VIERTES KAPITEL
Das Blatt des Todes
Oft scheint es fast, als ob die Vorsehung sich entschlossen habe, den Frevler entkommen zu lassen und die wohlberechtigten Pläne des Guten zu Schanden zu machen. Aber Gottes Wege sind nicht unsere Wege.
Nachdem Kurt Helmers seine Besuche in Mexiko gemacht hatte, setzte er sich zu Pferd und verließ in Begleitung des Matrosen Peters die Hauptstadt. Sie erreichten nach einem raschen Ritt das Städtchen, in dem sie Geierschnabel und Grandeprise trafen; dann ging die Reise weiter.
Kurt war mit guten Karten versehen und besaß in den beiden Jägern zwei Führer, wie es keine besseren geben konnte.
Cortejo und Landola hatten als Verfolgte nicht die offene Straße eingehalten, sondern sich als Führer einen Mestizen gemietet und kamen infolge der schlechten Seiten- und Gebirgswege nur langsam vorwärts. Kurt ritt die Straße und konnte daher Strecken zurücklegen, daß er aller Wahrscheinlichkeit nach vor den beiden Verbrechern in Santa Jaga ankommen mußte.
Darauf rechnete er auch bestimmt. Aber diese Berechnung sollte sich leider als trügerisch erweisen.
Es war am zweiten Abend, als er in der Stadt Zimapan ankam. Hier war Truppenbewegung. Die Stadt war von Franzosen besetzt, die sich vorbereiteten, unter ihrem Befehlshaber, einem General, sich nach Querétaro zu konzentrieren, um von da aus über Mexiko den Einschiffungshafen Vera Cruz zu erreichen. Im Norden der Stadt standen die Kaiserlichen unter dem ebenso bekannten wie bescholtenen General Marques, bereit, nach dem Abzug der Franzosen die Stadt zu besetzen. Doch war die Disziplin so locker, daß Scharen von ihnen sich in die Stadt begaben, um des Abends mit ihren französischen Waffenbrüdern ein wenig zu fraternisieren.
Durch dieses Gewühl hindurch mußte Kurt mit seinen Begleitern Bahn brechen. Am liebsten hätte er sich für diese Nacht draußen im Freien ein Lager gesucht, aber die beiden Jäger rieten davon ab. Sie wären doch zwischen die aufgelösten Truppen, bei denen auf rechte Mannszucht nicht zu rechnen war, geraten und dabei vielleicht Unbilden ausgesetzt gewesen, welche sie in der Stadt umgehen konnten.
Aber diese Aussage erwies sich als irrig. Die Stadt glich nicht einem Ameisenhaufen sondern vielmehr einen Mehlwürmertopf, in welchem es von Käfern, Würmern, Larven und Milben ‚wibbelt und kribbelt‘. Von Venta zu Venta, von Posada zu Posada und zuletzt gar von Haus zu Haus suchend, fanden sie nicht das kleinste Örtchen, wo sie, ihr Haupt niederlegend, auf eine Stunde der Ruhe hätten rechnen können. Und deren bedurften sie doch ebenso sehr wie ihre Pferde des Futters und des Wassers.
Glücklicherweise erfuhren sie von einer alten ‚zahmen‘ Indianerin, welche in einem zerrissenen und schmutzigen Hemd vor einer zerfallenen Hütte hockte, daß draußen vor der Stadt ein Bach fließe, an dessen Ufern Gras in Menge zu finden sei. Sie beschlossen also, an diesem Wasser zu biwakieren.
Leider war auch hier fast kein Plätzchen zu haben. Die französische Reiterei hatte sich hier festgesetzt, und so mußte Kurt froh sein, endlich ein schmales Stückchen Erde zu erobern, welches zwei Schritte breit an den Bach stieß, sodaß seine Tiere wenigstens zu saufen vermochten. Vor und hinter und neben der kleinen Truppe brannten Wachtfeuer, von denen sie hell erleuchtet wurde, sodaß ihre Gesichtszüge ganz deutlich zu erkennen waren. Dies störte nicht nur ihre Behaglichkeit und Ruhe, sondern es zog auch die Aufmerksamkeit der Soldaten auf sie und sollte ihnen sehr verhängnisvoll werden.
Gerade vor ihnen lag eine Gruppe von vielleicht dreißig Kavalleristen im Gras. Die Leute schmauchten den starken mexikanischen Tabak aus ihren kurzen Stumpen und unterhielten sich von den Taten, welche sie zum Ruhme Frankreichs hier in diesem Land ‚begangen und verschuldet‘ hatten. Ein ziemlich alter Sergeantmajor (Feldwebel) befand sich bei ihnen, welcher der Unterhaltung mit großer Würde präsidierte.
Eben war eine Gesprächspause eingetreten, als Kurt mit seinen drei Leuten herbeikam und sich in der Nähe niederließ. Ein leises Murren erhob sich unter den Franzosen.
„Was wollen diese Leute hier?“ fragte einer. „Haben sie ein Recht, hier zu sein?“
„Dulden wir Zivilisten unter uns?“ fragte ein zweiter.
„Mexikanische Landstreicher gehören nicht in die Nähe der Söhne unseres schönen Frankreichs“, meinte ein dritter.
Und ein vierter wendete sich direkt an den Feldwebel und sagte:
„Sergeantmajor, dulden wir das?“
Der Alte strich seinen Schnauzbart eine ganze Weile lang und meinte dann: „Nötig haben wir es wahrscheinlich nicht!“
„Nun, so ist es Ihre Pflicht, uns von diesen Leuten zu befreien.“
Als der Alte zögerte, meinte ein junger Kerl zu ihm:
„Oder fürchten Sie sich vor diesem Zivil?“
Da warf der Feldwebel dem Sprecher einen Blick zu, der wenigstens zerschmetternd oder – zermalmend wirken sollte und sagte: „Laffe! Als du noch keine Hosen trugst, trug ich bereits die Muskete. Ich werde Euch zeigen, wie schnell dieses Zivil vor mir die Flucht ergreifen wird.“
Er schritt auf die vier Männer zu. Kurt lag im Gras und hatte sich eine Zigarre angesteckt; die anderen drei lagen mehr am Rand des Baches und beaufsichtigten das Tränken ihrer Pferde.
„Was wollt Ihr hier? Auf und fort!“
Diese Worte donnerte der Alte Kurt entgegen, indem er den Arm gebieterisch ausstreckte. Kurt regte sich nicht.
„Habt Ihr es gehört? Augenblicklich fort!“ wiederholte der Alte. Auch jetzt gab Kurt noch keine Antwort.
„Ah! Ihr wollt Euch widersetzen?“ fragte der tapfere Reitersmann. „Gut, meine Leute werden Euch fortbringen.“
Kurt sah, daß er sich anschickte, Leute herbeizurufen. Das hätte eine Szene gegeben. Darum sagte er ruhig:
„Sergeantmajor, wo haben Sie für diese Nacht Ihr Quartier?“
Das empörte den Alten noch mehr. Er antwortete laut, so daß man es weithin hören konnte:
„Was? Er fragt mich nach meinem Quartier? Welches Recht hat Er dazu? Und weiß Er nicht, daß man sich erhebt, wenn man mit einem Helden Seiner Majestät des Kaisers spricht?“
„Gut, ich werde aufstehen, doch auf Ihre Verantwortung hin“, meinte Kurt leichthin. „Ich bemerke aber, daß ich dies nur aus Rücksicht auf Frieden tue, und wiederhole meine Frage, wo Sie heute Abend Ihr Quartier haben.“
„Er hat sich darum nicht zu bekümmern!“
„O doch! Hat Ihre Truppe den Befehl sich heute hier zu lagern, und ist Ihrer Abteilung vom Kommandanten diese Stelle angewiesen worden, so weiche ich gern; haben Sie aber Ihr Quartier in der Stadt, sodaß Sie hier nur spazieren ruhen, so habe ich dasselbe Recht wie Sie und bleibe.“
Der Alte sah den jungen Mann erstaunt an.
„Wer ist Er?“ fragte er. „Er tut ja gerade so, als ob Er auch gedient habe und von Reglement etwas verstehe.“
Es hatte sich um die beiden und die drei anderen Zivilisten ein weiter Kreis von Soldaten gebildet, welche neugierig zuhörten.
„Können Sie lesen, Sergeantmajor?“ fragte Kurt.
„Mille tonnerres!“ fluchte da der Alte. „Tausend Donner. Wie kann Er es wagen, daran zu zweifeln!“
Kurt antwortete ruhig:
„Weil ich viele Sergeantmajors kennengelernt habe, welche nicht lesen konnten. Obgleich ich nach Ihrem Kommandeur verlangen könnte, will ich mich doch herablassen, Ihnen Rede zu stehen. Hier, Kamerad, lesen Sie!“
Er zog von seinen Pässen denjenigen hervor, welcher in französischer Sprache abgefaßt war, und gab ihm denselben hin.
„Wird auch viel Gescheites sein“, brummte der Alte.
Er trat näher an das Feuer, um besser lesen zu können. Kaum aber war er fertig, so kam er zurück, machte in kerzengrader Haltung sein Honneur und sagte im respektvollsten Ton:
„Verzeihung, mein Leutnant! Das konnte ich nicht wissen!“
„So hätten Sie vorher sich ordnungsgemäß erkundigen sollen. Wo haben Sie Ihr Quartier?“
„In der Stadt.“
„So bleibe ich also hier. Treten Sie ab.“
Der Alte drehte sich stramm um, und marschierte nach seinem Platz zurück, wo er sich kleinmütig niederließ. Rund um ihn herum begann ein Flüstern.
„Warum ging er nicht?“ fragte einer.
„Weil wir kein Recht haben, ihn fortzuweisen.“
„Sie gaben ihm das Honneur!“
„Donnerwetter! Er ist ein Offizier, und ich habe ihn Er genannt und so angedonnert. Ein Glück, daß wir morgen abmarschieren.“
„Ist er ein Franzose?“
„Nein, ein Deutscher.“
„A bah! Was für ein Deutscher?“
„Ein Preuße.“
„Hole sie alle der Teufel! Welchen Grad hat er?“
„Premierleutnant.“
„Bloß? Pah!“
„Sapperlot! Aber bei den Gardehusaren! Und beim Generalstab ist er auch! Bei dieser Jugend!“
Das flößte Respekt ein; aber man ärgerte sich doch, daß ein alter Sergeantmajor von einem Zivilisten abgewiesen wurde. Das Ereignis sprach sich von Gruppe zu Gruppe; die Kinder des französischen Ruhms ereiferten sich darüber und es bildete sich eine Art von Wallfahrt nach dem Ort an welchem der Deutsche lag und nach der Gruppe, in deren Mitte der Sergeantmajor saß.
Unter anderem kam auch ein leichter Reiter herbei, welcher mit im Norden des Landes gefochten hatte. Er erkundigte sich nach dem Ereignis und betrachtete sich dann die Reisenden.
„Sacre bleu!“ meinte er überrascht. „Den sollte ich kennen!“
„Den Offizier?“ fragte der Sergeantmajor.
„Nein, den anderen.“
„Welchen?“
„Den mit der großen Nase!“
„Wirklich?“
„Bei Gott, ich kenne ihn. Ich will mich erschießen lassen, wenn ich ihm nicht gegenübergestanden habe! Ich sah von seinen Kugeln viele unserer Braven fallen. Es war das im Gefecht bei Cena Sonores.“
Diese Worte brachten eine ungeheure Wirkung hervor.
„Was? Er ist ein Feind?“ fragte der Alte.
„Ja. Er war bei Juarez. Er ist ein amerikanischer Jäger und wird Geierschnabel genannt.“
„Dann ist er ein Spion!“ rief einer halblaut.
„Bist du deiner Sache gewiß?“ fragte der Alte.
„Ganz und gar. Aber ich werde gehen, um Mallou und Renard zu holen. Sie haben an meiner Seite gefochten und werden ihn wiedererkennen.“
„Gehe, mein Sohn! Mir geht ein Licht auf. Ein deutscher Offizier in Zivil mit einem Spion des Juarez und noch zwei anderen, welche wohl auch Spione sind, das wäre ein Fang, wie er nicht besser gemacht werden könnte.“
„Dann würden wir diesem Deutschen zeigen, daß er doch vom Wasser fort muß. Aber wohin! Hahaha!“
„Still Jungens“, befahl der Alte. „Diese Personen dürfen nicht ahnen, was hier vorgeht, sonst könnten sie doch suchen, uns zu entkommen, und das wäre jammerschade.“
„Uns entkommen?“ fragte der Junge, welcher vorhin so voreilig gewesen war. „Dies ist ja ganz und gar unmöglich. Wir sind ja da!“
„Halte den Mund, Knabe!“ sagte der Alte. „Lerne erst diese Jäger kennen, dann wirst du erfahren, was so ein Kerl zu bedeuten hat. Wenn Juarez dieses Land wieder erobern sollte, so hat er es nur der Disziplin, der Ausdauer und der eisernen Tapferkeit und Bravour dieser amerikanischen Jäger zu verdanken.“
In diesem Augenblick kehrte der Soldat mit seinen zwei Kameraden zurück, er stellte sie dem Sergeantmajor vor und sagte:
„Hier sind Renard und Mallou. Sie mögen sehen, ob ich recht habe oder nicht.“
„Ja, Jungens“, meinte der Alte; „seht euch doch einmal den Kerl da drüben an, welcher die lange Nase hat! Der da, euer Kamerad meint, daß euch diese Nase bereits bekannt sei.“
Die beiden Soldaten folgten dieser Aufforderung. Kaum hatten sie Geierschnabel erblickt, so meinte Renard:
„Sacre gout! Den Kerl kenne ich.“
„Und ich auch!“ fügte Mallou hinzu.
„Wirklich?“ fragte der Alte, welcher sehr gespannt aussah.
„Ja“, antwortete Renard. „Er hat uns in der Bataille von Cena Sonores gegenübergestanden.“
„Es ist Geierschnabel, der berühmte, amerikanische Jäger“, erklärte Mallou. „Er gehört zu den Truppen des Juarez, und wir drei haben mit eigenen Augen viele von den Unsrigen von seinen Kugeln fallen sehen.“
„Was? Wirklich? Ihr kennt ihn also genau?“ fragte der Sergeantmajor, welcher es für angezeigt hielt, in einen solchen Fall, der jedenfalls ein sehr wichtiger war, so sicher wie möglich zu gehen.
„Natürlich, natürlich ist er's! Man kann sich ja gar nicht irren. Wer dieses Gesicht gesehen hat, für den ist eine Täuschung geradezu unmöglich, mein Sergeantmajor.“
„Hm“, brummte der Alte. „Das kann diesen Leuten verdammt gefährlich werden. Kennt ihr vielleicht noch einen anderen von ihnen?“
„Nein.“
„Na, das tut auch weiter nichts zur Sache. Nun aber ist es unsere Pflicht, uns dieser Leute zu versichern. Aber das muß mit Vorsicht geschehen, da der eine von ihnen ein Offizier ist. Man muß dem General Meldung machen. Das werde ich besorgen, und ihr drei geht mit. Ihr anderen laßt euch einstweilen nicht das Mindeste merken, habt aber ein scharfes Auge auf sie. Sollten sie sich entfernen wollen, so haltet ihr sie zurück, und zwar mit Gewalt, wenn das notwendig sein sollte.“
Er entfernte sich mit den drei Soldaten, welche als Zeugen dienen sollten, und es trat nun eine Pause der Spannung ein, während welcher Kurt nicht das Mindeste ahnte von dem, was ihm und den Seinigen bevorstand.
Es mochte ungefähr eine halbe Stunde vergangen sein, als ein Capitaine de cavalerie (Rittmeister) in Begleitung von Bewaffneten erschien. Der Sergeantmajor befand sich als Führer bei ihm; die anderen aber waren von dem General als Zeugen zurückbehalten worden.
Während seine Begleitung sich einige Schritte zurück aufpostierte, trat der Rittmeister direkt zu Kurt, welcher sich, wißbegierig, was der Mann von ihm wolle, aus dem Gras erhob. Der Offizier betrachtete sich den Deutschen einige Augenblicke lang stillschweigend und fragte dann:
„Monsieur, es scheint, Sie sind kein Einwohner dieser Stadt?“
„Allerdings“, antwortete Kurt in höflichem Ton.
„Sie befinden sich auf Reisen?“
„Ja.“
„Woher kommen Sie?“
„Jetzt zunächst aus der Hauptstadt.“
„Und vorher, also überhaupt?“
„Aus Deutschland.“
Der Offizier kniff die Augen zusammen und meinte gedehnt:
„Aus Deutschland? Ah! Sie meinen wohl Österreich?“
„Nein, sondern Preußen.“
„Preußen? Hm! Glauben Sie, daß dies hier gut für Sie sein wird?“
Kurt warf dem Mann einen erstaunten Blick zu und antwortete:
„Gestatten Sie, Ihnen zu gestehen, daß ich Ihre Frage nicht begreife und auch nicht verstehe!“
Der Rittmeister warf den Arm in einer Weise in die Luft, daß damit das gerade Gegenteil von Vertrauen und Achtung ausgedrückt wurde, und sagte dann, indem er fortfuhr: „Sie werden das wohl sehr bald verstehen und begreifen. Für jetzt aber muß ich Sie bitten, mir zu sagen, wohin Ihre Reise gerichtet ist.“
„Zunächst nach Santa Barbara.“
„Zunächst also? Und dann?“
„Nach der Hacienda del Erina.“
„Ah, ich erinnere mich dieses Namens. Dies ist dieselbe Hacienda, welche sich so ausgezeichnet als Etappenstation eignet?“
„Ich weiß das nicht, denn ich bin noch niemals dort gewesen.“
„Welchen Zweck verfolgen Sie bei dieser Reise?“
„Er ist rein privater Natur.“
„Darf ich fragen, welcher Art diese Natur ist?“
„Ich gedenke, Verwandte oder Freunde dort zu treffen, oder wenigstens etwas über sie zu vernehmen.“
„Einen anderen Zweck verfolgen Sie nicht?“
„Nein.“
„Diese Personen, welche ich hier bei Ihnen sehe, werden Sie begleiten?“
„Ja.“
„Es sind Diener von Ihnen?“
„Dieser Ausdruck wird nicht ganz genau bezeichnend sein.“
„Also Freunde?“
„Ich möchte sie allerdings beinahe so nennen.“
„Ah! Hm! Freunde! Ist nicht einer dabei, welcher Geierschnabel heißt?“
„Ja.“
„So möchte ich Sie ersuchen mir zum kommandierenden General zu folgen.“
Kurt blickte befremdet auf.
„Was hat dies zu bedeuten?“ fragte er.
„Ich bin nicht befugt, mich darüber zu äußern.“
„Soll ich Ihnen etwa in der Eigenschaft eines Arrestanten folgen?“
„Ich möchte mich dieses Ausdruckes allerdings nicht bedienen. Der General sandte mich, Sie und Ihre Begleiter zu ihm zu holen.“
„Augenblicklich?“
„Ja.“
„Und wenn ich mich weigere?“
„Ich will nicht befürchten, daß Sie dies tun werden.“
„Und wenn ich es dennoch tue?“
„Ich muß Sie bringen. Folgen Sie mir nicht freiwillig, so werde ich allerdings zur Anwendung von Gewalt gezwungen sein.“
„Also bin ich doch arretiert!“
„Es steht Ihnen frei, es zu nennen, wie es Ihnen beliebt, nur ersuche ich Sie dringend, von allem Widerstand abzusehen. Blicken Sie sich gefälligst um. Das ganze Feld wimmelt von unseren Soldaten. Es ist ganz unmöglich, zu entkommen.“
Kurt warf einen schnellen Blick umher. Seine Begleiter hatten sich auch vom Boden erhoben. Sie standen neben den Pferden, den Zügel in der Linken und die Rechte im Sattel, also bereit, aufzuspringen und davonzujagen. Er aber schüttelte verächtlich den Kopf und sagte:
„Nicht entkommen? Monsieur, wenn es eine Wette gelte, so wollte ich sicher sein, zu gewinnen. Läge es in meiner Absicht, zu fliehen, so würde niemand imstande sein, uns aufzuhalten. Aber ich habe ein reines Gewissen; ich bin mir nicht bewußt, etwas Unrechtes getan zu haben, und so verzichte ich auf jeden Entweichungsversuch. Wir stehen zu Diensten, Herr Rittmeister.“
„Gut! Folgen Sie mir!“
Der Offizier war mit seinen Begleitern zu Fuß gekommen.
„Dürfen wir aufsteigen?“ fragte Kurt unter einem leisen Lächeln.
„Nein!“ antwortete der Gefragte schnell.
Sie nahmen also ihre Pferde am Zügel und folgten, bewacht von den Soldaten, dem Rittmeister.
„Verdammt! Was werden wir sollen?“ flüsterte Geierschnabel dem Jäger Grandeprise zu, indem er sein Priemchen ausspuckte und ein neues von riesigen Dimensionen in den Mund schob.
„Wer weiß es!“ antwortete der Gefragte. „Vielleicht hat man uns gar in dem Verdacht, Spione zu sein!“
„Das wäre ja eine ganz verteufelte Christbescherung! Ich hörte, daß der Kerl meinen Namen nannte.“
„Ich hörte es auch.“
„Was geht dem General mein Name an?“
„Wir werden es jedenfalls sehr bald erfahren.“
„Nun, da genießen wir wenigstens das große Glück, mit einem französischen General reden zu können. Hole ihn der Teufel!“
Der Weg führte sie durch zahlreiche Militärgruppen nach der Stadt zurück, bis vor das Gebäude, in welchem der Kommandierende sein Quartier aufgeschlagen hatte. Sie wurden sofort zu ihm geführt. Es befanden sich mehrere Offiziere bei ihm, welche die Eintretenden mit finster forschenden Blicken musterten. Der Rittmeister blieb mit seinen Leuten an der Tür halten, um die Arrestanten genau im Auge zu behalten.
Der General wendete sich zunächst an Geierschnabel, dessen ungewöhnliche Physiognomie er einige Augenblicke unter sichtlicher Belustigung musterte. Dann fragte er:
„Ihr Name?“
Geierschnabel nickte ihm außerordentlich freundlich zu und wiederholte:
„Ja, mein Name!“
Der General machte jetzt eine Miene des Erstaunens und wiederholte:
„Ihr Name!“
Sein Ton war jetzt ein bedeutend strengerer als vorher; aber der Jäger schien dies gar nicht zu bemerken. Er schmunzelte den General abermals höchst vertraulich an und antwortete kopfnickend:
„Freilich, freilich! Mein Name!“
„Mann, was fällt Ihnen ein. Ihren Namen will ich wissen!“ rief jetzt der Offizier erzürnt.
„Ah! Wissen wollten Sie ihn? Ja, das konnte ich doch nicht erraten. Sie sagten: ‚Ihr Name!‘ Ich habe gedacht, er gefällt Ihnen so ausnehmen. Nun erfahre ich aber, daß Sie ihn noch gar nicht wissen.“
„Sind Sie des Teufels? Es versteht sich doch ganz von selbst, daß ich wissen will, wie Sie heißen!“
„Ganz von selbst? O nein! Wenn jemand zu mir sagt: ‚Hochverehrtester Señor, wollen Sie nicht die Gewogenheit haben, mir zu sagen, wie Ihr geehrtester Name lautet?‘ so weiß ich, was er will; aber wenn einer bloß sagt: ‚Ihr Name!‘ so kann ich nur vermuten, daß er in Beziehung meines Namens irgend eine Absicht verfolgt, welche sie aber ist, das weiß der Teufel!“
Der General wußte nicht was er denken sollte. Hatte er hier einen äußerst frechen oder geistig beschränkten Menschen vor sich? Er hielt noch an sich und sagte:
„Nun, also jetzt wissen Sie, daß ich Ihren Namen hören will.“
„Den richtigen oder den anderen?“
„Den richtigen!“
„Den richtigen? Hm! Das wird schwer halten!“ meinte Geierschnabel höchst nachdenklich.
Der General runzelte die Stirn und sagte:
„Wieso? Sie haben wohl Ursache, sich des richtigen gar nicht zu bedienen? Sie tragen falsche Namen? Das ist sehr verdächtig.“
„Schwerlich!“ antwortete Geierschnabel leichthin. „Aber man hat mich so lange Zeit nicht bei meinem richtigen Namen genannt, daß ich ihn fast ganz und gar vergessen habe.“
„Nun, so besinnen Sie sich! Wie lautet er?“
„Hm! Ich glaube, ich heiße William Saunders.“
„Woher?“
„Woher ich so heiße?“
„Nein, sondern woher Sie sind!“ fuhr ihn der General an.
„Aus den Vereinigten Staaten.“
„Und wie heißt der andere Name?“
„Geierschnabel.“
„Ah! Ein nom de guerre, wie ihn die Verbrecher untereinander zu führen pflegen. Wer hat Sie so genannt?“
„Meine Kameraden.“
„Ich dachte es mir! Diese Kameraden waren wohl Bewohner der hintersten Quartiere?“
„Der hintersten Quartiere?“ fragte Geierschnabel erstaunt. „Diesen Ausdruck habe ich noch nie gehört. Was hat er zu bedeuten?“
„Ich meine, daß es Menschen waren, welche das Licht des Tages zu scheuen hatten.“
„Ah! Sie meinen wohl Spitzbuben und Konsorten?“
„Ja“, nickte der General.
„Pfui Teufel! Pchtichchchch!“
Dabei spuckte er so nahe am Kopf des Generals vorüber, daß dieser erschrocken zur Seite sprang und mehr erstaunt als zornig ausrief:
„Mensch, was fällt Ihnen ein. Wissen Sie, vor wem Sie stehen?“
„Ja“, nickte Geierschnabel ganz gemütlich.
„So betragen Sie sich auch danach. Also, wer waren Ihre Komplizen?“
„Komplizen? Ich will geteert und gefedert werden, wenn ich dieses Wort verstehe! Meinen Sie etwa meine Kameraden?“
„Ja.“
„Die mir den Namen gegeben haben?“
„Ja.“
„Nun, das waren wackere Jungens, lauter Jungens, lauter tüchtige Kerls, denen es ganz egal war, ob sie mit einem Pferdedieb oder mit einem General redeten. Jäger waren es, Trapper, Squatter und Indianer. Sie müssen nämlich wissen, daß es in der Savanne fast keinen Jäger gibt, der nicht einen Beinamen hat. Der eine erhält ihn infolge irgend eines Vorzuges, der andere infolge eines Fehlers. Mein größter Vorzug nun ist meine Nase. Ist es da zu verwundern, daß mich die verteufelten Kerls Geiernase oder Geierschnabel genannt haben?“
Der General wußte noch immer nicht, wie er diesen eigentümlichen Menschen zu taxieren habe. Er ging zur Hauptsache über, indem er fragte:
„Also ein Präriejäger sind Sie?“
„Ja.“
„Haben Sie sich stets bloß mit der Jagd allein beschäftigt?“
„Nicht ganz allein.“
„Womit noch?“
„Ich habe nebenbei auch noch gegessen, getrunken, geschlafen, die Hosen ausgebessert, Tabak gekaut und verschiedenes andere mehr.“
„Mille tonnerres! Wollen Sie sich etwa einen Spaß mit mir machen?“
„Nein.“
„Das will ich Ihnen auch nicht geraten haben! Kennen Sie Juarez?“
„Ja. Sehr gut sogar.“
„Persönlich?“
„Natürlich!“
„Haben Sie unter ihm gefochten?“
„Nein, sondern geschossen.“
„Das ist gleich. Sie haben uns gegenüber gestanden?“
„Den Franzosen? Ja. Ich ihnen und sie mir.“
„Sie haben Franzosen getötet?“
„Das ist möglich. Während des Gefechtes kann man nicht hinter jeder Kugel herlaufen, um zu sehen, ob sie trifft.“
„Waren Sie im Gefecht von Cena Sonores?“
„Ja.“
„Kennen Sie diese Männer?“
Der General zeigte auf die drei Soldaten, welche als Zeugen reserviert worden waren. Geierschnabel sah sie an und antwortete:
„Ja, die kenne ich.“
„Von woher?“
„Ich habe sie vorhin draußen auf dem Feld gesehen.“
„Vorher nicht?“
„Kann mich nicht besinnen! Ist mir auch ganz und gar egal.“
„Diese drei Männer haben Sie bei Cena Sonores gesehen.“
„Das ist möglich.“
„Sie behaupten, daß Ihre Kugeln sehr gut getroffen haben!“
„So? Das freut mich! Für einen alten Jäger ist es verdammt ärgerlich, zu erfahren, daß er nur ins Blaue geschossen hat.“
„Scherzen Sie nicht“, rief der General in ernstem Ton. „Es handelt sich hier um Leben und Tod!“
Geierschnabel machte ein erstauntes Gesicht und fragte: „Um Leben und Tod! Wieso denn?“
„Sehen Sie das nicht von selbst ein?“
„Nein.“
„Dann sind Sie um Ihres mangelhaften Fassungsvermögens zu bedauern. Sie sind überführt, Franzosen erschossen zu haben.“
„Ich hoffe es!“
„Sie sind also Mörder.“
„Mörder?“ fragte Geierschnabel rasch.
„Ja. Und mit Mördern pflegt man kurzen Prozeß zu machen.“
„Ja, man gibt ihnen eine Kugel oder den Strick“, nickte Geierschnabel. „Aber wer will mir nachweisen, daß ich ein Mörder bin?“
„Es ist bereits nachgewiesen.“
„Oho! Ich bin Kombattant, aber kein Mörder. Jetzt geht mir ein Licht auf. Diese drei Kerls haben mich im Gefecht gesehen und hier wieder erkannt und angezeigt.“
„So ist es. Ein kaiserliches Dekret befiehlt, jeden Empörer zu erschießen.“
„Empörer? Pchtichchchchch!“
Er spuckte gerade an dem General vorüber nach dem Tisch, wo der braune Saft ein brennendes Wachslicht auslöschte.
„Ich ein Empörer?“ wiederholte er. „Herr General, wollen Sie die Güte haben, dieses Schriftstück zu lesen?“
Er zog einige Dokumente aus der Tasche und reichte eines davon dem Offizier hin. Dieser las und sagte dann:
„Ah! Sie wären also Dragonerkapitän? Vereinigter-Staaten-Offizier?“
„Ja. Das kann man nämlich werden, trotzdem man eine lange Nase hat.“
Der General tat, als habe er diese letztere Bemerkung gar nicht vernommen und sagte:
„Das kann Sie doch nicht retten. Sie haben sich einer mexikanischen Bande beigesellt.“
„Bande? Ist das Heer des Juarez eine Bande? Hier! Ich bitte, auch dieses zu lesen!“
Er gab ein zweites Schriftstück hin, und der General nahm Einsicht davon, meinte aber achselzuckend:
„Ihr von Juarez ausgefertigtes Patent als Kapitän der freiwilligen Jäger.“
„Ja, freilich. Ich traf mit Juarez zusammen; er konnte mich brauchen, und da sein Weg zufälligerweise auch der meinige war, so schloß ich mich ihm an und erhielt den Befehl über eine Jägerkompanie.“
„Sie sind also Deserteur?“
„Wer sagt das?“
„Ich! Sie haben unter Juarez gefochten, trotzdem Sie Offizier der Vereinigten Staaten sind.“
„Das nennen Sie Deserteur? Selbst wenn ich desertiere, ist dies nur Sache des Präsidenten, aber nicht eines Franzosen. Ich habe unbestimmten Urlaub; ich habe vom Präsidenten die Erlaubnis, unter Juarez zu fechten. Ich bin weder Deserteur, noch Mörder.“
„Befleißigen Sie sich eines anderen Tones! Selbst wenn ich das Bisherige fallen lasse, so bleibt doch der Umstand, daß Sie als Kombattant dieses Juarez, hier mitten in unserem Lager betroffen wurden. Sie werden wissen, was das zu bedeuten hat.“
„Kriegsgefangen etwa?“
„O nein! Viel schlimmer. Sie haben sich hier eingeschlichen. Sie sind natürlich Spion!“
„Oho!“ rief da Geierschnabel. „Ich bin nicht mehr Kombattant. Hier ist der Beweis.“
Er gab ein drittes Papier hin.
