ZWEITES KAPITEL

Entkommen

Um diese Situation zu begreifen, ist es notwendig, nach Vera Cruz zurückzugehen, wo Kurt mit Geierschnabel und Kapitän Wagner mit dem Matrosen Peters sich nach dem Bahnhof begaben, um sich nach den beiden Flüchtlingen zu erkundigen.

Als sie auf dem Bahnhof anlangten, bemerkten sie zunächst einen französischen Soldaten. Er trug den Arm in der Binde und schien soeben als Weichensteller funktioniert zu haben.

Kurt trat auf ihn zu und fragte ihn im reinsten Französisch:

„Sind Sie hier angestellt, Kamerad?“

Der Soldat erkannte mit seinem geübten Blick sofort, daß er einen Offizier in Zivil vor sich habe.

„Ja, Monsieur“, antwortete er in einem sehr höflichen Ton. „Ich bin blessiert und laure auf das Schiff, um nach der Heimat zu gehen. Bis dahin mache ich mich nützlich, um einige Centimes zu Tabak zu verdienen.“

Kurt griff in die Tasche und gab ihm ein Fünffrankenstück.

„Hier Kamerad, rauchen Sie. Wie lange sind Sie heute hier beschäftigt?“

Der Mann nahm das Geldstück, griff zum Dank salutierend an seine Mütze und meinte:

„Ich danke Ihnen, Monsieur. Ich bediene bereits drei Züge.“

„Wann ging der letzte ab?“

„Vor vielleicht einer Stunde.“

„Wohin?“

„Nach Lomalto. Weiter geht es nicht.“

„Sind Zivilisten mitgefahren?“

Der Soldat machte ein sehr pfiffiges Gesicht, kniff die Augen listig zusammen und antwortete:

„Eigentlich nicht.“

„Aber uneigentlich wohl?“

„Das darf ich nicht verraten.“

„Warum nicht?“

„Ich bin Weichensteller, und der, welcher sie mitnahm, ist mein Vorgesetzter.“

„Gut, er hat sie also nicht mitgenommen. Wie viele Personen sind es gewesen?“

„O, nur drei. Sie hätten recht gut im Coupé des Zugführers Platz gefunden.“

Kurt wußte nun ganz genau, daß sie wirklich in diesem Coupé mitgefahren waren. Er fragte weiter:

„Wie sahen sie aus?“

Der Soldat beschrieb sie. Als er fertig war, meinte der Kapitän:

„Sie waren es, sie waren es. Aber wer der dritte gewesen ist, das kann ich nicht sagen. Bei mir an Bord war er nicht mit.“

„Wir werden es schon auch erfahren. Wann geht der nächste Zug?“

„In drei Stunden erst. Die Maschine muß von Lomalto wiederkommen. Sie bringt mehrere Wagen voll Kameraden mit.“

„Ein Güterzug geht nicht vorher?“

„Nein.“

„Ich danke, Kamerad.“

Er drehte sich zu den drei Gefährten und schritt mit ihnen davon.

„So sind sie also entkommen!“ sagte der Kapitän. „Und daran bin ich allein schuld. Was ist zu tun?“

„Wir müssen uns in Geduld fassen, lieber Freund“, antwortete Kurt. „Jedenfalls sind sie nach Mexiko. Ich fahre ihnen mit dem nächsten Zug nach. Leider gehen mir da drei volle Stunden verloren. Ich hoffe jedoch, sie in Mexiko abzufassen.“

„Ah, ich habe einen Boten abzusenden, der nach der Hauptstadt und dann nach der Hacienda del Erina soll, um meine Schiffsberichte zu überbringen“, meinte der Kapitän. „Würden Sie ihm erlauben, sich Ihnen anzuschließen, Herr Leutnant!“

„Ganz gern, vorausgesetzt, daß er mir nicht hinderlich wird.“

„Das befürchte ich nicht. Würde Ihnen hier mein Peters recht sein?“

„Sogar angenehm. Er kennt auch wohl die beiden Flüchtlinge?“

„Genauer noch als ich. Wie steht es, Peters?“

Der Gefragte zog eine sehr erfreute Miene und antwortete:

„Hm, ich möchte wohl, Käpt'n.“

„Du kannst doch ein wenig spanisch?“

„Na, was man so für andere braucht.“

„Und ein paar Worte französisch?“

„Genug, um ihnen sagen zu können, wie gewaltig gut ich ihnen bin!“

„So komme mit an Bord! Ich will die Sachen in Ordnung bringen, und du mußt deine Instruktion erhalten. Wo treffen wir uns wieder, Herr Oberleutnant?“

„Am besten in der Tabagie hier am Bahnhof.“

„So bitte ich, mich einstweilen zu beurlauben.“

„Gehen Sie immerhin! Zu dem, was wir noch zu besprechen haben, gibt es dann auch noch Zeit.“

Der Kapitän schritt mit Peters dem Wasser zu. Kurt aber kehrte um und begab sich wieder nach dem Bahnhof, Geierschnabel natürlich an seiner Seite. Er trat sofort in die Expedition des Chefs der Station, welcher ihn mit neugierigem Blick empfing.

„Darf ich fragen, wann der nächste Zug nach Lomalto geht?“ fragte Kurt, obgleich er bereits von dem Soldaten Auskunft erhalten hatte.

Der Beamte blickte nach der Uhr.

