute Jubel in eine stille Erwartung umgewandelt; Juarez begann zu sichten. In unerbittlicher Gerechtigkeit untersuchte er diejenigen, welche seit dem ersten Tag der französischen Invasion eine Rolle gespielt hatten, nach ihrem patriotischen Wert. Er begann die Schafe von den Böcken zu scheiden und das Gewürm von dem Baum der nationalen Wohlfahrt zu schütteln. Tausende fühlten sich im Besitz eines bösen Gewissens. Viele entflohen heimlich, als sie sahen, wie ernst es dem Präsidenten war. Wo es möglich war, ließ er Gnade walten, aber wo er erkannte, daß Milde nicht angewandt oder gar für das Allgemeinwohl gefährlich sei, da ließ er sich von seinem Herzen nicht hinreißen, sondern strafte mit jener einsichtsvollen Unnachsichtigkeit, welcher man es dankbar anmerkt, daß sie nicht aus Persönlichkeit und Eigennutz entspringt.
Da er selbst eine beinahe ruhelose Tätigkeit entfaltete, so dauerte es nur kurze Zeit, bis in allen Abteilungen des Regierungsmechanismus die größte Ordnung herrschte, und so kam es, daß er selbst von denjenigen Regierungen, welche vorher mit Napoleon geliebäugelt hatten, als Herrscher des mexikanischen Reiches anerkannt wurde.
Eines Spätabends, als die Bewohner der Hauptstadt im Schlummer lagen, näherten sich der letzteren von Norden her ein Reiterzug. Der Mond schien hell, und so konnte man erkennen, daß derselbe aus mehreren Gefangenen und ihrer Eskorte bestand. Die ersteren waren sorgfältig gefesselt und auf ihre Pferde gebunden. Zwei Maultiere trugen eine Art von Sänfte, aus welcher fast ununterbrochen das Wimmern einer weiblichen Stimme erscholl, um das sich die Begleiter aber nicht im geringsten kümmerten.
Dieser Trupp erreichte die Stadt, ritt durch einige Straßen und hielt dann vor dem Regierungsgebäude, an dessen Tor die Reiter der Eskorte sich von ihren Pferden schwangen. Einer von ihnen trat ein und wurde von dem wachhabenden Posten gefragt, was er wolle und wen er bringe.
„Ist der Präsident noch wach?“ lautete die kurze Gegenfrage.
„Ja. Er arbeitet alle Nächte bis zum Anbruch des Morgens.“
„So lassen Sie mich melden. Ich heiße Sternau.“
„Sternau? Hm. Man darf niemand melden. Der Präsident will ungestört sein. Kommen Sie am Tag wieder.“
„Ob und wann ich wiederkommen soll, haben nicht Sie zu bestimmen. Sie haben mich melden zu lassen, und der Präsident wird mich empfangen.“
Diese Worte waren in einem so befehlenden Ton gesprochen, daß der Posten gehorchte, ohne einen weiteren Einwand zu wagen. Es dauerte auch nur kurze Zeit, so wurde Sternau benachrichtigt, daß Juarez bereit sei, ihn zu empfangen.
Als er bei dem Präsidenten eintrat, wollte er sich wegen seines späten Erscheinens entschuldigen, wurde aber durch den freundlichen Ausruf unterbrochen:
„Endlich, endlich kommen Sie! Ich habe Sie bereits längst mit Ungeduld erwartet.“
„Wir konnten nicht eher, Señor. Wir hatten auf die Herren und Damen der Hacienda zu warten, und unterdessen war Josefa Cortejo so krank geworden, daß es unmöglich war, sie nach der Hauptstadt zu transportieren.“
„Was fehlte ihr?“
„Sie wissen, Señor, daß sie auf der Hacienda von einem Vaquero so gegen die Wand und Diele geworfen wurde, daß sie einige Verletzungen davontrug, welche vollständig falsch behandelt worden sind. Die Folgen davon stellten sich nun in Santa Jaga ein, und zwar in Gestalt einer heftigen Entzündung, derer ich kaum Herr werden konnte.“
„Aber jetzt ist sie bereits wieder hergestellt?“
„Nein. Sie wird nicht wieder hergestellt werden.“
„Was Sie sagen!“ rief Juarez, beinahe erschrocken. „Verstehe ich Sie recht? Sie meinen, daß sie sterben werde?“
„Ja.“
„Doch nicht eher, als bis wir mit ihr fertig sind!“
„Ich hoffe das. Ich habe alle Sorgfalt und alle künstlichen Mittel anwenden müssen, um sie nach hier zu bringen. Sie hat trotzdem unbeschreibliche Schmerzen auszustehen gehabt. Sie wimmert Tag und Nacht. Wenn die Wirkung meiner Mittel zu Ende ist, wird sie aufhören zu leben.“
Juarez nickte leise mit dem Kopf und meinte ernsten Tones:
„Da ist Gott selbst eingetreten, um sie zu bestrafen, noch ehe die Gesetze des menschlichen Richters aufgeschlagen zu werden brauchen. Es gibt, das sehen wir auch hier wieder, eine Gerechtigkeit, welche zwar nur sich selbst verantwortlich ist, aber gerechter straft, als wir es vermögen. – Sie haben die anderen Gefangenen auch mitgebracht?“
„Alle außer einem, dem Neffen des Paters nämlich.“
„Warum diesen nicht?“
„Auch ihn hat Gottes Strafe getroffen, oder vielmehr, er ist sein eigener Richter gewesen. Er hat sich in der Zelle, in welcher er aufbewahrt wurde, erhängt.“
„Das ist mir außerordentlich unangenehm. Ich glaubte, die Geheimnisse des Paters entdecken zu können, und nun ist dieser an den Folgen des Schlaganfalles gestorben, und sein Neffe, welcher jedenfalls sein einziger Vertrauter war, hat sich getötet.“
„Ich verzweifle noch nicht an der Enthüllung jener Geheimnisse. Es ist wahrscheinlich, daß sich bei einer genauen Durchforschung des Klosters della Barbara vieles entdecken läßt, was uns jetzt noch entgangen ist.“
„Ich werde eine sehr genaue Durchsuchung aller vorhandenen Räume vornehmen lassen. Aber, wie steht es, Señor Sternau, haben Sie die Gefangenen ins Verhör genommen?“
„Ja.“
„Und irgendwie ein Geständnis erhalten?“
„Leider nein.“
„Das habe ich erwartet. Die Charaktere, mit denen wir es zu tun haben, sind so verstockt, daß ein offenes Geständnis ganz und gar nicht zu erwarten ist. Wir werden also notgedrungen einen genauen Beweis führen müssen.“
Sternau wiegte den Kopf bedenklich hin und her und antwortete:
„Einem Beweis, selbst wenn er mit aller Logik und vollster Sicherheit gezogen wurde, haftet immer ein kleines Portiönchen Zweifelhaftigkeit an. Er gibt dem Verbrecher noch Gelegenheit zum Leugnen und zu der Behauptung, daß er unschuldig sei, trotz aller Beweise. Das ist umso unangenehmer, als selbst der scharfsinnigste Richter nicht untrüglich ist. Daher möchte ich eine Überführung auf Zeugenaussagen hin, mögen sie noch so untrüglich sein, gern vermeiden, zumal wir es hier mit einem außerordentlichen Fall zu tun haben und auch zur möglichsten Geheimhaltung, wenigstens einstweilen, gezwungen sind.“
„So meinen Sie, daß wir auf ein Geständnis noch hoffen dürfen?“
„Ja, nämlich von seiten der Josefa Cortejo. Wir haben einen kräftigen Verbündeten in den Schmerzen, welche sie zu erdulden hat. Ich habe dieselben durch meine Mittel zu lindern gesucht. Das werde ich nicht länger tun. Ich bin überzeugt, daß sich diese Schmerzen in so fürchterliche Qualen verwandeln werden, wie sie von der Tortur nicht schlimmer hervorgebracht werden könnten. Das muß und wird ihrer Verstocktheit ein Ende machen.“
„Als Mensch bedaure ich dieses Mädchen, als Jurist aber muß ich sagen, daß sie ihr Los verdient hat. Sie sind eben jetzt erst angekommen?“
„Ja.“
„Sie werden natürlich alle Wohnung bei mir nehmen. Das Palais hat mehr als genug Zimmer für sie. Landola und die Cortejos werde ich streng in Gewahrsam nehmen. Ich will sofort die nötigen Befehle erteilen.“
Er griff zur Klingel, Sternau aber hinderte ihn, jetzt schon das Zeichen zu geben, und sagte dann:
„Noch eins, Señor. Sie wissen, daß Graf Emanuel noch irrsinnig ist, und zwar infolge des Giftes, welches man ihm gegeben hat. Ich habe Ihnen auch erzählt, daß ich das Gegengift kenne und es bereits einmal bereitete. Es gelang mir damals, meine Frau mit demselben herzustellen. Jetzt brauche ich eine neue Dosis dieses Gegengiftes.“
„Ja, Sie haben mir einmal davon erzählt. Ich entsinne mich dieses Gegengiftes und seiner Zubereitungsweise. Es ist dazu der Mundschaum eines Menschen nötig, welcher fast bis zum Wahnsinn gekitzelt wird?“
„Allerdings. Ich muß diese Prozedur eine unmenschliche nennen, aber ebenso muß ich den Grafen herstellen.“
„Ich errate Sie. Einer der Gefangenen ist es, der Ihnen diesen Schaum liefern soll. Auf welchen ist Ihre Wahl gefallen?“
„Auf Landola. Er ist der böseste und schlimmste von allen. Die Prozedur muß natürlich im geheimen vorgenommen werden und ist unmöglich, wenn ich nicht die Erlaubnis dazu erhalte.“
Juarez schritt einige Male nachdenklich im Zimmer auf und ab, dann blieb er vor Sternau stehen und sagte:
„Gut. Eigentlich widerstrebt es mir, aber der arme Graf muß gerettet werden, und Landola, der tausendfache Bösewicht, verdient ein Mitleid nicht. Ich erteile Ihnen die notwendige Erlaubnis, doch unter der Bedingung, daß sie ihn nicht töten oder wahnsinnig machen.“
„Das wird nicht geschehen. Ich glaube im Gegenteil, daß wir ihn durch dieses Verfahren zu einem Geständnis bringen werden. Auch ich bin ein Mensch und habe als solcher meine Gefühle; aber wenn zum Beispiel die Vivisektion unschuldige Tiere ohne Zahl in teuflischer Weise quälen darf, um Fragen zu beantworten, welche teils untergeordneter Natur und teils durch die Sektion lebender Geschöpfe gar nicht zu lösen sind, so sehe ich kein Verbrechen darin, einen Teufel, wie Landola ist, zu zwingen, sein Gift herzugeben, um einen der vielen Unschuldigen zu retten, die er ins Elend stürzte.“
So waren die beiden also einig. Und nun wurden die Angekommenen mit aller Sorgfalt untergebracht.