„Das ist allerdings die Zufertigung Ihres Abschiedes von Seiten des Juarez“, sagte der General, als er es gelesen hatte; „aber das kann nichts ändern. Sie sind im Lager getroffen worden, Sie sind Spion!“
„So muß ein jeder Fremde, welcher zufälligerweise an einem Ort kommt, an welchem sich französische Truppen befinden, ein Spion sein!“
„Ihr Argument ist kein geistreiches. Ich habe übrigens weder Zeit noch Lust, mich mit Ihnen weiter zu unterhalten. Das bereits angezogene kaiserliche Dekret sagt, daß ein jeder, welcher den Truppen des Kaisers gegenübersteht, nämlich mit den Waffen in der Hand, ein Aufrührer und ein Räuber ist und als solcher behandelt, das heißt, erschossen werden soll. Ihr Urteil ist gesprochen.“
Da richtete sich die Gestalt des Jägers stolz in die Höhe.
„General“, sagte er, „Sie sind Untertan des Kaisers von Frankreich, welcher den Erzherzog Max von Österreich als Kaiser von Mexiko anerkannte; für Sie mag also das, was Max oder Napoleon dekretieren, Geltung haben. Ich aber bin Untertan der Vereinigten Staaten, deren Präsident einen Kaiser von Mexiko nie anerkannt hat; was also der Erzherzog von Österreich dekretiert, ist meinem Präsidenten und auch mir ganz egal.“
„Es wird sich zeigen, daß es Ihnen nicht ganz und gar egal zu sein braucht. Sie befinden sich innerhalb unseres Machtbereiches und werden nach den Gesetzen behandelt, welche hier Geltung haben.“
„Man versuche es! Ich protestiere gegen jede Gewaltsamkeit. Mein Präsident wird sich und mir Genugtuungen zu verschaffen wissen.“
„Pah! Der Präsident von Krämern“, rief der General verächtlich.
„Pchtichchchchchch!“ spie Geierschnabel einen Strahl aus, welcher über das ganze Zimmer hinüber und gegen die Wand spritzte. „Krämer?“ rief er. „General, sagen Sie mir doch, weshalb die Franzosen jetzt aus Mexiko gehen? Dieser Präsident der Krämer hat Napoleon mitgeteilt, daß er keinen Franzosen mehr in Mexiko dulde, und Ihr großer Kaiser läßt Sie abmarschieren. Diese Krämer müssen also doch Kerls sein, die nicht auf den Kopf gefallen sind, und welche man in Paris zu respektieren gezwungen ist.“
So hatte noch niemand gewagt, mit dem General zu sprechen. Auf seine Büchse gestützt, stand Geierschnabel in stolzer, selbstbewußter Haltung da, als ob er der Kommandierende, der General aber der Arretierte sei. Dieser letztere hätte den mutigen Jäger am liebsten sofort erschießen lassen, aber er kannte gar wohl die Macht der von diesem vorgebrachten Argumente. Er befleißigte sich daher eines hochstolzen, eisigen Tones und sagte:
„Ich habe mich herabgelassen, Ihren Fall direkt zu untersuchen. Sie haben nun zu schweigen und das Weitere zu gewärtigen.“
„Bin neugierig darauf“, meinte Geierschnabel.
Der General wendete sich zu Grandeprise:
„Wie heißen Sie?“
„Grandeprise.“
„Woher?“
„Aus New Orleans.“
„Also auch Untertan der Vereinigten Staaten?“
„Ja, ursprünglich, dann aber nicht mehr, jetzt aber wieder.“
„Wie habe ich das zu verstehen?“
„Ich bin Jäger und wohne am texanischen Ufer des Rio Grande.“
„Kämpften Sie unter Juarez?“
„Nein.“
„Was tun Sie hier?“
„Ich bin von dem Herrn Leutnant Helmers engagiert.“
„Und Sie?“ fragte der Franzose den Seemann Peters.
„Ich bin Matrose, heiße Peters und habe einen Privatauftrag in Mexiko auszurichten. Hier meine Legitimation.“
Das war eine ebenso kurze wie exakte Auskunft. Der General las die Legitimation und fragte:
„Aber Sie sind wohl auch von diesem Herrn engagiert?“
„Ja.“
„Trotz Ihres privaten Auftrages?“
„Ja. Unsere privaten Absichten sind zufälligerweise ganz dieselben.“
„So werde ich wohl hier darüber Aufklärung erlangen.“
Bei diesen Worten wendete er sich Kurt zu. Dieser hatte bisher ganz ruhig dagestanden und gar nicht getan, als ob das Gesprochene ihn berühre. Jetzt wurde er gefragt:
„Sie heißen?“
„Hier meine Legitimation!“ sagte Kurt mit scharfer Kürze.
Er gab seine Dokumente ab. Der General las, behielt sie in der Hand und betrachtete den jungen Mann eine Weile mit neugierigen Blicken. Dann fragte er:
„Sie heißen also Kurt Helmers?“
„Ja.“
„Sind Oberleutnant der Gardehusaren in Berlin?“
„Ja.“
„Kommandiert zum Stab des jetzt so berühmten Moltke?“
Bei dieser letzten Frage zuckte ein höhnisches Lächeln um seinen Mund. Kurt antwortete in aller Ruhe:
„Warum diese Frage, General? Sie haben meine Legitimation gelesen; meine Personalien sind Ihnen also bekannt. Eine jede Wiederholung ist unnötig.“
„Ah, Sie sprechen ja höchst peremptorisch“, lachte der General. „Dieser Ton scheint den Herren Preußen zur zweiten Natur geworden zu sein; bei mir aber verfängt er nicht. Ich spreche meine Fragen aus, weil ich Ihren Dokumenten nicht gut glauben kann. Ein Offizier, wie Sie sein wollen, und – Spion.“
Kurts Wangen färbten sich, aber er behielt seine Ruhe doch noch bei.
„General“, sagte er, „Sie sprachen da ein Wort aus, welches Ihnen nur die Wahl läßt, mir entweder zu beweisen, daß Sie recht haben, oder mir Genugtuung zu geben.“
„Ah, nicht so stolz, mein junger Leutnant. Sagen Sie mir doch gefälligst, woher Sie jetzt kommen?“
„Aus Mexiko.“
„Haben Sie dort Deutsche besucht?“
„Ja.“
„Wen?“
„Den Geschäftsträger Preußens.“
„Ah! Wohl gar in amtlicher Eigenschaft?“
„Nein.“
„Wie sonst?“
„Privat natürlich.“
„Und wohin wollten Sie von hier aus?“
„Nach Santa Jaga und der Hacienda del Erina.“
„Sacré! Nach dieser berühmten oder vielmehr berüchtigten Hacienda. Wissen Sie vielleicht, daß sie sich jetzt in den Händen des Juarez befindet?“
„Ja.“
„Das genügt. Sie kommen aus der Hauptstadt und wollen zu Juarez.“
„Ich komme aus der Hauptstadt und will in privater Angelegenheit nach Santa Jaga“, antwortete Kurt. „Später gehe ich wohl nach der Hacienda. Wer aber hat gesagt, daß ich zu Juarez will?“
„Das steht zu erwarten.“
„Vermutung also! Ich hoffe nicht, daß eine bloße und noch dazu unbegründete Vermutung hinreichend ist, einen Offizier und Ehrenmann zu beleidigen und ihn in Arrest zu nehmen.“
„Ich werde Beweise finden“, sagte der General. „Man suche die Leute aus.“
„Ich protestiere gegen eine solche Behandlung“, rief Kurt empört.
„Ihr Protest gilt nichts. Ich habe befohlen, und man wird gehorchen.“
Die Mantelsäcke der vier Reisenden wurden geholt, und sodann durchsuchte man sogar die Taschen der letzteren. So sehr Kurt gegen eine solche Behandlung protestierte, es half ihm nichts.
„Selbst wenn Sie kein Spion sind“, sagte der General, „und selbst wenn ich diesen Geierschnabel begnadigen wollte, müßte ich Sie in Gewahrsam halten.“
„Warum?“ fragte Kurt.
„Meinen Sie, daß ich Sie zu Juarez gehen lasse, damit er erfahre, was bei uns vorgeht? Rittmeister, weisen Sie diesen vier Männern ihr Logis an. Das übrige wird sich finden.“
Es folgte nun eine sehr heftige Szene. Die vier Reisenden mußten alles von sich legen, was nicht ganz und gar unentbehrlich war, und dann wurden sie in einen Raum geschlossen, aus welchem kein Entrinnen möglich war. Der Franzose hatte sich viel sagen lassen, ohne sich direkt zu revanchieren; aber jetzt begann seine Rache.
Am anderen Tag wurde Kurt mit seinen Begleitern mitgeschleppt. Er hoffte auf rasche Erledigung dieser Angelegenheit – umsonst. Er meldete sich; er verlangte eine Untersuchung – kein Mensch hörte ihn. Er wurde weiter geschleppt, bis er sich wieder in Vera Cruz befand. Erst als der letzte französische Soldat auf dem letzten französischen Schiff den Hafen verlassen hatte, sahen die vier ihre Freiheit wieder und erhielten das zurück, was ihnen konfisziert worden war.
Man kann sich denken, welcher Grimm sich der vier Männer bemächtigt hatte. Sie beschlossen zwar, sich sofort an die Vertreter ihrer Regierungen zu wenden, aber was sie verloren hatten, das blieb ihnen doch unwiederbringlich verloren – die kostbare Zeit, welche nicht zurückzurufen war.
Sie sagten sich mit wirklicher Wut im Herzen, daß Cortejo und Landola ihnen entgangen seien. Was konnte seit jenem Tag alles vorgegangen und geschehen sein. Sie tauschten ihre abgematteten Pferde gegen bessere um und flogen nach der Gegend zurück, welche zu verlassen man sie so schmählich gezwungen hatte.
Wer an einen Gott, an eine Vorsehung glaubt, der wird sehr oft die Erfahrung machen, daß der Lenker der Ereignisse die Fäden derselben gerade dann zusammenzieht, wenn man es am allerwenigsten erwartet, und wenn die Hoffnung darauf verschwinden will. – – –
Im Fort Guadeloupe ging es jetzt recht einsam zu. Die Comanchen hatten wiederholt recht beherzigungswerte Lehren erhalten, und infolgedessen hatten ihre Häuptlinge beschlossen, sich nicht mehr in die Angelegenheiten der Weißen zu mischen. So hatte das Fort nichts mehr von ihnen zu befürchten. Die Apachen hielten für Juarez die Grenzdistrikte besetzt, und die Jäger und kriegsfähigen Männer, welche sonst im Fort verkehrt hatten, waren alle auch dem Zapoteken gefolgt. Darum also gab es kein Leben mehr im Fort, und die Langeweile war als böser Gast nun eingekehrt.
Es war am Spätnachmittag. Resedilla saß an dem Fenster der Schankstube, an welchem sie ihren gewohnten Platz hatte, und strickte. Sie war etwas bleich geworden, aber diese Blässe gab ihr etwas ungemein Sanftes und Liebes. Der Grund ihres schönen Auges schien sich vertieft zu haben, und um ihre Lippen lag ein Zug stiller Ergebenheit und Resignation, welcher sie nicht so lebensfroh, aber fast noch schöner, noch weiblicher erscheinen ließ, als sie früher gewesen war.
An dem anderen Fenster saß Pirnero. Er hatte ein Buch in der Hand, aber er las nicht in demselben, sondern seine Augen schweiften hinaus, wo die Sonne sich dem Horizont näherte. Auch er hatte sich verändert. Es war fast, als ob sein Kopf kahler geworden sei. Seine Stirne lag in Falten: seine Lippen waren zusammengepreßt, und seine Augen blickten finster.
Es herrschte eine tiefe, unerquickliche Stille in der Stube, die keins von den beiden unterbrechen zu wollen schien.
Endlich, endlich räusperte sich der Alte.
„Hm!“ machte er. „Miserables Wetter!“
Resedilla antwortete nicht.
„Ganz miserables Wetter!“ wiederholte er nach einer Weile.
Sie antwortete jetzt ebenso wenig als vorher.
„Nun?“ rief er da im zornigen Ton.
„Was, Vater?“ fragte sie jetzt.
„Miserables Wetter!“
„Es ist ja ganz schön draußen!“
Da drehte er das Gesicht nach ihr herum, blickte sie so erstaunt an, als ob sie etwas ganz und gar Unbegreifliches gesagt hätte, und fragte sie in pikiertem Ton:
„Wie? Was? Schön soll das sein?“
„Natürlich, Vater!“
„Wieso denn, he?“
„Nun, so blicke doch nur hinaus!“
„Das habe ich bereits den ganzen Tag getan; aber etwas Schönes sehe ich nicht. Da ist die Sonne, da sind Bäume und Sträucher, der Fluß, einige Häuser und Vögel, aber Menschen sehe ich nicht. Oder siehst du etwa welche?“
„Ja“, lächelte sie.
„Wo denn?“
„Nun, zunächst sind ja wir beide da –“
„Wir beide? Das ist auch was Rechtes!“
„Und sodann sehe ich gerade jetzt drüben die Lydia.“
„Die Lydia? Die alte Negerin, welche dort Wäsche aufhängt? Wir zwei und die? Sind das etwa Menschen?“
„Ich denke doch!“
„Unsinn!“
„Nun, was verstehst du denn eigentlich unter Menschen?“
„Leute, welche bei mir einkehren und einen Julep trinken oder im Laden irgend etwas kaufen, Leute, mit denen man sich unterhalten kann, Leute, mit denen man ein Geschäft macht.“
„Ah so! Dann hast du recht, dann allerdings gibt es hier bei uns keine Menschen mehr“, sagte sie, fast traurig.
„Ja, keine Menschen, keinen einzigen, nicht einmal einen Schwiegersohn.“
Er blickte sie bei diesen Worten scharf an. Sie senkte das Gesicht, über welches sich eine tiefe Röte verbreitete, aber sie antwortete nicht.
„Nun?“ sagte er.
„Was?“ fragte sie.
„Was sagst du zu diesem Wort?“
„Zu welchem?“ erkundigte sie sich, obgleich sie ganz genau wußte, welches er meinte.
„Zu dem Wort Schwiegersohn?“
„Rechnest du so einen auch zu den Menschen?“ versuchte sie zu scherzen.
„Na und ob! Ein Schwiegersohn ist ein höchst bedeutungsvoller Mensch. Ohne ihn gibt es keinen Schwiegervater, keine Schwiegermutter und keine Schwiegertochter. Wo er fehlt, da gibt es weder Großvater, noch Enkel, da gibt es weder Hochzeit, noch Kindtaufe noch Patengeld. Eine solche armselige Geschichte mag der Teufel holen.“
Ein leiser Seufzer ertönte von ihrem Platz her. Er achtete gar nicht darauf und fuhr fort:
„Gerade so ist's bei uns.“
Er mochte eine Äußerung erwartet haben, denn er horchte nach ihr hin, da er aber nichts zu hören bekam, rief er:
„Nun?“
„Was?“
„Gerade so ist es bei uns.“
„Ja, Patenbriefe gibt es nicht, die sind alle geworden.“
„Dummes Ding! Rede ich denn von meinem Laden, in welchem mir allerdings gerade die Patenbriefe ausgegangen sind. Ich rede ja von weiter niemand als von dir. Ja. Und das merkst du nicht? Wo hast du denn deinen Verstand und deine Ohren, he? Und wer ist Schuld daran?“
„An dem Verstand?“
„Den meine ich nicht, denn den hast du von mir; das kommt von dem Forterben vom Vater auf die Tochter hinüber. Ich meine vielmehr den Schwiegersohn. Was habe ich mir da für Mühe geben müssen. Weißt du es noch?“
„Ja“, antwortete sie, damit sich seine Laune nicht verschlimmere.
„Da war dieser ‚Kleine André‘. Besinnst du dich auf ihn?“
„Ja.“
„Ein hübscher, niedlicher Kerl!“
„Hm!“
„Was hast du denn? Der Kerl paßte ganz gut. Er war Brauer und hatte ganze Beutel voll Nuggets. Dann kam der Nächste.“
Sie fragte nicht, wen er meinte. Darum rief er zu ihr hinüber:
„Nun?“
„Was?“
„Der Nächste. Weißt du, wer das war?“
„Nein.“
„Ja, so ist es! Unsereiner gibt sich die größte Mühe, um es zu einem Schwiegersohn zu bringen, und sie weiß nicht einmal, welche Anbeter sie gehabt hat. Den Amerikaner meine ich.“
„Welchen Amerikaner?“
„Nun, der auf dem Kanu den Fluß herauf kam.“
„Ah! Geierschnabel etwa?“
„Ja.“
„Pfui!“
„So? Ah! Was pfuist du denn? Er war ein berühmter Scout, und der Lord hatte ihn geschickt. Wegen der Nase hättest du keine Sorge zu haben gebraucht; die hätten nur deine Töchter bekommen, nicht aber deine Söhne. Das ist die Folge der Abstammung vom Vater auf die Tochter und von der Mutter auf den Sohn hinüber. Und dann kam der dritte.“
Sie senkte das Köpfchen noch viel tiefer als vorher.
„Nun?“ sagte er.
„Was?“
„Der dritte kam!“
„Ja.“
„Wer war das?“
„Meinst du – meinst du Gerard?“ fragte sie stockend.
„Ja. Der war mir der liebste. Dir nicht auch?“
„Ja“, hauchte sie, nachdem sie eine Weile gezögert hatte.
„Donnerwetter. Ein berühmter Kerl! Nicht?“
„Ja.“
„Tapfer!“
„Ja.“
„Stark und hübsch!“
„Ziemlich.“
„Und dabei doch sanft wie ein Kind und fromm wie ein Lamm.“
„Das ist wahr.“
„Und reich! Diese Büchse mit dem Kolben von Gold. Weißt du noch, als er ein Stück davon herabschnitt?“
„Ich war ja dabei.“
„Er war erst inkognito da; aber ich hatte ihn längst durchschaut.“
„Du?“ fragte sie.
„Ja, ich! Glaubst du das etwa nicht?“
„Ich habe nichts davon bemerkt.“
„Natürlich. Weißt du, was ein Diplomat ist?“
„Ja.“
„Ein Diplomat ist ein Mann, der Rußland seine Gedanken verbirgt, weil Frankreich nicht weiß, was England von Schweden und Norwegen denken soll. Verstanden?“
„Ja.“
„Gerade so habe ich es auch gemacht. Ich habe euch meine Gedanken so fein, so gut versteckt, daß ihr gar nicht ahntet, daß ich überhaupt welche hatte.“
„Ja, so sahst du aus“, lachte sie.
„Nicht wahr? Das war ein Meisterstück. Ich habe die ganze Politik im Kopf. Die Schlacht da draußen am Fluß habe ich lange vorher gewußt. Auch den Sieg habe ich mir im stillen vorher geweissagt. Darum schoß ich so tapfer mitten unter die Franzosen hinein.“
„Du?“ fragte sie.
„Ja. Oder zweifelst du etwa?“
„Hm!“
„Na, was hast du denn? Alle Welt weiß, daß ich acht oder neun erschossen und auch einige erstochen habe. Und dann die Massaker droben in der Bodenkammer.“
„Hast du da auch einige erschossen?“
„Hm!“ brummte er verlegen. „Nein.“
„Oder erstochen?“
„Nein. Ich fand keine Gelegenheit dazu, denn der Gerard war damit fertig, ehe ich nur anfangen konnte. Der arme Teufel! So lange zwischen Leben und Tod zu schweben. Das war eine Sorge! Nicht?“
„O, Vater, eine sehr große!“
„Ja. Endlich, endlich war wieder Hoffnung da. Weißt du, was ich mir da einbildete?“
„Nun?“
„Daß er dir einen Heiratsantrag machen würde.“
Sie zog vor zu schweigen.
„Oder wenigstens eine Liebeserklärung.“
Auch jetzt gab sie keine Antwort.
„Nun!“ rief er.
„Was denn?“
„Ist nichts derartiges vorgekommen, he?“
„Nein.“
„Also kein richtiger Antrag?“
„Nein.“
„Auch kein kleines, verstohlenes Anträgelchen?“
„Nein.“
„So ein Kuß auf die Hand oder auf die Wange?“
„Nein.“
„Oder so ein bißchen in den Arm oder in das Ohr gezwickt?“
„Auch nicht.“
„Oder so ein gelinder, heimlicher Liebestritt auf die Füßchen?“
„Nein.“
„Donnerwetter! Hat er dir denn nicht wenigstens einmal die rechte oder die linke Hand gequetscht?“
„Als er fortging.“
„Da war's bereits zu spät. Aber mit den Augen hat er wenigstens einmal gezwinkert?“
„Ich kann mich nicht besinnen.“
„Da hat man's. Was habe ich gezwickert und gezwinkert, gequetscht, gekniffen und gepufft, als ich deine Mutter kennen lernte. Wir Alten hatten die Liebe viel besser weg als ihr Jungen. Dieser Gerard. So ein feiner Kerl. Und nun erst, als er fortgegangen ist, hat er dir die Hand gequetscht. Der Esel. Herrjeh, wäre das ein Schwiegersohn gewesen. Hat er dir denn nicht gesagt, wohin er wollte?“
„O ja.“
„Was? Dir hat er es gesagt?“
„Ja.“
„Und mir nicht? Sackerment!. Das will ich mir verbitten! Solche Heimlichkeiten, solche Techtelmechteleien kann ich nicht leiden und dulden. Das ist ja gerade so verschwiegen, als ob ihr ein Liebespaar wärt. Das will ich mir verbitten. Aber, wie kommt es denn, daß es dir erst jetzt einfällt?“
„Erst jetzt?“ meinte sie verlegen.
„Ja. Du hast immer gesagt, daß du nicht weißt, wohin er ist.“
„Ich habe es gewußt.“
„Ah, sieh doch einmal an. Und warum sagtest du es mir nicht?“
„Es war ja Geheimnis!“
„Himmelelement! Geheimnisse habt ihr miteinander?“
„Nur dieses eine, lieber Vater.“
„Das geht nicht. Das würde ich nicht einmal von meiner Tochter und meinem Schwiegersohn dulden. Ich müßte alles wissen, alles, sogar wieviel Küsse sie sich pro Stunde geben. Dadurch bekommt man eine gewisse Übersicht, die sehr notwendig ist, wenn man die Ehe der Tochter mit der eigenen vergleichen will. Also was für ein Geheimnis ist es?“
„Ich sollte nichts sagen, Vater, aber die Zeit, in welcher er zurückkehren wollte, ist vorüber, und nun bekomme ich Angst.“
„Angst? Sapperlot, das klingt schlimm! Ist's denn gefährlich?“
„Ja, zumal er noch so schwach war, als er ging.“
„Nun, so rede, um was handelt es sich denn?“
„Um – er wollte – o, mein Gott!“
Sie hielt mitten im Satze inne. Ihr Auge starrte durch das Fenster; ihr Gesicht hatte die Starrheit und Bleichheit des Todes angenommen, und ihre beiden Hände waren nach dem Herzen gefahren, wo sie fest liegen blieben.
Pirnero bemerkte die Richtung ihres Blickes. Er trat zum Fenster und sah hinaus. Da kam ein Reiter langsam die Gasse herauf. Ihm folgten fast ein Dutzend schwerbepackte Maultiere, und hinter diesen ritt ein zweiter Reiter neben einer Reiterin.
„Kreuzhimmelbataillongranatenbombenstiefelknecht, das ist er ja“, schrie Pirnero und stürmte zur Tür hinaus.
Da erhielt auch Resedilla wieder Leben. Ihr Busen begann sich zu bewegen, ihre Hände sanken herab, fuhren aber sofort wieder empor nach den Augen, denen eine Tränenflut der Erleichterung entstürzte.
„Er ist's, er ist's“, schluchzte sie. „Gott sei Dank! Gott sei Dank! O, so darf ich ihn nicht sehen, so nicht, nein, so nicht!“
Sie fühlte, daß sie sich ihm jubelnd an die Brust stürzen würde, und darum floh sie hinauf in ihre Kammer, wo sie schon so viele, viele Tränen geweint hatte.
Pirnero aber stand unter der Tür und streckte beide Hände aus, um den Jäger zu empfangen.
„Willkommen, tausendmal willkommen, Señor Gerard“, rief er. „Wo habt ihr denn nur gesteckt?“
„Das sollt Ihr bald hören, mein lieber Señor Pirnero. Erlaubt nur, daß ich vom Pferd steige.“
Ja, das war Gerard, der alte, der frühere. Hoch, stark und breit, fast so riesig wie Sternau gebaut, zeigte er nicht die mindeste Spur seiner Krankheit mehr in Haltung und Bewegung. Seine Kleidung war abgerissen; er mußte ungewöhnliche Strapazen hinter sich haben; aber sein sonnenverbranntes Gesicht zeigte eine Frische, und sein Auge einen Glanz, welche es nicht erraten ließen, daß er vor kurzer Zeit noch mit dem Tod gerungen habe.
Er sprang vom Pferd, und anstatt dem Alten die Hand zu geben, zog er ihn in die Arme und drückte ihn an sich und gab ihm sogar einen schallenden Kuß auf die Wange.
„Grüß Gott, Señor Pirnero!“ rief er dabei im Ausdruck des Glücks. „Wie herzlich froh bin ich, wieder bei Euch zu sein.“
Das war dem Alten noch nicht passiert. Seine Augen wurden vor Freude und Rührung augenblicklich naß. Er hielt beide Hände des Jägers fest und fragte: „Wirklich? Ihr seid froh darüber?“
„Ja.“
„Ihr umarmt mich sogar vor Freude?“
„Natürlich!“
„Ihr gebt mir einem Schmatz und quetscht mich an Euch gerade so, wie Ihr Resedilla die Hand gequetscht habt, als Ihr fortgegangen seid, Señor, Ihr seid ein tüchtiger Kerl und ein gutes Gemüt. Ich wünschte nur – na, davon darf man bei Euch nun einmal nicht anfangen, da Ihr partout ledig bleiben wollt. Aber sagt mir doch, wer der Señor ist und die Señora, welche Ihr bei Euch habt?“
„Das werde ich Euch drin erzählen. Aber sagt mir lieber, ob Señorita Resedilla munter ist.“
„Munter? O leider nein.“
„Ah! Sie ist doch nicht krank?“
„Das eigentlich nicht. Aber sie muß sich den Magen verdorben haben, denn sie kann fast gar nichts mehr essen. Sie magert ab, und im stillen da stöhnt und seufzt sie, da piept und pfiept sie, als wenn es bald zu Ende gehen solle. Ich habe ihr schon Senfteig angeraten, Senfteig auf den Magen und die Schulterblätter mit Melissengeist einreiben; aber sie hört nicht eher, bis es zu spät ist. Hier gehört eben ein tüchtiger Schwiegersohn her, der ihr den Standpunkt klar macht, was Senfteig und Melissengeist zu bedeuten haben, wenn man einen kranken und übergesperrten Magen hat.“
Der ‚Schwarze Gerard‘ kannte den Alten. Auf ihn wirkten die Worte des Alten nicht so, wie es bei einem anderen gewesen wäre. Er sagte:
„Wo befindet sie sich jetzt?“
„Drinnen in der Stube.“
„So erlaubt, daß ich sie zunächst begrüße.“
Er trat in den Flur, öffnete die Tür der Stube und blickte hinein.
„Hier ist niemand“, sagte er.
„Freilich ist sie drin“, behauptete der Alte.
„Nein.“
„Donnerwetter, seid ihr denn blind? Sie steht ja da am Fenster, guckt euch an und macht ein Gesicht, als wenn sie ein halbes Dutzend Maulwürfe lebendig verschluckt hätte.“
„Aber wo denn nur?“ fragte Gerard lachend.
„Da! Hier!“
Der Alte kam an die Tür, um nach der Stelle zu zeigen, an welcher er Resedilla verlassen hatte; aber sie war allerdings leer.
„Weiß Gott, sie ist nicht da“, rief er ganz erstaunt.
„Seht Ihr!“
„Sie ist fort. Reine weg fort. Ist das ein Benehmen. Himmeldonnerwetter! Was habt Ihr ihr denn eigentlich getan?“
„Getan? Wieso?“
„Nun, weil sie Euch so ganz und gar nicht leiden kann.“
„Ja, das kann ich mir auch nicht erklären.“
„Ja, Ihr müßt es mit ihr verdorben haben, ganz gewaltig verdorben. Als sie Euch kommen sah, stieg ihr gleich die Galle in die Höhe; das sah ich ihr an. Darum ist sie ausgerissen. Sie will von Euch gar nichts wissen.“
„Leider. Aber sagt, mein lieber Señor Pirnero, kann kann ich unsere Pferde und Maultiere bei Euch unterbringen?“
„Das versteht sich.“
„Und die Ladung auch?“
„Jawohl!“
„Aber ich kann sie nicht im Freien liegenlassen, ich möchte sie vielmehr einschließen.“
„Ah, ist sie wertvoll?“
„So ziemlich.“
„Worin besteht sie denn?“
„Es ist Blei.“
„Blei? Sapperlot, das ist ja gut. Blei wird außerordentlich gesucht. Wo wollt Ihr es denn hinschaffen?“
„Zunächst will ich es hierlassen. Ich dachte, mit Euch ein kleines Geschäftchen zu machen.“
„Schön! Aber woher habt Ihr das Blei?“
„Ich kannte eine Bleimine da droben in der Sierra. Und da ich nächstens in die Lage kommen werde, viel Geld zu gebrauchen, so reiste ich hinauf und holte mir so viel, bis ich genug hatte.“
„Na, ich denke, daß Ihr mir den Preis nicht gar zu hoch stellt. Aber, was ist es denn, weswegen Ihr soviel Geld braucht?“
„Etwas sehr Eigentümliches!“
„Wirklich?“
„Ja. Sogar etwas sehr Wichtiges.“
„Alle Teufel! Ihr macht mich ganz bedeutend neugierig.“
„Nun so ratet einmal.“
„Raten? Hm, sagt es mir doch lieber gleich!“
„Meinetwegen. Ich werde heiraten.“
Der Alte sprang vor Erstaunen einen Schritt zurück.
„Heiraten? Unsinn!“ rief er.
„O, doch“, antwortete Gerard.
„Wann denn?“
„In einigen Tagen.“
„Und wen denn?“
„Die Señorita, welche ich mitgebracht habe.“
Er deutete auf die verschleierte Frauengestalt, welche noch im Sattel saß, während ihr Begleiter bereits abgestiegen war und sich mit den Tieren zu schaffen machte. Pirnero warf einen forschenden Blick auf sie. Er konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber ebensowenig die Gefühle seines Herzens zurückhalten.