„In zweieinhalb Stunden“, antwortete er. „Wünschen Sie vielleicht mitzufahren?“

„Ja.“

„Tut mir leid. Zivilisten und Fremde sind ausgeschlossen.“

„Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle.“

Er zog ein Papier aus der Tasche und reichte es dem Chef. Dieser hatte kaum die wenigen Zeilen gelesen, so machte er eine tiefe Referenz und sagte:

„Ich bin Ihr Diener, Herr Leutnant. Wie viele Plätze brauchen Sie?“

„Drei.“

„Sie werden ein Coupé erster Klasse erhalten.“

„Danke! Hat der Zug Anschluß an die Diligence?“

„Der vorige, aber dieser nicht. Überhaupt ist diese Diligence ein wahrer Marterkarren, dem ich mich niemals anvertrauen möchte. Wünschen Sie, recht schnell in der Hauptstadt zu sein?“

„Ja.“

„So rate ich Ihnen, zu reiten.“

„Ich habe keine Pferde.“

„O, hier hat jedermann Pferde. Halten Sie sich nur einige Zeit in diesem Land auf, so sind Sie geradezu gezwungen, sich Pferde zu kaufen.“

„Ich beabsichtigte, das in der Hauptstadt zu tun.“

„Warum dort, wo sie um vieles teurer und doch nicht besser sind?“

„Hat man bereits hier Gelegenheit?“

„Eine ganz vortreffliche sogar. Ich selbst habe einige hochfeine Tiere da stehen. Es waren Privatpferde von Offizieren, welche nach der Heimat zurückkehrten und sich nicht mit ihnen schleppen wollten. Sie sind billig. Wollen Sie sich dieselben ansehen?“

„Zeigen Sie!“

„Kommen Sie! Wenn wir einig werden, brauchen Sie in Lomalto auf keine Diligence zu warten, und ich verlade Ihnen die Tiere bis dahin ohne alle Kosten.“

Der Handel wurde abgeschlossen. In Zeit von einer halben Stunde befand Kurt sich im Besitz von drei braven Pferden, welche alles zu erfüllen schienen, was der Chef versprochen hatte.

„Gott sei Dank!“ meinte Geierschnabel. „Nun kann ich meine Beine endlich wieder einmal über ein Pferd hängen. Wäre das nicht bald geworden, so hätte ich aus lauter Verzweiflung versucht, mich auf meine Nase zu setzen und auf ihr im Galopp davonzureiten.“

Es fehlte wohl noch eine Stunde bis zum Abgang des Zuges, als Kapitän Wagner mit Peters erschien.

„Junge, kannst du reiten?“ rief Geierschnabel dem letzteren entgegen.

„Warum?“ fragte Peters.

„Wir haben Pferde gekauft. Von Lomalto aus bis Mexiko wird geritten. Weißt du, was ein Sattel ist?“

„Ein Sattel ist ein Dings, aus dem mich keiner herunterbringt.“

„Wirklich?“

„Ja. Denkst du etwa, in den Seemarschen gibt es keine Pferde? Ich saß schon als Junge auf dem wildesten Hengst.“

„Das ist dein Glück. Wir haben keine Zeit, dich alle fünf Minuten sechsmal aufzuheben.“

Sie setzten sich zusammen, und Wagner erzählte in kurzem sein Zusammentreffen mit Don Ferdinande und die Reise nach der Südseeinsel. Das alles war Kurt bereits aus der Erzählung Geierschnabels bekannt, nach dessen Bericht er nun dem Kapitän erzählte, was seit der Landung in Guyanas geschehen war. Wagner hörte mit der größten Spannung zu. Am Schluß rief er bestürzt:

„So sind sie also abermals verschwunden?“

„Leider ja. Aber ich hoffe zu Gott, daß es mir gelingt, ihre Spur aufzufinden. Und dann wehe denen, mit denen ich abzurechnen habe.“

„Vielleicht haben wir bereits ihre Spur“, meinte Geierschnabel.

„Wieso?“ fragte Kurt.

„Hm! Ich habe so meine Gedanken. Wohin gehen dieser Landola und dieser Cortejo? Jedenfalls dahin, wo die anderen sind.“

„Das kann richtig sein. Wir müssen diese beiden auf alle Fälle wiederfinden. Dann werden wir auch erfahren, welches Ziel sie haben.“

„Aber das kann lange dauern“, sagte Wagner. „Ich darf meine braven Jungens nicht so lange der Fieberluft von Vera Cruz aussetzen.“

„So suchen Sie einen nahen, aber gesunden Hafen auf.“

„Gut! Ich werde im Bermeja-Busen warten.“

Der brave Kapitän war über das Schicksal seiner Freunde so betrübt, daß es schwer wurde, ihn zu beruhigen. Er erging sich in den kräftigsten Ausdrücken gegen Cortejo und Genossen; dem wurde aber sehr bald ein Ende gemacht, indem sich das Signal zum Einsteigen hören ließ. Kurt überzeugte sich, daß die drei Pferde gut verladen waren, dann bestieg er mit Peters und Geierschnabel das ihm angewiesene Coupé. Der Abschied von Wagner war ein kurzer, aber herzlicher. Noch als der Zug schon in Bewegung war, schwenkte er den Hut und rief:

„Gute Fahrt, Herr Leutnant! Bringen Sie alle glücklich herbei und schlagen Sie den anderen, den Schuften, die Köpfe zu Brei.“

Nach zwei Stunden erreichten sie Lomalto. Dort kam der Zugführer selbst herbeigesprungen, um dienstfertig das Coupé zu öffnen. Kurt hatte bemerkt, daß es derselbe sei, welcher vorher von hier nach Vera Cruz gefahren war. Jedenfalls hatte der weichenstellende Soldat diesen und keinen anderen gemeint. Darum fragte er ihn, gleich auf den Strauch schlagend:

„Sie sind mit dem vorigen Zug mit drei Zivilisten von Vera Cruz hierher gefahren?“

Der Mann getraute sich nicht, die Unwahrheit zu sagen.

„Ja, Monsieur“, antwortete er in unsicherem Ton.