Am anderen Tag begann das Verhör; es hatte keinen Erfolg. Aber es verging nur kurze Zeit, so zeigte es sich, daß Sternau richtig vermutet hatte. Die Schmerzen Josefas steigerten sich in einer Weise, daß sie dieselben nicht mehr ertragen konnte. Es gab Minuten, in denen sie vor Qualen brüllte und heulte. Sternau riet, ihren Vater nun in ihre Zelle zu führen.
Pablo Cortejo, so verstockt er war, konnte doch den Zustand seiner Tochter nicht ersehen und ihr Geschrei nicht erhören, ohne davon nicht nur ergriffen, sondern geradezu niedergeschmettert zu werden. Er sah, daß sie nur noch Stunden zu leben habe, gräßliche Stunden, sie, für die er gesündigt hatte und ein Verbrecher geworden war. Es war ihm, als ob ein verzehrendes Feuer in ihm brenne. Ein herbeigeholter Priester benutzte diesen Augenblick, Vater und Tochter zu einem Geständnis zu bewegen und dadurch wenigstens ihr Gewissen zu reinigen und ihre Seelen zu retten. Josefa, dem Tod nahe, schrie mit zitternder Stimme, daß sie alles sagen wolle, und nun gab es auch für ihren Vater kein Zurückhalten mehr. Juarez selbst eilte herbei. Sämtliche Zeugen kamen mit ihm, und das Geständnis der beiden wurde zu Protokoll genommen und in gehöriger, rechtsgültiger Weise unterzeichnet. Nur eine Stunde später war Josefa eine Leiche.
Nun galt es nur noch, auch Landola und Gasparino Cortejo zum Bekenntnis ihrer Taten zu bringen. Sie blieben beim Leugnen, obgleich ihnen das erwähnte Protokoll verlesen wurde.
Aber in der nächsten Nacht wurden beide in ein tiefliegendes Gewölbe geschafft, in welchem Sternau, Juarez, ‚Büffelstirn‘ und ‚Bärenherz‘ sich befanden. Was da unten vorgenommen wurde, ist Geheimnis geblieben. Wäre aber jemand auf den Gedanken gekommen, an dem Luftloch zu horchen, welches von außen nach diesem Gewölbe hinabführte, so hätte er, obgleich dieses Loch von innen sehr sorgfältig verstopft war, ein nicht ganz zu unterdrückendes Brüllen und Stöhnen vernommen, welches aus keiner menschlichen Kehle zu kommen schien. Und als die beiden Gefangenen dann nach ihren Zellen untergebracht wurden, war Landola ohnmächtig und steif wie eine Leiche, und Cortejo wankte in völlig gebrochener Haltung zwischen seinen Führern, sodaß sie ihn halten und unterstützen mußten.
Nach ihnen verließen auch die anderen das Gewölbe. Die beiden Indianer schienen kalt und teilnahmslos; aber Juarez und Sternau waren bleich. Der letztere steckte ein kleines Fläschchen in die Tasche, und der erstere trug ein Aktenstück in der Hand, welches alle Aussagen enthielt, die ihnen in der letzten halben Stunde gemacht worden waren.
Erst in seinem Zimmer angekommen, ergriff der Präsident das Wort:
„Das war fürchterlich, entsetzlich! Das war haarsträubend! Hätte ich das vorher gewußt, so wäre es sehr fraglich gewesen, ob ich mitgegangen wäre. Aber wir haben nun alles beisammen, was wir brauchen, und können kurz verfahren, Landola und Gasparino Cortejo gehen mit Ihnen nach Spanien und Pablo Cortejo – hm.“
Er brach ab, um in ein nachdenkliches Schweigen zu verfallen.
„Was geschieht mit ihm?“ fragte Sternau.
„Er bleibt hüben, er ist meiner Gerichtsbarkeit verfallen. Übrigens hat er als Empörer den Tod verdient. Sprechen wir nicht weiter über ihn, wir haben heute abend genug Schreckliches zu sehen und zu hören gehabt.“ –
Am anderen Tag bemerkten die Nachbarn des Palastes der Rodriganda, welcher nach Abzug der Franzosen fast leer gestanden hatte, daß derselbe jetzt von mehr Personen als vorher bewohnt sei. Aber wer diese Personen seien, erfuhr niemand. Diese letzteren ließen sich nicht sehen, da die Kunde, daß Graf Ferdinande noch lebe, nicht eher nach Spanien dringen sollte, als dieser selbst dort angelangt sei.
Es gab in Schnelligkeit sehr vieles und Schwieriges zu ordnen, und dann, nach einiger Zeit, trabte des Nachts eine ziemliche Anzahl von Reitern, welche einige Wagen umgaben, durch die Stadt, um den Weg einzuschlagen, welchen die Diligence zu fahren pflegte, wenn sie nach Vera Cruz ging.
Der alte, brave Haziendero nebst seiner Tochter Emma und seinem Schwiegersohn Helmers blieben zurück. Sie hatten von dem Grafen den Auftrag bekommen, unter dem Schutz des Präsidenten die Angelegenheiten seiner mexikanischen Besitzungen in einstweilige Fürsorge zu nehmen.
Kurze Zeit später verlautete das Gerücht, daß der verschwundene Prätendent Pablo Cortejo, lächerlichen Andenkens, ergriffen worden sei. Und bald darauf erzählte man sich, daß er, als Anführer und auch noch aus anderen Gründen zum Tode verurteilt, im Hof des Gefängnisses eine Kugel vor den Kopf bekommen habe. – – –
Der Personenzug, welcher von Hof über Reichenbach her mittags gegen halb zwölf Uhr in Dresden einzutreffen pflegt, war soeben in den böhmischen Bahnhof eingelaufen, und den geöffneten Waggons entstiegen hunderte von Passagieren, welche sich freuten, ihr Ziel erreicht zu haben.
Unter diesen befanden sich zwei, welche die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zogen. Es waren eine Dame und ein Herr. Die erstere ging in Seide gekleidet und hatte ihr Gesicht mit einem Schleier verhüllt. Solche Erscheinungen sind auf einem Bahnhof nichts seltenes, und so wäre sie nicht so beachtet worden, wenn ihr Begleiter sich ebenso unauffällig getragen hätte.
Dieser aber hatte sich auf eine Weise gekleidet, welche in Dresden nichts weniger als gewöhnlich war. Seine Hose war weit und aus einem rot und himmelblau karierten Stoff gefertigt. Sie wurde um die Hüften von einem grünen Schal festgehalten, in welchem drei Pistolen, zwei Messer und zwei Revolver steckten. Dann kam eine weiß und violett gestreifte Weste, aus deren Taschen zwei Uhrketten hingen, an welchen einige Dutzend Petschafte und Berloques befestigt waren. Darüber sah man eine kurze, dunkelrote Jacke, welche reiche Goldstickereien zeigte. Um den offenen, bloßen Hals war ein gelbseidenes Tuch gebunden, dessen Zipfel, über beide Achseln geworfen, weit auf dem Rücken hinunter hingen. Dazu trug der Mann einen riesigen Sombrero, welcher zehn Köpfen Schutz gegen die Sonne hätte geben können und in der rechten Hand einen grauen Regenschirm, während die Linke das Rohr einer langen Tabakspfeife hielt, aus welcher er mächtige Rauchwolken blies. Dazu hatte er einen mächtigen, mit einer breiten Hornfassung versehenen Klemmer auf der Nase und an den Lackstiefeln Sporen, deren Räder so groß waren, daß man sie als Deckel eines Kaffeetopfes hätte benützen können. Dieser Mann war mit seiner Dame aus einem Coupé erster Klasse gestiegen. Er blickte sich auf dem Perron um und winkte dann mit der Pfeife einen Kofferträger herbei.
„Heda, Mann, sind Sie ein Sachse?“ fragte er ihn.
„Ja, mein Herr“, antwortete der Gefragte, indem er seine Mütze höflich vom Kopf riß.
„Kennen Sie Pirna?“
„Ja, mein Herr.“
„Waren Sie schon dort?“
„O, sehr oft.“
„Das freut mich. Da sollen Sie uns bedienen dürfen. Wo ist das Wartezimmer erster Klasse?“
„Ich bitte, nur durch diese Tür zu treten.“
„Schön! Bringen Sie uns das Gepäck nach, welches sich noch im Coupé befindet, und dann besorgen Sie uns eine Droschke bester Klasse. Das Passagiergut lasse ich vom Hausknecht des Hotels holen.“
Er hatte diese Worte mit der Miene und dem Ton eines Oberfeldherrn gesprochen, welcher seiner Generalität die Schlachtbefehle erteilt. Dann trat er in das Wartezimmer, wo er gravitätisch Platz nahm. Aller Augen ruhten mit halb erstauntem und halb lustigen Blicken auf ihn.
Als der Kofferträger eintrat, brachte er zwei Gewehre in Mahagonifutteralen, ein Gebauer mit drei Papageien, einen mexikanischen Reitsattel, den er sich der Schwere wegen mit dem Bügelriemen auf den Rücken gehängt hatte, einen Säbel, ein riesiges Fernrohr und ein Dutzend Bauernhasen.
Letzteres ist ein der Stadt Freiburg eigentümliches Gebäck, welches Reisende oft auf dem dortigen Bahnhof einkaufen, um es als Kuriosität mit in die Heimat zu nehmen.