„Seid Ihr denn verrückt oder gescheit?“ fragte er.
„Wieso?“
„Daß es Euch einfällt, zu heiraten.“
„Nun, man will doch endlich einmal glücklich sein.“
„Glücklich? Hole Euch der Teufel! Wird man denn durch das Heiraten etwa glücklich?“
„Natürlich.“
„Unsinn. Das fällt keinem Menschen ein. Man verliert nur seine Freiheit und Selbständigkeit; der Charakter, das Temperament und das Ehrgefühl gehen verloren, und man sinkt nach und nach zu einem Dinge herab, mit dem die Frau machen kann, was ihr beliebt. Ich rate Euch ab.“
„Es ist zu spät.“
„Sapperlot! Es ist nicht zu spät. Jagt sie zum Teufel! Hat denn diese dort Eltern?“
„Leider nicht mehr.“
„So müßt Ihr sie auf alle Fälle fortjagen.“
„Warum?“
„Weil Ihr ja durch diese Heirat nicht einmal zu einem Schwiegervater kommt. Weshalb heiratet man denn? Um einen Schwiegervater zu haben, mit dem man sich gut steht.“
„Das möchte ich zugeben. Aber wie gesagt, es ist bereits zu spät.“
„Na, so bedaure ich Euch von ganzem Herzen. Willkommen, Señor und Señorita. Tretet gefälligst ein!“
Diese Worte waren an den Begleiter und die Begleiterin Gerards gerichtet, welche jetzt näher traten, um sich nach der Gaststube zu begeben.
„Könnten wir die Ladung in Eurem Magazin unterbringen?“ fragte Gerard.
„Ja. Ich werde gleich meine Leute rufen. Sapperment, seid Ihr vorsichtig. Ihr habt diese Bleisäcke doch sogar zugesiegelt.“
„Sicher ist sicher. Seht darauf, daß mir die Siegel nicht beschädigt werden, und sorgt dann für ein gutes Abendbrot!“
Er folgte den beiden anderen in die Stube. Pirnero holte seine Leute herbei, und dann eilte er nach der Küche, um seiner Tochter die nötigen Befehle zu geben.
„Wo ist Resedilla?“ fragte er die alte Magd, welche allein da war.
„Ich weiß es nicht“, antwortete die Gefragte, „aber ich hörte, daß sie die Treppe hinaufging.“
„So ist sie ausgerissen“, meinte er. „Hm, ich nehme es ihr auch nicht gerade übel. Der Kerl ist doch zu dumm!“
„Warum?“ fragte die Alte, der es selten passierte, ihren Herrn einmal mitteilsam gegen sein Gesinde zu finden, und die daher diese Gelegenheit schleunigst ergriff.
„Weil er heiratet“, antwortete er.
„O, Madonna, sollte das wirklich dumm sein?“
„Natürlich!“
„Señor, ich halte es ganz und gar nicht für eine Dummheit, Señorita Resedilla zur Frau zu nehmen. Erstens ist sie jung, zweitens hübsch, drittens wohlhabend, viertens –“
„Erstens, zweitens, drittens und viertens hast du das Maul zu halten“, unterbrach er sie zornig. „Resedilla ist es ja nicht, die er heiraten will.“
„Nicht?“ fragte die Magd ganz erstaunt.
„Nein.“
„Wer denn?“
„Eine andere natürlich. Aber da kommt er bei mir nicht zum Richtigen. Wenn er etwa geglaubt hat, daß ich ihm meine Resedilla zur Frau geben werde, da hat er sich gewaltig geirrt. Der könnte vom Kopf bis zu den Füßen in Gold gefaßt sein, er kriegte dennoch meine Tochter nicht. Ich habe mir einen anderen Schwiegersohn eingebildet, und den bekomme ich. Ich habe meine Tochter nicht so fein vom Vater auf die Tochter herüber erzogen, daß sie einen Jäger heiraten soll. Sie wird einen bekommen, der sich gewaschen hat.“
Er hatte sich in einen Zorn hineingeredet, der sich von Wort zu Wort mehr steigerte. Der Umstand, daß der ‚Schwarze Gerard‘ eine andere heiraten wolle, hatte ihm seine Hoffnung zerstört und versetzte ihn in einen Grimm, wie er ihn lange Zeit nicht gefühlt hatte. Er tat nun so als ob ihm an dem früher Gewünschten gar nichts gelegen habe und fuhr fort:
„Wenn du überhaupt wüßtest, was ich vorhabe, so würdest du dich nicht wenig wundern.“
„Wundern? Hm, Señor, ich wundere mich gar zu gern ein bißchen. Wollt Ihr es mir nicht sagen?“
„Warum nicht! Ich werde verkaufen.“
„Verkaufen?“ fragte sie ganz erstaunt.
„Was denn?“
„Nun, was denn sonst als mein Geschäft und meine Besitzungen.“
„Heilige Madonna! Was soll denn da aus uns werden!“ rief sie, die Hände zusammenschlagend.
„Na, ihr bleibt da. Der Käufer muß euch mit übernehmen.“
„Habt Ihr denn schon einen Käufer?“
„Nein.“
„Gott sei Dank!“
„Gott sei Dank? Dumme Liese. Ich will vielmehr Gott danken, wenn ich einen finde. Dann ziehe ich fort.“
„Wohin denn?“
„Weit fort, fort aus Mexiko, fort aus Amerika, dahin, wo es noch andere Schwiegersöhne gibt als diesen Gerard. Ich freue mich darüber, daß Resedilla so klug gewesen ist, mit ihm gar keinen großen Kram zu machen. Wir wollen sie lassen, wo sie ist. Er will zwar ein Essen haben, aber was der bekommen wird, das bringen wir auch ohne sie ganz gut fertig.“
So begann er denn, sich mit Hilfe der Alten über die Zubereitung eines Mahles herzumachen. Unterdessen brachten seine Leute die Tiere und die Ladung der Angekommenen unter. Diese letzteren aber befanden sich im Gastzimmer, wo sie sich miteinander unterhielten.
Die Dame hatte den Schleier abgenommen und sah, trotzdem, daß sie nicht mehr weit von der Vierzig stehen konnte, noch ganz akzeptabel und reputierlich aus. Dem aufmerksamen Beobachter mußte es auffallen, daß sie eine große Ähnlichkeit mit Gerard besaß.
Was diesen letzteren betrifft, so ließ er jetzt die beiden allein, indem er aus dem Zimmer ging und die Treppe hinaufstieg.
Da oben lag ja Resedillas Schlafstube, welche er so gut kannte und in welcher er so glückliche Augenblicke verlebt hatte.
Er klopfte leise. Ein ebenso leises „Herein“ ertönte von innen, und so trat er ein. Resedilla stand am Fenster. Ihre schönen Augen waren noch feucht. Er trat näher und fragte:
„Seid Ihr bös, daß ich es wage, Señorita?“
„Nein“, hauchte sie.
„Ah, Ihr habt geweint!“
„Ein wenig“, flüsterte sie unter einem halben Lächeln.
„O, wenn ich doch wüßte, worüber ihr geweint habt!“
Sie antwortete nicht. Darum fuhr er fort:
„Ihr wart unten, als ich kam?“
„Ja.“
„Und Ihr seid schleunigst geflohen. Auch jetzt sagt Ihr kein Wort, mich zu bewillkommnen. Bin ich Euch denn so verhaßt?“
Er sagte das in einem so traurigen Ton, daß sie sofort auf ihn zutrat und mit herzinnigem Ausdruck ihres Gesichtes beide Hände entgegenstreckte.
„Willkommen, Señor“, sagte sie.
„Wirklich?“ fragte er, ihre Hand rasch ergreifend.
„Ja, herzlich willkommen.“
„Und dennoch seid Ihr geflohen? Nicht wahr, vor mir?“
„Ja“, antwortete sie langsam und zögernd.
„Warum?“
Sie errötete bis hinter die Ohren und antwortete:
„Weil Ihr mich nicht sogleich sehen solltet.“
„Warum sollte ich das nicht?“
„Weil – weil – weil – – – o bitte, erlaßt mir diese Antwort, Señor.“
Er blickte ihr prüfend in die Augen und sagte dann:
„Und doch gäbe ich viel darum, wenn ich diese Antwort hören dürfte. Bitte, bitte, Señorita! Wollt Ihr sie nicht sagen?“
Sie senkte das Köpfchen und flüsterte:
„Ich war ja nicht allein!“
„Nicht allein? Wie meint Ihr das?“
„Mein Vater war dabei.“
Da überkam es ihn wie eine süße glückliche Ahnung. Er bog den Kopf zu ihr herab und fragte:
„Und warum sollte Euer Vater nicht dabei sein?“
Da zog sie rasch ihre Hände aus den seinigen, legte ihm die beiden Arme um den Hals und antwortete:
„Er sollte nicht sehen, wie lieb, wie sehr lieb ich dich habe und mit welcher Bangigkeit ich auf dich wartete.“
Der starke Mann hätte am liebsten laut aufjubeln mögen, aber er beherrschte sich. Er schlang seine Arme um sie und zog sie an sich und fragte in einem Ton, welcher das ganze Glück seines Herzens verriet:
„Ist das wahr, wirklich wahr?“
„Ja“, sagte sie, indem sie ihr Köpfchen fest an seine Brust legte. „Du darfst es glauben.“
„Meine Resedilla.“
Nur diese beiden Worte sprach er, dann aber standen sie in einer innigen Umarmung beieinander, und ihre Lippen fanden sich zur zärtlichsten Vereinigung. Es war ein Augenblick so großen Glücks, daß Gerard meinte, gar nicht daran glauben zu dürfen.
„Also du liebst mich wirklich, wirklich, mein süßes, gutes Mädchen?“ flüsterte er ihr zu.
„Innig!“ antwortete sie.
„Und hast dich um mich gesorgt?“
„Sehr!“
„Um diesen armen, einfachen Jäger. Um diesen fremden, bösen Mann, der in seiner Heimat nichts gewesen ist als ein –“
„Pst!“ machte sie, indem sie ihm den Mund mit einem Kuß verschloß. „Du sollst nicht davon sprechen.“
„Aber muß ich denn nicht?“
„Nein, niemals. Nie wieder. Gott hat dir vergeben! Gott wird dich glücklich machen.“
„Durch dich, nur allein durch dich!“ sagte er.
„O, welche Sorgen habe ich gehabt. Noch in letzter Zeit. Es war mir, als hätte ich meine Hand nach einem Gut ausgestreckt, welches ich niemals erlangen könne.“
„Da hast du es. Ich bin ja dein.“
„Ja, mein, mein, mein“, jubelte er, indem er sie küßte und immer wieder küßte. „Aber dein Vater?“
Da breitete sich ein beinahe mutwilliges Lächeln über ihr hübsches Gesicht, und sie fragte:
„Fürchtest du ihn?“
„Ja, beinahe.“
Da zog sie das Mündchen zu einem spaßhaften Schmollen zusammen und rief, ihn mit großen Augen betrachtend:
„Du, der berühmte Jäger? Du fürchtest den alten Pirnero?“
„Ja“, wiederholte er lächelnd.
„Nun meinetwegen. Aber du bist nicht allein. Du findest Hilfe.“
„Bei wem?“
„Bei mir, mein Gerard. Übrigens weißt du ja, was mein Vater von dir denkt. Er ist förmlich verliebt in dich.“
„So meinst du also, daß ich mit ihm sprechen soll?“
„Ja.“
„Wann?“
Sie errötete ein wenig, doch antwortete sie mit sicherer Stimme:
„Wann du willst, mein Lieber.“
Er drückte sie abermals innig an sich und fragte im Ton der größten glücklichsten Zärtlichkeit:
„Baldigst?“
„Ja“, antwortete sie.
„Noch heute?“
„Noch heute“, nickte sie, ihre strahlenden Augen zu ihm erhebend.
„Ich danke dir, mein Leben, meine Seligkeit. Gott, wie habe ich denn solches Glück verdient. Ich bin nicht wert, eins der lieben, kleinen, warmen Händchen in meiner Hand zu halten, und doch soll ich dich ganz besitzen, und du willst mein Eigen sein für das ganze Leben!“
„Ja, Gerard, dein Eigen für immerdar“, fügte sie hinzu. „Aber, sage, wer sind die beiden, welche du mitgebracht hast?“
Da zuckte ein schelmisches Lächeln über sein Gesicht. Er antwortete:
„Der eine ist mein Freund, und die andere ist – meine Braut.“
Sie blickte verwundert zu ihm auf. „Deine – Braut?“ fragte sie.
„Ja“, nickte er übermütig.
„Aber das – das verstehe ich nicht.“
„So muß ich es dir schleunigst erklären, meine Resedilla. Dein Vater war nämlich wißbegierig, was ich nun beginnen werde und ich antwortete: Heiraten. Er fragte mich, wen? Da machte ich mir den Spaß, ihm zu sagen, daß diese Dame meine Braut sei.“
Resedilla lachte, rief aber dennoch:
„O wehe!“
„Warum?“
„Nun wird er außerordentlich schlechte Laune haben. Wo ist er?“
„In der Küche. Wir haben Essen bestellt.“
„Das wird nicht zum besten ausfallen. Aber, wo werdet Ihr wohnen? Magst du dein Zimmer wieder haben?“
„Das, wo ich damals vor Ermüdung eingeschlafen war?“
„Ja“, lachte sie. „Wo ich deine Büchse untersuchte, ob ihr Kolben von Gold sei. Ist dir dieses Zimmer recht?“
„Ich wollte dich bereits darum bitten.“
„So mögen die anderen beiden – ah, ich weiß ja noch immer nicht, wer sie sind.“
„Warte noch ein wenig, meine gute Resedilla. Ich will sehen, ob du es erraten wirst. Für jetzt genügt es, zu wissen, daß sie Mann und Frau sind.“
„So werden sie neben dir wohnen können. Die Señora wird ermüdet sein. Ich werde sie holen, um sie auf ihr Zimmer zu führen, damit sie den Staub der Reise los wird.“
„Bleibe, mein Lieb! Ich werde sie selbst holen.“
Er ging hinab und gab durch die leise geöffnete Tür den beiden einen Wink, ihm zu folgen. Draußen aber fragte die Dame:
„Ist sie daheim, Gerard?“
„Ja“, antwortete er unter einem fröhlichen Nicken.
„Hast du mit ihr gesprochen?“
„Soeben.“
„Ah, dein Gesicht hat einen nichts weniger als unglücklichen Ausdruck. Darf ich raten?“
„Ja. Rate einmal Kind.“
„Sie ist dein?“
Da holte er tief Atem und antwortete:
„Ja, sie will mein sein, sie, die Gute, die Reine, will mir angehören, dem Bösen, dem Unreinen.“
Da ergriff sie seine Hand und bat:
„Still, Gerard! Was du warst, das warst du ohne deine Schuld. Und damals, als du zu den von Gott scheinbar Verlassenen gehörtest, hat dich die Liebe veredelt welche du zu mir im Herzen trugst. Komm. Ich bin begierig, die kennen zu lernen, welcher du verdankst, daß du es über dich gewonnen hast, dich mit deinem Gewissen auszusöhnen.“
„Sie weiß noch nicht, wer du bist.“
„Du hast es ihr nicht gesagt?“
„Nein.“
„Warum?“
„Weil ich sehen will, ob sie scharfsinnig genug sein wird, es zu erraten. Kommt herauf.“
Oben hatte Resedilla die Zimmer geöffnet, und erwartete die beiden.
„Willkommen, Señor! Willkommen, Señorita!“ sagte sie, ihnen die Hände gebend. „Ich hoffe, daß Ihr mit uns fürlieb nehmen werdet. Ah!“
Diesen Ausruf stieß sie aus, indem sie die Dame näher betrachtete.
„Was ist's, meine Resedilla?“ fragte Gerard.
„Ah, diese Ähnlichkeit“, antwortete sie mit allen Zeichen freudiger Überraschung. „Soll ich raten, wen du mir bringst?“
„Ja, rate.“
„Diese Señora ist deine Schwester.“
Da nickte er unter einem befriedigten Lächeln mit dem Kopf und sagte:
„Richtig! Es ist Annette, meine Schwester, liebe Resedilla.“
„Dieselbe, welche Señor Sternau damals in Paris aus der Seine gerettet hat, als sie sich in das Wasser stürzte?“
„Dieselbe!“
„Willkommen, tausendmal willkommen. Welch eine Freude! Eine solche Überraschung hätte ich nicht für möglich gehalten.“
Sie umarmte die Französin und diese sah und erkannte, welche Perle ihr Bruder in diesem guten, herzlichen Mädchen gefunden hatte. Sie erwiderte die Umarmung auf das herzlichste und sagte:
„Habt Dank, Señorita, für die Liebe, welche mein Bruder in Eurem Haus gefunden hat. Wir werden Euch das nie vergessen. Gott segne Euch dafür, da wir es Euch nicht vergelten können.“
Nach einiger Zeit kam Resedilla in die Küche, wo ihr Vater mit der alten Magd zwischen den Schüsseln und Tellern wirtschaftete. Als er sie erblickte, fragte er:
„Wo warst du?“
„Oben in meiner Stube“, antwortete sie.
„Gehe rasch wieder hinauf.“
„Warum?“
„Wir brauchen dich nicht.“
„Ich habe doch das Essen zu bereiten.“
„Dummheit. Wir bringen das schon selbst fertig. Dieser Gerard braucht sich auf keine großen Delikatessen zu spitzen.“
Sie wußte, weshalb er sich in einer so grimmigen Stimmung befand.
Sie verbarg ihr Lächeln und meinte: „Ich denke, du hältst so große Stücke auf ihn!“
„Papperlapapp! Diese Zeiten sind vorüber.“
„Warum denn?“
„Das geht dich gar nichts an. Wo ist der Kerl?“
„In seiner Stube.“
„Der kann eigentlich bei den Vaqueros auf dem Heu schlafen. Nicht einen lumpigen Julep hat er sich geben lassen. Wo sind die beiden anderen?“
„Oben.“
„Hast du sie gesehen?“
„Natürlich!“
„Donnerwetter! Weißt du, wer das Mädchen ist?“
„Nun?“
„Seine Braut.“
Resedilla machte eine Miene des allergrößten Erstaunens.
„Seine Braut?“ fragte sie. „Nein, das glaube ich nimmermehr.“
„Glaube es meinetwegen oder nicht. Er hat es mir selbst gesagt. Aber die Strafe kommt auf dem Fuß. Hier, dieses Essen soll ihm gut bekommen. Ich habe statt Butter Talg, statt Zucker Pfeffer, statt Milch Essig und anstatt des guten Fleisches eine alte Rindslunge genommen. Das steht am Feuer bis es verbrannt ist, und dann mögen sie sich die Zähne ausbeißen und die Zungen am Pfeffer verbrennen.“
„Aber Vater! Was denkst du – – –“
„Still! Kein Wort“, unterbrach er sie. „Wer so dumm ist, heiraten zu wollen, für den ist eine verbrannte und verpfefferte Ochsenlunge noch immerhin eine Delikatesse, welche er gar nicht wert ist. Packe dich fort. Wir brauchen dich nicht.“
„Aber das geht nicht. Ihr beide versteht ja vom Kochen und Braten nicht das Allergeringste.“
„Gerade darum kochen und braten wir für dieses Volk. Teufel noch einmal! Will ich mich freuen über die Gesichter, welche sie schneiden werden, wenn sie in die famose Lunge beißen. Du aber, du kannst verschwinden. Wir brauchen dich nicht.“
Er faßte sie an und schob sie zur Tür hinaus. Sie ließ es unter heimlichem Lachen geschehen und begab sich zu dem Geliebten, um diesen vor der famosen Rindslunge zu warnen. Dann aber setzte sie sich in das Gastzimmer an ihr Fenster.
Nach einiger Zeit trat die Magd ein und begann zu decken. Pirnero beaufsichtigte dieses Geschäft und schickte sie dann hinauf, um die drei Gäste zur Tafel zu holen. Dann setzte er sich an sein Fenster, aber so, daß er den Tisch, an dem gegessen werden sollte, übersehen konnte. Er freute sich über die Gesichter, die er nach seiner Ansicht zu sehen bekommen würde.
Die drei traten ein und nahmen mit den ernstesten Mienen Platz. Pirnero sah zum ersten Mal Annettes Gesicht.
„Pfui Teufel!“ brummte er vor sich hin. „Sich so eine alte Grille aufzulesen. Aber, hm, ja. Eine andere hätte er auch nicht bekommen.“
Gerard nahm die Gabel und spießte sie in die Lunge. Er mußte Gewalt anwenden, um die Gabel hineinzubringen.
„Sapperlot“, meinte er schmunzelnd und vor Appetit mit der Zunge schnalzend. „Welch ein saftiger und weicher Braten. Was ist denn das, Señor Pirnero?“
„Gebackene Kalbslunge“, antwortete dieser.
„Ah, mein Leibgericht.“
„Meins auch, lieber Gerard“, meinte die Dame, „aber gebackene Kalbslunge sollte eigentlich kalt gegessen werden.“
„Ja, kalt ist sie mir auch zehnmal lieber“, antwortete Gerard. „Wie wäre es, wenn wir sie uns bis zum Abend aufheben?“
„Ich bin dabei. Aber was essen wir dann?“
„O, ich habe noch ein Stück am Spieß gebratene Büffellende in meinem Sattelsack. Das hole ich und wir wärmen es. Habt Ihr noch Feuer, Señor Pirnero?“
„Nein“, antwortete dieser, ganz ärgerlich, daß er um die gehoffte Genugtuung kommen sollte.
Gerard aber ließ sich nicht irre machen. Er öffnete die Küchentür, blickte hinaus und sagte:
„Dort brennt es ja noch hell und lichterloh. Ich werde das Lendenstück holen. Señorita Resedilla, werdet Ihr so gut sein und es unter Eure Aufsicht nehmen?“
Ihr Vater warf ihr einen befehlenden Blick zu. Sie sollte die Frage verneinen; aber sie erhob sich vom Stuhle und antwortete: „Ich kann es Euch doch wohl nicht abschlagen, Señor, obgleich es um die schöne Lunge jammerschade ist.“
„Ja“, meinte Pirnero. „Kalbslunge kalt essen. Habe das noch nie gehört, weder hier noch drüben in Pirna, wo sie doch auch wissen, was gut schmeckt.“
Aber er konnte es nicht ändern. Gerard holte seinen Braten herbei und übergab ihn Resedilla, welche mit ihm in der Küche verschwand. Dann wendete er sich an Pirnero: „Können wir einstweilen einen Julep erhalten, Señor?“
„Ja. Doch einen nur für alle drei?“
Gerard tat, als ob er die Malice, welche in dieser Frage lag, gar nicht bemerkte und antwortete:
„Nein, sondern pro Person einen.“
„Ah! Die Señora trinkt auch Julep?“
„Natürlich!“
„Hm! Das erwartet man eigentlich nur von einer Indianerin!“
„Sie hat auch lange Zeit in der Nähe von Indianern gewohnt.“
Pirnero holte die Schnäpse und setzte sich dann an sein Fenster. Es trat eine Stille ein, welche niemand unterbrechen wollte. Gerard wußte, daß der Alte es nicht lange so aushalten werde; er kannte seine Eigentümlichkeiten. Er hatte sich auch nicht verrechnet, denn nach fünf Minuten rückte Pirnero auf seinem Sitz hin und her, und nach abermals derselben Zeit sagte er, einen Blick zum Fenster hinaus werfend:
„Schlechtes Wetter.“
Kein Mensch antwortete. Darum wiederholte er nach einer Weile:
„Miserables Wetter!“
Als es nun noch still blieb, drehte er sich halb um und rief:
„Na!“
„Was denn?“ fragte Gerard lächelnd.
„Armseliges Wetter.“
„Wieso?“
„Diese Hitze!“
„Nicht so sehr schlimm!“
„Nicht? Donnerwetter! Wollt Ihr die Trockenheit noch schlimmer?“
„Ich habe sie noch viel schlimmer erlebt. Da draußen in der Llano estacado zum Beispiel.“
„Ja, aber hierher paßt sie nicht. Habt Ihr den Fluß gesehen?“
„Natürlich!“
„Fast kein Wasser darin. Die Fische verschmachten und die Menschen beinahe auch. Verfluchtes Land. Aber ich werde gescheit sein.“
„Wieso?“
„Ich ziehe fort.“
Dieser Gedanke kam Gerard überraschend.
„Ah? Wirklich?“ fragte er.
„Ja. Es ist fest bestimmt.“
„Wohin zieht Ihr denn?“
„Hm! Wißt Ihr, wo ich her bin?“
„Ja.“
„Nun?“
„Aus Pirna in Sachsen.“
„Richtig. Nun wißt Ihr ja auch, wohin ich ziehe!“
„Wie? Nach Pirna wollt Ihr?“
„Das versteht sich. Übrigens kann ich fast gar nicht anders.“
„Weshalb?“
„Weil ich gestern einen Brief bekam, aus Pirna nämlich. Könnt Ihr Euch etwa denken von wem?“
„Ich habe keine Ahnung.“
„Ja, zu so einer Ahnung seid Ihr auch der richtige Kerl gar nicht, dazu fehlt es Euch an den nötigen Begriffen. Wißt Ihr vielleicht, was man unter einem Schulfreund versteht?“
„Das wenigstens weiß ich, trotzdem ich keine Begriffe habe“, antwortete Gerard lachend.
„Nun, so einen Schulfreund habe ich. Der hat es so nach und nach bis zum geheimen Stadtgerichtsamtwachtmeistersobersubstituten gebracht. Wißt Ihr, was das ist?“
„Ich ahne es.“
„Ja, so etwas könnt Ihr nur ahnen. Dieser Obersubstitut hat einen Sohn, der erst bei der Eisenbahn, dann bei der Marine und endlich bei der Oberstaatsanwaltschaft gedient hat. Nun ist er wirklich geheimer Oberlandessporteleinzahlungskassenrevidierungsfeldwebel, und dieser wirkliche Geheime hat in dem Brief um die Hand meiner Resedilla angehalten.“
„Alle Teufel! Kennt er sie denn?“
„Dumme Frage. So vornehme Leute heiraten stets nur aus der Entfernung.“
„Habt Ihr bereits geantwortet?“
„Ja.“
„Was?“
„Ich habe mein Jawort gegeben und meinen Segen erteilt.“
„Das ist sehr schnell gegangen.“
„Warum nicht? Dieser Schwiegersohn stammt aus einer der feinsten Familien des Landes. Er ist ein wirklicher Geheimer. Wen aber hätte Resedilla hier bekommen? Höchstens einen armen Teufel von Trapper oder Jäger, dem es lieb gewesen wäre, sich bei mir satt zu essen.“
„Vielleicht habt Ihr recht. Ich gratuliere.“
„Danke“, meinte der Alte unter einem höchst gnädigen und herablassenden Kopfnicken.
„Aber“, fuhr Gerard fort, „wenn Ihr hier fort wollt, was fangt Ihr da mir Eurem Eigentum an?“
„Ich verkaufe.“
„Hm! Das wird schwer werden.“
„Unsinn! So ein Geschäft wir das meinige, findet seinen Mann. Und die paar Meiereien welche mir gehören, werde ich auch bald los.“
„So habt Ihr wohl schon einen Käufer?“
„Ja.“
Das war eine Unwahrheit, aber in seinem Grimm lag es dem Alten nur daran, Gerard recht zu ärgern. Dieser machte die unschuldigste Miene von der Welt und sagte:
„Das ist schade, sehr, sehr schade!“
„Wieso?“
„Weil ich gekommen bin, um Euch zu fragen, ob Ihr noch Lust habt, zu verkaufen.“
Da drehte Pirnero sich mit einem Ruck zu ihm herum und fragte:
„Ihr? Ihr selbst?“
„Ja.“
„Ihr wolltet mich fragen, ob ich Lust habe, zu verkaufen?“
„Ja, ich.“
„Wie kommt denn Ihr zu einer solchen Frage?“
„Weil ich einen Käufer weiß, dem Euer Geschäft und Eure Meiereien sehr gut passen würden.“
Pirnero war nur in seinem Grimm auf den Gedanken gekommen, zu verkaufen und fortzuziehen. Nun er aber von dem Jäger diese Worte hörte, war es ihm zumute, als ob er diesen Entschluß bereits längst und unwiderruflich gefaßt habe.
„So?“ fragte er. „Wer ist es denn?“
„Das zu erfahren, kann Euch doch nichts mehr nutzen.“
„So? Warum denn?“
„Weil Ihr bereits einen Käufer habt.“
„Das ist noch lange kein Grund, mir die Auskunft zu verweigern. Hat man zwei Käufer anstatt nur einen, so kann man sich den auswählen, der am meisten bietet. Also, wer ist es?“
„Ich selbst.“
„Ihr selbst?“ fragte Pirnero, indem er vor Erstaunen den Mund weit öffnete.
„Ja, ich“, antwortete Gerard sehr ruhig.
„Sackerment! Macht keine dummen Witze mit mir!“
„Pah! Ich rede sehr im Ernst.“
„So seid Ihr unsinnig!“
„Wieso?“
„Wie sollt Ihr der Käufer sein? Ihr könntet mir das Zeug doch gar nicht bezahlen!“
„Wißt Ihr das so genau?“
„Sehr genau. Der Kolben Eurer Büchse ist zwar von Gold, auch ist es möglich, daß ihr wißt, wo noch einige Nuggets liegen, und Ihr habt ja wohl einige Säcke Blei bei Euch. Aber das alles ist doch noch nichts gegen die Summe, welche ich verlangen würde.“
„Hm. Vielleicht könnte ich sie doch bezahlen!“
„Versucht es einmal!“ höhnte der Alte.
„Wieviel verlangt Ihr?“
„Hundertsechzigtausend Dollar. Zahlt Ihr die, so bekommt Ihr alles, wie es steht und liegt.“
„Auch das Inventar?“
„Ja.“
„Und die Vorräte im Magazin?“
„Ja.“
Gerard wiegte nachdenklich den Kopf hin und her.
„Hm“, sagte er. „Das wäre allerdings nicht übel. Aber leider habe ich allerdings diese Summe nicht.“
„Dachte es mir schon! Wieviel bringt Ihr denn zusammen?“
„Zwölftausend Dollar.“
„Das ist nichts, das zählt gar nichts! So viel haben nur arme Leute. Da ist mein wirklicher Geheimer ein anderer Kerl. Aber sagt mir doch einmal, was Ihr mit meinem Zeug anfangen wolltet, vorausgesetzt nämlich, daß Ihr es bezahlen könntet!“
„Ich würde es verschenken.“
„Verschenken?“ fragte Pirnero. „Seid Ihr verrückt?“
„Vielleicht.“
„Nicht vielleicht, sondern wirklich! Wer ein solches Vermögen verschenkt, der ist in Wirklichkeit verrückt. An wen würdet Ihr es denn verschenken?“
„An den Señor da drüben.“
„An den? Wer ist er denn?“
„Mein Schwager.“
„Euer Schwager? Ah, ich verstehe! Der Bruder Eurer Braut. Na, es ist schon dafür gesorgt, daß der Ziege der Schwanz nicht zu lang wächst. Mit dem Verschenken wird es nichts. Mit dem Kaufen auch nicht, selbst wenn Ihr noch einige hundert Dollar für das Blei bekommt, welches ich euch abkaufen werde.“
„Leider, leider! Aber sagt, wie bezahlt Ihr das Blei?“
„Je nach der Güte.“
„Da möchte ich doch einmal erfahren, was Ihr für das meinige bietet.“
„Laßt es sehen!“
Ohne ein Wort zu sagen, entfernte sich Gerard und brachte einen der Ledersäcke herein, welche von den Dienern abgeladen worden waren. Dieser mußte sehr schwer sein, wie es schien.