„Befürchten Sie keine Unannehmlichkeiten!“ beruhigte ihn Kurt. „Ich wünsche nur zu wissen, wohin sie sich gewendet haben.“

„Ah, ich danke! Sie sind nach Mexiko.“

„Wissen Sie das genau?“

„Ja. Sie saßen mit in meinem Coupé und erkundigten sich ganz genau nach den gegenwärtigen Verhältnissen des Weges nach der Hauptstadt.“

„Das kann nur zum Schein gewesen sein.“

„Nein, denn ich sah sie alle drei in die Diligence steigen, welche hier an der Bahn hielt!“

„Ich danke!“

Er gab ihm ein Trinkgeld. Der Mann machte vor Freude, so glücklich davongekommen zu sein, die tiefste Reverenz und beeilte sich dann, die Pferde in eigener Person auszuladen.

Nachdem einiger Proviant gekauft worden war, saßen die drei Männer auf und trabten davon. Geierschnabel, welcher hier bekannt war, hatte das Amt des Führers übernommen. Als sie nach langem, mehrtägigem und beschwerlichen Ritt die Hauptstadt vor sich sahen, hatte sich Peters als guter Reiter bewährt; aber der Weg war gerade für ihre feinen Pferde so schlimm gewesen, daß es ihnen nicht gelungen war, die Diligence einzuholen, welche von acht kräftigen, ausdauernden Pferden gezogen wurde. Sie wußten, daß der Wagen bereits am Vormittag die Hauptstadt erreicht hatte, während die Sonne sich jetzt bereits abwärts zu senken begann.

„Wo nun die Kerls finden in einer solchen Stadt?“ fragte Geierschnabel. „Geht zum Teufel mit Euren Straßen und Gassen, in denen man einer Posaune wegen arretiert wird. Im Urwald oder in der Prärie sollten mir die Halunken wohl schwerlich entkommen!“

„Ich kenne zwei Wege, sie zu finden“, meinte Kurt.

„Wirklich? Welche wären das?“

„Es sollte mich sehr wundern, wenn sie nicht versucht hätten, im Palast de Rodriganda Erkundigungen einzuziehen.“

„Donnerwetter, das ist richtig! Dieses Wigwam müssen wir aufzufinden suchen! Und der zweite Weg?“

„Sie wissen, daß Don Ferdinandes Sarg leer ist?“

„Freilich weiß ich das. Ich habe den famosen Toten lebendig gesehen.“

„Cortejo und Landola werden ahnen, daß unser erster Angriff gegen dieses leere Grab gerichtet sein wird. Sie werden also auch zuerst dafür sorgen, daß der leere Sarg mit irgendeiner Leiche gefüllt wird.“

„Das ist diesen Kerls allerdings zuzutrauen. Master Leutnant, Sie sind ein zwar noch junger, aber bereits sehr scharfsinniger Kerl!“

„Danke! Wir müssen ihnen zuvorkommen.“

„Jawohl! Vorwärts also, in dieses alte Dorf hinein.“

In der Hauptstadt angekommen, stiegen sie vor dem ersten besten Hotel ab. Und dann, nachdem er sich einigermaßen restauriert hatte, begab sich Kurt nach dem Palast Rodriganda, der ihm genau beschrieben worden war.

Auch er wurde von dem Posten aufgehalten, und auch er erklärte, daß er zu dem Administrator wolle, worauf er passieren durfte. Der Verwalter befand sich diesesmal in seinem Expeditionsboudoir. Kurt gab im Vorzimmer seine Karte ab und wurde von dem Herrn selbst eingeladen, einzutreten.

„Womit darf ich Ihnen dienen, Herr Oberleutnant?“ fragte der jetzt sehr freundliche Beamte.

„Ich muß um Verzeihung bitten, daß mich nur der Zweck zu Ihnen führt, mir eine kleine Privaterkundigung zu gestatten.“

„Ich stehe gern zu Diensten.“

„Hatten Sie vielleicht heute den Besuch eines Mannes, welcher sich für den Agenten des Grafen Rodriganda ausgab?“

„Allerdings. Er war bereits am Vormittag da. Hat Ihre Erkundigung einen bestimmten Zweck, Monsieur?“

„Allerdings. Nur fürchte ich, Ihnen lästig zu werden!“

„Ich stehe einem jeden, der höflich kommt und mir nicht ganz unsympathisch ist, sehr gern zur Verfügung.“

„War dies mit dem Mann auch der Fall?“

„Ganz und gar nicht“, lächelte der Franzose. „Er hat nicht die mindeste Auskunft erhalten.“

„Er wollte sich über Ihre Administration informieren?“

„O, er wollte noch mehr. Er wollte diese Administration aus meinen Händen in die seinigen nehmen.“

„Das dachte ich. Er nannte sich Don Antonio Veridante?“

„So ist es.“

„Ist Ihnen die Adresse dieses Mannes bekannt?“

„Nein.“

„Es liegt mir sehr viel daran, sie zu erfahren. Dieser Mensch ist nämlich ein außerordentlich gefährliches und raffiniertes Subjekt, welches –“

„Ah, so kam er mir vor“, unterbrach ihn der Verwalter.

„Es ist möglich, daß er wiederkommt. In diesem Fall ersuche ich Sie dringend, ihn sofort festnehmen zu lassen und dem preußischen Geschäftsträger, Herrn von Magnus, Kunde davon zu geben. Er wird mich benachrichtigen, da ich für jetzt meine spätere Adresse noch nicht kenne.“

„Ihn arretieren? Würde ich diesen Schritt verantworten können?“

„Vollständig! Dieser Veridante ist nämlich Gasparino Cortejo, der Bruder jenes Pablo Cortejo, den Sie wohl kennen werden.“

„Ah, sehr, sehr gut! Er ist berüchtigt genug.“

„Und sein sogenannter Sekretär ist ein gewisser Henrico Landola, früher unter dem Namen Grandeprise Kapitän des Piratenschiffes ‚Lion‘.“

„Ist dieser Sekretär auch hier?“

„Ja, er ist sein Begleiter.“

Da fuhr der Franzose erschrocken zurück.