Nachdem der Kofferträger diese Sachen abgelegt hatte, ging er, um nach einer Droschke zu sehen. Ein Kellner eilte herbei und fragte unter einer tiefen Verneigung, ob die Herrschaften etwas zu trinken wünschten. Der Fremde musterte ihn vornehm und antwortete dann:
„Ja! Natürlich trinken wir etwas. Aber, hm, kennen Sie Pirna?“
„Ja, mein Herr.“
„Waren Sie einmal dort?“
„Nein, mein Herr.“
„Nicht? Ah, dann packen Sie sich. Wir trinken nichts!“
Man sah, daß die Dame ihm eine leise bedenkliche Bemerkung zuflüsterte, er aber nahm keine Notiz davon.
Jetzt kehrte der Dienstmann mit dem Lenker der Droschke zurück. Letzterer fragte:
„Wohin wünschen Sie, mein Herr?“
„Ins feinste Hotel, ins allerfeinste.“
„Wünschen Sie Hotel de Saxe, de Rome, Bellevue oder Union?“
„Bellevue, Bellevue! Aber gleich.“
Die beiden dienstbaren Geister nahmen die Effekten auf, um sie nach der Droschke zu tragen, und er folgte ihnen mit der Dame.
„Donnerwetter!“ flüsterte er ihr in spanischer Sprache zu. „Siehst du, welches Aufsehen wir erregen, Resedilla?“
Sie antwortete nicht.
Draußen am Ausgang stand ein Stadtgendarm. Als er den Fremden kommen sah, machte er ein höchst erstauntes Gesicht, fixierte ihn einige Augenblicke lang, trat dann schnell zu ihm heran und fragte in höflichem Ton:
„Entschuldigung, mein Herr! Sie befinden sich wohl jedenfalls im Besitz eines Waffenpasses?“
Der Fremde nahm den Klemmer ab, blies eine Rauchwolke von sich, maß den Polizisten vom Kopf bis zur Sohle herab und antwortete dann:
„Waffenpaß? Warum denn?“
„Weil Sie Waffen tragen.“
„Darf ich das nicht?“
„Nein.“
„Sie sind ja mein Eigentum!“
„Das ist noch kein Grund, eine solche Menge von Waffen in einem Land zu tragen, dessen Zustände sehr gesicherte sind. Sind diese Pistolen und Büchsen geladen?“
„Nein.“
„Sie sind jedenfalls fremd. Darf ich um ihre Legitimation bitten?“
„Legitimation? Donnerwetter! Halten Sie mich etwa für Schinderhannes und Konsorten!“
„Das nicht“, antwortete lächelnd der Polizist. „Aber wir verursachen hier eine große Aufmerksamkeit des Publikums. Bitte, folgen Sie mir hier herein.“
Er öffnete eine Tür, an welcher das ominöse Wort ‚Polizei‘ zu lesen war, und die beiden sahen sich gezwungen, einzutreten. Als sie nach einer Weile wieder erschienen, trug der Fremde seinen Schal so breit, daß man die darin steckenden Waffen nicht sehen konnte. Sein Gesicht zeigte eine ärgerliche Miene, und im grimmigen Ton sagte er zu seiner Begleiterin:
„Das will Dresden sein? Donnerwetter, man arretiert mich hier. Hätten sie nur ein einziges Pulverkörnchen in den Läufen gefunden, so wäre ich gar noch eingesperrt worden, ich, du und die Papageien. Kein Mensch sieht mich auf diesem Bahnhof wieder.“
Er stieg mit Resedilla, welche sich unter ihrem Schleier ganz und gar schweigsam verhielt, in die Droschke, welche ihn in kurzer Zeit vor das erwähnte Hotel brachte. Ein an der Tür stehender Kellner sprang herbei und öffnete unter einer höchst devoten Verbeugung den Schlag des Wagens. Er mochte den Insassen für einen ägyptischen General oder so etwas ähnliches halten.
„Kennen Sie Pirna?“ fragte ihn Pirnero.
„Jawohl, mein Herr“, antwortete der Gefragte mit einem ausdrucksvollen, vielsagenden Lächeln.
„Was lachen Sie denn? Ist denn mit Pirna etwas los?“
„O nein, ganz und gar nicht! Pirna ist ja das sächsische Buxtehude oder Schöppenstädt!“
Da wurde das Gesicht des Mexikaners um das Doppelte grimmiger.
„Was? Wie?“ rief er aus. „Schöppenstädt? Buxtehude? Und dieses Nest hier soll das Hotel Bellevue, ersten Ranges, sein? Kutscher, gibt es an der Elbe Dampfschiffe?“
„Natürlich, mein Herr!“
„Die nach Pirna fahren?“
„Ja. Ich glaube, in fünf Minuten geht eins ab.“
„Rasch hin. Dieses Dresden ist mir ein schönes Dorf. Arretur und Buxtehude. Ich fahre nach Pirna. Dort wird es wohl noch Menschen geben, mit denen sich noch reden läßt.“
Die Droschke setzte sich abermals in Bewegung, um ihre Insassen nebst deren Inventar nach dem Schiff zu bringen. Es war gerade die höchste Zeit. Auch hier erregte Pirnero bei den Fahrgästen ein solches Aufsehen, daß er es vorzog, in der Kajüte zu verschwinden. Er kam nicht eher wieder zum Vorschein, als bis das Schiff in Pirna anlegte, wo er sein Gepäck nach dem Ratskeller tragen ließ, der ihm von früher her bekannt war. Er folgte mit Resedilla dorthin.
Sein Gesicht war wieder hell geworden. Er blickte sich nach allen Seiten um und sagte zu Resedilla:
„Fürchterlich verändert, das gute Nestchen. Ich kenne es gar nicht wieder. Jetzt nun wirst du sehen, daß es hier ein ganz anderes Ding ist als mit diesem Loch, dem Dresden. Dort wohnt jetzt nur Plebs, das haben wir ja gesehen. Aber hier in Pirna ist der eigentliche Sammelpunkt der sächsischen Aristokratie. Du wirst das sofort merken.“
In der Restauration des Ratskellers war kein Gast vorhanden. Der Wirt und seine Bedienung waren nicht wenig erstaunt über die fremdartige Erscheinung der Eingetretenen. Doch war leicht einzusehen, daß dieselben nichts Gewöhnliches seien, und so wurden sie in feinster Manier empfangen.
Um zu imponieren, sprach Pirnero nur das Allernötigste und bestellte sich ein Mittagsmahl, welches er bereits nach kurzer Zeit erhielt. Während er mit seiner Tochter speiste, trat ein Mann ein, welcher sich an einen nahestehenden Tisch setzte und ein Glas Bier verlangte. Pirnero beobachtete ihn von der Seite. Er sah, wie er angestaunt wurde, und glaubte nun den richtigen Augenblick gekommen, dem lauschenden Wirt wissen zu lassen, was für einen außerordentlichen Gast zu bedienen er die Ehre habe.
„Schönes Wetter!“ meinte er, eine Viertelwendung nach dem Neuangekommenen machend.
Dieser wußte nicht, ob er gemeint sei oder nicht und schwieg.
„Nun?“
Dabei drehte er sich vollständig um, sodaß der Mann nun nicht mehr im Zweifel sein konnte, daß der Herr mit ihm rede.
„Ja, sehr schön“, antwortete er darum.
„Der reine Sonnenschein!“
„Können ihn auch gebrauchen.“
„Wieso?“
„Weil Sonnenschein gutes Obst gibt. Ich handle nämlich mit Obst.“
„Ah!“ fuhr Pirnero auf. „Vielleicht auch mit Meerrettich?“
„Auch.“
„Geht das Geschäft gut?“
„Riesig gerade nicht.“
„Hat es hier in Pirna nicht schon früher Meerrettichhändler gegeben?“
„Jawohl.“
„Wie hießen sie denn?“
„Hm! Es waren ihrer viele.“
„Ich meine einen, der sehr berühmt war. Er starb in der Ausübung seines Amtes und Berufes.“
„Wieso denn?“
„Er ertrank im Garten. Hieß er nicht Matzke?“
„Ah, Sie meinen den alten Matzke, den Trunkenbold, den Schnapsbruder? Der ist auch nur ersoffen, weil er besoffen war.“
„Donnerwetter! Da irren Sie sich wohl! Ich meine den Matzke, dessen Sohn Essenkehrer war!“
„Jawohl, der ist's!“
„Der Sohn starb auch in der Ausübung seines Berufes?“
„Freilich. Er erstickte in der Feueresse, aber auch nur in der Trunkenheit. Die ganze Familie hat es von jeher mit dem Spiritus und Kornschnaps gehalten.“
Pirnero machte ein ganz eigentümliches Gesicht. Er schielte bedenklich zu Resedilla hinüber und antwortete dann:
„Sie sind wirklich im Irrtum! Ich meine den Essenkehrer, dessen Sohn nachher in die Fremde ging.“
„Ganz recht, ganz recht“, nickte der Mann eifrig. „Und das war erst der richtige Urian. Ich weiß ein Wort davon zu erzählen.“
„Wieso?“
„Nun, der Kerl hat mich um vier Taler angepumpt und ist nachher fortgelaufen. Er ist mir das Geld heute noch schuldig. Der sollte mir wiederkommen!“
„Sapperment! Wie heißen Sie denn?“
„Ebersbach. Wir waren Schulkameraden und liefen immer miteinander. Aber an diesem Menschen war eben nichts Gutes. Vogel hat er gestellt, daß ihm die Polizei aufpaßte. Dann hatte er eine Liebste, die er nicht kriegen sollte. Zu der ist er auf der Leiter zum Hausbodenfenster hineingeklettert, und als ihr Vater dazugekommen ist, sind sie einander in die Haare gefahren im Stockfinstern. Der Alte ist dabei zur Treppe hinuntergestürzt und hat das Bein gebrochen, der Schlingel aber ist zum Fenster hinaus und auf der Leiter hinunter entkommen, und am anderen Morgen ist er über alle Berge gewesen. Seitdem hat man nichts wieder von ihm gehört. Er sollte nur wiederkommen. Der Beinbruch kann ihn noch heute ins Gefängnis bringen. Haben Sie ihn etwa irgendwo gesehen?“
Pirnero würgte ein Stück Schweinskarbonade hinunter, schluckte und druckte und antwortete erst nach einer ganzen Weile:
„Fällt mir ganz und gar nicht ein!“
„Aber wie kommen Sie als Fremder denn auf diese Familie Matzke zu sprechen?“
„Es wurde auf dem Schiff von ihr geredet.“
„Hm! Woher sind Sie denn eigentlich?“
„Aus – aus – aus Rheinswalden!“ platzte es ihm heraus.