„Warum hier?“ fragte Pirnero. „Das machen wir da drüben im Laden ab.“
„Hier oder drüben, das bleibt sich gleich“, antwortete der Jäger. „Ihr werdet das Blei doch nicht kaufen.“
Dabei legte er den Sack vor Pirnero hin.
„Warum nicht kaufen?“ fragte dieser.
„Weil Ihr es nicht bezahlen könnt.“
Da lachte der Alte auf.
„Ich, und dieses Blei nicht bezahlen!“ sagte er. „Ich sage Euch, daß ich es Euch augenblicklich bezahlen könnte, selbst wenn Ihr zehn solche Säcke brächtet! Soviel Geld hat der alte Pirnero immer!“
„Wollen sehen! Macht einmal auf!“
Er zog sein Messer und reichte es Pirnero hin. Dieser fragte:
„Darf ich das Siegel wegmachen?“
„Ja.“
„Und das Leder aufschneiden?“
„Natürlich. Ihr müßt ja das Blei sehen.“
Dabei stellte er den Sack aufrecht vor Pirnero hin. Dieser kratzte das Siegel mit dem Messer weg, machte einen Querschnitt und zog das Leder weg. Es gab nun eine zweite und dritte Lage ungegerbten Leders, welche Pirnero beseitigte. Dann bückte er sich nieder, um das Metall zu besichtigen, fuhr aber sofort wieder zurück.
„Heiliges Pech! Ist's möglich?“ rief er aus. Seine Augen waren weit geöffnet und starrten mit einem Ausdruck unbeschreiblichen Erstaunens auf Gerard.
„Was denn?“ fragte dieser.
Pirnero bückte sich abermals nieder, um den Inhalt des Sackes genauer zu besichtigen.
„Das nennt Ihr Blei?“ rief er.
„Haltet Ihr es denn für etwas anderes?“
Da fuhr der Alte mit beiden Händen in den Sack, wühlte darin herum und antwortete:
„Blei, sagt Ihr? Das ist ja Gold, reines, gediegenes Gold! Nuggets von der Größe einer Haselnuß!“
„Alle Teufel!“ lachte Gerard.
„Was habe ich da gemacht! Da habe ich mich wahrhaftig vergriffen und meine Nuggets eingepackt anstatt des Bleies!“
Pirnero war ganz starr. Er hielt die beiden mit Nuggets gefüllten Hände grad vor sich hin und starrte wie abwesend auf das Gold. Resedilla hatte in der Küche kein Wort des Gespräches sich entgehen lassen. Sie war jetzt hereingekommen und stand ebenso erstaunt da wie ihr Vater.
„Euch vergriffen!“ rief dieser endlich. „Um Gottes willen! Wie schwer ist denn dieser Sack?“
„Sechzig Pfund“, antwortete der Jäger.
„Und jedes Maultier schleppte zwei solche Säcke?“
„Ja.“
„Und wem gehört das alles?“
„Mir.“
„Euch? Euch allein? Mensch, so seid Ihr ja steinreich!“
„Möglich.“
„Reicher, zehnmal reicher, als ich es bin!“
„Sehr wahrscheinlich.“
„Aber sagt, woher habt Ihr denn dieses Gold?“
„Aus den Bergen. Übrigens liegt noch mehr da oben.“
„Noch mehr? Und Ihr wißt, wo es zu finden ist?“
„Ja.“
„Mensch! Kerl! Gerard! Señor! Und das sagt Ihr mit einer solchen Seelenruhe, als ob es sich um einen Pappenstiel handele!“
„Pah! Das Gold macht nicht glücklich. Ich habe mir ein wenig geholt, weil ich es brauche, um mich zu verheiraten, wie ich Euch bereits sagte.“
„Leider, leider. Aber Señor, nehmt es mir nicht übel. Ihr spielt da den schlimmsten Streich Eures Lebens!“
„Inwiefern?“
Ohne zu beachten, daß die Dame zugegen war, ließ Pirnero in seinem Paroxysmus sich fortreißen, zu antworten:
„Ihr hättet noch eine ganz andere Frau gekriegt!“
„So? Meint Ihr? Was denn für eine?“
„Nun, eine, die Euch wenigstens einen tüchtigen Schwiegervater mitbringen würde.“
„Das ist allerdings etwas wert“, lachte Gerard. „Zuerst war es freilich meine Absicht, mir ein Mädchen zu suchen, welche mir einen Schwiegervater mitbringen werde, aber –“
„Was, aber? Habt Ihr etwa keine solche gefunden?“
„O ja doch! Aber ich kam zu spät.“
„Wieso zu spät?“
„Ihr Vater hatte sie einem anderen versprochen.“
„Kannte er Euch denn nicht?“
„O, sehr gut.“
„Dann ist er ein ganz ungeheurer Dummkopf gewesen.“
„Wohl nicht.“
„O doch! Wer Euch kennt, der weiß, was Ihr wert seid.“
„So viel war ich doch nicht wert, wie der andere, der das Mädchen bekommen soll.“
„Ah, wirklich? War der andere denn gar ein so großes Tier?“
„Ein sehr großes“, antwortete Gerard ernsthaft.
„Nun, was war er denn da?“
„Er ist wirklicher geheimer Oberlandessporteleinzahlungskassenrevidierungsfeldwebel.“
Pirnero wich zurück, blickte den Jäger eine Weile an und fragte dann: „Wie meint Ihr das? Was wollt Ihr damit sagen?“
„Was der andere ist, wollte ich sagen.“
„Donnerwetter! Das sind ja meine eigenen Worte!“
„Freilich.“
„Ihr meint den Pirn'schen da drüben?“
„Ja.“
Da fixierte der Alte die Anwesenden alle, einen nach dem anderen und rief dann:
„Señor Gerard, wollt Ihr mich etwa konfus machen?“
„Nein, sondern Ihr habt mich ganz konfus gemacht!“ antwortete dieser höchst ernsthaft.
„Euch? Womit?“
„Mit Eurem wirklichen Geheimen.“
„Wie kann ich Euch mit dem konfus machen? Hattet Ihr denn ein Auge auf die Resedilla geworfen?“
„Ja, alle beide sogar!“
Da brauste der Alte zornig auf:
„Und dort steht Eure Braut!“
„O nein, Señor.“
„Nicht? Ihr sagtet es doch!“
„Ich machte nur Scherz. Diese Señora ist meine Schwester und die Frau meines Schwagers, der da neben Ihr steht.“
Da machte Pirnero ein Gesicht, als ob er Scheidewasser verschluckt habe.
„Also Scherz?“ fragte er. „Sackerment, was sind mir das für Sachen! Dadurch kann ein braver Kerl nur in die gewaltigste Klemme geraten! Übrigens mag Euch die Resedilla ja gar nicht!“
„Wißt Ihr das so genau?“ fragte Gerard.
„Ja. Sie reißt ja vor Euch aus!“
„Das tut nichts. Ich bin ihr nachgefolgt.“
„Ah, wirklich?“
„Ja, und habe sie gefragt, ob sie aus Haß oder aus Liebe vor mir ausgerissen ist.“
„Dummheit! Aus Liebe reißt keine aus!“
„Es ist aber doch so gewesen. Resedilla hat mir gesagt, daß sie mich lieb hat und daß sie bereit sei, meine Frau zu werden.“
Da drehte der Alte sich nach seiner Tochter um.
„Ist das wahr?“ fragte er.
„Ja, lieber Vater“, antwortete die Gefragte, zwar errötend, aber doch ohne Furcht und Scheu.
Da schlug Pirnero die eine Hand auf die andere und rief:
„Nun hört mir aber doch alles und verschiedenes auf! Reißt vor ihm aus und will ihn dennoch heiraten! Also Ihr seid Euch gut?“
Sein Gesicht war plötzlich ein ganz anderes geworden; es glänzte förmlich vor Befriedigung und Freude.
„Ja“, antworteten beide.
„Na, da nehmt Euch denn in Gottes Namen!“
Er wollte ihre Hände ergreifen, aber Gerard wehrte ab und sagte:
„Ich danke, Señor! Damit ist es nichts!“
„Nichts? Alle Wetter! Warum denn?“
„Ihr müßt ja Eurem wirklichen Geheimen Wort halten.“
„Unsinn! Der lebt ja nicht!“
„Wie? Was? Er lebt ja drüben in Pirna!“
„Nein. Den gibt es ja gar nicht.“
„Aber Ihr sagtet es ja.“
Pirnero befand sich in Verlegenheit, doch kam ihm ein Gedanke, den er sofort zur Ausführung brachte.
„Ja, gesagt habe ich es“, meinte er, „aber nur, um Euch zu bestrafen, Señor Gerard.“
„Das begreife ich nicht.“
„Und doch ist es so einfach. Haltet Ihr mich etwa für gar so dumm, daß ich Euch nicht durchschaue? Ich habe es längst gewußt, wie es mit Euch und Resedilla steht, ich habe nicht geglaubt, daß diese Señora Eure Braut sei; aber weil Ihr mir das weismachen wolltet, habe ich zur Strafe das Märchen von dem wirklichen Geheimen erfunden.“
Niemand glaubte es ihm; aber sie ließen sich das nicht merken, und Gerard fragte:
„Also Señor, so sagt mir allen Ernstes, ob ich Euch als Schwiegersohn recht und willkommen bin.“
Da streckte der Alte beide Hände entgegen und rief:
„Na und ob! Junge willst du das Mädchen wirklich haben?“
„Von ganzem Herzen!“
„Und Mädel, bist du in den Kerl wirklich so verliebt, daß du ihn heiraten willst?“
„Ja“, lachte Resedilla unter Tränen.
„So kommt an mein Herz, Kinder! Endlich, endlich habe ich einen Schwiegersohn. Und was für einen!“
Er drückte sie beide an sich und schob sie dann einander in die Arme, indem er sagte:
„Und da, umarmt euch und gebt euch einen Kuß, damit ich sehe, ob es wahr ist, was ich beinahe nicht glauben möchte.“
Sie küßten sich und nun faßte er sie bei den Köpfen und rief: „Wahrhaftig, sie küssen sich! Na, da gibt es keinen Zweifel mehr. Kommt her, Kinder! Auch von mir soll ein jedes seinen Schmatz haben, der Gerard, die Resedilla, der Schwager und auch die Schwester!“
„Nicht auch die alte Köchin, von wegen der gebackenen Lunge?“ fragte Gerard lachend.
„Kinder, laßt das gut sein. Die Lunge war ein Braten vor Ärger. Ihr sollt etwas ganz anderes bekommen.“
Er nahm die vier Anwesenden nacheinander beim Kopf. Er fühlte sich so glücklich, wie noch nie, ja, er vergaß sogar in seiner Freude das Gold, bis er fast über den Sack hinweggestürzt wäre.
„Ah, die Nuggets“, sagte er da. „Was geschieht mit denen?“
„Mit denen werde ich bezahlen“, antwortete Gerard.
„Was denn?“
„Ah, hast du denn unseren Handel vergessen, lieber Vater?“
Pirnero machte einen Luftsprung und rief:
„Lieber Vater, sagt dieser Kerl, und du nennt er mich! Himmelbataillon, da könnte man vor Freude gleich den Mond vom Himmel reißen. Ja, sobald man einen Schwiegersohn hat, ist man ein ganz anderer Kerl! Aber unser Handel? Hm, das ist nun so ein Ding. Soll ich denn wirklich verkaufen?“
„Ich denke, du bist dazu entschlossen“, meinte Gerard.
„Ich tat allerdings so. Es war so vor Grimm und Wut.“
„Schade.“
„Wieso, schade?“
„Ich hätte die Geschichte gekauft und meiner Schwester geschenkt.“
„Mensch, das wäre toll!“
„Nein. Mein Schwager und meine Schwester sehnen sich nach einem Platz, wo sie fest und sicher wohnen können. Beide sind arm, ich aber habe mehr als genug. Da dachte ich, wir und der Vater könnten ihnen das Geschäft und die Meiereien ablassen, und dann zögen wir an einen anderen Ort.“
„Hm“, meinte Pirnero. „Nicht übel. Aber an welchen Ort?“
„Das würde sich finden. Nach Mexiko, nach New York, nach London, nach Paris, nach Dresden –“
„Oder nach Pirna!“ unterbrach ihn der Alte fast jauchzend. „Himmelsapperlot, Kinder, glaubt ihr denn, daß ich jemals so einen Gedanken gehabt habe?“
„Welchen?“ fragte Resedilla.
„Meine Vaterstadt zu besuchen. Man hielt es nicht für möglich, aber ich habe niemals daran gedacht. Jetzt aber werde ich auf einmal gescheit. Hallo, hurra! Was werden sie in Pirna sagen, wenn ich komme! Aber, ah, da habe ich einen Gedanken!“
Er machte plötzlich ein so nachdenkliches Gesicht, daß Gerard sich erkundigte:
„Was für ein Gedanke ist es?“
„Hm. Als was soll ich denn eigentlich nach Pirna gehen?“
„Du bist ja Kaufmann hier, lieber Vater.“
„Kaufmann? Das ist ein jeder, das zieht noch lange nicht“, meinte der Alte verächtlich.
„Haziendero?“
„Sie wissen da drüben gar nicht, was das ist.“
„Plantagenbesitzer?“
„Auch nichts. Ah, ich wüßte etwas!“
„Was?“
„Es war doch hier bei Fort Guadeloupe eine Schlacht –“
„Allerdings.“
„Ich habe auch mitgekämpft.“
„Hm!“ machte Gerard.
„Und zwar sehr tapfer.“
„Hm!“
„Wenn ich recht nachsuche, finden sich vielleicht sogar ein paar Wunden und Schrammen, die ich davongetragen habe.“
„Hm!“
„Ich suche also Juarez auf und – und – und – – –“ Er stockte.
Resedilla fragte: „Was willst du bei ihm?“
„Nun, Juarez ist Präsident, er kann Stellen oder Chargen vergeben, ganz nach Belieben.“
„Du möchtest wohl eine?“
„Freilich!“
„Was für eine?“
„Hm, er könnte mich zum Leutnant machen!“
„Du machst wohl Spaß, Vater?“
„Spaß? Ja, Leutnant in meinen Jahren, das klingt allerdings sehr spaßhaft; es ist also besser, ich werde Hauptmann oder Major, am allerbesten aber Oberst. Donnerwetter! Was würden sie in Pirna für Augen machen, wenn da plötzlich ein echter mexikanischer Oberst aus der Kutsche stiege und den Leuten erzählte, daß er vor fünfzig Jahren beim alten Schneidermeister Wehrenpfennnig in die Schule gegangen ist. Ich kriegte ein Denkmal gesetzt und eine Tafel über die Tür meines Geburtshauses. Kinder, ich mache zu Juarez. Ich verkaufe alles, ich verkaufe Sack und Band und werde Oberst. Juarez hat mir so viel zu verdanken, daß er mir ein solches Gesuch gar nicht abschlagen kann.“ – – –
Einige Zeit später saß der alte, brave Haziendero Pedro Arbellez in einer Stube am Fenster und blickte hinaus auf die Ebene, auf welcher seine Herden wieder ruhig weiden konnten, da die kriegerische Bewegung sich nach Süden gezogen hatte.
Arbellez sah wohl aus. Er hatte sich vollständig wieder erholt; doch lag auf seinem Gesicht ein schwermütiger Ernst, welcher ein Widerschein der Stimmung seiner Tochter war, welche sich unglücklich fühlte, da sie den Geliebten verloren hatte.
Da sah Arbellez eine Anzahl Reiter von Norden her sich nähern. Voran ritten zwei Männer und eine Dame, und hinter diesen folgten etwa ein Dutzend Packpferde, welche von drei Männern getrieben wurden.
„Wer mag das sein?“ meinte Arbellez zu der alten Marie Hermoyes, welche sich bei ihm befand.
„Wir werden es ja sehen“, meinte diese, nun auch hinaus nach der Ebene blickend. „Diese Leute kommen gerade auf die Hacienda zu und werden also wohl hier einkehren.“
Die Reiter, in solche Nähe angekommen, spornten ihre Tiere zu größerer Eile und ritten bald durch das Tor in den Hof ein. Man denke sich das Erstaunen des Haziendero, als er Pirnero erkannte, und die Freude Emmas, als sie Resedilla und den schwarzen Gerard erblickte, den sie ja von dem Fort Guadeloupe her kannte. Es gab auf der Hacienda eine Aufregung, welche sich nur langsam wieder legte, und ein Erzählen und Berichten, welches kein Ende nehmen wollte.
Nur einer blieb sich gleich, ohne sich aufregen zu lassen, der ‚Schwarze Gerard‘ nämlich. Kaum war er dem Haziendero vorgestellt worden, so litt es ihn nicht in dem engumschlossenen Zimmer; er ging hinaus ins Freie. Vor der Tür trat ihm Doktor Berthold entgegen, welcher sich mit Doktor Willmann nebst Pepi und Zilli noch auf der Hacienda befand.
„Ah, welche Überraschung“, rief der Arzt. „Monsieur Mason. Sie sind also gesund und wohl?“
„Gott sei Dank, ja“, antwortete der Gefragte. „Ich bin mit Pirnero und Resedilla soeben erst hier angekommen.“
„Diese beiden sind da?“ fragte der Arzt erstaunt.
„Ja.“
„In welcher Angelegenheit?“
„Hm! Ich will es eine Besuchsreise nennen. Pirnero ist ja mit Arbellez verwandt. Da oben gibt es nun eine Menge Szenen, eine Aufregung, ein Fragen und Horchen, daß ich förmlich geflohen bin. Aber Monsieur, von unseren Bekannten ist ja kein Mensch zu sehen!“
„Wen meinen Sie?“
„Sternau.“
„Ah, der ist verschwunden.“
„Verschwunden? Was soll das heißen? Er ist verreist?“
„Nein. Er ist verschwunden, es muß ihm ein Unfall begegnet sein; das will ich mit diesem Worte sagen.“
„So will ich hoffen, daß Sie sich irren.“
„Leider irre ich mich nicht. Sternau ist fort und die anderen mit ihm, ohne daß wir wissen, wo sie sich befinden.“
„Die anderen? Wen meinen Sie?“
Der Arzt zählte ihm die Namen her.
„Tod und Teufel“, rief Gerard. „Das klingt ja grausig. Kommen Sie, kommen sie, Monsieur. Wir gehen da in den Garten, wo Sie mir das alles erzählen werden.“
Der Arzt tat ihm den Willen und berichtete ihm alles, was geschehen war von der Ankunft Donnerpfeils bis zum rätselhaften Verschwinden des alten Grafen.
Gerard hatte zugehört, ohne ein Wort dazu zu sagen. Als der Arzt aber geendet hatte, fragte er:
„Hat man nicht nach dem Grafen geforscht?“
„Natürlich hat man dies getan.“
„Mit welchem Erfolg?“
„Ohne jeden Erfolg.“
„Unmöglich! Hat man keine Spur entdeckt?“
„Keine.“
„Aber man muß doch irgend etwas gesehen haben – die Tapfen von Menschen und Pferden.“
„Ach! Wer gibt darauf acht.“
„Aber der Graf kann doch nicht zum Fenster hinausgestiegen sein.“
„Man fand sein Fenster verschlossen.“
„Aber die Tür geöffnet?“
„Ja, ich glaube.“
„Sonderbar. War denn nicht ein guter Jäger in der Nähe, der die Umgebung hätte absuchen können?“
„Nein. Übrigens war die allgemeine Bestürzung ganz außerordentlich. Jeder war auf das Heftigste erschrocken und tat, was er nach seiner Weise für das Richtige hielt.“
„Hatten sich am Tage vorher nicht verdächtige Leute blicken lassen?“
„Nein.“
„War kein Besuch auf der Hacienda?“
„O doch!“
„Wer war das?“
„Der Sohn eines Alkalden, welcher von Señor Mariano an den Grafen geschickt wurde.“
„Ah! Da scheint es licht zu werden.“
„O nein, es wird vielmehr noch dunkler.“
„Wieso?“
„Dieser Bote ist uns auch ein Rätsel gewesen.“
„Das glaube ich“, meinte der ‚Schwarze Gerard‘ in fast mitleidigem Ton. „Was sollte er beim Grafen?“
„Señor Mariano schickte ihn, uns sagen zu lassen, daß Josefa gefangen sei, und daß man Pablo Cortejo auch baldigst festnehmen werde.“
„Wer war der Mann?“
„Er sagte, daß er der Sohn des Richters aus Sombrerete sei.“
„Und Ihr habt das geglaubt?“
„Natürlich. Er legitimierte sich ja durch den Ring von Señor Mariano, welchen er mitbrachte.“
„Und welchen er wieder mitnahm?“
„Nein. Don Ferdinande hat ihn behalten. Der Ring ist Hunderttausende wert, Ihr seht also, daß der Mann ehrlich war.“
„Wann ging er wieder fort?“
„Am anderen Morgen.“
„Wer war bei ihm?“
„Kein Mensch. Ich habe ihn fortreiten sehen, es war am hellen Tag.“
„Hm!“ brummte der Jäger nachdenklich. „Erlauben Sie. Verzeihen Sie. Das ist eine Sache, welche sich keine Sekunde aufschieben läßt.“
Er drehte sich rasch um und eilte nach dem Haus zurück.
Dort waren alle im Empfangszimmer. Pirnero und Resedilla hatten erwartet, Sternau und dessen Freunde auf der Hacienda zu sehen, oder wenigstens gute Nachricht über sie zu erhalten. Es war leicht erklärlich, daß beide nach ihnen fragten, und so kam es, daß auch hier im Empfangszimmer dasselbe Thema verhandelt wurde, wie unten im Garten zwischen dem Arzt und Gerard. Der alte Haziendero hatte eben von dem rätselhaften Verschwinden des Grafen erzählt, und alle hatten seinem Bericht gelauscht, als Gerard eintrat. Er hörte noch die Worte Pedros, welcher mit der Bemerkung schloß, daß nur der leibhaftige Teufel hierbei sein Spiel gehabt haben müsse.
Einige der Hörer schlossen sich diesem Urteil an; keiner aber kam auf den Gedanken, welcher der allein richtige war. Pirnero meinte sogar zu dem Haziendero: „Also ihr habt noch nicht entdeckt, wohin der Graf verschwunden ist?“
„Nein. Es wird wohl auch niemand entdecken.“
„O, da dürftest du dich irren.“
„Wieso?“
„Weißt du was ein Diplomat ist?“
„Ja.“
„Nun also! Vor einem Diplomaten und Politiker bleibt nichts verborgen. Auch diese Sache wird bald an den Tag kommen.“
„Du meinst durch einen Politiker?“ fragte Arbellez.
„Ja“, antwortete Pirnero in stolzem Ton.
„Wer sollte das sein?“
„Hm! Ahnst du das nicht?“
„Nicht im geringsten.“
„So bist du eben nicht das, was man einen Diplomaten nennt. Als Juarez bei uns in Fort Guadeloupe war, habe ich ihm höchst wichtige Ratschläge erteilt, er hat sie befolgt und gewinnt nun Schlacht auf Schlacht und Sieg auf Sieg.“
Arbellez machte ein sehr erstauntes Gesicht und sagte:
„Ah, meinst du etwa, daß du selbst –“
Er vollendete den Satz nicht, weil er die Gaben und Eigentümlichkeiten seines Schwagers sehr gut kannte.
„Was denn? So rede doch weiter. Daß ich selbst –“
„Daß du selbst ein Politiker seist?“
„Ja, dieses meine ich. Oder glaubst du das nicht?“
„Hm! Es müßte bewiesen werden.“
„Oho! Während der Anwesenheit Juarez war ich nahe daran, Gouverneur einer der nördlichsten Provinzen zu werden.“
„Oho!“ wiederholte Arbellez denselben Ausruf.
„Ja! Und ich bin auf dem Weg, mexikanischer Oberst zu werden.“
„Was du sagst.“
„Ja. Ich habe euch erzählt, daß ich alles verkauft habe, ich bin frei und mein eigener Herr. Wir drei, ich, Resedilla und ihr Verlobter, werden große Vergnügungsreisen machen und uns dann in einer Residenz niederlassen, London, Paris oder Pirna. Das kann ich nur im Charakter eines bedeutenden Mannes tun, und darum will ich Oberst werden. Bin ich nicht ein Politiker?“
„Allerdings, nämlich, wenn wirklich alles so ist, wie du sagst.“
„Natürlich.“
„Und so meinst du also, daß du auch unser gegenwärtiges Rätsel lösen wirst?“
„Das versteht sich von selbst. Wer dem Präsidenten Ratschläge erteilt und nun Oberst werden will, dem wird es doch wohl gelingen, den Grafen Rodriganda aufzufinden.“
„Aber wie willst du das anfangen?“
„Da ich es eben erst erfahren habe, so hatte ich noch keine Zeit, es mir zu überlegen, werde aber schleunigst darüber nachdenken, lieber Schwager.“
Da fiel Gerard ein:
„Das ist nicht nur unnötig, sondern sogar schädlich.“
„Wieso?“
„Unnötig, weil derjenige, der nicht sofort auf das Richtige kommt, es auch durch das schärfste Nachdenken nicht finden wird. Und schädlich, weil man durch das Nachsinnen eine kostbare Zeit verlieren würde, während welcher man zu handeln hat.“
„Ah, mein Junge, willst du etwa der Politiker sein, welcher hier gebraucht wird?“
„Ja. Ich bin überzeugt, daß ein echter, findiger Prärieläufer dazu gehört, das gut zu machen, was hier unterlassen worden ist.“
„Unterlassen?“ fragte Arbellez. „Ich bin überzeugt, daß wir alles getan haben, was notwendig war, Aufklärung zu erhalten.“
„So? Nun, was habt Ihr denn getan?“
„Nun – hm! Alles“, antwortete Arbellez, einigermaßen verlegen.
„Ah, ich sehe, wie es steht. Habt Ihr den Boden unter dem Fenster des Grafen untersucht?“
„Nein. Wozu wäre das nötig gewesen?“
„Der Graf wurde durch das Fenster entführt.“
„Unmöglich!“
„Warum unmöglich?“
„Weil wir das Fenster von innen verschlossen fanden.“
„Ja!“ meinte Gerard unter einem überlegenen Lächeln. „Es gehört eben ein Jäger dazu, alles zu begreifen und alles sich zusammenzureimen. Wo liegt das Zimmer, in welchem der Graf damals schlief?“
„Gleich nebenan.“
Gerard trat an eines der Fenster und untersuchte dasselbe.
„Eure Fenster sind sehr alt. Die Rahmen beginnen zu verwittern. Ist das mit dem Fenster in dem betreffenden Zimmer vielleicht ebenso?“
„Es ist ebenso alt wie diese hier.“
„Das ist mir lieb. Wohin führt es?“
„Nach dem Hof.“
„Ist die Stelle des Hofes, welche unter demselben liegt, viel betreten?“
„Gar nicht. Es liegen seit einigen Jahren Bausteine und einige Baumstämme da, die ich zur Ausbesserung des Stalles benutzen wollte, aber doch nicht benutzt habe.“
„Ist zwischen diesen Stämmen und Steinen und der Mauer Raum?“
„Ja.“
„Wieviel?“
„Drei Fuß ungefähr.“
„Und niemand kommt dorthin?“
„Kein Mensch.“
„Gut. Ihr hättet dort suchen lassen sollen. Spuren nach monatelanger Zeit zu finden ist nicht wahrscheinlich; aber ich will wenigstens nicht versäumen, nachzusehen. Führt mich doch einmal nach dem Zimmer.“
Sein sicheres, bestimmtes Auftreten machte Eindruck. Voll der gespanntesten Erwartung begaben sich alle nach dem erwähnten Zimmer, wo Gerard sofort zum Fenster trat, um es zu öffnen und zu untersuchen. Sie folgten jeder seiner Bewegungen mit der größten Aufmerksamkeit. Es waren auch kaum drei Augenblicke vergangen, so zeigte es sich, daß er der richtige Mann sei, zu finden, was er suchte. Er wendete sich zu Arbellez:
„Habt Ihr irgend jemand im Verdacht gehabt, Señor?“
„Nein“, antwortete der Gefragte.
„Hm! Auch den Boten aus Sombrerete nicht?“
„Nein. Wie kann ein Verdacht auf ihn fallen? Er legitimierte sich durch den Ring, den er brachte.“
„Er ritt am hellen Tage wieder fort?“
„Ja, am hellen Morgen.“
„Habt Ihr seitdem aus Sombrerete eine Nachricht erhalten?“
„Von dem Richter oder seinem Sohn nicht.“
„Von wem sonst?“
„Von Lord Lindsay.“
„Ah! Der war ja auf der Hacienda, als der Graf verschwand.“
„Ja, er und Amy, seine Tochter. Sie begaben sich kurze Zeit darauf nach dem Hauptquartier des Juarez, und auf diesem Weg machte der Lord einen Abstecher nach Sombrerete.“
„Mit welchem Resultat?“
„Er ließ mir mitteilen, daß der Richter von Sombrerete weder einen Sohn habe noch von der Angelegenheit etwas wisse.“
„Das dachte ich mir. Aber man muß vorsichtig sein. War der Bote, den er sandte, zuverlässig?“
„Im höchsten Grad, denn es war einer meiner Vaqueros, welchen der Lord zu diesem Zweck mitgenommen hatte.“
„Das beweist, daß der Lord klug war und dem vermeintlichen Sohn des Richters gleich von vornherein mißtraut hat.“
„Das tat er allerdings“, meinte die alte Marie Hermoyes.
„Ihr aber nicht?“ fragte Gerard.
„Es war ja gar kein Grund dazu“, antwortete Arbellez.
„Auch nun noch nicht?“
„Hm! Das ist eben unbegreiflich. Wir haben ihn kommen und wieder fortreiten sehen; er war allein. Er hat den Ring gleich abgegeben. Wäre er ein schlechter Mensch gewesen, so hätte er denselben behalten, denn der Diamant war ein ganzes Vermögen wert.“
Gerard lächelte still vor sich hin, betrachtete das Fenster noch einmal und sagte dann:
„Auch dieser Fensterrahmen ist ziemlich morsch. Betrachtet Euch doch einmal diese Stelle im untersten Teil des Rahmens.“
Die Anwesenden taten, wozu er sie aufgefordert hatte, und blickten ihn dann hilflos an.
„Nun, was habt Ihr gesehen, Señor Arbellez?“ fragte er.
„Einen Strich, eine schmale Vertiefung im Rahmen“, antwortete dieser.
„Wie sieht diese Vertiefung aus?“
„Hm! Als ob man mit einem schmalen, stumpfen Gegenstand auf den Rahmen gedrückt hätte.“
„Nicht genau so“, entgegnete der Jäger. „Hier ist nicht gedrückt worden, sondern hier hat man etwas über den Rahmen gezogen. Seht euch die Vertiefung genau an. Rührte sie von einem Strick, so wäre sie glatt. Wie aber findet Ihr sie?“
„Rauh.“
„Ja, sie rührt augenscheinlich von einem Lasso her, der aus verschiedenen Riemen zusammengeflochten war. Dieser Lasso war nicht der eines Jägers, denn er war schlecht und holprig gearbeitet. Weiter. Welche Richtung haben die Holzfasern, welche von dem Lasso am Rahmen abgeschliffen wurden?“
„Sie gehen nach außen“, antwortete Arbellez.