„Wie, Monsieur“, rief er, „solche Leute halten sich hier auf?“

„Ja. Sie sind beide geschminkt und verkleidet, und ihre Pässe sind nachgemacht. Ich verfolge Sie von Vera Cruz her.“

„Das ist mir genug. Sobald ich Cortejo wieder erblicke, lasse ich ihn festnehmen; darauf können Sie sich verlassen.“

Kurt klärte ihn noch soweit auf, als er es für nötig hielt, und begab sich dann zu Herrn von Magnus, um ihm die ihm anvertrauten geheimen Skripturen zu übergeben. Er wurde mit Auszeichnung aufgenommen und brachte im Lauf der Unterhaltung den Privatzweck seines hiesigen Aufenthaltes zur Sprache. Der Staatsmann hörte ihm aufmerksam zu und sagte dann:

„Ein ganzer Roman, wahrhaftig ein ganzer Roman. Meiner Hilfe sind Sie sicher, soweit es mir möglich ist. Also Sie wollen zunächst und vor allen Dingen Ihr Augenmerk auf das Begräbnis richten?“

„Es wird das geratenste sein.“

„Das meine ich auch. Nur muß ich Ihnen Vorsicht anempfehlen. Sie sehen wohl ein, daß zunächst eine geheime Besichtigung des Sarges vorgenommen werden möchte, natürlich aber im Beisein gewichtiger Zeugen, deren Wort nicht anzufechten ist.“

„Ich bin ganz Ihrer Meinung, gnädiger Herr.“

„So bedarf es außer Ihnen und Ihren Begleitern nur noch eines Mannes, dessen Aussagen unanfechtbar sein müßten. Ich gestehe Ihnen offen, daß ich an Ihrer Stelle weder einen französischen noch einen kaiserlichen Beamten wählen würde. Ich möchte da einen eingeborenen Mexikaner vorziehen. Wie wäre es mit dem Alkalden, welcher der Tochter Pablo Cortejos den Befehl überbrachte, die Stadt und das Land zu verlassen?“

Damit hatte der preußische Geschäftsträger gesagt, daß die Zeit kommen werde, in welcher weder ein Franzose, noch ein Kaiserlicher mehr ein Wort zu sagen habe.

„Wird dieser Beamte meiner Bitte Folge leisten?“ fragte Kurt.

„Gewiß. Er ist mein Bekannter. Ich werde Ihnen einige Zeilen für ihn mitgeben, wenn Sie es wünschen, Herr Oberleutnant.“

„Ich bitte ebenso herzlich wie dringend darum, gnädiger Herr!“

Eine Viertelstunde später war Kurt mit diesen Zeilen unterwegs zu dem Alkalden, welcher den Brief entgegennahm, ohne den Überbringer groß zu beachten. Als er die Zeilen aber gelesen hatte, klärte sich seine ernste, fast finstere Miene zusehends auf. Er reichte Kurt die Hand und sagte:

„Herr von Magnus empfiehlt Sie mir in sehr freundlicher Weise. Er sagt mir, daß Sie in einer Angelegenheit zu mir kommen, in welcher es mir möglich sein dürfte, Ihnen einen Dienst zu erweisen. Darf ich Sie ersuchen, mir mitzuteilen, in welcher Weise ich mich Ihnen nützlich machen kann?“

„Es ist eine Angelegenheit zunächst privater Natur“, antwortete Kurt, „kann aber leicht eine Wendung annehmen, welche sie vor das Forum des Kriminalrichters bringt.“

„Das ist ja das meinige. Es handelt sich also wohl um ein Verbrechen?“

„Um eine ganze Reihenfolge davon.“

„Welche erst zu entdecken sind? Ich vermute dies nämlich aus Ihrer Äußerung, daß die Angelegenheit eine Wendung annehmen kann, welche sie vor dem Strafrichter bringt.“

„In gewisser Beziehung haben Sie sehr richtig geraten, Señor. Welche Verbrechen geschehen sind, das ist so ziemlich festgestellt. Um dieselben zu verdecken, sollen aber neue verübt werden. Den Tätern bin ich auf der Spur, und ich hoffe, sie mit Ihrer freundlichen Beihilfe überraschen zu können.“

„Ich stelle mich Ihnen zur Verfügung“, meinte der Beamte unter einer sehr freundlichen Verbeugung. „Wenn auch leider gerade jetzt meine Amtsbefugnisse von den gegenwärtigen Verhältnissen sehr tangiert werden, so steht es doch vielleicht in meiner Macht, Ihnen behilflich zu sein. Sagen Sie mir nur, um was es sich handelt.“

„Es handelt sich um die Angelegenheit einer Familie, die Ihnen wohl bekannt sein dürfte. Oder soll Ihnen Graf Ferdinande Rodriganda unbekannt gewesen sein?“

„Don Ferdinande? O nein. Ich habe mit ihm sehr oft zu konferieren gehabt.“

„So kannten Sie vielleicht auch seinen Verwalter oder Geschäftsführer?“

„Meinen Sie diesen Cortejo?“

„Ja.“

„Welcher die Lächerlichkeit begangen hat, eine politische Rolle spielen zu wollen?“

„Denselben.“

„Auch dieser ist mir bekannt. Er hat ja sehr dafür gesorgt, daß jedes Kind von ihm wissen muß. Stehen diese beiden Personen in einem Verhältnis zu der Ursache Ihres Besuches bei mir?“

„Gewiß. Es sind die Hauptpersonen, um welche es sich handelt.“

„Sie meinen da doch wohl nur Cortejo, da Don Ferdinande doch nicht mehr lebt?“

Kurt schüttelte den Kopf und antwortete:

„Ich meine alle beide, denn Don Ferdinande lebt noch; er ist nicht tot, er ist nicht gestorben.“

Der Beamte blickte erstaunt und überrascht empor.