„Wo liegt denn das?“
„Bei Mainz.“
„Und was sind Sie denn?“
„Großherzoglich hessischer Hauptmann und Oberförster.“
„Ach so. Tragen die Hessen denn solche Uniform?“
„Ja, seit drei Wochen. Wirt, was habe ich zu bezahlen?“
Der Wirt machte ihm die Rechnung. Pirnero bezahlte und fragte dann seine Tochter leise:
„Gefällt es dir hier in Pirna, Resedilla?“
„Bei deiner sächsischen Aristokratie?“ lachte sie. „Ganz und gar nicht. Aber, Vater, was höre ich da für Sachen!“
„Pst! Pst! Sprich leise!“ sprach er ängstlich. „Wenn die hier hören, daß ich früher Matzke geheißen habe, so geht es mir traurig. Ich mache mich zum zweitenmal aus dem Staub und komme niemals wieder. Der Teufel hole Pirna. Ich habe nicht gedacht, daß so ein blutdürstiges Volk hier wohnt. Wir fahren nach Dresden zurück, lassen uns das Passagiergut holen und fahren von einem anderen Bahnhof wieder ab nach Leipzig. Auf dem böhmischen Bahnhof soll mich kein Mensch wieder erblicken. In Leipzig kaufe ich mir andere Kleider, und dann können wir es einrichten, daß wir zur verabredeten Zeit in Mainz und Rheinswalden eintreffen. Die anderen werden dann aus Spanien angekommen sein, Gerard mit ihnen.“
„Und was tun wir dann?“
„Erst sehen wir uns das Wiedersehn an, und dann geht es nach Mexiko zurück.“
„Wirklich?“ fragte sie, sichtlich erfreut, „du wolltest doch in Pirna wohnen bleiben!“
„Sei still! Dieses Pirna kann mir gestohlen werden. Drüben in Mexiko ist Gerards Schwester und Schwager, André geht auch wieder hinüber zu seiner Emilia. Warum denn wir nicht auch? Von unserem Geld können wir dort ebenso gut und noch besser leben als hier. Ich habe verteufelt wenig Lust, mich hier als ehemaligen Hausbodeneinsteiger und Beinbrecher arretieren zu lassen, sondern werde schleunigst verschwinden.“
Mit dem nächsten Schiff dampften sie wieder stromabwärts. Die Stadt Pirna ahnte nicht, welchen Besuch sie heute bei sich gesehen hatte. –
Auf dem alten Polsterstuhl seines Arbeitszimmers saß der alte Hauptmann von Rodenstein und starrte verdrießlich vor sich nieder. Seine Beine steckten bis zu den Knien herauf in dicken, unförmlichen Filzstiefeln, über welche noch eine wollene Pferdedecke doppelt gebreitet war. Vor ihm stand sein treuer Ludewig, ebenso finster und ratlos auf den Boden niederblickend.
„Ja“, sagte dieser letztere, „ich weiß auch kein Mittel, Herr Hauptmann.“
„Da bist du gerade ebenso gescheit wie die Ärzte, oder ebenso dumm. Die Allopathen haben mich hingerichtet; die Hydropathen haben gar den Zapfen hinausgestoßen, und die Homöopathie bringt mich nun ganz um den Verstand. Da soll ich gegen den akuten Rheumatismus nehmen Akonit, Arnika, Belladonna, Loryonia, Chinin, Chamomilla, Merkur, Nux Vomica, Pulsatilla, gegen den chronischen Arsenik Sulfur, Rhododendron, Phytolaca und Stillingia, gegen den herumziehenden Arnika Pulsatilla, Belladonna, Moschus, Sabina, Sulfur, Kalmia und Kapsica. Nun sage mir ein Mensch, was für ein Kräuter-, Pulver- und Pillensack aus mir würde, wenn ich das Zeug alles verschlingen soll. Hol's der Teufel. Wenn nur wieder einmal eine so famos gute Nachricht käme wie damals von unserem Sternau. Ich bin vor Freude aufgesprungen und war plötzlich so gesund wie ein Fisch im Wasser. Aber jetzt, da – ah, hatte es nicht geklopft, Ludewig?“
„Ja, Herr Hauptmann!“
„Sieh nach!“
Ludewig öffnete die Tür. Draußen stand ein gespornter, uniformierter, junger Mensch.
„Wer sind Sie?“ fragte Ludewig.
„Kurier seiner Durchlaucht, des Herrn Großherzogs, an den Herrn Hauptmann von Rodenstein.“
„An mich?“ rief der Alte. „Vom Großherzog? Herein!“
Der Kurier trat ein und überreichte ein wappengesiegeltes Schreiben.
„Soll Antwort erfolgen?“ fragte der Oberförster.
„Nein.“
„Gut. Lassen Sie Ihr Pferd ausruhen und sich Essen geben. Sie wissen ja schon.“
Als der Mann abgetreten war, öffnete der Alte das Kuvert und las das Schreiben. Er war aber noch nicht zur Hälfte fertig, so warf er wie ein Knabe beide Arme empor.
„Juck! Juchei! Juchheirassassa! Ludewig! Esel! Dummkopf! Alter Knabe! Herunter mit den Stiefeln!“
Er war aufgesprungen und bemühte sich, die Stiefel von den Füßen zu schlenkern, was ihm bei der großen Weite der ersteren auch gelang. Ludewig war perplex.
„Aber, Herr Hauptmann! Die Stiefel – die Schmerzen!“
„Schmerzen? Unsinn! Ich habe keine Schmerzen. Ich bin geheilt; ich bin kuriert; der Rheumatismus ist zum Teufel. Der Großherzog hat mich geheilt. Weißt du, was in dem Brief steht?“
„Nein.“
„Nun, auch von dir steht etwas darin. Darum werde ich dir den Prachtwisch vorlesen. Du hast während der Schmerzen bei mir ausgehalten und nicht gemurrt, nun sollst du die Freudenbotschaft hören und dann muxen.“
„Zu Befehl, Herr Hauptmann. Ich werde muxen, wenn es verlangt wird dahier!“
„Gut. So höre!“
Er stand aufrecht, ohne das mindeste Gefühl von Schmerzen da, und las:
„Unserem lieben Hauptmann von Rodenstein.
Es naht der Jahrestag des Festes, an welchem wir die Freude hatten, in der Verbindung der Gräfin Rosa de Rodriganda mit dem Herrn Doktor Sternau der Vereinigung zweier Herzen mit beizuwohnen, welche Gottes Liebe und Güte füreinander bestimmt hatte. Da wir anzunehmen geneigt sind, daß dieser Tag auf Rheinswalden und Rodriganda ein festlicher sein wird, so laden wir uns für den Abend desselben zu Gaste und werden eine Anzahl unserer Herren und Damen des Hofes mitbringen, um zu beweisen, daß die Teilnahme der Genannten eine allgemeine sei.
Nachdenkend über die Art und Weise, wie dieser Feier am besten eine äußere Gestaltung zu geben sei, ist uns der Gedanke gekommen, eine kleine Maskerade zu veranstalten. Die Damen und Herren, welche sich in unserer Begleitung befinden, werden vollständig maskiert abends präzis acht Uhr ankommen. Was nun die Maskierung der Bewohner Rheinswaldens betrifft, so haben wir unserem Zeremonienmeister das Arrangement überlassen. Es ist dasselbe auf dem beiliegenden Zeugnis enthalten und übersenden wir dieses in der Überzeugung, daß wir bei unserer Ankunft alle genannten Personen bereits maskiert finden.
Wir tun Ihnen dieses mit dem Befehl kund, es allen Bewohnern der beiden Besitzungen schleunigst wissen zu lassen und verbleiben bis zum Wiedersehen Ihr wohlgewogener
Ludwig.“
Ludewig Straubenberger sperrte den Mund auf, so weit er konnte.
„Donnerwetter!“ rief er, „ein Maskenball!“
„Ja, ein Maskenball mit dem Großherzog und der Großherzogin, mit dem ganzen anderen großherzoglichen Menageriegerümpel! Juchheirassassa! Heididelhumdeirassa! Vivat, mein Podagra, meine Gicht, meinen Rheumatismus habe ich in den Filzstiefeln stecken gelassen! Schau, wie ich springen kann!“
Wahrhaftig, er stieg mit großen Schritten in der Stube umher und rief dabei:
„Und hier ist der Zettel, wie wir uns maskieren sollen. Horch: Frau Rosa Sternau und Frau Flora von Rodenstein (das ist meine Schwiegertochter) nebst Frau Herzogin von Olsunna und Fräulein Waldröschen als Mexikanerinnen. Herr Herzog von Olsunna, Herr Otto von Rodenstein als Mexikaner. Frau Helmers als Schifferin, Ludewig Straubenberger als Präriejäger und Herr Hauptmann von Rodenstein als –“
Er hielt im Lesen inne und starrte auf das Papier.
„Alle Graupelwetter! Was steht denn da?“ rief er.
„Also ich als Präriejäger?“ fragte Ludewig.