„Gut. Das beweist, daß am Lasso eine Last gehangen hat, welche man nicht in das Zimmer, sondern aus demselben hinaus und hinunter in den Hof transportiert hat. Kommt mit hinab.“
Er verließ den Raum und begab sich in den Hof. Die anderen folgten. Sie begannen das, was er sagte, zu glauben.
„Ein verdammt gescheiter Kerl. Nicht wahr?“ fragte Pirnero seinen Schwager leise.
„Es scheint so“, nickte dieser.
„Ja, das kommt daher, daß er der Verlobte von Resedilla ist. Kennst du die Abstammung vom Vater auf die Tochter?“
„Nein.“
„Ich werde dir das zur passenden Zeit erklären. Von dieser Abstammung nimmt natürlich auch der Schwiegersohn seinen Profit. Doch sieh einmal, wie er hier unter den Steinen sucht.“
Gerard war über die Steine und Stämme auf den schmalen Baum gestiegen, der zwischen denselben und der Mauer lag. Er betrachtete jeden Zoll breit des Bodens mit großer Aufmerksamkeit. Da richtete er sich auf. Er mußte etwas gefunden haben, denn in seinem Gesicht machte sich ein Ausdruck der Genugtuung geltend.
„Kommt einmal herüber, Señores und Señoritas“, sagte er. „Aber nehmt euch in acht, hierher zu treten.“
Er deutete dabei nach der Stelle, welche er meinte. Sie folgten seiner Aufforderung und Gerard fragte:
„Was erblickt Ihr hier am Boden, Señor Arbellez?“
Der Haziendero betrachtete die Stelle genau und antwortete verlegen:
„Hm! Nicht eben sehr viel.“
„Also wenig. Aber was ist das Wenige?“
„Der Boden ist hart von Sand und Lehm; aber da gibt es doch einige Eindrücke.“
„Wieviel? Zählt sie einmal.“
„Eins, zwei, drei – vier.“
„Richtig. Aber, wovon mögen sie herrühren?“
Arbellez wollte auch scharfsinnig sein. Er betrachtete die Spuren mit der größten Aufmerksamkeit und antwortete dann:
„Mit zwei Instrumenten sind sie hervorgebracht.“
„Zwei Instrumente?“ fragte Gerard lächelnd.
„Ja, ein breites und ein schmales, rund geformtes. Das Letztere ist tiefer eingedrungen.“
„Hm! Ihr seid nicht weit vom Richtigen entfernt“, bemerkte Gerard. „Das Dach des Hauses springt vor und hält den Regen von dieser Stelle ab, kein Mensch ist hergekommen, und so ist es zu begreifen, daß diese Spuren sich erhalten haben. Freilich sind sie nicht mehr scharf und neu. Aber ich will Euch gleich anschaulich machen, wie sie entstanden sind.“
Er stellte sich aufrecht und blickte empor.
„Nehmen wir an“, fuhr er fort, „es werde da oben an einem Lasso ein Mann herabgelassen, den ich empfangen soll. Ich strecke die Arme nach ihm aus, um ihn zu erfassen. So! Wie stehen meine Füße dabei?“
„Auf den Zehen.“
„Gut. Meine Sohle macht also einen Eindruck auf den Boden. Das ist das breite Instrument, von dem Ihr redet, Señor Arbellez. Weiter. Ich halte den Mann gefaßt, den er herabläßt, und bücke mich mit dieser Last langsam nieder, um sie auf die Erde zu legen. Paßt auf. So.“
Er tat, als ob er wirklich eine solche Last in den Armen habe, und ahmte die beschriebenen Bewegungen nach. Indem er sich nun langsam bückte, fragte er:
„Seht meine Füße genau an. Welche Stellung haben sie?“
„Ihr kauert auf den Absätzen“, antwortete Arbellez.
„Richtig! Diese Absätze sind das scharfe, runde Instrument, von dem Ihr redet. Nun will ich zur Seite treten. Seht Euch die Spur an. Wird sie in drei oder vier Wochen nicht genau so sein, wie die anderen?“
„Wahrhaftig! Gewiß! Sicher!“ rief es aus aller Munde.
„Nun seht. Es ist einer zum Grafen gegangen, hat ihn im Schlaf überwältigt und am Lasso durch das Fenster in den Hof hinabgelassen. Hier unten haben zwei Männer – denn wir haben die Eindrücke von vier Füßen – die Last in Empfang genommen. Jedenfalls sind noch mehrere dabei tätig gewesen. Der Haupttäter aber ist jener Bote aus Sombrerete.“
Eine solche Erklärung hatte keiner erwartet. Sie sahen einander erstaunt an. Endlich meinte Pedro Arbellez:
„Ihr mögt Recht haben, Señor Gerard, aber den Boten halte ich doch für unschuldig.“
„Wieso?“ lächelte der Jäger.
„Er ging allein fort.“
„Das beweist nichts.“
„Wäre er der Täter, so hätte er sich des Nachts gleich mit den anderen entfernt.“
„Mein lieber Señor Pedro, Ihr betrachtet diese Sache nicht mit dem richtigen Auge. Dieser Bote war ein Schlaukopf. Was hättet Ihr wohl getan, wenn er früh verschwunden gewesen wäre?“
„Hm. Das wäre uns aufgefallen.“
„Nicht wahr. Und wenn mit ihm zugleich der Graf fehlte?“
„Wir wären seiner Spur gefolgt.“
„Richtig. Das hat er zu vermeiden gesucht. Er ist geblieben, um seinen Helfershelfern einen genügenden Vorsprung zu sichern.“
„Mein Gott, das klingt allerdings ganz wahrscheinlich. Aber er hat ja den Ring ehrlich übergeben.“
„Deshalb haltet Ihr ihn für ehrlich?“
„Natürlich.“
„Ei, ei, Señor“, meinte Gerard kopfschüttelnd. „Wem gab er diesen wertvollen Ring?“
„Dem Grafen.“
„Wo ist der Graf?“
„Fort – natürlich!“
„Und der Ring?“
„Donnerwetter! Auch mit fort – natürlich!“
„Nun, seht Ihr noch nichts ein?“
Da begann es im Kopf des guten Haziendero zu tagen.
„Heilige Madonna, ich begreife, was Ihr meint“, rief er.
„Nun?“
„Der Kerl konnte dem Grafen den Ring leicht geben, weil er wußte, daß sie beide wieder in seine Hände fallen würden.“
„Und das ist Euch nicht früher aufgefallen?“
„Wahrhaftig nicht.“
„Unbegreiflich. Selbst auch dann nicht, als Ihr die Nachricht des Lords aus Sombrerete erhieltet?“
„Selbst dann nicht. Wir glaubten nämlich, daß wir uns verhört, daß wir den Boten falsch verstanden hätten. Es gibt nämlich auch ein Sombrera und ein Ombereto.“
„Daran glaube ich nicht. Übrigens hat sich der Bote einer sehr großen Unvorsichtigkeit schuldig gemacht. Liegt nicht Sombrerete nach Südsüdwest von hier?“
„Ja. Es liegt seitwärts von Santa Jaga.“
„Sind nicht die Spuren von ‚Büffelstirn‘ und den anderen nach Santa Jaga gegangen?“
„Allerdings.“
„Das gibt eine sehr bemerkenswerte Übereinstimmung. Dieser Mensch hat uns, allerdings unwillkürlich und ganz gegen seine Absicht, einen Wink gegeben, nach welcher Richtung hin wir suchen müssen.“
„Gott sei Dank. Endlich gibt es einen Punkt, an den man sich halten kann“, rief der Haziendero.
Resedilla betrachtete den Geliebten mit stolzen Augen. Ihr Vater aber spreizte die Beine weit auseinander und fragte:
„Nun, Schwager, glaubst du nun, daß es in Fort Guadeloupe Diplomaten und Politiker gibt?“
„O, darüber wollen wir nicht streiten“, antwortete Arbellez. „Nun ist es Hauptsache, sofort Boten auszusenden.“
„Wohin?“ fragte Gerard rasch.
„Nach Santa Jaga, nach Sombrerete. Sie müssen die dortige Gegend absuchen.“
„Gemach, lieber Señor. Eure Boten würden alles verderben. Einer genügt.“
„Nur einer?“ fragte Arbellez betroffen.
„Ja. Mehrere würden sich untereinander nur irremachen. Sie würden auffallen. Einer aber kann suchen, ohne auffällig zu werden.“
„Natürlich muß es ein Mann sein, der so etwas versteht.“
„Hm. Ich weiß einen, auf den wir uns vollständig verlassen können“, meinte Gerard, indem ein lustiges Lächeln um seine Lippen zuckte.
„Wer ist das?“ fragte Arbellez.
„Hier unser guter Señor Pirnero.“
Pirnero warf einen erstaunten Blick auf den Sprecher, faßte sich aber sofort und antwortete:
„Ja, das weiß ich selbst. Gibt es einen, der sich zur Lösung dieser Aufgabe eignet, so bin ich es.“
„Ganz gewiß“, nickte Gerard.
Pirnero nahm eine stolze, siegesgewisse Miene an und fuhr fort:
„Es gehört ein tüchtiger Pfiffikus dazu, der zugleich sehr tapfer ist.“
„Gewiß, lieber Schwiegervater. Darum mache ich den Vorschlag, daß Ihr nach Santa Jaga und Sombrerete reitet, um diese Angelegenheit endlich einmal aufzuklären.“
Da trat Pirnero einen Schritt zurück, streckte alle zehn Finger abwehrend von sich und rief:
„Ich?“
„Natürlich.“
„Ich soll dorthin reiten?“
„Ja.“
„Von wo keiner von ihnen allen wiedergekommen ist?“
„Leider. Doch wir alle sind überzeugt, daß Ihr pfiffig und tapfer genug seid, um wiederzukommen.“
„Das ist ja über allen Zweifel erhaben. Aber, wenn ich nun doch nicht wiederkäme?“
„So würden wir Euch suchen.“
„Was würde das mir nützen? Wißt Ihr denn nicht, daß ein Feldherr sich stets um der Seinen willen zu schonen hat?“
„Das ist allerdings sehr richtig. Ihr betrachtet Euch hier also als den Feldherrn?“
„Natürlich. Ich gebe meine Einwilligung zu Eurem Vorschlag und schicke einige Vaqueros nach Santa Jaga.“
„Pah. Das sind die Kerls nicht dazu. Wenn Ihr nicht selbst reitet, so reite ich.“
„Ihr? Du? Nein. Mein Schwiegersohn soll sich nicht abermals in eine solche Gefahr begeben.“
„So halte ich alle die, welche wir suchen und die wir so lieb haben, für verloren.“
„Donnerwetter! Wirklich?“
„Ja.“
„Das ist ja eine ganz verfluchte Geschichte. Sie sollen und müssen gefunden werden; aber ich bin so froh, endlich einmal einen Schwiegersohn zu haben, und nun soll ich gezwungen sein, ihn aufs Spiel zu setzen. Was sagst du dazu, Resedilla?“
Sie alle blickten auf das schöne Mädchen.
„Meine Braut ist gut und tapfer“, warf Gerard ein.
Da reichte sie ihm die Hand entgegen und antwortete:
„Ich lasse dich nicht gern fort, Gerard, aber ich weiß, daß du es bist, der das vielleicht zustande bringt. Gehe in Gottes Namen, aber versprich mir, vorsichtig zu sein und dich zu schonen.“
„Habe keine Sorge, mein liebes Kind. Ich gehöre nicht mehr mir allein. Ich habe andere, heilige Verpflichtungen und werde mich sehr bedanken, etwas zu tun, was mir Schaden bringen kann.“
„Das nenne ich reden, als ob es in einem Buch geschrieben wäre“, meinte Pirnero. „Ist Resedilla tapfer, so will ich es auch sein. Gerard mag gehen, aber er darf nicht vergessen, daß er einen Schwiegervater hat, der ihn mit nach New York, Kopenhagen oder Pirna nehmen will. Wann geht es fort?“
„Für heute ist es zu spät“, antwortete Gerard. „Der Abend bricht bald herein. Aber morgen mit dem Frühesten steige ich in den Sattel.“
„Doch aber nicht allein?“
„Hm. Allein ist es mir am liebsten. Aber um Euch zu beruhigen, will ich einen Vaquero mitnehmen, der Euch Nachricht von mir bringen kann.“
Somit war diese Angelegenheit geordnet, und der Rest des Tages verlief weniger aufgeregt als die vorherige Zeit.
Natürlich widmete Gerard der Geliebten den größten Teil des Abends, und noch ehe er sich zur Ruhe begab, mußte er ihr versprechen, nicht eher fortzureiten, als bis er Abschied von ihr genommen habe. In seinem Zimmer angekommen, schritt er noch lange in demselben auf und ab, um nachzudenken, ob es nicht doch vielleicht noch irgend etwas gebe, was bei der Lösung seiner Aufgabe zu berücksichtigen sei. Er hatte sein Licht ausgelöscht und das Fenster geöffnet. Die Sterne blickten herab und spendeten so viel Helle, daß er ihren Strahl dem Talggeruch des Lichtes vorgezogen hatte. Da war es ihm, als ob er unter sich ein Geräusch vernehme. Dies konnte eine ganz gewöhnliche Ursache haben, aber als Savannenläufer war er gewöhnt, nichts unberücksichtigt zu lassen. Er trat also an das Fenster und blickte hinab. Aus dem Fenster, welches unter dem seinigen lag, stieg ein Mann. Das konnte ein Vaquero sein, der irgendeiner Magd seine Huldigungen dargebracht hatte; aber in diesem Haus war schon zu viel geschehen, als daß Gerard sich mit einer solchen Vermutung hätte begnügen können.
„Halt! Wer ist da unten?“ fragte er hinab. Der Mann antwortete nicht und sprang eilig über den Hof hinüber nach dem Palisadenzaun zu.
„Halt, oder ich schieße!“
Da der Mann auch auf diesen Zuruf nicht hörte, so trat Gerard eilig vom Fenster zurück, um sein stets geladenes Gewehr zu ergreifen.
Der Sternenschein reichte nicht hin, ihn die Gestalt des Verdächtigen noch sehen zu lassen, aber er kannte ja die Richtung welche derselbe nach den Palisaden zu eingeschlagen hatte. Er drückte alle beide Läufe nacheinander ab, doch antwortete kein Schrei. Hätte er Schrot geladen gehabt, so hätte er wohl keinen Fehlschuß getan. Ein tüchtiger Jäger aber schießt nur mit Kugeln, und da ist es nicht möglich, ein Ziel zu treffen, welches man gar nicht sehen kann.
Seine Schüsse hallten im ganzen Gebäude wider. Aber damit begnügte er sich nicht. Im Nu hatte er die Revolver und das Messer zu sich gesteckt, im Nu war das eine Ende des Lasso an dem Bein des feststehenden Bettes befestigt, ebenso schnell ließ er sich aus dem Fenster hinab in den Hof, und noch war seit seinem zweiten Schuß nicht eine Minute vergangen, so hatte er sich bereits über die Palisaden geschwungen und horchte in die Nacht hinaus, ob irgendein Geräusch zu vernehmen sei.
Da, links von ihm und in gar nicht zu weiter Entfernung, ertönte das Schnauben eines Pferdes. Er zog den Revolver und eilte der Richtung zu. Aber noch ehe er den Platz erreichte, ertönte lautes Pferdegetrappel. Der Mann, den er fangen wollte, galoppierte davon.
Er blieb sofort stehen. Jetzt den Ort aufzusuchen, an welchem das Pferd gestanden hatte, wäre ein großer Fehler gewesen, denn er hätte mit seinen Füßen die Spuren verwischt, welche ihm später von Nutzen sein konnten. Auch kehrte er nicht an derselben Stelle, an welcher er über die Palisaden gesprungen war, sondern an einer anderen nach dem Hof zurück. Auch hier galt es die Spuren des unbekannten Mannes zu schonen.
Die Bewohner der Hacienda waren von den Schüssen natürlich alarmiert worden. Er eilte um das Gebäude herum, um den vorderen Eingang zu gewinnen. Dort hatte man bereits Lichter angebrannt. Ein Vaquero kam ihm entgegen.
„Ah, Señor Gerard“, sagte er, „man sucht Euch, man hat Euch vermißt.“
„Wo sind sie?“
„Überall. Man läuft hin und her und weiß nicht, was die Schüsse bedeuten.“
„Wie ruft man die Leute am schnellsten zusammen?“
„An der Tür des Speisesaales hängt eine Glocke. Läutet sie, so werden alle sich dort einstellen.“
Gerard befolgte den Rat und sah einen Bewohner der Hacienda nach dem anderen dort im Saal erscheinen. Die meisten waren mit Lichtern versehen. Auch Resedilla kam. Als sie ihn erblickte, eilte sie mit einem Freudenruf auf ihn zu und sagte:
„Gott sei Dank, daß ich dich sehe! Ich hatte große Angst um dich!“
„Warum?“ fragte er sie liebevoll.
„Wir hörten die Schüsse, wir suchten, ich kam in dein Zimmer und fand dein Gewehr. Die Läufe waren leer und du warst fort. Bist du es, der geschossen hat?“
„Ja.“
„Warum?“
„Sogleich. Warte, bis alle beisammen sind.“
Dies dauerte nicht lange, und dann erzählte Gerard das Ereignis.
„Was für ein Raum liegt unter meinem Zimmer?“ fragte er den Haziendero.
„Die Küche“, antwortete dieser.
„Wohnen alle Eure Vaqueros im Haus?“
„O nein. Die meisten kampieren des Nachts bei den Herden.“
„Bleibt eine Magd des Nachts in der Küche?“
„Nein“, antwortete Marie Hermoyes. „Die Küche ist leer und verschlossen. Ich habe den Schlüssel bei mir.“
„War das Fenster geöffnet?“
„Ja, damit die Hitze abziehen könne.“
„Glaubt Ihr, daß irgendein Vaquero des Nachts einsteigen werde, um sich irgend etwas zu holen?“
„Nein. Unsere Vaqueros haben alles, was sie sich wünschen. Sie brauchten nicht zu stehlen, und ich kenne keinen, den ich für fähig halte, es zu tun.“
„Ich frage nur, um ganz sicher zu gehen und nichts aus dem Auge zu lassen. Es gilt zunächst, zu sehen, ob die Küche noch verschlossen ist.“
Man begab sich in das Parterre und da ergab sich, daß die Tür nicht geöffnet worden war. Marie Hermoyes wollte öffnen und eintreten, aber Gerard hielt sie zurück.
„Halt!“ sagte er. „Wir müssen vorsichtig sein. Wartet hier, Señora Marie. Wir werden erst nach dem Hof gehen, um zu sehen, was dort zu bemerken ist.“
Es wurden Laternen angebrannt. Da durch das Küchenfenster zuweilen Wasser auf den Hof geschüttet wurde, so war unter demselben die Erde erweicht. Als Gerard hinleuchtete, fand er die ganz deutlichen Tapfen eines Mannes, welcher hier aus- und eingestiegen war.
„Es stimmt“, sagte er. „Dieser Mensch ist nicht durch die Tür in die Küche gekommen. Er ist kein Vaquero, denn ein solcher trägt anderes Schuhwerk. Der Mann, von welchem diese Spur stammt, hat einen kleinen Fuß und trägt feine Stiefel. Ich werde mir nachher diese Spur auf Papier aufzeichnen. Man kann nicht wissen, wozu ein solches Modell nützlich ist. Jetzt aber wollen wir in die Küche gehen.“
An der Küchentür angekommen, ließ er öffnen, gebot aber, daß alle gleich an der Tür stehenbleiben sollten. Es galt, zu erfahren, was der Mann hier gewollt hatte.
Er trat ein, den anderen voran, und untersuchte jeden Zollbreit des steinernen Bodens, ohne ein Wort zu sagen. Dann leuchtete er in allen Winkel und auf den Tischen umher und gebot endlich Marie Hermoyes, nachzusehen, ob irgend etwas entwendet sei.
Sie fand alles in der größten Ordnung und sagte:
„Ich begreife nicht, was der Mensch hier gewollt hat. Wir werden das wohl auch nicht erfahren.“
„O“, meinte Gerard, „ich hoffe, daß wir es binnen zwei Minuten wissen. Wer ist zuletzt in der Küche gewesen, Señorita?“
„Ich.“
„Habt Ihr da vielleicht ein kleines Fläschchen in der Hand gehabt?“
„Nein.“
„Hm. Ist Euch nicht ein Fläschchen bekannt, auf welches dieser Stöpsel passen würde?“
Er bückte sich nieder und hob einen kleinen Kork empor, welcher in der unmittelbarsten Nähe des großen Wasserkessels am Boden lag. Marie wollte ihn in die Hand nehmen, um ihn genauer betrachten zu können, er aber sagte:
„Halt! Vorsicht! Man kann in solchen Dingen nie zu vorsichtig sein. Ihr könnt den Stöpsel so auch sehen.“
„Wir haben gar kein so kleines Fläschchen“, entschied Marie.
„Hm!“ brummte er nachdenklich vor sich hin, indem er den Kork noch einmal in das Auge faßte. „Dieser Stöpsel ist noch feucht und der Teil, welcher durch den Hals des Fläschchens zusammengedrückt wurde, ist trotzdem noch nicht im geringsten aufgeschwollen. Ich wette meinen Kopf, daß dieser Kork noch vor einer halben Stunde in dem Fläschchen gesteckt hat. Der Fremde hat ihn verloren und entweder gar nicht gesucht, oder in der Finsternis nicht gefunden.“
„Was sollte er mit dem Fläschchen gemacht haben? Höchst sonderbar“, meinte Arbellez.
„Auch das werden wir hoffentlich erfahren“, antwortete der Jäger im zuversichtlichen Ton.
Er trat an das Fenster und betrachtete dasselbe.
„Hier ist er eingestiegen“, erklärte er. „Sein Stiefel war mit nasser Erde beschmutzt, wovon ein Teil hier hängenblieb. Ein anderer Teil liegt hier.“
Er leuchtete dabei am Wasserkessel nieder, wo allerdings ein ziemlicher Brocken niedergetretener, nasser Erde lag.
„Was folgt daraus, daß diese Erde hier am Kessel liegt, Señor Arbellez?“ fragte er.
„Daß der Mann am Kessel gestanden hat“, antwortete der Haziendero.
„Richtig. Auch der Kork lag hier; er hat also hier das Fläschchen geöffnet. Aber wozu? Könnt Ihr Euch das vielleicht denken?“
„O, nicht im geringsten.“
„Nun, es sind hier nur zwei Fälle möglich. Erstens, ein fremder Mensch steigt mit einem winzigen, leeren Fläschchen in eine fremde Küche nächtlich ein, um sich am Kessel dasselbe mit Wasser zu füllen. Was sagt Ihr dazu?“
„Das wird niemand einfallen. Draußen fließt Wasser genug.“
„Gut und sehr richtig. Zweitens, ein fremder Kerl steigt während der Nacht heimlich mit einem vollen Fläschchen in eine fremde Küche ein, um dasselbe in den Kessel zu leeren oder auszuschütten! Was sagt Ihr dazu?“
„Bei Gott, das ist das Wahrscheinlichste“, antwortete Arbellez.
„O, das ist nicht nur wahrscheinlich, sondern wohl sicher.“
„Aber was mag er in dem Fläschchen gehabt haben?“
„Vielleicht erfahren wir es.“
„Und wozu hat er es in den Kessel ausgeschüttet?“
„Auch das erfahren wir wohl. Aber kann er etwa einen guten Zweck verfolgt haben?“
„Gewiß nicht.“
„Nun, ich habe das Wasser des Kessels bereits genau betrachtet. Señora Marie, ist etwas Fettiges gestern gekocht worden?“
„Nein“, antwortete die Gefragte. „In diesem Kessel wird nie eine Speise gekocht; er dient nur zur Erwärmung des Wassers, welches wir anderweit brauchen. Und gestern ist er gar mit Sand ausgescheuert worden. Dann haben wir ihn mit gutem Quellwasser gefüllt. Das Wasser muß rein sein.“
„Kann es nicht ein wenig fettig sein?“
„Unmöglich.“
„Nun, an einigen Stellen des Randes haben sich Gruppen von winzigen wasserhellen Fettaugen angesammelt. Die Señores Doktoren mögen näher treten, um sich dies zu betrachten.“
Willmann und Berthold waren zugegen. Sie traten zum Kessel und unterwarfen die Fettaugen einer genauen Betrachtung. Sie schüttelten die Köpfe, tauschten leise ihre Ansicht aus, und dann fragte Berthold:
„Ist nicht ein wertloser Hund oder eine Katze zu haben?“
„Alle Teufel! Gift?“ rief Arbellez, welcher sogleich begriff, um was es sich handelte. „Holt die alte, taube Hündin und zwei Kaninchen herbei.“
Die verlangten Tiere wurden zur Stelle geschafft. Die beiden Ärzte ließen die Fettaugen des Wassers durch ein Stück Brot auffangen und gaben dieses den Tieren zu fressen. Bereits nach zwei Minuten starben die beiden Kaninchen, ohne ein Zeichen des Schmerzes von sich zu geben, und nach abermals zwei Minuten fiel auch der Hund ganz plötzlich um, gerade so, als ob er umgeworfen worden sei. Er streckte die alten Glieder und war tot, ohne den leisesten Laut des Schmerzes von sich gegeben zu haben.
„Gift! Wirklich Gift“, rief es rundum.
„Ja“, meinte der Doktor Berthold. „Aber dieses Gift ist mir unbekannt.“
„Mir auch“, fügte sein Kollege bei.
„Aber ich kenne es“, antwortete Gerard. „Es ist das Öl der fürchterlichen Pflanze, welche von den Digger-Indianern Klama-bale genannt wird, das heißt, Blatt des Todes. Ich habe die Wirkung dieses Giftes einige Male beobachtet.“
„Herrgott, welch eine Schlechtigkeit“, rief die alte Hermoyes. „Man steigt hier ein, um jemand unter uns zu vergiften.“
Der Jäger schüttelte sehr ernst den Kopf.
„Jemand unter uns?“ sagte er. „Irrt Euch nicht, Señora. Wer Gift in den Kessel schüttet, aus welchem für alle Wasser genommen wird, der will nicht einen einzelnen, sondern der will alle zugleich vergiften.“
Man kann sich denken, welchen Eindruck diese Worte machten, zumal sich ein jeder sagen mußte, daß Gerard recht habe.
„Wie sehr, wie sehr haben wir Gott zu danken, daß Ihr zu uns gekommen seid“, sagte Arbellez, vor Schreck fast zitternd. „Ohne Euren Scharfsinn wären wir alle morgen tot gewesen.“
Gerard antwortete trocken, ja beinahe vorwurfsvoll:
„Ein wenig von diesem Scharfsinn hätte Don Ferdinande retten können. Ihr aber habt seine Räuber entkommen lassen.“
„Ihr mögt recht haben, Señor. Aber bleiben wir bei der Gegenwart. Wer mag dieser Mensch gewesen sein? Wem mag daran liegen, daß sämtliche Bewohner dieses Hauses während eines Tages zu Grunde gehen?“
Gerard zuckte fast mitleidig die Achsel und fragte ihn:
„Das ahnt Ihr nicht, Señor?“
„Nein“, lautete die Antwort.
„So denkt doch nur einmal darüber nach. Mir scheint es ganz und gar nicht schwer, das Richtige zu treffen. Seht Ihr denn nicht ein, daß es auf die Angehörigen der Familie de Rodriganda abgesehen ist?“
„Mein Gott, ja“, rief Arbellez. „Wie war es doch nur möglich, auf diesen Gedanken nicht zu kommen. Aber, keins von uns allen gehört zu dieser Familie.“
„Aber ihr alle seid in ihre Geheimnisse eingeweiht.“
„Das ist allerding richtig.“
„Sternau, die beiden Helmers und nach ihnen alle sind verschwunden, welche um dieses Geheimnis wissen. Nun sind nur noch die Bewohner der Hacienda übrig. Und sie alle hat man auf einen Schlag mit Hilfe dieses Klama-bale, dieses Totenblattes, beseitigen wollen.“
„Das leuchtet ein. Aber wer mag der Täter sein?“
„Wer anders als Cortejo“, meinte die alte Marie Hermoyes.
„Cortejo“, nickte der ‚Schwarze Gerard‘. „Cortejo oder eines seiner Werkzeuge. Es ist jedoch auch möglich, daß es nicht ein Verbündeter, sondern gerade ein Feind von ihm ist.“
„Wie wäre das möglich?“
„Hm! Man muß an alles denken. Cortejo scheint viele Werkzeuge zu haben. Um später ihrer Verschwiegenheit sicher zu sein, ist er gezwungen, sie zu opfern. Sind sie nicht ganz dumm, so müssen sie das einsehen; sie müssen vorsichtig sein, sie dürfen ihm nicht trauen. Landola ist sein Hauptverbündeter. Er ist Cortejo überlegen. Sollte er sich alles das, was er weiß, nicht auf die eine oder die andere Weise zunutze machen? Kann es nicht noch einen andern, einen zweiten oder dritten geben, von dem sich dasselbe sagen läßt? Ist es unmöglich, auf irgendeine Weise einen anderen als Grafen Rodriganda unterzuschieben, wenn Mariano verschwunden ist und wenn man dafür sorgt, daß auch der jetzige Graf Alfonzo vom Schauplatz tritt?“
„Dieser Gedanke ist ungeheuerlich“, sagte Arbellez.
„Ich will das gar nicht bestreiten“, antwortete Gerard. „Aber für einen Mann, der so viel erlebt hat wie ich, gibt es überhaupt nichts Ungeheuerliches mehr. Ich halte mich jetzt zunächst an die Tatsache, daß man die Bewohner der Hacienda vergiften wollte. Den Täter werde ich ergreifen, und dann wird er beichten müssen.“
„Aber wenn er nichts gesteht?“
„Pah!“ antwortete der Jäger unter einer verächtlichen Handbewegung. „Ich möchte den Menschen sehen, der mir etwas verschweigt, wenn ich ihn in das Gebet nehme. Wir Savannenleute haben unsere unfehlbaren Mittel, einen jeden zum Sprechen zu bringen.“
„Und Ihr glaubt also, daß Ihr diesen Menschen in Wirklichkeit ergreifen werdet?“
„Ich bin überzeugt davon.“
„Aber er hat einen großen Vorsprung.“
„Dieser wird ihm nichts nützen. Er bedient sich jetzt desselben Pferdes, mit welchem er nach der Hacienda gekommen ist. Es wird ermüdet sein, und ich hoffe doch, daß Ihr mir und den beiden Vaqueros, welche mich begleiten werden, frische und schnelle Tiere zur Verfügung stellen könnt.“
„Ihr sollt die besten Pferde erhalten, welche ich besitze. Aber vielleicht hilft Euch das gar nichts.“
„Wieso?“
„Wenn der Mann aus der Umgegend ist, so hat er seine Heimat erreicht, ehe Ihr in den Sattel kommt. Was nützt Euch dann die Schnelligkeit Eurer Pferde?“
Gerard schüttelte lächelnd den Kopf.