„Sie irren“, meinte er. „Oder sollten Sie von diesem Todesfall noch gar keine Kenntnis haben? Ich selbst bin ja bei dem Begräbnis des Grafen zugegen gewesen!“

„Das glaube ich gern, aber dennoch lebt der Graf. Sie haben nicht eine Leiche, sondern einen Scheintoten begraben helfen.“

„Das wäre ja ein ganz und gar außerordentliches Vorkommnis. Aber, selbst wenn der Graf scheintot gewesen wäre, könnte er nicht mehr leben, er müßte in seinem Sarg längst gestorben sein. Und dann, wie hätte man erfahren können, daß er lebendig begraben wurde?“

„O, Señor, er ist nicht in seinem Sarg gestorben, sondern man hat ihn aus demselben genommen, um ihm ein Schicksal zu bereiten, welches noch schlimmer ist, als der Tod. Er ist lange Jahre Gefangener oder vielmehr Sklave gewesen, hat aber doch endlich Gelegenheit gefunden, sich zu retten. Kaum aber ist er in sein Vaterland zurückgekehrt, so scheint ein neues Verbrechen an ihm begangen worden zu sein. Er ist abermals verschwunden.“

Es war ein eigentümlicher Blick, welchen der Alkalde auf den Sprecher warf. Er schien große Lust zu haben, an dessen Unzurechnungsfähigkeit zu zweifeln, und sagte unter einem sehr unglaublichen Schütteln des Kopfes:

„Was Sie da behaupten, Señor, das klingt ja fast wie ein Märchen. Darf ich um Aufklärung bitten?“

„Es ist ja mein Wunsch, Ihnen dieselbe zu geben, vorausgesetzt, daß Sie die nötige Zeit dazu zur Verfügung haben.“

„Ich habe sie. Nehmen Sie Platz und sprechen Sie!“

Er setzte sich in seine Hängematte und brannte sich als echter Mexikaner eine Zigarette an. Kurt mußte sich auch eine solche in Brand stecken, und dann, nachdem er sich auf einen Stuhl niedergelassen hatte, begann er zu erzählen. Der Alkalde hörte ihm zu, ohne ihn mit einem einzigen Wort zu unterbrechen. Selbst, als Kurt geendet hatte, machte er keine Bemerkung; er schnellte sich aus der Hängematte heraus und schritt in dem weiten Amtszimmer hin und her. Dann blieb er vor dem Deutschen stehen und sagte:

„Junger Mann, ich weiß gar nicht, welcher Worte ich mich jetzt bedienen soll. Was Sie mir da erzählt haben, das klingt so unglaublich, daß man es für einen Wahnsinn halten möchte, es für Wahrheit zu nehmen. Und dennoch klingt es ebenso sehr glaubhaft. Sagen Sie mir doch gefälligst, ob Sie selbst überzeugt sind, daß sich alles so verhält, wie Sie es mir sagten.“

„Señor, ich habe die volle Überzeugung“, beteuerte Kurt.

„Gibt es nicht einen leisen, leisen Zweifel, gegen den Sie vielleicht doch zu kämpfen haben?“

„Ganz und gar nicht!“

„So lebt Don Ferdinande also wirklich noch?“

„Ja.“

„Sie wissen das aus dem Brief, welchen dieser Señor Sternau an seine Frau nach Deutschland geschrieben hat?“

„Aus diesem Brief, und sodann ist auch jener Jäger da, welcher den Grafen selbst gesehen hat.“

„Geierschnabel?“

„Ja. Und Kapitän Wagner mit seinen Matrosen.“

„Diese alle aber haben den Grafen früher nicht gekannt!“

„Sie wollen damit sagen, daß diese Personen infolgedessen nicht befähigt sind, den Grafen zu rekognoszieren?“

„Allerdings. Ihre Aussage würde noch nichts beweisen.“

„Aber Sternau, Mariano, ‚Büffelstirn‘, ‚Bärenherz‘ und alle anderen, welche mit ihm nach Mexiko kamen?“

„Sie können nichts sagen, da sie ja verschwunden sind.“

„So muß man versuchen, sie wieder zu finden!“

„Natürlich, natürlich. Meiner Hilfe dazu können Sie sicher sein, Señor. Es ist da aber notwendig, daß ich mit diesem Geierschnabel selbst spreche.“

„Ich werde ihn senden.“

„Nein, ich suche ihn selbst auf. Aber –“, er warf einen forschenden Blick auf Kurt und fuhr dann fort: „Sie kommen vom Geschäftsträger Preußens. Befinden Sie sich auch nur in einem nicht privaten Auftrag hier?“

Kurt antwortete ausweichend:

„Selbst wenn dies der Fall wäre, würde es meiner Angelegenheit wohl nicht zum Schaden sein.“

„Nein, aber Sie bedürfen der amtlichen Hilfe. Es fragt sich, von welcher Seite Sie diese erwarten und beanspruchen!“

„Sie sehen das, indem ich zu Ihnen gekommen bin.“

„Ah, Sie waren bisher bei keinem Franzosen?“

„Nein.“

„Auch bei keinem Österreicher?“

„Auch nicht. Ich habe nur Herrn von Magnus in das Vertrauen gezogen. Daß ich auch den Verwalter der gräflichen Güter aufsuchte, geschah ja nur, um zu erfahren, ob die Gesuchten bereits bei ihm gewesen seien.“