„Ja.“
„Das gefällt mir! Das ist allerliebst!“
„Ja, ja. Aber meins ist nicht allerliebst. Da steht – Donner und Doria! Da steht mit wirklichen Buchstaben geschrieben: ‚Herr Hauptmann von Rodenstein als Wilddieb, hat eine Larve mit möglichst langer Nase vorzustecken.‘ Ist das nicht impertinent?“
„Sehr. Aber man hat zu gehorchen.“
„Werde sehen. Ich, der Hauptmann und Oberförster von Rodenstein als langnasiger Wilddieb! So eine Malitiosität ist mir all mein Lebtag noch nicht vorgekommen! Die lange Nase ginge noch, aber der Wilddieb wurmt mich. Was nur dem Herzog eingefallen ist! Na, ich werde mir das Ding doch erst einmal überlegen. Jetzt aber muß ich hinüber nach Rodriganda, um denen da drüben den Brief und das Verzeichnis zu übergeben. Es stehen noch mehr Personen drauf, ich habe aber keine Zeit, es zu lesen.“
„Werden der Herr Hauptmann denn auch hinüberlaufen können?“ fragte Ludewig besorgt.
„Warum denn nicht? Ich möchte den Rheumatismus sehen, der mich verhindern könnte, einen großherzoglichen Maskenball mitzumachen! Ein Wildspitzbube muß laufen können. Sieh dich nach dem Kurier um, daß er gehörig zu essen und zu trinken bekommt. Der Kerl hat es verdient.“
Er humpelte wirklich die Treppe hinab und durch den Wald nach Rodriganda, wo seine Botschaft großes Aufsehen hervorbrachte. Die Bewohner dieses schönen Landsitzes waren bereits von allem unterrichtet, was in Mexiko geschehen sei, und vor einigen Tagen war aus Spanien durch Sternaus Hand die Nachricht gekommen, daß alles gut gehe und der falsche Alfonzo nebst der Schwester Clarissa sich bereits in Haft befinde. Zarba, die Zigeunerin, hatte man nebst ihrer Bande nicht aufzufinden vermocht, was umso auffälliger war, da auch Tombi, der Waldhüter, aus Rheinswalden verschwunden war. Dafür aber hatte man den alten Pater Dominikaner aufgefunden, welcher Marianos Jugendlehrer gewesen war, seine Abstammung aus der Beichte des Bettlers Petro kannte und Sternau aus dem Gefängnis zu Barcelona befreit hatte. Daran hatte Sternau die Bemerkung geschlossen, daß es ihm und seinen Gefährten vielleicht möglich sei, nach Verlauf von vierzehn Tagen nach Rheinswalden aufzubrechen. Diese Nachricht hatte alle mit großer Freude und Wonne erfüllt. Endlich, endlich stand das so heiß ersehnte Wiedersehen bevor. Der Seelenzustand der Bewohner von Rheinswalden und Rodriganda läßt sich gar nicht beschreiben, er war ein fast fieberhafter zu nennen.
Zu dieser gehobenen, freudigen Stimmung paßte ganz der Vorschlag, welchen der Großherzog in seinem Schreiben machte. Er war von dem Herzog von Olsunna in einer Audienz von dem Stand der Dinge unterrichtet worden, und es lag klar, daß er mit der Maskerade bezweckte, ein Bild des Volkes zu geben, in dessen Mitte die Zurückerwarteten so viele Freunde, aber auch ebensoviele Feinde gefunden hatten.
Die Anweisung des Zeremonienmeisters war eine sehr ausführliche. Der Hauptmann hatte sie seinem Ludewig nicht vollständig vorgelesen. Sie enthielt genaue Angaben über die Kleidung der einzelnen Personen. Daß jeder das Gesicht mit einer Larve zu verhüllen hatte, konnte nicht auffallen. Die Vorbereitungen zu dem Fest begannen auf der Stelle und am Tag vor dem Fest waren alle Garderobestücke fertiggestellt.
Waldröschen befand sich wie in einem glücklichen, wonnigen Traum. Sie sollte den Vater sehen, den ihre Augen noch nie erblickt hatten, und den – Geliebten. Die Erwartung trieb sie hin und her und auf und ab. Gegen Abend des erwähnten Tages konnte sie es im Schloß nicht aushalten, sie mußte hinaus in ihren lieben Wald, um sich die Szene des frohen Wiedersehens zum tausendstenmal in einsamer Stille auszumalen. –
Zu derselben Stunde saßen in einem Dickicht zwei Männer beisammen, welche leise miteinander sprachen.
„Ob Sie sich nicht irren werden, lieber Geierschnabel“, flüsterte der eine.
„Sicher nicht, Master Sternau“, antwortete der andere. „An jedem der vier Tage, welche ich hier auf der Lauer lag, ist der alte Graf im Wald herumspaziert. Er spricht leise vor sich hin und findet sich vor der Dämmerung nach dem Schloß zurück. Er scheint die Wege zu kennen.“
„Gott gebe, daß es mir gelingt. Wie gern hätte ich meinem Herzen gefolgt, aber es galt, den Willen des Großherzogs zu berücksichtigen. Ah, da höre ich Schritte!“
Sie lauschten. Es nahte jemand leise, langsam, fast schleichend. Graf Emanuel war es, welcher wie ein Nachtwandler geistesabwesend vorüberging. Sternau huschte hervor, ging ihm nach und holte ihn ein.
Der Graf erschrak nicht, als er ihn bemerkte, sondern setzte teilnahmslos seinen Weg fort, als ob niemand vorhanden sei. Sternau grüßte ihn und versuchte, mit ihm zu sprechen, erhielt aber keine Antwort als ein monotones: „Ich bin der gute, treue Alimpo.“ Er ergriff die Hand, des Grafen, sie wurde ihm ohne Widerstand gelassen. Er blieb stehen, um die halb verschlossenen Lider des Geisteskranken emporzuziehen. Dieser ließ es ruhig geschehen und machte auch nicht den leisesten Widerstand, als Sternau eine eingehende Untersuchung seines Körpers vornahm.
Schließlich zog der letztere ein Fläschchen und ein Löffelchen aus der Tasche, ließ aus dem ersteren in das zweite einige Tropfen fließen und reichte sie dem Grafen, welcher sie wie ein Kind nahm und hinunterschluckte.
„Pst! Man kommt!“ warnte Geierschnabel, welcher den Wächter machte und nach dieser Mahnung sofort verschwand. Auch Sternau wollte sich zurückziehen, doch zu spät. Er konnte nur noch Flasche und Löffel verbergen, dann stand – Waldröschen vor ihm.
Sie blickte den großen Mann mit dem langen, prachtvollen Bart ein wenig befremdet an, aber nach diesem ersten Blick wurde ihr Auge mild und freundlich. Es war ihr, als ob sie diese Gestalt und dieses ernste, bedeutende Gesicht bereits schon längst gekannt habe, eine Regung, die sie an sich noch niemals beobachtet hatte.
„Wer sind Sie, mein Herr?“ fragte sie in freundlichem Ton, welcher keine Spur von Zudringlichkeit hatte.
Er hatte sie sofort erkannt. Das war nicht nur das Original jener Fotografie, welche er in der Kajüte von Lindsays Dampfer gesehen hatte, sondern das war das Ebenbild seiner Rosa, aber verjüngt und verschönt durch ein seelisches Etwas, welches sich nicht in Worten beschreiben läßt. Er hätte die Arme fest um sein Kind schlingen mögen, aber er beherrschte sich und antwortete im Ton eines höflichen Unbekannten:
„Ich bin Landschaftsmaler, mein Fräulein, und durchstrich den Wald in der Hoffnung, ein Sujet zu einer kleinen Skizze zu finden. Dabei traf ich diesen Herrn, welcher mir des Schutzes bedürftig zu sein schien; daher begleitete ich ihn.“
„Ich danke Ihnen. Er ist mein Großpapa. Er ist sehr krank, doch kennt er den Weg so genau, daß er sich nie verirrt. Wollen Sie nicht weiter mitkommen? Vielleicht finden sich in der Nähe des Schlosses Punkte, welche Ihrem Künstlerauge genügen.“
„Sie sind gütig, mein Fräulein, aber leider ist meine Zeit so kurz bemessen, daß ich heimkehren muß.“
„Wo wohnen Sie?“
„In Mainz. Darf ich fragen, wem dieses Schloß gehört?“
„Meinem Großpapa, dem Herzog von Olsunna.“
„Ah, Verzeihung, gnädiges Fräulein, daß ich das nicht ahnte!“
Er zog den Hut abermals, aber viel tiefer als vorher und machte dazu eine höchst respektvolle Verbeugung.
„O bitte“, meinte sie, indem sie ein reizendes, goldenes Lachen hören ließ. „Man beansprucht hier auf dem Land keine solche Anbetung. Ich habe Sie noch nie gesehen. Durchstreifen Sie öfters unseren Wald?“
„Ich war noch niemals hier, fürchte auch, Ihr Mißfallen –“
„O nein“, unterbrach sie ihn schnell. „Die Natur ist ja jedem sein Eigentum und jeder hat das Recht, ihre Schönheit zu bewundern. Vielleicht treffen wir uns noch einmal hier.“
„Ich würde glücklich darüber sein.“
„O, ich liebe die Kunst, welche es sich zur Aufgabe stellt, uns Gott in seinen Werken erkennen zu lassen. Sehen wir uns wieder, so können wir dieses Thema festhalten. Heute aber sagen Sie, daß Ihre Muse zu Ende sei. Adieu, mein Herr. Komm, lieber Großpapa.“
Sie verbeugte sich in entzückender Anmut, ergriff die Hand des Grafen und schritt mit diesem davon. Sternau blickte ihr nach, solange er konnte, dann lehnte er sich an den Stamm des nächsten Baumes, faltete die Hände, hob die Augen zum Himmel empor und betete halblaut:
„Mein Gott, wie reich hast du mich mit deiner Güte begnadigt! Jeder Augenblick meines Lebens soll ein Dankgebet für dich sein!“ –
Der nächste Tag brach hell und goldig an und reges, frohes Leben herrschte im Schloß. In Küche und Keller legte man die letzte Hand an. Alles sah dem Abend mit Spannung entgegen. Niemand ahnte, was er in Wirklichkeit bringen werde. Aller Stirnen zeigten Heiterkeit, doch wurde diese gestört, als man gegen Mittag die Entdeckung machte, daß Graf Emanuel noch nicht von seinem Schlaf erwacht sei. Man versuchte, ihn zu wecken, doch vergebens. Nun wurde ein Bote nach dem Arzt geschickt. Dieser kam, untersuchte den Kranken und beruhigte dessen Verwandte durch die Versicherung, daß es sich hier nicht um einen besorgniserregenden Zustand, sondern um einen ungewöhnlich festen Schlaf handle, wie er bei solchen Patienten nicht sehr selten zu beobachten sei. Da er sich bereit erklärte, bei dem Schläfer bis zu dessen Erwachen zu bleiben, so kehrte nach dieser Unterbrechung die gute Stimmung bald zurück.