„Ihr seid so viel mit Präriejägern zusammengekommen“, antwortete er, „daß Ihr endlich einmal wissen könntet, daß kein solcher Mann einen entkommen läßt, dessen Spur er einmal festhält. Von einem Schlaf ist nun doch keine Rede. Ich will mich zum Ritt vorbereiten. Denn, wenn der Tag anbricht, suche ich die Fährte.“
Dies geschah. So lange es noch dunkel war, konnte man das Geschehene nur besprechen und sich in allerlei Vermutungen ergehen, aber sobald der Tag zu grauen begann, begab man sich zunächst nach dem Hof unter das Küchenfenster, wo Gerard sich mit Hilfe eines Papierblattes eine ganz genaue Zeichnung der Fußspur nahm, welche dort zu finden war. Sodann führte er sie hinaus in das Freie nach dem Ort, an welchem er das Schnauben des Pferdes und sodann das Hufgetrappel vernommen hatte. Er brauchte nicht lange zu suchen. Er deutete auf ein Loch im grasigen Erdboden und fragte:
„Was hat dieses Loch zu bedeuten, Señor Arbellez?“
„Es ist hier ein Pferd angepflockt gewesen“, antwortete der alte Haziendero.
„Richtig. Der Mann hat sein Tier angepflockt und nicht angebunden. Er trägt also einen Lassopflock bei sich. Das ist auch ein Erkennungszeichen. Und nun seht Euch einmal diesen Kaktus an.“
Die erwähnte Pflanze stand in unmittelbarer Nähe des Loches, in welchem der Pflock gesteckt hatte. Arbellez betrachtete sie mit großer Aufmerksamkeit und sagte dann:
„Hm! Ich bemerke gar nichts Außergewöhnliches.“
„Wirklich nicht?“
„Nein.“
„Und die anderen?“
Auch die anderen untersuchten den Kaktus, konnten jedoch auch nichts Auffälliges finden.
„Ja“, lachte Gerard. „Ein Jäger ist doch etwas mehr als ein Haziendero oder ein Vaquero. Was ist denn das, Señores?“
Er zog etwas von den Stacheln des Kaktus weg.
„Ein Pferdehaar“, meinte Arbellez.
„Ja, aber von welchem Teil des Pferdes?“
„Es ist ein Schwanzhaar.“
„Welche Farbe hat es?“
Arbellez betrachtete es genau und antwortete dann:
„Schwarz, aber von einem Rappen scheint es dennoch nicht zu sein.“
„Da habt Ihr recht“, meinte Gerard. „Es ist weder von einem Rappen noch von einem Braunen. Es hat ganz die eigentümliche Melierung, welche man nur bei dunklen Rotschimmeln trifft. Das Pferd hat mit dem Schwanz um sich geschlagen, und dabei ist dieses Haar an den Kaktusstacheln hängengeblieben. Das Pferd ist ein Rotschimmel. Es hat hier das Gras niedergetreten; aber eine deutliche Spur ist leider nicht zu sehen.“
„Das ist freilich schade“, meinte Arbellez im Ton des Bedauerns.
„Warum?“
„Rotschimmel gibt es viele, ein Irrtum ist also möglich. Hättet Ihr aber ein so genaues Bild von der Hufspur wie Ihr sie vom Stiefel des Reiters habt, so wäre ein Erkennen um vieles leichter.“
Gerard lächelte in seiner ruhigen und doch überlegenen Weise und antwortete:
„So glaubt Ihr, daß ein solches Bild nicht zu bekommen sei?“
„Woher denn?“
„Am Bach dort. Seht, daß er hier links hinübergeritten ist. Er hat über den Bach gemußt, und dort wird sich wohl ein deutlicher Eindruck der Hufe finden lassen.“
Er hatte recht. Sie folgten ihm nach dem Wasser, und als sie dort ankamen, zeigte der weiche Uferboden ganz deutliche Eindrücke, welche eine Papierzeichnung gestatteten. „So!“ meinte Gerard. „Jetzt habe ich alles beisammen, und nun darf ich auch nicht säumen, aufzubrechen.“
Er begab sich in sein Zimmer zurück, um seine Waffen zu sich zu nehmen. Dort suchte ihn Resedilla auf, um ihm Lebewohl zu sagen. Sie umschlang und küßte ihn, als ob es gelte, auf ewig von ihm zu scheiden.
„Tröste dich, mein Herz!“ bat er sie in beruhigendem Ton. „Wir werden uns ja sehr bald wiedersehen.“
„Kannst du das wirklich behaupten, mein Gerard?“ fragte sie.
„Ja, Kind“, antwortete er.
„O nein. Weißt du nicht, daß die anderen nicht wiedergekommen sind, obgleich sie ganz dasselbe glaubten wie du?“
„Sie konnten nicht wissen, was ich weiß. Sie suchten Verlorene, ich aber verfolge Verbrecher.“
Es gelang ihm wirklich, sie zu beruhigen, und auch die anderen hatten ihn so gut kennengelernt, daß ihn ihr ganzes Vertrauen geleitete, als er endlich mit den zwei Vaqueros aus dem Tor ritt.
Er nahm die Spur da auf, wo sie über den Bach führte, und ließ sie keinen Augenblick lang aus den Augen. Selbst da, wo seine Begleiter nicht das mindeste von ihr merkten, zeigte er eine Sicherheit, welche sie in Erstaunen setzte.
So ging es in höchster Eile den ganzen Tag hindurch, bis die Nacht hereinbrach und von einer Fährte nichts zu erkennen war.
„Hier werden wir absitzen und übernachten“, sagte er, auf ein kleines Gebüsch deutend, welches am Weg lag.
„Wird das kein Fehler sein?“ fragte der eine Vaquero.
„Warum ein Fehler?“
„Hier ganz in der Nähe liegt die Estanzia des Señor Marqueso. Da ist der Mann ganz sicher eingekehrt.“
„Meint Ihr? Hm! Ein Mörder kehrt nicht ein, wenn er von dem Schauplatz seines Verbrechens kommt. Es liegt in seinem Interesse, sich von keinem Menschen sehen zu lassen. Übrigens sind wir ihm sehr nahe gekommen.“
„Wie weit?“
„Ich sah vorhin aus der Spur, daß er kaum noch eine Stunde weit vor uns ist. Sein Pferd ist müde. Morgen früh haben wir ihn sicher und fest.“
In dieser Überzeugung streckte er sich in das Gras, um zu schlafen. Am anderen Morgen, bereits bei Tagesgrauen, wurde der Weg fortgesetzt. Ihre Pferde hatten ausgeruht und flogen munter über die Ebene hin. Da plötzlich hielt Gerard das seinige an.
„Hier hat er angehalten“, sagte er, auf eine vielfach zertretene Rasenstelle deutend. „Wollen sehen.“
Er sprang ab und untersuchte den Boden im Umkreis.
„Donnerwetter!“ rief er dann. „Wo liegt die Estanzia, von welcher Ihr gestern abend redetet?“
„Da rechts drüben hinter den Büschen.“
„Wie weit hat man hin?“
„Zehn Minuten.“
„Er ist zu Fuß hinüber und zu Pferd wieder zurück. Seht, hier hat er seinen Rotschimmel angepflockt gehabt. Ich will doch nicht hoffen, daß er sich von der Estanzia ein Pferd geholt hat.“
„Das wäre verteufelt!“
„Und doch wird es so sein. Er ist zurückgekehrt, um den Rotschimmel vom Lasso zu befreien und ihn laufen zu lassen. Hier habt Ihr die Spur dieses Tieres. Sie führt rückwärts. Der Schimmel ist ledig. Und hier haben wir die Fährte des anderen Pferdes, welche nach Süden geht, also in der Richtung, welche er ursprünglich eingeschlagen hatte. Reitet auf dieser Fährte langsam weiter. Ich muß nach der Estanzia weiter.“
Sie gehorchten. In zehn Minuten sah er das Haus vor sich liegen. Er sprang vom Pferd und trat in das Zimmer. Ein älterer Mann lag in der Hängematte und rauchte eine Zigarette.
„Seid Ihr der Estanciero, Señor Marqueso?“ fragte Gerard.
„Ja“, antwortete der Mann.
„Habt Ihr gestern ein Pferd verkauft?“
Da fuhr der Mann aus der Hängematte empor und rief:
„Verkauft? Nein, das ist mir nicht eingefallen. Aber mein Fuchs muß sich verlaufen haben. Er war heute morgen fort.“
„Verlaufen? Hm! Könnte er nicht gestohlen worden sein?“
„Das ist allerdings möglich. Ihr seht mich allein, weil alle meine Leute ausgeritten sind, ihn zu suchen.“
„War dieser Fuchs ein schnelles Pferd?“
„Es war mein bester Läufer.“
„Verdammt.“
„Warum?“
„Ich verfolge einen Mörder von der Hacienda del Erina her. Er ritt einen müden Rotschimmel, und ich glaubte, ihn heute Vormittag zu erreichen. Nun aber hat er Euch den Fuchs genommen, und ich kann –“
„Donnerwetter! Also doch gestohlen?“ unterbrach ihn der Mann.
„Ja. Hatte Euer Fuchs irgendein Zeichen?“
„Ein sehr häßliches. Die rechte Hälfte des Maules ist weiß und die linke schwarz.“
„Danke!“
Damit drehte Gerard sich um.
„Halt!“ rief der Mexikaner hinter ihm her. „Wollt Ihr mir nicht wenigstens sagen, wo der Rotschimmel zu suchen ist? Dann hätte ich doch einigermaßen Ersatz.“
„Da drüben bei den Büschen findet Ihr die Spur“, antwortete Gerard, die Richtung mit der Hand bezeichnend.
Zugleich sprang er in den Sattel und galoppierte davon.
Er brauchte nicht weit zu reiten, so erblickte er seine beiden Gefährten, welche er schnell einholte. Er teilte ihnen mit, was er erfahren hatte, und machte sie darauf aufmerksam, daß es jetzt gelte, die größte Schnelligkeit zu entfalten. Infolgedessen flogen ihre drei Pferde förmlich dahin; aber die Züge Gerards, welcher die Spur fest im Auge behielt, blieben finster. Es war ihm anzusehen, daß ihre Schnelligkeit seinen Erwartungen nicht entsprach.
„Dieser Mensch ist klüger, als ich vermutete“, sagte er.
„Er hat wohl gar nicht geschlafen?“ fragte einer der Vaqueros.
„Nein. Er hat den Fuchs gestohlen und ist unverzüglich weiter. Heute früh hatte er einen Vorsprung von vier Stunden. Wir sind ihm näher gekommen, aber das genügt nicht, um ihn vor Einbruch der Nacht einzuholen.“
Es zeigte sich, daß seine Berechnung richtig war. Der Mittag ging vorüber, und der Nachmittag verflog auch. Gegen Abend, als es bereits dämmerte, näherten sie sich Santa Jaga.
„Ich hoffe nicht, daß der Kerl durch die Stadt reitet“, meinte der Vaquero.
„Warum nicht?“ fragte Gerard.
„Weil wir in der Stadt seine Spur nicht sehen können.“
„Pah. Wir können dann desto besser nach ihm fragen. Übrigens glaube ich nicht, daß er durch die Stadt reitet.“
„Sondern um dieselbe herum?“
„Nein.“
„Wie sonst?“
„Er wird bloß hineinreiten, aber nicht hinaus. Ich ahne vielmehr, daß er ein Bewohner der Stadt ist.“
„Ah, das ist möglich.“
„War nicht jene Dame, welche Juarez die Schriften schickte, aus Santa Jaga gekommen?“
„Ja.“
„Hatten nicht Sternau und die anderen die Richtung nach Santa Jaga eingeschlagen?“
„Allerdings.“
„Nun, so ist es leicht möglich, ja sogar sehr wahrscheinlich, daß wir hier die Lösung des Rätsels finden.“
Sie jagten weiter. Ungefähr zehn Minuten vor der Stadt trafen sie auf einen Mann, welcher langsam neben einem schweren Ochsenkarren einherschritt. Gerard grüßte und fragte:
„Wie weit ist es noch bis zur Stadt?“
„Ihr reitet keine Viertelstunde mehr“, antwortete der Mann.
„Seid Ihr dort bekannt?“
„Das will ich meinen. Ich bin dort geboren und wohne dort.“
Gerard hatte die Spur des Wagens fast schon während des ganzen Nachmittags gesehen. Er fragte daher:
„Ihr kommt aus dem Norden?“
„Ja.“
„Sind Euch heute viel Leute begegnet?“
„Kein einziger Mensch.“
„Aber überholt hat Euch ein Reiter?“
„Ein einziger.“
„Kanntet Ihr ihn vielleicht?“
„Hm“, antwortete der Mann, indem er pfiffig mit den Augen blinzelte. „Ja, vielleicht kenne ich ihn.“
„Ihr betont das Wort vielleicht. Weshalb?“
„Nun, weil der Señor jedenfalls nicht wollte, daß ich ihn erkennen sollte.“
„Wirklich? Weshalb denkt Ihr das.“
„Weil er einen Bogen schlug, um aus meiner Nähe zu kommen.“
„Ah! Was für ein Pferd ritt er?“
„Einen Fuchs.“
„Ihr erkanntet ihn also doch?“
„Ja, an seiner Haltung. So wie er auf dem Pferd saß, so sitzt nur ein einziger im Sattel.“
„Und wer ist das?“
Der Karrenführer blinzelte abermals sehr listig mit den Augen und fragte:
„Habt Ihr ein so großes Interesse, dieses zu erfahren?“
„Gar zu groß ist es allerdings nicht.“
„So. Na, Señor, ich bin ein armer Mann, und jeder Dienst ist doch seines Lohnes wert.“
„Da“, antwortete Gerard, indem er in die Tasche griff und ihm eine Silbermünze zuwarf.
„Danke. Nun sollt Ihr auch erfahren, wer es ist.“
„Aber schnell!“
„Schön. Es war kein anderer, als Pater Hilario.“
„Wer ist das?“
„Ein Arzt im Kloster della Barbara hier in der Stadt.“
„Ein Arzt? Ah!“ nickte Gerard. „Ritt er sehr weit an Euch vorüber?“
„Nicht gar sehr. Das Terrain erlaubte nicht mehr.“
„Habt Ihr an dem Fuchs nichts bemerkt, woran man ihn wieder erkennen könnte?“
„Ah, Ihr meint nicht den Mann, sondern den Fuchs! Nun, da kann ich Euch die allerbeste Auskunft geben.“
„Wirklich?“
„Ja. Ich kenne das Tier sehr genau. Der Pater muß es erst in den letzten Tagen gekauft haben.“
„Von wem?“
„Von einem Estanciero da draußen.“
„Ihr meint wohl Señor Marqueso?“
„Freilich. Der Fuchs hat eine Blässe, welche ihm über die rechte Hälfte des Maules geht.“
„Danke. Gute Nacht!“
Er ritt mit seinen Begleitern weiter, in tiefe Gedanken versunken. Ein Pater – ein Arzt – der im Kloster wohnte? Hm. Tausend Gedanken stiegen in ihm auf und nieder. Endlich wendete er sich an seine Begleiter:
„Was ich erfahren habe, ist sehr wichtig. Es bestätigt meine Ansicht, daß der Mörder hier in der Stadt wohnt. Wir werden in einer Venta absteigen und hierbleiben. Das Weitere wird sich finden.“ –
Pater Hilario befand sich in der Überzeugung, daß sein mörderischer Anschlag geglückt sei. Er ahnte nicht im geringsten, daß er einen Verfolger hinter sich habe, und stieg, von dem Ergebnis seines weiten Rittes befriedigt, vor dem Klostertor ab, als das Abenddunkel hereinbrach.
Daß er sich eines fremden Pferdes bemächtigt hatte, machte ihm keine Sorge. Es gab hundert Ausreden für ihn. Und in den Savannen Mexikos kommt es sehr häufig vor, daß einer sich des Pferdes eines anderen bedient, ohne diesen erst um Erlaubnis zu bitten.
Da er einige Tage länger geblieben war, als er vorher bestimmt hatte, so war er von seinem Neffen mit Ungeduld erwartet worden.
„Endlich!“ rief dieser, als er zu ihm in das Zimmer trat. „So sag mir doch um aller Welt willen, wo du so lange bleibst!“
„Ja“, antwortete er. „Ich konnte nicht wissen, daß ich drei Nächte um die Hacienda schleichen mußte, ehe es mir gelang.“
„Wie geht es denn?“
Er erzählte nun, was er getan hatte. Der Neffe war an Blut und Tod gewöhnt, aber er schüttelte sich doch.
„Brrr!“ sagte er. „Das ist fürchterlich!“
„Was denn?“ fragte der Alte im gleichgültigen Ton.
„Ein so vielfacher Mord!“
„Pah! Jeder Mensch muß sterben!“
„Aber auf welche Weise!“
„Unsinn! Diese Leute haben den schönsten Tod, den es geben kann. Sie legen sich hin und schlafen schmerzlos ein.“
„Bist du auch sicher, daß keiner übrigbleibt?“
„Von der Familie sicher keiner.“
„Und die anderen, welche um das Geheimnis wissen, haben wir ja unten.“
„Einige noch nicht. Wir bekommen sie aber auch.“
„Wann?“
„Baldigst. Die Gelegenheit dazu wird sich mir in Mexiko bieten.“
„Wann reist du ab?“
„Sogleich wenn ich gegessen habe.“
Der Neffe machte ein sehr erstauntes Gesicht.
„Sogleich?“ fragte er. „Bist du denn nicht müde?“
„Außerordentlich. Aber ich habe drei Tage verloren. Ich muß fort. Reiten kann ich nicht. Ich würde vor Schlaf vom Pferd fallen.“
„So nimmst du wohl die alte Klosterkarosse?“
„Ja. Mach sie bereit und spanne vor dem hinteren Tor an. Es braucht nicht ein jeder zu wissen, daß ich sofort wieder verreise.“
Er aß, kleidete sich um und gab dann dem Neffen die Verhaltungsmaßregeln, welche er für nötig hielt. Darüber vergingen doch einige Stunden, und dann fuhr er heimlich ab.
Sein Neffe horchte dem Wagen nach, so lange er die Räder desselben knarren hören konnte, dann begab er sich in die Stube des Onkels zurück, um sich die Schlüssel zu holen, da er ja die geheimnisvollen Gefangenen bedienen mußte. Auf dem Weg nach dem Studierzimmer des Paters mußte er durch den vorderen Hof. Das Tor desselben stand noch offen. Soeben trat ein Mann herein, der auf ihn zukam.
„Ist der Pater Hilario zu Hause?“ fragte er.
„Nein. Ah, Señor, Ihr seid es?“
Als der Mann hörte, daß er erkannt sei, sah er sich auch den Neffen an und sagte dann: „Ah, du bist es selbst, Manfredo?“
„Ja, Señor.“
„Also dein Oheim ist fort?“
„Ja.“
„Wann?“
„Soeben.“
„Donnerwetter! Warum so spät?“
„Er konnte nicht eher, doch meinte er, daß er noch zur rechten Zeit kommen werde.“
„Das mag sein. Kannst du in sein Zimmer?“
„Ja. Ich wohne ja dort, wenn er verreist ist.“
„Laß uns hingehen, aber so, daß uns niemand sieht. Ich habe sehr Wichtiges mit dir zu reden.“ –
Unterdessen hatte der ‚Schwarze Gerard‘ mit seinen beiden Vaqueros die Stadt erreicht und sich dort nach der besten Venta erkundigt. Sie wurde ihm gezeigt. Er stieg dort ab und fragte den Wirt, ob er hier einen Raum zum Übernachten bekommen könne. Dies wurde ihm bejaht, und er bekam ein Zimmerchen angewiesen, welches das beste des Hauses sein sollte, aber schon mehr einem Ziegenstall oder Taubenschlag glich.
Er aß da einige Bissen und machte sich dann auf, nach dem Kloster rekognoszieren zu gehen. Er löschte also sein Talglicht aus und öffnete die Tür. Sie trafen einen Menschen, der soeben im Dunkeln draußen vorüber wollte.
„Himmeldonnerwetter!“ rief es draußen.
„Kann nicht dafür“, antwortete er. „Nehmt Euch in acht!“
„Was? Ich in acht? Alle Teufel! Da hast du es!“
Bei diesen Worten erhielt Gerard eine Ohrfeige, daß er meinte, das Feuer springe ihm aus den Augen.
„Hölle und Tod!“ rief er. „Mensch, das wagst du?“
Er packte den anderen mit der Linken und gab ihm mit der Rechten eine Ohrfeige, welche wenigstens ebenso kräftig war wie diejenige, welche er erhalten hatte.
„Was? Mir eine Schelle?“ rief der andere. „Da!“
Zugleich erhielt Gerard eine zweite Ohrfeige.
„Und da!“ rief auch er.
Sein Gegner erhielt ebenso die zweite. Sie hielten sich fest gepackt. Keiner vermochte den anderen niederzuringen oder sich von ihm loszumachen; aber keiner vermochte auch, des Dunkels wegen, sich des rechten Armes seines Gegners zu bemächtigen. Und da sie beide zu stolz waren, um nach Hilfe zu rufen, so hörte man nur die Ausrufe: „Da. Hier! So! Noch eine! Da ist sie!“ und dabei klatschte es herüber und hinüber, daß es eine Art hatte. Das mochte aufgefallen sein, denn es öffnete sich in der Nähe eine Tür, und es trat ein junger, wie es schien, vornehmer Mann heraus, welcher in ein reiches mexikanisches Kostüm gekleidet war und ein Licht in der Hand hielt.
„Was geht hier vor?“ fragte er erstaunt, als er die beiden Männer erblickte, welche sich mit den linken Fäusten gepackt hielten und mit ihren Rechten in diesem Augenblick zu gleicher Zeit zur Ohrfeige ausholten.
„O“, antwortete der andere, „ich will diesem Kerl nur noch seine neunte Maulschelle geben!“
„Und ich diesem Menschen seine zwölfte!“ antwortete Gerard.
„Warum denn Geierschnabel?“ fragte der junge Mann erstaunt.
Sein Licht war nicht hell genug, darum hatten sich die beiden Kampfhähne nicht sogleich erkannt. Jetzt aber ließ Gerard sofort los und rief:
„Geierschnabel? Was? Ist das möglich?“
Und Geierschnabel drehte seinen Gegner nach dem Licht herum und rief:
„Heiliges Bombenwetter! Da geschehen ja Zeichen und Wunder! Ist's denn möglich, daß ich dich haue.“
„Und daß ich dich ohrfeige!“
„Zwölf habe ich bekommen!“
„Und ich acht!“
„So habe ich nur elf. Ja, nun weiß ich, warum ich gar nichts machen konnte! Wer so einen Kerl gegen sich hat, der muß froh sein, daß er nicht gleich bei der ersten durch die Mauer fliegt!“
„Du hast dich ebenso tapfer gehalten. Aber wenn ich nicht so lange krank darniedergelegen hätte, wäre es doch noch anders gekommen.“
„Woher kommst du denn?“
„Von del Erina.“
„Ah, von daher!“
„Und du?“
„Aus der Hauptstadt.“
Jetzt mischte sich auch der junge Mann in das Gespräch.
„Wie? Diese Señores kennen sich?“ fragte er lachend.
„Ja“, antwortete Geierschnabel.
„Und sind Freunde, trotzdem sie sich ohrfeigen?“
„Dicke Freunde sogar!“
„So darf ich wohl fragen, wer dieser Señor ist und wie ihr beide dazu kommt, euch in dieser Weise zu begrüßen.“
„Hölle und Teufel, das ging sehr einfach zu. Er wollte aus seiner Stube treten, eben als ich vorüberging. Da schmiß er mir die Tür gerade an die Nase. Ich gab ihm eine Ohrfeige und er mir eine Ohrfeige. So haben wir uns amüsiert, bis Sie Licht in die Sache brachten, Señor Kurt. Aber wer es ist, das wollen wir drinnen sagen und nicht hier auf dem Gang, wo ein jeder Lump die Ohren herhalten kann. Komm, Alter!“
Er faßte Gerard an und schob ihn in die Stube, aus welcher Kurt getreten war. Nachdem er die Tür sorgfältig verschlossen hatte, zeigte er auf die riesige Gestalt Gerards und fragte den andern:
„Señor Leutnant, werden Sie vielleicht erraten können, wer dieser famose Kerl da ist?“
Kurt betrachtete sich den Jäger lächelnd und antwortete:
„Mit einiger Unterstützung wird es mir vielleicht möglich sein. Kenne ich den Namen dieses Herrn?“
„Sogar sehr gut.“
„Er sagte, daß er lange krank gelegen habe. Wohl auf Fort Guadeloupe?“
„Ja.“
„Nun, so darf ich mir nur diese Gestalt betrachten, so weiß ich sofort, wer er ist: der ‚Schwarze Gerard‘. Nicht?“
„Erraten! Ja, erraten! Und nun, Gerard, mache es nach und errate, wer dieser Señor ist.“
„Das bringe ich nicht fertig“, meinte der Jäger.
„O doch.“
„Kenne ich seinen Namen?“
„Ja. Du hast ihn sogar schon gesehen.“
„Wo?“
„Seinen Namen kennst du von Señor Sternau, und gesehen hast du ihn in Rheinswalden, als er noch ein Knabe war.“
„Ah! Ihr Name ist Helmers?“
„Ja“, nickte der junge Mann. „Kurt Helmers.“
„Himmel, welch ein Zufall!“
„Zufall? Vielleicht nicht.“
„Was tun Sie hier?“
„Wir suchen unsere Verschollenen.“
„Ich ebenso.“
„Nun, so ist es also kein Zufall, daß wir uns hier treffen. Aber schnell, schnell! Haben Sie eine Spur von ihnen?“
„Ich hoffe es.“
„Wir vielleicht auch. Setzen Sie sich und erzählen Sie.“
So wunderbar eigentlich dieses Zusammentreffen war, es wurde doch kein Wort darüber verloren. Die drei Männer sahen ein, wie kostbar die Zeit sei, und daß man keine Minute verlieren dürfe. Darum erzählte Gerard sofort in kurzen, schlichten Worten, was er seit seiner Trennung von den anderen bis auf den gegenwärtigen Augenblick erlebt hatte.
Weit mehr hatten Kurt und Geierschnabel zu erzählen. Sie taten es in einer Weise, daß durch kein überflüssiges Wort Zeit verloren ging.
„Wo sind Grandeprise und der Seemann?“ fragte Gerard.
„Sie haben unten einen Raum für sich“, antwortete Kurt.
„Eigentümlich. Ich ziele auf diesen Pater Hilario und Sie ebenso. Kennen Sie das Kloster?“
„Nein, aber Grandeprise war da.“
„Ich stand soeben im Begriff, zu rekognoszieren.“
„Und ich auch; da stießest du mir die Tür an die Nase“, antwortete Geierschnabel.
Da öffnete sich die Tür und Grandeprise trat ein. Er kam, um Geierschnabel zur Rekognoszierung abzuholen, was dieser auch mit ihm hatte tun wollen, und staunte nicht wenig, den ‚Schwarzen Gerard‘ hier zu sehen. Nachdem ihm das Nötigste erläutert worden war, meinte er:
„Das ist ein glückliches Zusammentreffen. Ein tüchtiger Jäger ist mehr wert als zehn andere, und es sollte mich wundern, wenn Cortejo und Landola uns zum zweiten Mal entgehen sollten.“
„Wart Ihr einmal in dem Zimmer des Paters?“ fragte Gerard.
„Einige Male.“
„Was steht darin?“
„Ein Sofa, einige Stühle, ein Tisch, ein Schreibtisch und mehrere Bücherregale. An den Wänden hängen Bilder und viele alte Schlüssel.“
„Wozu diese Schlüssel?“
„Wer weiß es?“
„Hm. Klöster haben immer verborgene Räume und Gänge. Was für eine Form haben die Schlüssel?“
„Eine altertümliche.“
„So bin ich beinahe überzeugt, daß wir unter dem Kloster finden, was wir suchen.“
„Sie meinen, unsere Verschollenen?“ fragte Kurt rasch.
„Ja, wenn er sie nicht getötet hat. Aber Cortejo und Landola finden wir jedenfalls dort.“
„Mein Gott! Wenn das wahr wäre!“
„Ich möchte darauf schwören!“
„So dürfen wir keine Zeit versäumen. Warum dieser Pater sich in die Angelegenheiten der Rodriganda mischt, das wollen wir gar nicht fragen, wir werden es schon noch erfahren. Zunächst müssen wir um jeden Preis erfahren, ob die Gesuchten sich im Kloster befinden.“
„Aber wie?“ fragte Grandeprise. „Der Pater wird es uns nicht freiwillig sagen.“
„Er wird es uns sagen“, antwortete Kurt, indem seine Augen entschlossen aufblitzten, „ob freiwillig oder nicht, das ist Nebensache. Wer bewohnt das Kloster?“
Grandeprise konnte Auskunft geben. Er sagte:
„Es sind mehrere Ärzte da, deren Oberer eben der Pater ist. Ein Gebäude ist für körperliche Kranke und ein zweites für Geisteskranke eingerichtet. Ein drittes wurde von Pensionärinnen bewohnt, steht aber nun leer. Die übrigen Gebäude dienen als Wirtschaftsräume. Einige Diener bilden die ganze Bewohnerschaft, außer den Kranken natürlich.“
„So haben wir gar nichts zu befürchten. Wir werden sehen, ob der Pater daheim ist.“
„Auf jeden Fall ist er da“, meinte Gerard. „Er ist kurze Zeit vor mir hier angekommen.“
„Dennoch ist es notwendig, zunächst sich zu überzeugen. Einer von uns muß zu ihm gehen.“
„Das ist richtig“, meinte Gerard. „Ich aber kann es nicht tun.“
„Warum nicht?“
„Er ist auf der Hacienda gewesen, wenn auch heimlich, aber er kann mich dort gesehen haben.“
„Auch ich kann nicht hin“, meinte Grandeprise, „denn er kennt mich.“
„Und ich ebensowenig“, meinte Geierschnabel. „Meine Nase ist zu bekannt im Land.“
„So mag Peters gehen“, entschied Grandeprise.
„Warum Peters?“ fragte Kurt. „Eine so wichtige Sache mag ich ihm nicht anvertrauen. Mich kennt der Pater nicht. Ich gehe selbst.“
„Um Gottes willen“, rief Geierschnabel. „In eine solche Gefahr dürfen Sie sich nicht begeben.“
„Ein anderer aber doch? Halten Sie mich für feig?“
„Nein, aber ich will nicht, daß wir uns um Sie zu sorgen haben.“
„Um wen wir uns sorgen, das bleibt sich gleich. Ich verlasse mich lieber auf mich als auf Peters. Er hat uns als Bote des Kapitäns begleitet. Wichtigeres darf ich ihm nicht anvertrauen.“
Der ‚Schwarze Gerard‘ blickte den jungen Mann wohlgefällig an. Er gab ihm die Hand und sagte:
„Sie haben recht, Monsieur. Ich sehe es Ihnen an, daß Sie ebenso bedächtig und vorsichtig wie mutig sind. Und auf alle Fälle sind ja wir anderen da. Geschehen kann Ihnen nichts. Grandeprise, wie gelangt man in das Zimmer des Paters?“
„Durch das Tor über den Hof hinüber und zur Treppe hinauf, liegt die Tür gleich gegenüber. Sämtliche Zimmer des Klosters sind numeriert. Es hat die Nummer 25.“
„Wohin gehen die Fenster?“
„Zwei nach einem Seitenhof, eins aber am Giebel heraus, wo wir stehen können.“
„So sind wir sicher, daß Señor Helmers nichts passieren kann. Es gilt, den Pater zu überraschen. Man darf im Hof nicht nach ihm fragen.“
„Man tritt unangemeldet bei ihm ein. Das Übrige ergibt sich dann aus den Umständen. Unter dem Fenster stehen wir. Sollte Monsieur Helmers in Gefahr oder Verlegenheit kommen, so braucht er uns nur zu rufen.“
„Das ist auch meine Ansicht“, sagte Kurt. „Wollen wir aufbrechen?“
„Ja, vorwärts“, meinte der ‚Schwarze Gerard‘. „Zwar habe ich noch zwei Vaqueros mit, welche uns helfen könnten, aber ich bin der Ansicht, daß solche Leute uns eher hinderlich als förderlich sein könnten. Wir vier sind genug. Gehen wir.“
Sie verließen wohl bewaffnet die Venta und stiegen den Klosterweg empor. Als sie oben angekommen waren, hörten sie das Rollen eines Wagens, welcher um eine Mauerecke bog. Sie traten zur Seite, um nicht bemerkt zu werden, und ahnten nicht, daß in diesem Wagen derjenige saß, den sie suchten, Pater Hilario nämlich.