„So wollen wir es dabei lassen. Ich glaube nicht, daß die Unterstützung eines Kaiserlichen Ihnen auf die Dauer nützlich sein wird. Sie sind also überzeugt, daß die Personen, welche Sie bis hierher verfolgten, wirklich Cortejo und Landola sind?“

„Ja.“

„Und daß diese beflissen sein werden, sich mit dem leeren Sarg zu beschäftigen?“

„Ich vermute das allerdings.“

„Es ist Ihnen zuzutrauen, nach allem, was Sie mir erzählten. Aber wir selbst werden uns vorher mit demselben Gegenstand beschäftigen. Ich werde mich mit einigen meiner Beamten nach dem Erbbegräbnis begeben. Hoffentlich begleiten Sie mich?“

„Es ist dies ja die Bitte, welche ich an Sie richten wollte.“

„Gut. Ich werde sofort nach dem Palast Rodriganda senden, um mir den Schlüssel zu dem Mausoleum zu erbitten.“

„Ah, Señor, wäre es nicht vielleicht besser, dies zu umgehen?“

„Warum?“

„Ich halte es nicht für geraten, zu viele Personen in das Geheimnis zu ziehen, am allerwenigsten aber diese Franzosen.“

„Hm, Sie mögen recht haben. Also Sie erwarten mit aller Bestimmtheit, den Sarg leer zu finden?“

„Ja.“

„Es ist natürlich nicht meine Absicht, Sie zu beleidigen, Señor, aber als Beamter bin ich verpflichtet, den Gegenstand möglichst allseitig zu betrachten. Wenn wir den Sarg leer finden, könnte dies auch einen anderen Grund als den von Ihnen angegebenen haben.“

Kurt erriet sofort, was der Alkalde andeuten wollte.

„Ah“, sagte er, „Sie meinen, daß man die Leiche auch wohl erst vor kurzer Zeit entfernt haben könne?“

„Ja, um Sie zu täuschen.“

„Wer könnte dies tun, und was würde es ihm nützen? Übrigens wird am Zustand des Sarges sicherlich zu erkennen sein, ob eine Leiche in ihm verfaulte oder nicht.“

„Gewiß. Glücklicherweise bin ich im Besitz von Nachschlüsseln. Sie wissen, daß man als Beamter solche zuweilen notwendig brauchen kann. Wollen wir aufbrechen?“

„Ich stehe zu Befehl!“

Der Alkalde entfernte sich auf wenige Augenblicke, um seine Befehle zu erteilen, und dann begaben sie sich nach Kurts Hotel. In Mexiko, wo man gewöhnt ist, selbst die kleinste Strecke zu Pferd zurückzulegen, erregte es die Verwunderung der Passanten, den ihnen wohlbekannten Alkalden zu Fuß zu sehen. Er fand dies zwar nicht angenehm, konnte es aber doch nicht umgehen.

Im Gasthof angekommen, nahm er den Jäger ins Verhör. Geierschnabel erzählte seine Erlebnisse in Fort Guadeloupe in seiner gewöhnlichen drastischen Weise. Jedes Wort, welches er sagte, bestätigte das, was der Beamte bereits von Kurt gehört hatte.

„Bei Gott“, sagte er, „es gewinnt wirklich den Anschein, als ob wir uns nicht mit einem Märchen beschäftigten.“

„Donnerwetter!“ rief Geierschnabel, indem er einen dicken Strahl Tabakssaftes an die Wand spuckte.

„Was? Warum fluchen Sie?“

„Na, denken Sie etwa, daß ich eines Märchens wegen nach Deutschland reise und mich sechstausendmal arretieren lasse?“

„Das traue ich Ihnen allerdings nicht zu“, meinte der Beamte lächelnd.

„Man hat sogar eine Posaune für ein Auseinanderplatzungsattentätermordinstrument gehalten. Eine Lüge! Ein Märchen! Ich sage Ihnen, Señor, wenn der Mann, den ich in Fort Guadeloupe sah, nicht Graf Ferdinande ist, so ist auch meine Nase hier nicht die meinige, sondern die Ihrige!“

„Das ist allerdings ein sehr überzeugender Beweis. Jetzt aber wollen wir nach dem Kirchhof gehen.“

Sie machten diesen Weg, indem sie möglichst unbelebte Gassen benutzten, und dann trennten sie sich, um einzeln durch das Tor zu treten, damit sie den etwa Anwesenden nicht auffallen möchten. Sie trafen auf dem Kirchhof bereits mehrere Alguacils (Polizisten), welche auf den Befehl des Alkalden hier auf sie gewartet hatten. Einer von ihnen hatte nach dem Erbbegräbnis gesucht und erhielt jetzt die Schlüssel des Alkalden. Er entfernte sich, um unbemerkt von den Kirchhofbesuchern die Tür zu öffnen, und bereits nach einigen Minuten meldete er, daß ihm dies gelungen sei.

Jetzt begaben sie sich nun einzeln nach dem Mausoleum, wo, als sie vollzählig beisammen waren, die Polizisten die Laternen hervorzogen, welche sie mitgebracht hatten.

Sie stiegen hinab und fanden den Sarg. Er wurde geöffnet und zeigte sich – leer.