Um die vom Herzog angegebene Zeit erstrahlten alle Gesellschaftsräume im Lichterglanz. Alle fanden sich ein, alle trugen Masken, nur die Herzogin, Sternaus Mutter, nicht, da sie die Gäste empfangen wollte.
Die mexikanische Nationaltracht kleidete die Herren und besonders die Damen außerordentlich gut. Gräfin Rosa glich einer Königin des Sonnenreiches von Anáhuac, wurde aber doch noch überstrahlt von dem Liebreiz Röschens, die in dieser Verkleidung sich zum Bezaubern geltend machte.
Der kleine Alimpo stolzierte an der Seite seiner Elvira einher. Er als Indianerhäuptling und sie als Indianerin waren trotz dieser Umwandlung zu erkennen. Auch der alte Hauptmann war eingetroffen mit seiner riesigen Nase, in deren Schatten Ludewig als Präriejäger sich bewegte.
Da hörte man Karossen rollen, und einige Augenblicke später drangen zahlreiche Gestalten in den Saal, männliche und weibliche, große und kleine, glänzende und bescheidene. Es erfolgte zunächst ein wirres Durcheinander, ein Suchen, Prüfen, Finden, Zweifeln und wieder Verlieren, bis endlich einige Ordnung in die Bewegung zu kommen schien.
Kein einziges Gesicht war zu erkennen, alle waren durch Larven unkenntlich gemacht. Sogar Sternaus Mutter hatte die ihrige wieder vorgenommen, als sie erkannt hatte, daß es bei dem schnellen Eintritt der Gäste unmöglich sei, dieselben nach den gegebenen Regeln zu empfangen.
Von den Masken, welche Paare bildeten, hatten zwei sich sofort und zu allererst zusammengefunden; der Oberförster hatte unweit des Einganges gestanden, als die Gäste kamen; da war einer derselben auf ihn zugesprungen und hatte ihm unter einem Schlag auf die Achsel zugerufen:
„Spitzbub! Wilddieb! Wollen wir Kompanie machen?“
Der Sprecher trug genau dieselbe Kleidung wie der Alte und hatte eine ebenso lange Nase.
„Halte den Mund, Kerl!“ schimpfte der Hauptmann. „Es ist ja nur Verkleidung!“
„Das wollen wir untersuchen. Komm, Bursche!“
Er faßte den Alten an und riß ihn mit sich fort. Als dieses Paar ein entferntes Zimmer erreicht hatte, wo sie unbelauscht waren, meinte die andere Maske: „Sie sind der Hauptmann von Rodenstein?“
„Ja, aber ich darf es nicht verraten, solange ich diese verteufelte Maske trage. Wer sind Sie denn?“
„Raten Sie!“
„Unsinn, raten! Nehmen Sie diese Nase herunter, damit ich mir Ihre Visage betrachten kann.“
„Das geht nicht, mein Lieber. Diese Nase ist leider angewachsen.“
„Donnerwetter! Das macht mir niemand weis. Eine solche Gesichtsturbine kann es in Wirklichkeit gar nicht geben.“
„Überzeugen Sie sich.“
Der Sprecher zog ein Tuch aus der Tasche und wischte sich mit demselben die roten und schwarzen Farben aus dem Gesicht. Der Alte starrte ihn wie abwesend an und rief dann:
„Alle guten Geister loben – Das ist ja –“
„Nun, wer denn?“
„Storch – ja, Storchschnabel!“
„Falsch.“
„Kreuzschnabel.“
„Falsch.“
„Grünschnabel.“
„Noch falscher.“
„Löffelgans.“
„Herrjeh, sind Sie denn verrückt? Ist das Wort Geierschnabel denn so schwer zu merken?“
„Geierschnabel! Ah, ja, Geierschnabel! Aber, Kerl, auf welche Weise bringt denn der Geier seinen Schnabel wieder hierher?“
„Das werden Sie sehr bald erfahren. Aber, sagen Sie einmal, ob Sie wissen, in welchem Zimmer sich Graf Emanuel befindet.“
„Natürlich weiß ich es.“
„Zeigen Sie mir die Tür.“
„Warum, Sie Teufelsschnabel?“
„Fragen Sie nicht, sondern halten Sie den Hauptmannsschnabel!“
Dabei faßte er ihn an und zog ihn aus dem Zimmer.
Alimpo und Elvira waren zwei Indianern nebst einer Indianerin in die Hände geraten, die dem Ehepaar nicht wenig zu schaffen machten. Auf Frau Helmers war ein Schiffer zugeeilt, hatte ihren Arm in seinen genommen und sie mit sich fortgeführt. Sie traten in ein kleines Zimmer, der Riegel desselben wurde verschlossen und dann ließ sich ein Jubelschrei im Innern vernehmen. Kurts Vater hatte sich seiner Frau zu erkennen gegeben.
Ein kleiner Kerl, als Präriejäger gekleidet, trat auf Ludewig zu und faßte diesen beim Arm.
„Glück gehabt auf der Jagd, Kamerad?“ fragte er.
„Das ist Neugier!“ meinte Ludewig. „Aber heute abend wird es gemütlich. Wollen wir in Gemeinschaft einen Bock schießen dahier?“
„Meinetwegen. Komm, Kumpan! Ich kenne einen Wechsel, wo du ganz sicher zum Schuß kommst.“
Auch diese beiden verließen den Saal. Es gab im Schloß Zimmer genug zu allerlei Szenen unter vier Augen. Der brave Ludewig folgte dem Kameraden in eins derselben. Dort nahm der letztere seine Larve ab.
„Ludewig Straubenberger, kennst du mich?“ fragte er.
Der Gefragte starrte ihn an, schüttelte den Kopf und antwortete:
„Diese Gegend muß ich schon einmal gesehen haben. Aber wo denn? Ich kann mich nicht besinnen.“
„So will ich es kurz machen und es dir sagen. Ich bin der Brauer Andreas Straubenberger, dein ehemaliger Nebenbuhler und jetziger Bruder nebst glücklicher Bräutigam einer ganz famosen Heißgeliebten.“
Da erbleichte Ludewig. Er griff in die Luft, als ob er fallen wollte.
„Ist's wa – wahr?“ stotterte er.
„Natürlich, ja. Herunter mit deiner Larve, damit ich dein gutes, liebes Gesicht zu sehen kriege!“
Nun hätte ein Lauscher in diesem Zimmer ein zweistimmiges Schluchzen hören können, welches von Freudentränen unterbrochen wurde.
Waldröschen hatte an der Seite der Mutter gestanden. Da war ein geschmeidiger, reich gekleideter Mexikaner auf sie zugetreten hatte sich tief verneigt und dann ihren Arm in den seinigen genommen, um langsamen Schrittes mit ihr im Saal auf und ab zu spazieren.
„Darf ich um Ihren Namen bitten, Señorita?“ fragte er.
Die Larve war Schutz genug, die Stimme nicht erkennen zu lassen.
„Wozu? Sie würden meinen mexikanischen Namen doch nicht auszusprechen vermögen“, antwortete sie.
„Den Ihrigen jedenfalls. Im Fall der Not aber würde ich ihn deutsch aussprechen.“
„Da klingt er häßlich.“
„Wie? Ist Waldröschen ein so häßliches Wort?“
„Ah, Sie erkennen und verraten mich! Das ist nicht chevaleresk von Ihnen. Es muß bestraft werden.“
Sie entzog ihm rasch ihren Arm und entfloh. Sie wollte ihre Mutter aufsuchen, fand dieselbe aber auch bereits schon engagiert.
Ein hoch und breit gebauter Mexikaner, unter dessen Larve ein mächtiger Bart hervorwallte, hatte von Geierschnabel einen Wink erhalten und war ihm hinaus auf den Korridor gefolgt.
„Da hinten, die vorletzte Tür, Master Sternau.“
„Schön. Ich danke.“
Sternau schritt auf diese Tür zu, klopfte an und trat ein. Der Arzt saß am Bett des Schläfers. Sternau bog sich wortlos über den letzteren, schob seine Augenlider empor, prüfte die Pupille und beobachtete sodann den Schlag des Pulses.
„Ein krampfhafter Schlaf, nicht gefährlich“, erklärte der Arzt, welcher glaubte, einen Herrn des großherzoglichen Hofes vor sich zu haben.
Sternau zuckte wie mitleidig die Achsel und antwortete:
„Dieser Kranke wird in fünf Minuten erwachen und gesund sein.“
Nach diesen Worten verließ er das Zimmer und kehrte nach dem Saal zurück. Dort ging er auf Rosa zu und nahm ihre Hand auf seinen Arm. Es war ihr, als ob die Hand dieses kräftigen Mannes zittere. Sie mußte bei dem Anblick dieser Gestalt an ihren Gatten denken.
Er führte sie in eine Fensternische und sagte:
„Ich möchte Ihnen zu dem heutigen Tag gratulieren, gnädige Frau. Werden Sie mir das erlauben?“
Seine Stimme hatte einen vibrierenden, belegten Ton, dessen Ursache nicht allein die Maske sein konnte.
„Ich danke Ihnen, Señor“, antwortete sie. „Dieser Tag ist für mich leider mehr ein Tag der Trauer als der Freude.“
„Ich halte ihn aber dennoch nur für einen Tag der Freude.“
„So sind Ihnen die Verhältnisse meiner Familie unbekannt.“
„Nicht doch, ich kenne sie sehr genau und weiß, daß Ihrer eine große Freude wartet.“
„Wo?“
„Vertrauen Sie sich mir an, so werde ich es Ihnen zeigen.“
Er führte sie aus dem Saal hinaus und nach dem Krankenzimmer, wo er auf den ersten Blick bemerkte, daß sich die Wangen des Grafen zu röten begannen.