Dann zeigte Grandeprise ihnen das Fenster, welches zum Zimmer des Paters gehörte.
Das Tor war offen, und Kurt trat ein. Das betreffende Fenster war erleuchtet und die drei Jäger blickten unverwandt empor, um beim kleinsten Zeichen bereit zu sein. Da hörten sie nahende Schritte. Sie traten zurück und duckten sich nieder, um nicht gesehen zu werden. Eine Gestalt schritt an ihnen vorüber und huschte in das Tor.
Es war der kleine, dicke Verschwörer, welcher im Vorderhof den Neffen des Paters traf und mit demselben nach dem Zimmer des Paters ging, wie wir bereits wissen.
Vorher aber war Kurt über den Hof geschritten und die Treppe emporgestiegen, ohne von jemand bemerkt zu werden. Er sah die ihm gegenüberliegende Tür, auf welcher die Nummer 25 stand und trat ein, ohne anzuklopfen. Es brannte eine Lampe da, aber kein Mensch war zu sehen.
Eine zweite Tür führte nach dem Schlafzimmer des Paters. Kurt vermutete ihn in diesem Raum und öffnete die Tür. Auch hier befand sich niemand. Eben wollte er in das vordere Zimmer zurücktreten, als er draußen die Schritte zweier Personen hörte. Mehr aus plötzlicher Eingebung als aus Berechnung wich er in das Schlafzimmer zurück, und zog die Tür desselben an, aber nicht ganz zu. Er war der Meinung, daß der Pater mit irgend jemand komme. Vielleicht gestattete ihm das Glück, etwas zu belauschen, was ihm von Nutzen sein konnte.
Durch die Spalte, welche er gelassen hatte, sah er ein kleines, dickes Männchen eintreten und dahinter einen jüngeren Mann, welcher das Aussehen eines Bediensteten hatte. Nach der Beschreibung, welche er sich von der Person des Paters hatte geben lassen, konnte dieser nicht dabei sein.
Der Dicke setzte sich behäbig auf einen Stuhl und fragte:
„Also dein Oheim ist erst kürzlich fort?“
„Ja“, antwortete Manfredo.
„Weißt du nicht, was ihn so lange aufgehalten hat?“
„Nein.“
Der Kleine warf einen blitzschnellen, stechenden Blick auf den Neffen und fuhr fort:
„Du bist doch der einzige Verwandte des Paters, nicht wahr?“
„Ja, der einzige.“
„Hm! Da sollte man doch meinen, daß er Vertrauen zu dir habe.“
„Das hat er auch.“
„Warum sagt er dir da nicht, was ihn abgehalten hat, meinem Befehl schneller nachzukommen?“
„Weil ich ihn nicht gefragt habe.“
„So! Hm! Weißt du noch, wann ich zum letzten Mal hier war?“
„Ja.“
„Da waren auch zwei Männer aus der Hauptstadt hier?“
„Ja“, antwortete der Neffe, welcher ja eingeweiht war.
„Was wollten sie?“
„Sie suchten Euch, sie wollten Euch arretieren.“
„Also doch! Welch ein Glück, daß ich ihnen entgangen bin. Es waren zwei ganz dumme Kerls. Sind sie wieder hier gewesen?“
„Nein.“
„Das ist ihr Glück. Ich werde dafür sorgen, daß sie gut empfangen werden, falls sie wiederkommen. Und das ist es eben, weshalb ich mit dir reden will. Sind wir allein?“
„Ihr seht es ja.“
„Und niemand kann uns belauschen?“
„Kein Mensch.“
„Nun gut, so sage mir, ob du weißt, weshalb dein Oheim nach der Hauptstadt gereist ist.“
„Er hat es mir gesagt.“
„Alle Wetter! So scheint er also doch Vertrauen zu dir zu haben. Und da sehe ich, daß auch ich aufrichtig mit dir reden kann. Sage mir also, welchen Zweck der Pater in Mexiko verfolgt.“
„Er soll dahin wirken, daß der Kaiser nicht mit den Franzosen abzieht.“
„Und warum?“
„Damit Max von Juarez gerichtet und verurteilt werde.“
„Gut. Juarez steht dann als Mörder da und wird allen Kredit verlieren. Auf diese Weise werden wir den Kaiser und auch den Präsidenten los und bekommen die Macht in unsere Hände. Dein Oheim hat die Verhaltungsvorschriften. Er wird diesen Max nicht in Mexiko, sondern in Querétaro treffen. So weit scheint alles gelungen. Aber der Teufel könnte doch sein Spiel haben. Irgendein Zufall kann den Kaiser bestimmen, das Land schleunigst zu verlassen. Man kann ihm sagen, daß er keinen Rückhalt, keinen Beistand und keine Anhänger mehr habe. Da gilt es dann, ihn glauben zu machen, daß man noch in Massen zu ihm hält.“
„Das wird nicht leicht sein.“
„Leicht und schwer, wie man es nimmt. Ich habe die Veranstaltung getroffen, daß der Kaiser erfährt, seine Anhänger hätten sich im Rücken seines ärgsten Feindes, dieses Juarez erhoben, um die kaiserliche Fahne zum Sieg zu führen. Hört Max dies, so bleibt er sicher im Land und ist ebenso sicher verloren. Es werden morgen an einigen Orten Krawalle vorkommen, den Hauptkrawall aber soll es hier in Santa Jaga geben.“
„Hier?“ fragte der Neffe überrascht. „Wieso? Hier gibt es ja nur Anhänger des Juarez.“
„Pah! Laß nur mich machen“, meinte der Dicke in überlegenem Ton. „Wir haben eine Schar von zweihundert tapferen Kerls angeworben, welche noch in dieser Nacht nach Santa Jaga kommen werden, um die kaiserliche Fahne zu entfalten.“
„Die Einwohnerschaft wird sie fortjagen.“
„Das wird ihr nicht gelingen. Das Kloster ist zu einer Zeit gebaut worden, in welcher jedes Haus zugleich Festung sein mußte. Es hat starke, hohe Mauern und gleicht einem Fort. Unsere Leute werden sich im Kloster festsetzen. Was wollen da die Bürger tun?“
„Dann allerdings möchte es gehen“, meinte Manfredo nachdenklich.
„Gerade der Umstand, daß diese Schilderhebung hier stattfinden wird, wird deinen Oheim beim Kaiser die allerbeste Empfehlung sein.“
„Weiß mein Oheim davon?“
„Nein.“
„Warum?“
„Weil ich selbst noch nichts wußte, als ich zum letzten Mal mit ihm sprach. Und heute ist er ja nicht da, sodaß ich es ihm sagen könnte. Aber wenn er es in Querétaro hört, hat er bereits meine Instruktionen in den Händen und weiß, was er zu tun hat.“
„Sind es Soldaten, welche kommen?“
„Hm! Man könnte sie so nennen. Es sind bewaffnete Leute, denen es ganz gleich ist, wem sie dienen.“
„Wann kommen sie?“
„Heute Nacht punkt vier Uhr werden sie unten am Klosterweg eintreffen, und du wirst sie in das Kloster führen, aber so, daß unten im Ort kein Mensch etwas merkt. Wenn der Tag anbricht, weht die kaiserliche Fahne von den Mauern herab und die Bürger dürfen nicht murren.“
„Wird der Anführer mir folgen?“
„Ja. Du sagst ihm das Wort ‚Miramare‘, dann weiß er, daß du der Richtige bist.“
„Werdet ihr nicht dabei sein?“
„Nein. Ich habe heute nacht noch einen weiten Ritt in einer ähnlichen Angelegenheit. Du hast doch alles ganz genau verstanden?“
„Ganz genau.“
„Gut. Sei so treu wie dein Oheim, dann wird die Belohnung nicht ausbleiben. Ich will gehen. Hier die Instruktion für den Anführer der Truppen. Du gibst sie ihm, sobald du ihn triffst. Gute Nacht.“
„Ich werde Euch herunter begleiten“, meinte der Neffe, indem er die empfangenen Papiere zu sich steckte.
„Warum?“
„Das Tor könnte unterdessen verschlossen worden sein.“
Kaum hatten sie das Zimmer verlassen, so trat Kurt in dasselbe. Er eilte an das Fenster, öffnete es und fragte halblaut hinab:
„Seid Ihr hier?“
„Ja“, antwortete Gerard. „Was gibt es?“
„Der Pater ist verreist. Alles geht gut. Haltet Euch ruhig, bis Ihr mich wiederseht. Aber tretet zurück. Es wird jemand kommen.“
Er schloß das Fenster und kehrte in die Schlafstube zurück. Er war überzeugt, diesem Neffen des Paters gewachsen zu sein; jedenfalls hatte er es nur mit diesem zu tun, und er beschloß, kurzen Prozeß mit ihm zu machen. Nach einigen Minuten kehrte Manfredo in die Stube zurück.
Er schien nachdenklich zu sein und schritt sinnend im Zimmer auf und ab. „Hm!“ hörte Kurt ihn brummen. „Kaiserliche in Santa Jaga. Räuber und Mörder werden es sein, aber ich muß gehorchen. Zuvor will ich zu meinen Gefangenen. Ah! Bin ich nur erst Graf Alfonzo de Rodriganda, so mögen sie in Mexiko einander erwürgen, wie es ihnen beliebt. Mir ist alles gleich.“
Kurt erstaunte gewaltig über den Inhalt dieses Selbstgespräches. Er stand schon im Begriff, aus der Tür zu treten und den Kerl zu packen und zum Geständnis zu bringen; da sah er, daß er einige Schlüssel ergriff, und das brachte ihn auf andere Gedanken.
Der Neffe steckte die Schlüssel ein, brannte eine Blendlaterne an und verließ das Zimmer, ohne die Tür desselben zuzuschieben. Sofort trat Kurt ein, riß ein Licht von einem Leuchter, steckte es ein und zog dann sein Messer. Er öffnete so leise wie möglich die Tür und sah Manfredo eine zweite Treppe hinabsteigen. Er drückte die Tür zu und folgte ihm.
Das Licht der Blendlaterne fiel nur vorwärts, darum ging Kurt im dunklen Schatten. Aus diesem Grund konnte er sehr leicht an etwas stoßen und dadurch ein verräterisches Geräusch verursachen. Deshalb blieb er einen Augenblick stehen, um seine Stiefel auszuziehen, deren Sporen ihn ohnedies verraten konnten. Dann ging es wieder weiter.
Da Kurt von Dunkel eingehüllt war, so konnte er sich nahe genug an seinen Vordermann halten, um diesen nicht aus den Augen zu verlieren. Weil es aber doch möglich war, daß der Mexikaner einmal stehenbleiben und sich umdrehen konnte, so hielt Kurt sich für diesen Fall bereit, sich augenblicklich niederzuwerfen, um nicht bemerkt zu werden.
So ging es durch einige Türen, welche Manfredo offenließ. Sie schritten durch mehrere feuchte Felsengänge, ohne daß es dem Mexikaner ein einziges Mal eingefallen wäre, sich umzudrehen. Der Gang, in dem sie sich nun befanden, hatte mehrere Türen. Vor einer derselben blieb Manfredo stehen. Er schob zwei starke, eiserne Riegel zurück und öffnete das Schloß mit einem seiner Schlüssel. Dann trat er ein.
War dort ein neuer Gang oder gab es hinter dieser Tür ein Gefängnis? So fragte sich Kurt. Im ersteren Fall mußte er rasch folgen, im letzteren aber zurückbleiben.
Er horchte. Ah, er hörte sprechen. Diese Tür hatte also einen Kerker verschlossen. Leise schlich er näher. Niemand hörte ihn. Er wagte es, den Kopf ein wenig vorzustrecken und blickte in ein viereckiges Gefängnis, an dessen Mauern mehrere Personen gefesselt waren. Manfredo stand in der Mitte des Raumes und hatte seine Laterne in eine Ecke gestellt. Sie erhellte das Gefängnis so ungenügend, daß es unmöglich war, die Züge der Gefangenen zu erkennen. Manfredo sprach mit einem derselben.
„Es gibt einen Weg, Euch zu retten“, hörte Kurt ihn sagen.
„Welchen?“ fragte eine Stimme aus dem Hintergrund.
„Könnt Ihr das nicht erraten?“
„Nein.“
„Ich will ihn Euch sagen. Ihr wißt, daß dieser Mariano hier Euer wirklicher Neffe ist?“
„Ja.“
„Und daß der jetzige Graf Alfonzo nur der Sohn von Gasparino Cortejo ist?“
„Ja.“
„Nun, so stelle ich zwei Bedingungen. Erfüllt Ihr diese, so seid Ihr alle frei.“
„Wir wollen sie hören.“
Der alte Graf Ferdinande war es, welcher sprach. Der Neffe des Paters fuhr fort:
„Zunächst erklärt Ihr diesen Alfonzo für einen Betrüger und laßt ihn und seine Verwandten bestrafen.“
„Dazu bin ich natürlich bereit.“
„Sodann aber muß Mariano entsagen, und Ihr erkennt mich als den Knaben an, welcher geraubt und verwechselt wurde.“
Ein Schweigen des Erstaunens folgte.
„Nun, Antwort!“ gebot der Mexikaner.
„Ah“, sagte Don Ferdinande, „so wollt wohl gar Ihr Graf von Rodriganda werden?“
„Ja“, antwortete der Gefragte im Ton der unverschämtesten Offenheit. „Das ist meine Bedingung.“
„Ich gehe sie niemals ein.“
„So bleibt Ihr gefangen bis an Euer Ende.“
„Gott wird uns erretten.“
„Pah, das kann er nicht. Ich gebe Euch eine halbe Stunde Bedenkzeit, bis ich Euch Brot und Wasser bringe. Sagt Ihr dann nicht ja, so erhaltet Ihr weder Trank noch Speise und müßt elend verschmachten!“
„Gott wird uns rächen!“
„Don Ferdinande, sprecht nicht mit diesem Buben!“ klang eine tiefe Stimme von der Seite her.
Es war als ob Kurt augenblicklich vorstürzen solle. Diese Stimme kannte er. Er hätte sie an jedem Ort, in jedem Verhältnis wiedererkannt. Es war die Stimme seines einstigen Lehrers, die Stimme Sternaus.
„Was?“ rief Manfredo. „Einen Buben nennst du mich! Hier hast du deinen Lohn!“
Er trat zu dem Gefesselten und holte zum Schlag aus, kam aber nicht dazu, denn sein erhobener Arm wurde ergriffen. Er drehte sich im höchsten Grad erschrocken um und sah zwei blitzende, zornsprühende Augen und die Mündung eines Revolvers auf sich gerichtet. Die Blässe eines tödlichen Schreckens bedeckte sein Gesicht.
„Wer ist das? Was wollt Ihr hier?“ fragte er vor Angst stammelnd.
„Das wirst du sogleich hören!“ antwortete Kurt. „Nieder mit dir auf die Knie!“
„Wer – wer – was –“, wiederholte der Erschrockene.
„Nieder auf die Knie!“ wiederholte Kurt.
Und als Manfredo nicht sogleich gehorchte, riß er ihn an dem Ann, den er noch gefaßt hielt, zum Boden nieder.
„Komm mein Bursche, wir wollen dich sicher nehmen!“
Bei diesen Worten nahm er sich den Lasso von den Hüften und schlang ihn um den Leib und die Arme des Kerkermeisters. Dieser war mit keiner Waffe versehen; aber selbst wenn er eine solche bei sich gehabt hätte, wäre er doch vor Erstarrung momentan unvermögend gewesen, sie zu gebrauchen. Als er so gebunden war, daß er sich nicht rühren konnte, gab Kurt ihm einen Fußtritt, daß er vollends umstürzte.
Nun aber konnte Kurt sich nicht länger halten. Er holte tief Atem, stieß einen überlauten Jubelruf aus, von welchem draußen die Gänge widerhallten, und frohlockte:
„Gott sei Dank! Endlich ist es mir gelungen! Ihr seid frei!“
„Frei?“ rief es rundum.
„Ist das wahr?“
„Ja und tausendmal ja.“
„Señor, wer seid Ihr?“ fragte der alte Ferdinande, welcher an dieses plötzliche Glück nicht zu glauben vermochte.
„Das werdet Ihr noch erfahren. Nur hinaus aus diesem Loch, aus diesem pestilenzialischem Gestank! Das ist das Allernötigste. Könnt Ihr gehen?“
„Ja“, antwortete Sternau.
Kurt, so jung er war, vermochte es doch über sich, seinem Herzen einstweilen zu gebieten und das zu tun, was der Verstand ihm vorschrieb.
„Wie öffnet man Eure Ketten?“ fragte er.
„Dieser Mann hat einen kleinen Schlüssel dazu in der Tasche.“
Kurt griff in Manfredos Taschen und fand ein Schlüsselchen. Er eilte von Mann zu Mann mit unbeschreiblicher Hast und öffnete die Fesseln, welche niederklirrten. Nun wollten sich alle auf ihn stürzen, er aber wehrte, obgleich ihm die Freudentränen aus den Augen liefen, sie ab und rief:
„Noch nicht! Zunächst das Allernötigste. Seid Ihr alle beisammen, oder gibt es wo anders noch Leidensgefährten?“
„Wir sind es alle“, antwortete Sternau, welcher die meiste Kraft besaß, kaltblütig zu bleiben.
„Aber Cortejo und Landola müssen auch hier sein!“
„Sie sind auch hier.“
„Aber nicht gefangen?“
„Gefangen! Alle beide Cortejos, Landola und Josefa Cortejo.“
„Gott sei Dank!. Das ist mir zwar ein Rätsel, aber es wird sich aufklären. Folgt mir in eine andere Luft.“
Er nahm dem gefesselten Manfredo alle Schlüssel ab, stieß ihn in die Ecke und ergriff die Laterne. Als er in den Gang trat, folgten ihm die anderen. Er verschloß und verriegelte die Tür und schritt ihnen voran, in der Richtung, aus der er gekommen war. Aber er durfte nur langsam gehen. Einige der Geretteten waren so schwach, daß sie sich kaum aufrecht halten konnten. Die Luft wurde bei jedem Schritt besser und im vordersten Keller hielt er endlich an. Er brannte das Licht, welches er zu sich gesteckt hatte, an, befestigte es auf einem Balken, und nun war es hell genug, um die Gesichtszüge zu erkennen. Da ergriff Sternau ihn bei der Hand und bat:
„Señor, hier können wir Atem holen. Nun müßt Ihr uns auch sagen, wer Ihr seid.“
„Ja, hier sollt Ihr es erfahren“, antwortet Kurt, vor Aufregung beinahe schluchzend. „Aber einer soll es zuerst erfahren, vor allen anderen!“
Er zog einen der bärtigen Männer nach dem anderen in den Kreis der Lichter und betrachtete sie. Als er des Steuermanns Hände in den seinigen hatte, fragte er ihn:
„Werden Sie stark genug sein, alles zu hören?“
„Ja“, antwortete dieser.
„So will ich Ihnen leise sagen, wer ich bin. Aber sie müssen es noch verschweigen, denn die anderen sollen es erraten.“
Er schlang die Arme um ihn, näherte seinen Mund dem Ohr des Seemanns und wollte ganz leise flüstern: „Mein Vater!“ Aber er brachte es nicht fertig. Als er die abgemagerte Gestalt seines Vaters in den Armen hielt, konnte er nicht an sich halten, sondern rief laut und schluchzend:
„Vater! Mein lieber, lieber Vater!“
Er drückte ihn an sich und küßte ihn auf Mund, Stirn und Wangen. Er bemerkte nicht, daß er vorher spanisch gesprochen, die letzten Worte aber in deutscher Sprache ausgerufen hatte.
Der Steuermann konnte nicht antworten. Er lag ohnmächtig in seinen Armen. Auch die anderen waren vor Entzücken und Bewunderung stumm. Sternau war der erste, welcher sich faßte.
„Kurt! Ist's wahr? Du bist Kurt Helmers?“
„Ja, ja, Herr Doktor, ich bin es.“ Er ließ seinen Vater langsam und vorsichtig zur Erde gleiten und flog dann in die geöffneten Arme Sternaus.
„Mein Gott, welch ein Glück, welch eine Gnade!“ rief der letztere.
„Ich will nicht fragen, wie du uns fandest, wie es dir gelang, uns zu retten. Nur eins will ich fragen: Wie steht es in Rheinswalden?“
„Gut, gut! Sie leben alle, alle.“
„Meine Frau?“
„Ja.“
„Mein Kind, meine Tochter?“
„Ja.“
„Meine Mutter und Schwester?“
„Alle, alle!“
Da sank der gewaltige Mann, der sich am stärksten und kräftigsten erhalten hatte, in die Knie und faltete die Hände.
„Herrgott im Himmel, zum zweiten Mal gerettet!“ betete er. „Wenn ich das vergesse, so magst du meiner vergessen, wenn meine sterbende Hand an der Tür deines Himmels um Einlaß klopft.“
Da fühlte sich Kurt abermals von zwei Armen umfaßt.
„Ah, bist du Onkel ‚Donnerpfeil‘?“
„Ja, mein lieber, lieber Neffe.“
Aus diesen Händen ging der junge Mann in andere. Jeder wollte ihn umarmen und küssen. Er mußte schließlich Sternau um Beistand bitten, diese Szenen zu beenden.
„Allein bist du unmöglich hier?“ fragte dieser.
„Im Kloster ganz allein; draußen aber stehen meine Kameraden.“
„Wer sind sie?“
„Der ‚Schwarze Gerard‘, Geierschnabel und der Jäger Grandeprise. Kommt, Ihr Herren, kommt herauf! Noch sind wir nicht völlig sicher. Man weiß nicht, ob dieser Teufel von Pater nicht Helfershelfer hat. Wir wollen gehen, aber so wenig wie möglich Geräusch verursachen.“
Seinen Vater im rechten Arm, ergriff er mit der Linken die Laterne und schritt voran. Die anderen folgten langsam. Den Schluß bildete Sternau mit dem Licht. Er, der immer an alles dachte, hatte die Schlüssel an sich genommen und verschloß jede Tür hinter sich, durch die sie kamen.
Sie gelangten in die Wohnung des Paters. Es war spät geworden. Man war im Kloster schlafengegangen, und da die Krankenwärter, die zu wachen hatten, sich in einem anderen Gebäude befanden, so hatten die Erretteten ihren Aufenthalt erreicht, ohne daß sie gesehen worden waren.
Hier brannte eine helle Lampe. Kurt brannte zum Überfluß noch eine an, und nun konnte man sich deutlich sehen. Die Begrüßungen und Fragen begannen von neuem.
„Später, später“, wehrte Kurt ab. „Señor Sternau wird mir recht geben, daß wir zunächst auf unsere Sicherheit bedacht sein müssen.“
„Ganz recht“, antwortete der Genannte. „Wo sind die drei braven Jäger, welche draußen stehen?“
„Ich werde sie rufen.“
Bei diesen Worten trat Kurt an das Fenster und öffnete es.
„Gerard!“ rief er halblaut hinab.
„Hier Monsieur.“
„Ist unten etwas vorgekommen?“
„Nein. Wie aber steht es oben?“
„Gut. Werfen sie mir Ihren Lasso zu.“
„Warum?“
„Sie drei sollen an demselben heraufsteigen. Die anderen Wege werden verschlossen sein.“
„Haben Sie den Ihrigen nicht mehr?“
„Nein.“
Gerard warf, und Kurt fing den Lasso auf. Als er ihn gehörig befestigt hatte, kamen die drei nacheinander durch das Fenster. Sie waren nicht wenig erstaunt, eine so zahlreiche Gesellschaft zu finden.
„Donnerwetter!“ meinte Geierschnabel, indem er den Mund weit aufriß. „Das sind sie ja!“
„Ja, das sind wir“, antwortete Sternau. „Wir schulden Euch unendlichen Dank, daß Ihr Euch unserer angenommen habt.“
„Unsinn. Aber zum Teufel, wie hat dieser junge Mensch das denn eigentlich fertiggebracht?“
„Das hören Sie später“, meinte Kurt. „Sie sollen hierbleiben und für Sicherheit dieser Herren, die noch unbewaffnet sind, sorgen. Herr Doktor, meinen Sie, daß noch andere Bewohner des Klosters mit dem Pater im Komplott sind?“
„Außer seinem Neffen wohl keiner“, antwortete Sternau.
„Werde es gleich sehen.“
Bei diesen Worten eilte er zur Tür hinaus, ohne sich durch die ängstlichen Zurufe der anderen zurückhalten zu lassen.
Zur Treppe hinunter kam er in den Hof, dessen vorderes Tor verschlossen worden war. Beim Laternenschein sah er ein zweites Tor, das in einen anderen Hof führte. Er ging dahin und sah ein Gebäude vor sich, in dessen Parterre ein Fenster erleuchtet war. An der Tür des Zimmers, zu dem dieses Fenster gehörte, las er die Inschrift ‚Meldezimmer‘. Er trat ein und wurde von dem darin sitzenden Wärter erschrocken angestarrt.
„Wer sind Sie? Was wollen Sie? Wie kommen Sie hierher?“ fragte dieser, indem er aufsprang.
„Erschrecken Sie nicht“, antwortete er. „Ich komme in der friedlichsten Absicht. Ich befinde mich bei Manfredo, dem Neffen des Paters Hilario. Wer hat in Abwesenheit dieses letzteren Kranke zu behandeln?“
„Der zweite und dritte Arzt.“
„Wie heißt der zweite?“
„Menuccio.“
„Er schläft?“
„Ja.“
„Wecken Sie ihn augenblicklich.“
„Ist es notwendig? Sonst darf ich nicht.“
„Äußerst notwendig.“
„Wen soll ich melden?“
„Einen fremden Offizier.“
Der Mann ging und kam erst nach einer Weile wieder, um ihn zu dem Arzt zu führen. Dieser befand sich im Schlafrock und empfing ihn nicht mit freundlicher Miene.
„Ist es so gefährlich, daß Sie mich im Schlaf stören?“ fragte er.
„Ja, sehr gefährlich, besonders für Sie“, antwortete Kurt.
„Für mich? Señor, ich bin nicht zum Scherz aufgelegt!“
„Ich ebensowenig. Ich komme, um Sie zu einer ganzen Zahl von Patienten zu bitten.“
„Darin sehe ich doch keine Gefahr für mich.“
„Und doch ist es so. Sagen Sie, ob Ihnen das geheimnisvolle und verbrecherische Treiben des Paters Hilario ganz unbekannt ist?“
„Señor, wer sind Sie, daß Sie es wagen, von Verbrechen zu reden?“
„Ich habe das Recht dazu. Vor einiger Zeit verschwand eine Zahl teils gewöhnlicher, teils hochgestellter Personen, zwei Grafen Rodriganda, ein Herzog von Olsunna und andere. Ich wurde beauftragt, nach ihnen zu forschen, und fand sie vor einer Stunde als Gefangene in den unterirdischen Löchern dieses Klosters. Wissen Sie etwas davon?“
Der Arzt machte ein Gesicht, als ob er zu Stein geworden sei.
„Träume ich denn?“ fragte er.
„Sie träumen nicht, sondern sie wachen. Pater Hilario hat diese Señores ins Kloster gelockt und sie heimtückisch eingeschlossen. In den letzten Tagen war er sogar auf der Hacienda del Erina, um sämtliche Bewohner derselben zu vergiften.“
Der Arzt wußte wirklich nicht, was er sagen sollte.
„Ich träume“, stieß er abermals hervor.
„Ich wiederhole, daß Sie wachen. Ich habe die Gefangenen befreit. Die Gefangenschaft in jenen Löchern hat ihre Gesundheit im höchsten Grade angegriffen. Sie bedürfen Ihrer Hilfe, und ich fordere Sie auf, mir nach des Paters Wohnung zu folgen, wo jene sich einstweilen befinden.“
Der Arzt schüttelte noch immer den Kopf.
„Señor, es handelt sich nicht um einen Scherz?“ fragte er.
„Es ist mein bitterer Ernst.“
„Ich werde Sie begleiten, um mich zu überzeugen.“
Er kleidete sich schnell um und folgte dann Kurt. Sein Staunen vergrößerte sich, anstatt sich zu vermindern, als er die zahlreiche Versammlung erblickte, zu welcher er gebracht wurde.
„Hier ist zunächst ein Arzt“, meldete Kurt. „Wir bedürfen eines größeren Zimmers und stärkender Speisen und Getränke.“
Der Heilkünstler befand sich noch wie im Traum. Aber als er Don Ferdinande erblickte, der todesmatt auf dem Sofa lag, begann er an die Wirklichkeit zu glauben. Er hatte den Grafen früher in Mexiko gesehen und erkannte ihn sofort wieder, trotzdem derselbe sich sehr verändert hatte.
Die Anwesenden hatten selbst den Zusammenhang ihrer Rettung noch nicht vollständig erfahren, darum mußte der Arzt sich mit kurzen Mitteilungen begnügen; aber dies reichte hin, ihn zu überzeugen, daß es seine Pflicht sei, hier einzugreifen. Die Gesellschaft wurde nach einem kleinen hübschen Salon versetzt, wo bald ein jeder erhielt, was notwendig war; ein Bad, frische Wäsche, interimistische Kleider anstatt der halb vom Leibe gefaulten, stärkenden Wein und eine Mahlzeit, wie sie in den Räumen des Krankenhauses wohl noch selten verzehrt worden war.
Die Geretteten dachten indes wenig an ihre körperliche Schwäche. Sie wollten vor allen erfahren, was draußen geschehen sei. Jeder hatte unzählige Fragen, und selbst der ‚Kleine André‘ wandte sich an Kurt:
„Also Sie stammen aus Rheinswalden?“
„Ja, freilich.“
„Und kennen dort wohl alle Leute?“
„Alle.“
„Kennen Sie einen Jägerburschen, der Ludewig Straubenberger heißt?“
„O freilich. Er ist der Liebling des Oberförsters.“
„Herr, der ist mein Bruder.“
„Das hat mir Geierschnabel bereits erzählt.“
„So lebt der Ludewig noch?“
„Der?“ meinte Geierschnabel. „O, wenn den die lieben Engel doch schon hätten!“
„Warum?“ fragte André, indem er Miene machte, zornig zu werden.