„Santa Madonna!“ rief der Alkalde. „Es ist wahrhaftig so; er ist leer!“

Kurt untersuchte den Inhalt genau und sagte dann:

„Sehen Sie diese Kissen! Sie sind wie neu.“

„Ja“, antwortete der Beamte. „Es ist wahr. In diesem Sarg kann keine Verwesung vor sich gegangen sein. Mein Gott! Sollten Sie sich wirklich nicht täuschen? Sollte Graf Ferdinande wirklich lebendig begraben worden sein?“

„Auf alle Fälle, Señor.“

„Nun, so werde ich auch alles tun, um die Täter zu entdecken. Ich werde den Kirchhof und besonders dieses Begräbnis von diesem Augenblick an polizeilich bewachen lassen.“

„Wird dies auch zu raten sein?“ fragte Kurt.

„Warum nicht?“

„Weil diejenigen, welche wir fangen wollen, höchst scharfsinnige und verschlagene Menschen sind. Wie leicht könnten sie diese Bewachung bemerken und sich schnell zurückziehen, sodaß sie uns dann leicht entgehen.“

„Aber soll ich sie denn nicht eben ausfindig machen?“

„Gewiß. Aber wir dürfen nicht glauben, daß sie am hellen Tage kommen werden, um irgend eine Leiche in den Sarg zu legen.“

„Darin haben Sie unbedingt recht. Sie werden dies nur des Nachts besorgen können. Aber woher die Leiche nehmen!“

„O, selbst so etwas kann einen Landola und Cortejo nicht in Verlegenheit bringen.“

„Sie meinen, daß sie sich eine Leiche machen werden?“

„Machen? Wollen Sie damit sagen, daß sie eine Leiche fabrizieren werden – durch einen Mord vielleicht?“

„Ja.“

„O nein. Dazu sind sie zu klug.“

„Wieso zu klug?“

„Eine neue Leiche kann ihnen ja gar nichts nützen. Sie brauchen eine alte Leiche, eine männliche Person, welche ungefähr so lange im Grab gelegen hat, als Don Ferdinande tot sein soll.“

„Ah, Sie haben recht. Sie sind zwar ein noch sehr junger Mann, aber Sie zeigen den Scharfsinn, welcher so nötig ist, falls Ihnen Ihr schwieriges Vorhaben gelingen soll.“

„Ich meine, daß es nicht nötig sein wird, uns jetzt um sie und um den Kirchhof zu kümmern. Aber sobald es Abend geworden sein wird, dann müssen wir wachsam sein.“

„Ich werde den Zugang zum Begräbnis besetzen lassen.“

„Und sie da festnehmen?“

„Ja.“

„Ich würde doch vorziehen, sie bis hier herunter gelangen zu lassen. Sie sind da besser zu ergreifen, weil von hier aus ein Entkommen viel schwieriger sein wird.“

„Auch hierin haben Sie recht. Sie meinen also, daß diese Menschen sich eine Leiche rauben werden?“

„Ich vermute das.“

„Sie werden also ein altes Grab öffnen?“

„Nein, sondern sie werden die Leiche aus einem Begräbnis holen, weil da nicht zu befürchten ist, daß eine Spur ihrer Tat zurückbleibt.“

„Auch hierin vermuten Sie sehr richtig. Gehen wir also jetzt auseinander, um uns nach Einbruch des Abends hier wieder zu treffen.“

Sie entfernten sich einzeln, so wie sie gekommen waren. In Erwartung der Ereignisse des Abends verging Kurt der Nachmittag außerordentlich langsam. Geierschnabel hatte sich wieder in das Gras gelegt um zu schlafen; aber sobald es düster genug war, kam er, um den Leutnant und den Matrosen abzuholen.

„Ich hoffe, daß uns die Kerls nicht lange warten lassen werden“, sagte Peters.

„Pah!“ meinte Geierschnabel. „Sie werden sich doch gerade den Spaß machen, uns möglichst lange warten zu lassen.“

„Warum?“

„Denkst du, daß sie vor Mitternacht kommen?“

„Weshalb denn nicht?“

„Weil das die Geisterstunde ist, in der sich jeder dumme Mensch vom Kirchhof möglichst fernhält.“

„Hm. Zu diesen Dummen scheinen wir also nicht zu gehören.“

„Ja, du für dieses Mal allerdings nicht.“

Am Mausoleum stand ein Polizist; er hatte die Tür bereits geöffnet und wartete auf sie. Nach und nach fanden sich auch noch der Alkalde nebst mehreren anderen Polizisten ein.

„Nun gilt es, unsere Arrangements zu treffen“, sagte er. „Ich werde zunächst zwei Mann an die Tür postieren.“

„Das wird nichts helfen“, bemerkte Geierschnabel.

„Warum?“

„Weil diese Kerls sehr dumm wären, wenn sie sich gerade am Tor erwarten ließen. Sie werden wohl über die Mauer kommen. Das ist das Wahrscheinlichere.“

„Das erschwert die Sache ganz außerordentlich“, meinte der Beamte mißmutig.

„Warum?“ fragte der Präriejäger.

„Weil ich da mehr Polizisten kommen lassen muß.“

„Mehr Polizisten? O, Master Alkalde, ich kalkuliere, daß wir bereits genug solcher Leute hier haben.“

„Ich habe doch alle vier Mauern besetzen zu lassen.“

„Das ist nicht nötig. Sie bleiben hier unten bei den Särgen und besetzen nur den Kirchhof, aber nicht durch die Polizisten.“

„Durch wen sonst?“

„Durch mich.“

„Durch Sie?“ fragte der Alkalde. „Durch Sie allein?“

„Ja.“

„Señor, das kann unmöglich genügen!“

„Donnerwetter, warum nicht?“ fragte Geierschnabel, indem er mit großer Energie ausspuckte.