„Verlassen Sie uns!“ gebot er dem Arzt.
„Verzeihung. Mein Platz ist hier“, antwortete dieser.
Da nahm Sternau ohne Umstände Rosa die Maske ab.
„Sie erkennen die Tochter dieses Patienten“, sagte er. „Das wird genügen, uns allein zu lassen.“
Der Arzt zog sich zurück. Rosa blickte auf den Maskierten und fragte:
„Was bezwecken Sie, Señor?“
„Bitte, setzen Sie sich so zu Ihrem Papa, daß sein Blick sofort auf Sie fällt.“
„Wird er erwachen?“
„In einer halben Minute.“
„Wie gut. Ich glaubte ihn in Gefahr. Sind Sie Arzt?“
„Ein wenig. Bitte zu schweigen.“
Er ergriff die Hand des Patienten und behielt sie in der seinigen, bis er plötzlich sie losließ und hinter das Kopfende des Bettes trat. Der Graf regte sich, öffnete die Augen, ließ sie langsam durch das Zimmer gleiten, wie einer, der vom Schlaf erwacht, bis sie Rosa trafen. Er blickte sie lange und forschend an und sagte dann mit leiser Stimme:
„Mein Gott! Wo bin ich? Was habe ich geträumt? Das ist ihr Gesicht und doch auch nicht. Rosa, meine liebe Rosa, bist du es? Wo ist Señor Sternau, der mich gerettet hat?“
Rosa war totenbleich geworden. Sie saß starr, als hätte sie der Schlag getroffen. Dann aber fuhr sie mit einem Schrei empor und rief:
„Vater, mein Vater. Kennst du mich? Kennst du mich wirklich?“
Da zog ein wonniges Lächeln über sein Gesicht und er antwortete:
„Ja, ich kenne dich. Du bist meine Rosa, mein Kind. Du bist heute anders als sonst, aber du bist es doch. Laß Cortejo und Clarissa und Alfonzo nicht zu mir. Sternau mag wachen. Ich bin so müde, ich muß schlafen. Komm, gib mir den Abendkuß, mein Kind, und sei morgen recht bald bei mir.“
Da hob sich ihre Brust, als ob sie gesprengt werden solle, ihre Lippen und Zähne preßten sich zusammen; aber sie vermochte nicht, das, was sich in ihr aufbäumte, zurückzudrängen. Ein fast unmenschlicher Schrei aus ihrem Mund, eine ganze Flut von Tränen aus ihren Augen, und dann lagen ihre Lippen auf denen des Vaters. Sie drückte das teure Haupt an ihre Brust, sie küßte und küßte wieder und wieder, bis sie endlich merkte, daß der Vater entschlummert sei. Da erhob sie sich. Ihr Auge traf Sternau; es blieb forschend, flammend auf ihm haften. Ihr Busen wogte, ihr Puls glühte, und ihre Lippen, Arme und Beine zitterten.
„Señor“, stieß sie in fliegender Hast hervor, „ist mein Vater erwacht?“
„Ja, Señora“, antwortete er mühsam.
„Erwacht zu neuem, geistigen Leben?“
„Ja, Señora, der Wahnsinn ist – ist be – ist bes –“
‚Besiegt‘, wollte er sagen, aber der Sturm der Gefühle, die er nicht länger zu beherrschen vermochte, machte es ihm unmöglich, auszureden. Sie begann zu wanken, aber sie nahm alle Kraft zusammen.
„Das vermag nur einer“, rief sie, die Arme gegen ihn ausbreitend. „Sternau! Carlos! Karl, mein Karl!“
„Rosa, Gott, Gott, meine Rosa!“ antwortete er, die Maske vom Gesicht reißend.
Im nächsten Augenblick lag sie ohnmächtig an seinem Herzen. Die folgenden Minuten gehören hinter den Vorhang des Allerheiligsten. Kein profanes Auge darf bis zum Thron der göttlichen Liebe dringen, welche sich in der menschlichen offenbart. Nachdem über eine halbe Stunde vergangen war, verließen sie Arm in Arm und wieder maskiert das Gemach, in welchem der Graf in Frieden seinem völligen Erwachen entgegenschlief.
„Nun zu Rosita, meinem süßen Kind!“ sagte er.
Sie suchten im Saal nach ihr, ohne sie zu finden. Da trafen sie auf Geierschnabel, welcher die vorher fortgewischten Striche und Punkte in seinem Gesicht wieder erneuert hatte.
„Suchen Sie Waldröschen?“ fragte er, ihre Absicht erratend.
„Ja“, antwortete Sternau.
„Kommen Sie!“
Kurt war es doch geglückt, sich Röschens noch einmal zu bemächtigen. Ihre Flucht war nur ein Scherz gewesen, und nun lauschte sie ganz aufmerksam dem, was er sagte.
„Bitte, mir zu verraten, welcher von den Herren der Großherzog ist“, bat sie ihn.
„Muß ich aufrichtig sein?“
„Natürlich! Ich befehle es!“
„Nun, so muß ich gehorchen. Keiner ist es.“
„Wie? Er ist nicht hier?“ meinte sie erstaunt.
„Nein, aber er wird noch eintreffen.“
„Warum so spät?“
„Um nicht bei gewissen Überraschungen zugegen zu sein, wo er nur stören würde.“
„Welche Geheimnisse wären das?“
„Es sind verschiedene, von denen ich nur eines Ihnen enthüllen dürfte.“
„So sprechen Sie!“
„Hier nicht. Bitte, kommen Sie.“
Er zog sie mit sich fort, hinaus, den Korridor hinab, bis zu einer Tür, an deren Klinke er probierte.
„Was wollen Sie?“ fragte sie, ein wenig ängstlich. „Hier kann niemand herein. Das ist das Stübchen, welches Leutnant Kurt Helmers zu bewohnen pflegte. Er ist abwesend.“
„Hat er den Schlüssel mitgenommen?“
„Es scheint so. Alimpo hat einen zweiten.“
„Und ich einen dritten.“
Er brachte einen Schlüssel aus der Tasche hervor, öffnete die Tür und trat ein, ohne Röschen loszulassen.
„Mein Gott, ich verstehe Sie nicht“, wehrte sie.
Sein Blick durchflog das Zimmerchen, welches durch eine der Tür gegenüber hängende Lampe Licht erhielt.
„Sie verstehen mich nicht?“ rief er beinahe jubelnd aus. „O, ich will Ihnen sagen, daß während der Abwesenheit dieses garstigen Helmers ein allerliebstes Waldröschen, jedenfalls mit Hilfe von Alimpos Schlüssel, zuweilen hier geblüht und geduftet hat. Dieser Stickrahmen, diese Albums, diese Bouquets verraten es mir.“
In diesem Augenblick flammte ein Hölzchen in seiner Hand. Er zündete die auf dem Tisch stehende Kerze an und schloß dann die Tür. Sie war von diesem sicheren Gebahren so überrascht, daß sie vergaß, ihm hindernd entgegenzutreten.
„Ja“, fuhr er fort, „so ist es, wenn zu einem Zimmer drei Schlüssel vorhanden sind.“
Da gewann sie die Sprache wieder.
„Von wem haben Sie den Ihrigen, mein Herr?“ fragte sie.
„Von dem da!“
Bei diesen Worten nahm er die Maske ab. Sie fuhr einen Schritt zurück, dann aber warf sie sich ohne Rückhalt mit einem lauten Jubelruf in seine Arme.
„Kurt! Mein Kurt, mein lieber, lieber Kurt. Du bist es, du? O, du schlimmer, du gefährlicher, hinterlistiger Intrigant. Ich muß dich streng, sehr streng bestrafen.“
„Mit einem Kuß, meine Rosita, nicht wahr?“
„Nein, sondern mit dreien, oder gar noch mehr!“
„Auf diese Wachsmaske?“ fragte er, glücklich lächelnd.
„Ah, wahrhaftig, ich habe das häßliche Ding noch dran. Komm, du Retter meines Vaters, du darfst mich küssen ohne Maske.“
Sie riß die Maske vom Gesicht und warf sie zu Boden; dann lagen sie sich am Herzen und tauschten Kuß um Kuß in seliger Vergessenheit. Sie merkten nicht, daß draußen Schritte erklangen; sie bemerkten ebensowenig, daß die Tür geöffnet wurde und daß zwei Personen unter derselben erschienen und dort stehenblieben.
„O, wie un-, un-, unendlich glücklich bin ich, dein liebes, liebes Gesichtchen wiederzusehen!“ sagte Kurt.
„Ich bin nicht minder glücklich!“ gestand sie ihm. „Aber, nicht wahr, du bringst mir den Vater mit?“
„Jawohl, jawohl, du herziges Röschen. Ich bringe dir ihn mit und werde ihn bitten, dir all mein Geschmeide aus der Höhle des Königsschatzes schenken zu dürfen, obgleich der garstige Hauptmann einst sagte, daß ich mir keine so großen Rosinen in den Kopf setzen solle.“
„Ich nehme es an, ich nehme es an. Ich habe dir das ja versprochen unter der Bedingung, daß du meinen lieben, guten, armen Vater rettest. Aber, wo hast du ihn? Wo befindet er sich?“
„Hier!“
Dieses Wort ertönte von der Tür her. Rosa hatte es ausgesprochen. Die beiden fuhren auseinander.
„Mama!“ rief Röschen bestürzt.
„Gnädige Frau!“ sekundierte Kurt erschrocken.
Da nahmen die Eltern ihre Masken ab und traten näher.
„Fürchte dich nicht, mein lieber Kurt!“ sagte Sternau. „Glaubst du, ich könnte den Augenblick vergessen, in welchem du in unser Gefängnis tratest und den Kerkermeister niederwarfst, um uns zu retten? Wollte ich daran nicht denken, so würde Gott, der ein Vergelter aller Taten ist, meiner auch vergessen.“
Röschen erkannte den Mann, mit dem sie bereits gestern gesprochen hatte. Es wurde ihr hell und sonnenklar, im Köpfchen und im Herzen.