„Weil er mich arretiert hat.“
„Arretiert? Als was?“
„Als Wilddieb, Landola und Giftmischer. Aber er hat mich doch noch laufen lassen müssen.“
Während er sein kleines Abenteuer erzählte, fragte der Steuermann seinen Sohn:
„Vor allen Dingen eins, Kurt. Die Mutter lebt?“
„Ja. Sie ist auch gesund und wohl, obgleich sie sich sehr gehärmt und gegrämt hat.“
„Und du, was bist du denn eigentlich geworden?“
„Rate einmal.“
„Hm. Señor Sternau hat dir zur weiteren Ausbildung gefehlt, und deinen Anteil vom Schatz aus der Königshöhle hast du auch erhalten?“
„Ja, wenn auch etwas spät.“
„Nun, so bist du reich, du hast auf eine Stellung verzichtet?“
„O nein. Ich bin doch etwas geworden“, lächelte Kurt.
„Also was?“
„Offizier.“
Da rötete sich das Gesicht des Steuermanns vor Freude. Sternau ergriff Kurts Hand und meinte:
„Das ist brav. Du hast Urlaub?“
„Ja.“
„Wo dienst du?“
„Ich stehe in Berlin und bin als Oberleutnant der Gardehusaren zum Generalstab kommandiert.“
„Alle Wetter! Ich gratuliere.“
Der Vater umarmte den Sohn vor Freude, und nun begann das eigentliche Erzählen und Berichten, welches so lange dauerte, bis völlige Klarheit herrschte. Da erhob sich Sternau von seinem Stuhl und sagte:
„Meine Freunde, wir dürfen noch nicht ruhen, es gibt für uns zu tun. Da ich der Kräftigste bin, werde ich mich mit Kurt von euch auf kurze Zeit verabschieden.“
Sie ahnten, was er vorhatte; aber sie waren durch die erlittenen Qualen und durch die gegenwärtige Aufregung geschwächt worden. ‚Büffelstirn‘ und ‚Bärenherz‘ wollten mit ihm gehen; er aber bat sie zu bleiben. Zwei jedoch ließen sich nicht zurückweisen, Grandeprise und Geierschnabel.
Diese vier begaben sich, nachdem sie sich mit Waffen und Licht versehen hatten, wieder hinab in die unterirdischen Gänge, wo sie Manfredo aufsuchten. Dieser lag noch so in seiner Ecke. Er war so fest geschnürt, daß er sich aus derselben nicht hatte fortbewegen können. Da Sternau von allem unterrichtet war, so leitete er das Verhör.
„Mensch“, sagte er. „Du bist nicht wert, daß ich dich zertrete, aber vielleicht läßt sich dein Schicksal doch noch mildern, wenn du mir meine Fragen aufrichtig beantwortest.“
Manfredo war im Grunde genommen feig. Er sah, daß sein Spiel verloren sei, und darum suchte er sich zu entschuldigen.
„Ich bin nicht schuld, Señor, gar nicht“, wimmerte er.
„Wer denn?“
„Mein Oheim. Ich mußte ihm gehorchen.“
„Das entschuldigt dich nicht. Ich will aber sehen, ob du ein aufrichtiges Geständnis ablegst. Warum nahmt ihr uns gefangen?“
„Weil ich Graf Rodriganda werden sollte.“
„Welch ein Wahnsinn! Dein Oheim hätte uns später getötet?“
„Ja.“
„Wo sind die Sachen, die ihr uns abgenommen habt?“
„Die hab ich noch. Nur die Pferde sind verkauft.“
„Du wirst uns nachher alles wiedergeben. Weißt du, wo die Cortejos und Landola stecken?“
„Ja. Dieser Señor hat mir den Schlüssel zu ihrem Kerker mit den anderen weggenommen.“
„Wir haben ihn, und du wirst uns die vier Personen zeigen. Kennst du sämtliche unterirdische Gänge und Gewölbe dieses Klosters?“
„Alle.“
„Wer hat sie dir gezeigt?“
„Mein Oheim. Er hat einen Plan dieser Gewölbe.“
„Weißt du, wo dieser Plan sich befindet?“
„Ja, im Schreibtisch.“
„Du wirst ihn uns zeigen. Gibt es heimliche Ausgänge aus diesen Gewölben?“
„Ihr meint in das Freie?“
„Ja.“
„Es gibt nur einen solchen.“
„Wo mündet er?“
„In einem Steinbruch, östlich der Stadt.“
„Du wirst uns dahin führen. Wo ist dein Oheim?“
„Er ist nach Mexiko oder Querétaro.“
„Zu wem?“
„Zu dem Kaiser.“
„Was will er da?“
„Ich – weiß es nicht.“
Er log. Er dachte, daß sein Oheim vielleicht ihn doch noch retten könne, wenn es ihm gelang, seine politische Aufgabe zu erfüllen. Sternau durchschaute ihn, darum sagte er:
„Glaube nicht, daß du mich betrügst. Je weniger aufrichtig du bist, desto schlimmer wird dein Los. Was will dein Oheim beim Kaiser?“
„Er will ihn abhalten, Mexiko zu verlassen.“
„Den Grund weiß ich bereits. Wer ist der dicke Mensch, mit dem du heute abend gesprochen hast?“
Manfredo erschrak. Also auch das war verraten.
„Ich weiß es nicht“, antwortete er.
„Man empfängt niemand bei sich, den man nicht kennt.“
„Ich kenne ihn wirklich nicht. Er kommt zuweilen zum Oheim, um ihm Befehle zu bringen.“
„Von wem?“
„Von der geheimen Regierung.“
„Aus welchen Personen besteht diese?“
„Ich weiß es nicht.“
„Wo hat sie ihren Sitz?“
„Auch das ist unbekannt.“
„Hm! Empfängt dein Oheim geheime Papiere?“
Manfredo zögerte mit der Antwort.
„Wenn du nicht redest“, drohte Sternau, „werde ich dich so lange prügeln lassen, bis du die Sprache findest. Ich frage dich, ob er geheime Papiere bekommt.“
„Ja.“
„Hebt er sie auf?“
„Ja.“
„Wo?“
„In einer verborgenen Zelle.“
„Kennst du sie?“
„Ja.“
„Du wirst uns auch dahin führen. Stehe auf, und zeige uns, wo die Cortejos stecken.“
Er lockerte dem Gefangenen die Beinfesseln so weit, daß derselbe langsam gehen konnte.
„Zunächst werde ich die Instruktion zu mir nehmen, welche dieser gute Neffe eines noch besseren Onkels heute von dem Dicken empfangen hat“, meinte Kurt.
Er zog ihm die Papiere aus der Tasche und steckte sie in die seinige. Dann verließen sie das Gefängnis und wurden von Manfredo zu der Tür geführt, hinter welcher ihre Feinde steckten.
Kurt öffnete. Der Schein des Lichts drang in den dunklen Raum, in welchem vier gefesselte Gestalten zu erkennen waren.
„Kommst du, um uns herauszulassen?“ fragte eine heisere Stimme.
Es war die Gasparino Cortejos, welcher glaubte, daß Manfredo käme.
„Herauslassen? Dich Schurke?“ rief Grandeprise, indem er Sternau die Laterne aus der Hand nahm und eintrat.
Cortejo starrte ihn an.
„Grandeprise!“ stöhnte er.
„Ja, Grandeprise bin ich, und endlich habe ich dich und meinen süßen Bruder. O, dieses Mal lasse ich mich nicht täuschen, dieses Mal sollt ihr nicht entkommen.“
„Wie kommt Ihr hierher?“ fragte Gasparino. „Hat der Pater Euch an Manfredos Stelle zum Kerkermeister gemacht? Laß uns fliehen, und ich belohne Euch mit einer Million Dollars.“
„Mit einer Million? Wicht! Kein Pfennig ist dein Eigentum. Es wird dir alles genommen werden, selbst dein armseliges Leben.“
„Weshalb? Ich habe nichts getan.“
„Nichts, Schurke? Frage den hier!“
Er ließ das Licht der Laterne auf Sternau fallen, welcher hinter Grandeprise eingetreten war. Cortejo erkannte diesen.
„Sternau!“ knirschte er.
Da begannen auch sein Bruder und seine Nichte sich zu regen. Sie drehten sich um und blickten Sternau an.
„Er ist frei“, rief Josefa kreischend.
„So hat der Teufel uns betrogen“, meinte Landola, indem er einen fürchterlichen Fluch hinzufügte.
„Ja, er hat euch betrogen“, antwortete Sternau, „und Gott hat sein Gericht bereits begonnen. Ihr werdet das Loch nur verlassen, um verhört und bestraft zu werden.“
„Pah!“ hohnlachte Landola. „Wer zwingt uns, zu gestehen?“
„Wir brauchen Euer Geständnis nicht. Ihr seid bereits überwiesen. Aber ich würde wohl ein Mittel kennen, euch alle zum Leben zu bringen. Hast du es vergessen, Gasparino Cortejo?“
Dieser antwortete nicht.
„Ich werde es dir ins Gedächtnis zurückrufen“, sagte Sternau. „Weißt du noch, als ich dich anschnallen und kitzeln ließ, weil ich deinen Geifer zu einem Gegengift brauchte.“
Es ging Cortejo eiskalt über den Körper.
„Graf Emanuel lebt“, fuhr Sternau fort, „aber er ist noch wahnsinnig von dem Gift, welches Ihr ihm gegeben. Ich brauche Gegengift. Macht Euch gefaßt. Ich nehme es mir von keinem anderen Menschen als von Euch.“
Damit verließ er mit Grandeprise das Gefängnis und schloß es wieder zu.
„Jetzt sollst du uns zunächst den Plan dieser Gewölbe und Gänge zeigen“, sagte er dann zu Manfredo.
Sie begaben sich nach der Stube des Paters zurück, in dessen Schreibtisch sie den Plan fanden. Wer denselben zur Hand hatte, bedurfte keines Führers, so labyrinthisch die einzelnen Teile ineinander flossen, das sah Sternau sofort.
Nun wollte er die geheimen Schriften des Paters sehen. Er wurde von dem Gefangenen nach der Zelle geführt, in welcher Señorita Emilia ihre Abschriften genommen hatte. Er blickte die vorhandenen Skripturen oberflächlich durch und untersuchte sodann die Koffer und Kisten. Dabei entdeckte er die Meßgewänder und heiligen Gefäße, welche Emilia nicht angerührt hatte, obwohl dieselben ein Vermögen von mehreren Millionen repräsentierten. Er sah die Juwelen flimmern und fragte:
„Wem gehört das?“
„Meinem Onkel!“ antwortete der Gefangene.
„Ah! Ihm? Woher hat er es?“
„Vom Kloster.“
„Er hat es gewiß geschenkt erhalten?“
„Nein. Er hat es einfach genommen und aufbewahrt. Das Kloster hörte auf, da hatte das Zeug keinen Herrn mehr.“
„Schön! Es wird den richtigen finden. Jetzt wollen wir den Gang sehen, welcher in das Freie führt.“
Auch hier mußte Manfredo gehorchen. In Zeit von zehn Minuten standen sie vor dem geheimen Ausgang, welcher durch einen Haufen scheinbar zufällig hierher gekommener Steintrümmer maskiert wurde. Es genügte das Fortwälzen von drei oder vier Steinen, um so ein großes Loch frei zu legen, daß ein Mann ganz bequem eintreten konnte.
„Wie herrlich wird das passen, Herr Doktor“, meinte Kurt zu Sternau, jedoch in deutscher Sprache, um von Manfredo nicht verstanden zu werden.
„Was?“ fragte der Doktor.
„Ich meine diesen geheimen Eingang in Beziehung zu den zweihundert Soldaten, welche punkt vier Uhr kommen sollen.“
„Ich verstehe dich. Glaubst du, daß ich diesen Gedanken gehabt habe?“
„Ich bin überzeugt davon.“
„Warum?“
„Weil Sie diesen Menschen nach einem verborgenen Ausgang fragten, nachdem wir von der erwarteten Einquartierung gesprochen hatten.“
„Das stimmt. Wo sollte er sie treffen?“
„Unten, wo der Klosterweg beginnt.“
„Es soll hier eine Demonstration vorgenommen werden und zwar, um den Kaiser zu verleiten, Mexiko nicht zu verlassen. Wir müssen das hindern, sowohl des Kaisers als auch Juarez wegen.“
„Auch der Bewohner dieses Städtchens wegen, denn die sogenannten Soldaten, welche kommen werden, sind jedenfalls nur zusammengetrommelte Räuber und Plünderer.“
„Das steht zu erwarten. Wie aber werden wir das fertig bringen? Ziehen wir die Stadtbewohner, um Hilfe zu haben, in das Geheimnis?“
„Da würden wir uns der Gefahr aussetzen, verraten zu werden.“
„Leider. Wir müssen allein fertig zu werden suchen. Bist du gewillt, an Stelle des Gefangenen hier die heimlich eintreffenden Truppen zu empfangen?“
„Natürlich.“
„Es kann das aber gefährlich sein.“
„Pah! Ich habe nicht gelernt, mich zu fürchten.“
„Schön! Sie werden aber denken, durch das Tor nach dem Kloster geführt zu werden.“
„Ich werde ihnen sagen, daß der Plan einigermaßen verraten zu sein scheine und daß Juarez einen kleinen Truppenteil gesandt habe, um das Kloster zu besetzen.“
„Schön. Sie werden also einsehen, daß sie ohne Kampf nicht durch das Tor gelangen können.“
„Und daß sie klüger tun, mir durch einen geheimen Eingang zu folgen, in welchem Fall es ihnen leicht sein werde, die Besatzung zu überrumpeln.“
„Ich bin darauf gefaßt, daß sie dir folgen werden. Aber wie wird es uns gelingen, sie zu überwältigen?“
„Wir schließen sie ein.“
„Pah, sie sind bewaffnet. Sie schießen die Türen kaputt. Wir müssen ihnen auf irgendeine Weise die Waffen abzunehmen suchen.“
„Mit Gewalt geht das nicht.“
„Auf keinen Fall. Aber ein Licht gibt es hier auch nicht.“
„Hm!“ meinte Kurt nachdenklich. „Da fällt mir ja ein, wie dieser Pater Hilario seine Gefangenen entwaffnet hat.“
„Du meinst das Pulver, mit welchem er uns die Besinnung nahm?“
„Ja.“
„Das wird sich bei einer so großen Anzahl wohl nicht verwenden lassen.“
„Warum nicht? Die Hauptsache ist, solches Pulver zu haben. Ich setze den Fall, wir kommen in einen Gang, welcher durch zwei Türen verschlossen ist und eine solche Länge hat, daß er gefüllt ist, wenn zweihundert Mann hintereinander herschreiten. Am Boden hat man, so lang der Gang ist, einen Strich dieses Pulvers beschüttet. Ich gehe voran und sie hinterher, die Kerls aber zwischen uns. Wenn ich die vordere Tür erreiche, sind sie zur hinteren eingetreten. Wir bücken uns, brennen das Pulver an; die Flamme läuft in einen Augenblick durch den ganzen Gang, sie springen durch ihre Tür zurück und ich durch die meinige vor; wir verriegeln sie und diese Kerls sind alle ohnmächtig.“
„Hm“, meinte Sternau nachdenklich. „Die Ausführung dieses Plans wäre möglich. Aber haben wir Pulver?“
Und sich zu Manfredo wendend, fragte er:
„Wer fertigte das Pulver an, mit dessen Hilfe ihr uns verteidigungslos gemacht habt?“
„Mein Oheim.“
„Kennst du die Zusammensetzung desselben?“
„Nein.“
„Wird es durch Nässe verdorben?“
„Nein. Es brennt naß ebenso gut wie trocken. Wir haben es in einem dumpfen Keller stehen, es zieht viel Feuchtigkeit an, hat aber noch niemals versagt.“
„So brennt es ebenso leicht wie Schießpulver?“
„Noch leichter.“
„Aber es ist lebensgefährlich. Wenn ihr uns nun damit getötet hättet. Es war sehr leicht, zu ersticken.“
„O nein, Señor. Von diesem Geruch stirbt niemand. Es betäubt, aber es tötet nicht.“
„Habt Ihr Vorrat?“
„Ein kleines Fäßchen voll.“
„Zeige es uns.“
Sie kehrten zurück. Indem sie durch einen der Gänge schritten, meinte Sternau zu Kurt:
„Dieser Gang dürfte gerade die geeignete Länge haben.“
„Er wird zweihundert Personen fassen. Wenn ich da vorn die Tür erreicht hätte, müßte ich warten, bis sie mir durch ein Zeichen zu verstehen geben, daß sie eingetreten und bereit sind.“
„Ich würde ganz einfach so tun, als ob ich dir etwas zu sagen hätte, und laut deinen Namen rufen.“
„Das heißt, aber nicht meinen richtigen.“
„Nein, sondern den Namen Manfredo, da sie dich für den Neffen des Paters halten.“
„Was aber geschieht, wenn es glückt, mit ihren Pferden? Denn Reiter sind es auf alle Fälle.“
„Sie werden ihre Tiere unter der Aufsicht einiger Kameraden zurücklassen, und für diese letzteren sind wir doch jedenfalls Manns genug.“
„Richtig! Das wäre also abgemacht. Jetzt nun zunächst das Pulver sehen.“
Manfredo führte sie in ein kleines, niederes Kellerchen, wo ein Fäßchen stand, welches ungefähr fünfzehn Liter Inhalt zu fassen vermochte. Es war noch halb voll Pulver. Das letztere war sehr feinkörnig, vollständig geruchlos und hatte eine dunkelbraune Farbe.
„Wollen es probieren“, meinte Sternau.
Er nahm eine kleine Quantität und kehrte eine Strecke zurück, wo er das Pulver auf eine kleine, sehr feuchte Stelle des Bodens fallen ließ. Dann putzte er das Licht und ließ eine kleine Schnuppe auf die Stelle niederfallen. Im Nu zuckte eine gelbblaue Flamme empor, und in demselben Augenblick verbreitete sich ein Geruch, welcher sie zur schleunigsten Flucht zwang.
„Es wird gelingen“, meinte Sternau. „Wir sind hier unten fertig. Kehren wir zu den Freunden zurück.“
Manfredo wurde in seine Zelle zurückgebracht und dort eingeschlossen; die vier Männer aber gingen nach oben, natürlich alle Türen sorgfältig hinter sich verschließend. Droben wendete Sternau sich an Geierschnabel:
„Sie kommen, wie ich hörte, aus der Hauptstadt?“
„Ja.“
„Wo hat Juarez sein Hauptquartier?“
„In Zacatecas.“
„Aber die Ortschaften nördlich dieser Stadt sind auch von seinen Truppen besetzt?“
„Natürlich!“
„Hm! Welches ist der nächste Ort, von hier, an welchem Soldaten des Präsidenten zu finden sind?“
„Nombre de Dios.“
„Wie weit ist dies von hier?“
„Ein guter Reiter macht es in vier Stunden.“
„Würden Sie in der Nacht den Weg hier finden?“
„Donnerwetter! Geierschnabel und den Weg nicht finden. Das wäre ja ebenso schlimm, als wenn das Priemchen das Maul nicht finden wollte.“
„Wollen Sie den Ritt unternehmen?“
„Ja. Ah, wohl wegen der zweihundert Kerls, welche da unten angeräuchert werden sollen?“
Er verstand soviel deutsch, daß er dem Gespräch zwischen Kurt und Sternau hatte folgen können.
„Ja“, antwortete der letztere. „Sie sagen dem Platzkommandanten, was sie wissen, und bitten ihn um eine hinreichende Anzahl Militär, denen wir unsere Gefangenen übergeben können.“
„Schön. Werde am Vormittag zurück sein.“
„Aber, ob man Ihnen glauben wird.“
„Sicher! Ich bin ja mit Señor Kurt durch den Ort gekommen, und wir haben den Kommandanten besucht. Er kennt mich persönlich.“
„Ah! Wirklich?“
„Ja. Er war mit dabei, nämlich bei Juarez, als dieser am Rio Grande auf Lord Lindsay stieß. Damals war er nur Leutnant, jetzt ist er bereits Major. In diesem gesegneten Land avanciert man sehr schnell.“
„Es scheint allerdings so. Soll ich Ihnen einen Mann mitgeben?“
„Wozu?“
„Man weiß nicht, was passieren kann, und ich möchte die Botschaft ganz sicher wissen.“
„Pah! Bei Geierschnabel ist sie sicher. Ich gehe nach der Venta zu meinem Pferd. In zehn Minuten bin ich unterwegs.“ Er ging.
Sternau hatte nun den anderen zu berichten, was er unter dem Kloster gesehen und gefunden hatte. Man kann sich denken, mit welcher Spannung alle seinem Bericht folgten. Als er erwähnte, daß er im Begriff stehe, eine ganze Schar Soldaten zu fangen, wollte fast ein jeder dabei sein, aber er schlug alle Anerbietungen mit dem Bemerken ab, daß es auffallen müsse, wenn sich viele Personen zeigen würden.
Der Hauptheld des Abends aber war und blieb doch Kurt. Sein Vater und Oheim konnten sich nicht satt an ihm sehen; er hatte nur zu erzählen, und wenn eine Frage beantwortet war, so gab es deren für diese eine gleich zehn in petto, welche ebenso beantwortet werden mußten.
Es war eigentümlich, daß, außer Don Ferdinande, welcher im Bett lag, die anderen sich verhältnismäßig wohl fühlten. Die Freude über ihre Rettung schien alle Folgen ihrer Gefangenschaft beseitigt zu haben. Man war froh und munter, teilweise sogar ausgelassen, und dankte das zum nicht geringsten Grad auch der Aufmerksamkeit, welche ihnen von dem Personal des Hauses erwiesen wurde.
Es war diesen Leuten fast unmöglich, an das Geschehene zu glauben. Sie wußten natürlich, daß eine gerichtliche, strenge Untersuchung die Folge sein werde, und taten alles mögliche, um zu zeigen, wie fern sie den Taten des verbrecherischen Paters gestanden hatten.
So verging die Nacht, und es nahte die vierte Stunde. Da machte sich Sternau auf, um sich ganz allein nach den unterirdischen Gängen zu begeben. Es blieb ihm Zeit genug, das Pulver zu streuen. Eine volle halbe Stunde später brach Kurt auf.
Er schlich sich durch das geöffnete Klostertor und schritt den Weg hinab. Unten angekommen, war es ihm, als ob er ein leises Waffengeklirr vernehme. Er blieb also stehen und horchte aufmerksam in das Dunkel hinein. Da rief es so nahe neben ihm, daß er fast erschrocken zusammenfuhr:
„Halt! Wer da?“
„Gut Freund“, antwortete er.
„Die Losung?“
„Miramare!“
„Gut! Du bist der Richtige. Komm!“
Er wurde beim Arm gepackt und eine ziemliche Strecke vom Weg seitwärts abgeführt. Dort sah er trotz der Dunkelheit zahlreiche Männer und Pferde stehen. Eine Gestalt trat ihnen entgegen und fragte:
„Ist er da?“
„Ja, hier“, antwortete der Mann, welcher Kurt geführt hatte, sich aber jetzt zurückzog.
„Wer bist du?“ fragte die Gestalt, vor welcher Kurt jetzt stand.
„Ich hoffe, daß Ihr es bereits wißt“, antwortete der Gefragte.
„Allerdings. Ich frage nur der Sicherheit wegen.“
„Mein Name ist Manfredo.“
„Verwandt mit –“
„Neffe des Paters Hilario.“
„Das stimmt. Ist oben das Tor offen?“
„Nein.“
„Donnerwetter! Warum nicht?“
„Ich würde schön ankommen, wenn ich es öffnen wollte!“
„Bei wem denn?“
„Beim Kommandanten.“
„Ist denn ein Kommandant da oben?“
„Natürlich.“
„Aber davon wurde mir ja gar nichts gesagt!“
„Das läßt sich denken. Die Kerls sind ja erst seit Mitternacht hier oben.“
„Welche Kerls?“
„Nun, die Republikaner.“
„Alle Wetter! Leute des Juarez?“
„Ja.“
„Wieviele?“
„Fünfzig Mann.“
„Was wollen sie denn im Kloster?“
„Hm. Ob sie Wind bekommen haben? Der Anführer fragte mich nämlich in einem höhnischen Ton, ob wir vielleicht heute nacht Besuch erwarteten.“
„Ah! Sie haben eine Ahnung. Aber sein Hohn soll ihm schlecht bekommen. Wir werden hinaufreiten und die Kerls zusammenhauen.“
„Wenn das nur ginge, Señor.“
„Warum soll das nicht gehen?“
„Könnt Ihr durch die Mauern oder durch verschlossene Tore reiten?“
„Das nicht; aber wir können verschlossene Tore aufsprengen.“
„Und sich vorher von denen, die dahinter stehen, erschießen lassen.“
„Pah! Es sind nur fünfzig Mann!“
„Aber diese fünfzig Mann hinter Mauern sind mehr zu fürchten, als die zehnfache Zahl im offenen Feld.“
„Das ist wahr. Verdammt! Ich habe Befehl, mich des Klosters auf alle Fälle zu bemächtigen.“
„Und ich habe den Befehl, euch auf alle Fälle hineinzubringen.“
„Das ist nun doch nicht möglich.“
„Warum nicht?“
„So gibt es wohl eine Pforte, welche nicht besetzt oder bewacht ist?“
„Das nicht. Aber diese klugen Republikaner haben vergessen, daß alte Klöster geheime, unterirdische Gänge zu haben pflegen.“
„Alle Teufel! Gibt es hier einen?“
„Ja.“
„Ist er gefährlich?“
„Ganz und gar nicht. Ihr kommt auf demselben in das Innere des Klosters, ohne von einem einzigen Menschen bemerkt zu werden. Die Republikaner kampieren im Hof und Garten.“
Der Anführer stieß ein kurzes, befriedigtes Lachen aus.
„Welch eine Überraschung“, meinte er, „wenn es Tag wird, und sie sehen uns als Herren des Platzes, den sie verteidigen sollen. Wo ist der geheime Eingang?“
„Gar nicht weit von hier, da links hinüber.“
„Aber wir brauchen Laternen.“
„Nur zwei, und die sind vorhanden.“
„So führe uns. Aber, was wird mit den Pferden?“
„Laßt einige Leute hier bei ihnen. Wenn ich euch an Ort und Stelle gebracht habe, kehre ich zurück und bringe sie an einen sicheren Ort.“
Der Anführer hegte nicht das mindeste Mißtrauen. Er handelte ganz nach Kurts Vorschlägen. Als die lange Kolonne in den Steinbruch kam, ertönte ihnen ein „Halt“ entgegen.
„Guter Freund“, antwortete Kurt.
„Die Losung?“
„Miramare.“
„Alles in Ordnung.“
„Donner und Doria! Wer ist das?“ fragte der Anführer.
„Ein Kamerad von mir. Wir müssen doch wenigstens zwei sein, um euch zu führen.“
„Hm. Ist der Kerl sicher?“
„Das seht ihr aus dem Umstand, daß er die Losung kennt.“
„Mag sein. Wo ist der Eingang?“
„Hier“, antwortete Sternau, indem er in das Loch trat und die Blendlaterne öffnete, um ihren Schein auf die Umgebung fallen zu lassen. Eine zweite Laterne reichte er Kurt hin.
„Wer geht voran?“ fragte der Offizier.
„Ich“, meinte Kurt.
„Und dieser da hinterher?“
„Ja.“
„Da haben wir zuwenig Licht; aber es ist zu spät, dies abzuändern. Vorwärts also!“
Kurt stellte sich an die Spitze und betrat den Gang. Der Anführer folgte gleich hinter ihm. Langsamen Schrittes setzte sich der Zug, einer hinter dem anderen, in Bewegung, aus einem Gang in den anderen.
Nach kurzer Zeit wurde derjenige erreicht, wo die Explosion vor sich gehen sollte. Kurt hatte ihn schon ganz durchschritten und stand an der Tür, welche Sternau offengelassen hatte. Nur noch ein Schritt, so hatte er den Gang hinter sich und es war ihm unmöglich, das Pulver anzubrennen. Daß dies an der rechten Seite des Ganges hart an die Mauer gestreut werden solle, hatte er mit Sternau ausgemacht.
Dieser letztere war jedenfalls noch zurück und hatte, hinter dem Zug hergehend, den Gang noch gar nicht erreicht. Um Zeit zu gewinnen, hielt Kurt das Windloch seiner Laterne zu und sofort verlöschte dieselbe.
„Donnerwetter! Was machst du denn?“ fragte der Offizier.
„Nichts. Ich bin nicht schuld“, antwortete Kurt. „Es kam ein Zug durch die Tür hier.“
„Hast du Hölzer?“
„Ja.“
„So brenne wieder an.“
Kurt kauerte sich nieder, als ob das Licht sich in dieser Stellung besser anbrennen lasse, und strich das Hölzchen an. Beim Aufflackern desselben erkannte er deutlich den Pulverstrich, welchen Sternau gestreut hatte.
„Manfredo“, rief es glücklicherweise in diesem Augenblick von hinten her.
„Ja“, antwortete er. Zugleich hielt er die Flamme des Hölzchens an das Pulver. Ein blaugelber Blitz zuckte von den beiden Enden des Ganges nach dem Mittelpunkt zu. Kurt sprang zur Tür hinaus, warf dieselbe zu und schob die Riegel vor. Dann erst brannte er die Laterne wieder an und lauschte.
Er hörte hinter der Tür ein wirres Rufen und Fluchen, es folgte ein vielstimmiges Ächzen, welches nach und nach verstummte, und dann war es still. Das Pulver hatte seine Wirkung getan.
Jetzt eilte Kurt nach oben, um Hilfe zu holen. Grandeprise, Gerard, André, die Indianerhäuptlinge, kurz alle außer Don Ferdinande, welcher zu schwach war, folgten ihm. Sie mußten sich, an Ort und Stelle angelangt, in vorsichtiger Entfernung halten, um, als Kurt die Tür öffnete, von dem Geruch nicht erreicht zu werden. Nach einiger Zeit jedoch hatte sich derselbe soweit verflüchtigt, daß man zu den Gefangenen konnte.
„Kurt“, rief es von hinten.
Es war Sternau, welcher die Laterne da vorne gesehen hatte.
„Ja“, antwortete der Angerufene.
„Gelungen bei dir?“
„Ja.“
„Dann schnell entwaffnen und sie wieder einschließen.“
Dies wurde in aller Eile besorgt, während Sternau von seiner Seite beschäftigt war, den Eingang im Steinbruch wieder zu maskieren. Als er zu den anderen kam, waren diese fertig.
„Das ist ein Streich“, meinte der ‚Kleine André‘. „Den werden diese Kerls gewiß nie vergessen.“
„Wir sind noch nicht fertig“, meinte Sternau. „Wo hat man die Pferde gelassen?“
„Unten unweit des Weges“, antwortete Kurt.
„Wieviele Männer sind bei ihnen?“
„Da es dunkel war, konnte ich sie nicht zählen.“
„Viele werden es nicht sein. Wir werden es mit ihnen kurz machen.“
„Sie überfallen?“ fragte André.
„Ja.“
„Ich würde einfacher verfahren“, antwortete Kurt.
„Wie?“
„Ich gehe hinab zu den Wächtern und sage, daß wir glücklich im Kloster angekommen sind und die Republikaner überwältigt haben.“
„Du denkst, sie werden dir mit den Pferden folgen und uns so von selbst in die Hände laufen?“
„Hm. Möglich wäre es, daß sie dumm genug sind. Mit unseren Kavalleriepferden brächten sie es nicht fertig; die mexikanischen Tiere aber folgen wie die Pudel, wenn sie einmal eingeritten sind. Versuche es.“