„Vater, mein Vater!“ rief sie aus, und im nächsten Augenblick hing sie an seinem Hals. „Vater, mein armer, mein schöner, mein stolzer Vater. Ich bin deine Rosita, dein Kind, deine Tochter, dein Röschen, welches gestorben wäre, wenn du noch länger gezögert hättest, zu kommen!“
Da legte er die starken Arme um sie, hob sie hoch empor und betrachtete sie unter Wonnetränen hervor, so, wie ein Kind die geliebte Puppe vor sich hält, um sie mit liebenden Blicken zu umfassen.
„Röschen! Rosita! Mein Leben, meine Seele, mein Abgott! O, wie ist mir, wie wird mir. Ich muß mich setzen!“
Der starke Mann ließ sie wieder nieder und sank langsam auf einen Stuhl. Rechts von Rosa und links von Röschen umschlungen, weinten alle drei Tränen des Schmerzes, der innigsten Rührung und des Entzückens zugleich. Kurt fühlte, daß diese Herzen mehr Rechte aneinander hatten als er an sie. Er schlich sich leise an ihnen vorüber und zur Tür hinaus, wo er stehenblieb, um die Tränen zu trocknen, welche auch in seinem Auge standen. Dann kehrte er still nach dem Saal zurück.
Er hatte ganz vergessen, daß er jetzt ohne Maske sei. Als er eintrat, fielen die Blicke der Anwesenden auf ihn.
„Kurt! Kurt!“ rief es vor und neben ihn, von rechts und von links. Erst jetzt dachte er an sein unverhülltes Gesicht.
Der Herzog und die Herzogin, Otto von Rodenstein nebst Flora, seiner Frau, Sternaus Schwester, sie alle eilten auf ihn zu, ihre Masken entfernend, um von ihm erkannt zu werden. Sie glaubten, daß er nichts von ihrer Verkleidung wisse. Zu ihnen gesellte sich ein Präriejäger und ein Wilddieb mit einer ungeheuren Nase, Ludewig und sein Herr, der Rodensteiner.
Er wurde von ihnen mit hundert Fragen bestürmt, welche so durcheinander geschleudert wurden, daß er auf keine einzige mit Bedacht zu antworten vermochte, bis endlich Rettung erschien. Sternau mit Frau und Tochter, welche eintraten, auch ohne Hülle vor ihren Gesichtern. Auch sie hatten vergessen, sie wieder anzulegen. Kaum wurden sie bemerkt, so eilte Flora von Rodenstein auf den Herzog, ihrem Vater, zu.
„Papa! Vater!“ rief sie. „Schau hin, wer da kommt. Erkennst du ihn? Kennst du ihn noch?“
Zugleich flog sie auf Sternau zu, warf ihm die Arme um den Nacken und schluchzte unter Tränen:
„Carlos, mein Bruder, mein lieber, lieber Bruder!“
Sternau wollte erstaunt zurückweichen, da wurde er noch von vier Armen umschlungen.
„Mein Sohn! Mein Karl! Ist es wahr?“ schluchzte seine Mutter.
„Mein Arzt und Retter! Mein Wohltäter! Mein Sohn!“ So klang es aus dem Mund des Herzogs.
Sternaus einfache, anspruchslose Schwester fand gar keinen Raum, zu ihrem Bruder zu gelangen. Es dauerte eine lange Zeit, ehe der Sturm sich legte, den das Erscheinen Kurts und Sternaus hervorgerufen hatte. Diese Aufregung wurde eigentlich erst durch das Erscheinen des Großherzogs besiegt, der mit seiner Gemahlin und einigen bevorzugten Herren kam, um zu gratulieren.
Jetzt erst kam es zu einem geordneten Reden und zu einem wirklich zusammenhängenden Bericht. Es ist leicht erklärlich, daß man bis zur Morgenstunde beisammenblieb, und da kamen nun auch die Personen zur Geltung, welche bisher in zweiter Reihe gestanden hatten: Resedilla und Pirnero, welche sich glücklich von Pirna hierhergefunden hatten, der ‚Schwarze Gerard‘, der ‚Kleine André‘, die beiden Häuptlinge und Karja. Außer Geierschnabel war auch Grandeprise zugegen, welcher mit nach Spanien gegangen war, um gegen Landola, seinem teuflischen Stiefbruder, zu zeugen.
Was aber war aus diesem Landola, aus Gasparino Cortejo und Clarissa, was aus dem falschen Alfonzo, ihrem Sohn, geworden?
Sternau, im Verein nach all diesen Personen gefragt, antwortete:
„Die Entscheidung ist gefallen, und die Beweise sind geführt: Unser Mariano ist Graf Alfonzo de Rodriganda. Er mußte, um das Allernötigste zu ordnen, in Rodriganda bleiben, wird aber in einigen Tagen mit Amy Lindsay, seiner Braut, und ihrem Vater, dem Lord, hier eintreffen. Ich sehe zu meinem Erstaunen, daß aus dem einfachen Doktor Sternau ein Herzogssohn geworden ist. Unsere Schicksale haben uns gelehrt, daß der Mensch nur soviel wert ist, als er wiegt, und daß Rang, Stand und Besitz nur eine nebensächliche Bedeutung besitzen. Daher wird es keinem von uns überraschen, daß Kurt, der Steuermannssohn, mein und unser aller Retter, durch das, was er für uns tat, sich uns allen ebenbürtig gestellt hat. Unserer Feinde wollen wir nur kurz gedenken. Clarissa spinnt für lebenslang Flachs im engen Kerker, Landola und Cortejo sind unter der Hand des Henkers gefallen, und Alfonzo, der falsche Graf, büßt seine Taten als Sträfling ohne Aussicht auf spätere Begnadigung. Sie haben ihren Lohn; darum soll auch unser Kurt den Lohn empfangen, welcher ihm verheißen worden ist. Eine herzogliche Prinzessin von Olsunna muß Wort halten. Röschen, stehe auf, und sage unserem Retter, daß er von uns die Erlaubnis empfängt, dir sein Andenken an die Höhle des Königsschatzes an Eurem Ehrentage als Brautgeschmeide anzulegen. Gott segne Euch, so wie er uns alle fortan beschützen möge.“
Die Wirkung dieser Worte läßt sich unmöglich beschreiben. Alles rief, staunte, fragte, gratulierte, weinte und lachte. Aber zwei standen in der Ecke des Saales, in Liebe umschlungen, und weinten heiße Zähren der Herzenswonne und des Dankes gegen Gott: die einfachen Eltern Kurts, deren Glück nur dadurch gesteigert werden konnte, daß Waldröschen herbeikam, sie beide herzlich umarmte und küßte und dann zu dem Kreis der anderen zog.
Die Sonne ging auf. Ihre ersten Strahlen fielen in goldigem Purpur zum Fenster herein auf die so seltsame Versammlung von Personen, welche, so lang, hart und schwer geprüft, und nun endlich sich die Garantien eines reinen und dauernden Glücks errungen hatten. Da öffnete sich die Tür, und die hohe, ernste Greisengestalt des Grafen Emanuel trat ein. Alle außer Sternau und Rosa erwarteten, ihn sein ‚Ich bin der brave, treue Alimpo‘, aussprechen zu hören. Aber ehe er noch zu Wort kam, stand bereits einer vor ihm, welcher die Arme zur Begrüßung ausbreitete:
„Emanuel! Bruder! O Gott, wäre er doch nicht krank.“
Der Angeredete warf einen langen, forschenden Blick in das Gesicht des anderen und antwortete:
„Ferdinande! Bruder! Du lebst? Man sagte mir doch wohl vor einigen Tagen, daß du gestorben und begraben seiest.“
„Er redet! Er spricht. Er kann denken. Gott, Gott, Allmächtiger, wir danken dir.“
Bei diesem Ausruf Ferdinandes lagen sich die beiden Brüder in den Armen. Sternau aber trat hinzu und führte sie in ein anderes Gemach. Die zurückgekehrte Denkkraft Emanuels war noch viel zu schwach, um das verwickelte Material, welches vor ihm lag, zu überwinden und zu entwirren.
Er wurde wiederhergestellt. Ferdinande kehrte nicht mehr nach Mexiko zurück, er verkaufte seine dortigen Güter und blieb mit Emanuel auf dem deutschen Rodriganda. Mariano, der junge Graf, residierte mit seiner glücklichen Amy auf dem spanischen Rodriganda, war und ist aber sehr oft Gast bei seinen deutschen Verwandten. Sternau, der einstige Arzt, weiß die Traditionen seines herzoglichen Hauses in Spanien an der Seite seiner noch immer schönen Rosa würdig zu vertreten. Otto von Rodenstein mit Flora befinden sich sehr oft bei, ihm. Alimpo lebt mit Elvira bei Graf Emanuel. Der Rodensteiner zankt sich auch jetzt noch täglich mit Ludewig und mit seinem Podagra. Der ‚Kleine André‘ wohnt mit Frau Emilia bei Anton Helmers und dessen Emma auf der Hacienda del Erina, während der alte Pedro Arbellez sich zur Ruhe gesetzt hat. Der ‚Schwarze Gerard‘ lebt mit Frau und Schwiegervater in der Hauptstadt Mexiko. ‚Büffelstirn‘ jagt noch immer die Bisons und Bären und kehrt zuweilen auf der Hacienda ein. ‚Bärenherz‘ hat Karja als seine Squaw mit nach den Jagd- und Weidegründen der Apachen genommen, um mit seinem Bruder ‚Bärenauge‘ sich in die Herrschaft der tapferen Stämme zu teilen.
Die Nebenpersonen des Romans haben den verdienten Lohn gefunden. Die Treuen und Gerechten genießen die Früchte ihres Handelns, die Schlechten sind verkommen oder gestorben. So will es Gott! –
Waldröschen ist aber die glücklichste der jungen Frauen. Ihr Kurt ist bereits Oberst in einer norddeutschen Stadt, wenn man hier auch nicht verraten darf, in welcher Garnison. Beide wiegen abwechselnd auf ihren Knien ein kleines, niedliches Waldknösplein, welches verspricht, das Ebenbild der Mutter zu werden – ein liebreizendes ‚Waldröschen‘.