„Ein Mann ist zu wenig.“

„Da irren Sie sich ganz gewaltig. Viele Köche verderben den Brei. Ich bin ein Westmann, ein Prärieläufer. Wissen Sie das?“

„Ich weiß das allerdings.“

„Nun, so sage ich Ihnen, daß die zwei Ohren eines alten Jägers geeigneter sind, einen Kirchhof zu bewachen, als hundert Polizistenohren. Ihre Leute sind sicher nicht gewöhnt, den Käfer des Nachts im Gras laufen zu hören.“

„Sie meinen, daß Sie jedes Geräusch über den ganzen Kirchhof hin sofort erlauschen würden.“

„Ja.“

„Und daß Sie sofort merken werden, wenn die Erwarteten einsteigen?“

„Ganz sicher.“

„Selbst wenn Sie sich weit von dem Platz befinden, an welchem das geschieht?“

Geierschnabel fühlte sich verdrießlich über diese so eingehende Erkundigung. Er spuckte abermals aus und antwortete:

„Ich sage Ihnen, daß Sie mir den Kirchhof viel eher und besser anvertrauen können, als Ihren Leuten. Das ist genug. Wollen Sie mir nicht glauben, wollen Sie sämtliche Mauern mit Polizisten besetzen lassen, als ob wir einen Sturmangriff abzuschlagen hätten, so müssen Sie auch gewärtig sein, daß die Kerls uns eher bemerken als wir sie. Und riechen sie den Braten, so können wir ihnen im Dunkeln nachsehen.“

Der Alkalde wußte, welche scharfe Sinne so ein Jäger zu besitzen pflegt, darum antwortete er:

„Sie mögen recht haben. Wir bleiben also alle hier unten in dem Begräbnis, und Sie mögen oben wachen.“

„O, einen Ihrer Leute können Sie oben an die Tür postieren, damit ich Ihnen durch ihn Nachricht geben kann, ohne erst herunter zu müssen.“

Er entfernte sich, und einer der Polizisten folgte ihm. Die übrigen blieben unten bei den Särgen zurück. Es waren der Alkalde, Kurt, Peters und drei Polizeimänner, also sechs Personen, sicherlich genug, um die Erwarteten festzuhalten. Ihre Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Es zeigte sich, daß Geierschnabel recht gehabt hatte, denn die Mitternacht rückte heran, ohne daß sich etwas ereignen wollte.

„Vielleicht kommen sie gar nicht“, meinte der Alkalde.

„Das ist möglich“, antwortete Kurt. „In diesem Fall müssen wir morgen wieder wachen.“

„Oder sind sie bereits da, und dieser Jäger hat es doch nicht gehört?“

„Sie würden uns doch in die Hände laufen.“

Da hörten sie nahende Schritte, welche zur Treppe herabkamen. Der oben aufgestellte Polizist war es.

„Sind sie da?“ fragte der Alkalde erfreut.

„Ja, Señor.“

„Wie viele?“

„Drei Mann. Der Jäger läßt Sie bitten, die Laternen zu schließen und einzustecken.“

„Gut. Was macht er?“

„Er ist wieder fort, um zu lauschen. Zwei sind nämlich zwischen den Gräbern verschwunden, der dritte aber befindet sich am Tor um zu wachen.“

Infolge dieser Meldung bemächtigte sich der Anwesenden eine ihre Sinne anspannende Erwartung, welche bald neue Nahrung erhielt, denn nach eine Weile kam Geierschnabel selbst herab. Da es unten finster war, so nannte er seinen Namen, um nicht für einen der erwarteten Verbrecher gehalten zu werden.

„Wo sind sie? Was tun sie?“ tönte es ihm entgegen.

„Wir werden sie bekommen“, lachte er. „Sie holen den Grafen Ferdinande.“

„Den Grafen?“ fragte der Alkalde. „Ich denke, der ist verschwunden.“

„Ja, er wird aber bald wieder erscheinen.“

„Ah? Hier?“

„Ja!“

„Wunderbar! Verstehe ich Sie recht?“

„Pah! Ich meine nicht den richtigen Grafen, sondern den falschen.“

„Den sie bringen? Ah, ich begreife, was Sie meinen! Sie holen eine Leiche?“

„Ja, sie sind gerade bei der Arbeit.“

„Wo?“

„In einem anderen Begräbnis da drüben. Sie haben sich eine Leiter geholt, und sind hinabgestiegen. Sie hatten ein Paket mit, welches sie mit hinuntergenommen haben.“

„Was mag das sein?“

„Jedenfalls Kleider. Sie müssen ihre Leiche doch so anziehen, wie der Graf gekleidet gewesen ist. Vorn am Tor aber steht einer, der Wache hält. Senden Sie zwei Polizisten hin, welche sich an ihn heranschleichen und ihn festnehmen, sobald seine zwei Genossen hier herabgestiegen sind.“

Er entfernte sich, um von neuem zu lauschen, und nach seiner Angabe schlichen sich zwei Alguacils fort, um den Mann am Tor festzunehmen.

Es dauerte eine geraume Weile, ehe Geierschnabel wiederkam. Dieses Mal hatte er es sehr eilig.

„Sie kommen“, meldete er.

„Die zwei allein oder der Wächter mit?“ fragte Kurt.

„Der Wächter nicht mit.“

„Sie bringen die Leiche?“

„Ja, Master Leutnant.“

„So wird es Zeit, uns zu verstecken. Rasch hinter die Särge!“

Beim Eintritt Geierschnabels hatte der eine Polizist seine Blendlaterne für diese kurze Zeit herausgeholt und wieder geöffnet. Als die anderen sich beeilten, hinter die vorhandenen Särge zu kriechen, wollte er sie wieder einstecken, aber Geierschnabel verhinderte ihn daran.

„Halt!“ sagte er. „So eilig ist es nicht. Erst gibt es noch etwas anderes zu tun.“

„Was?“ fragte der Mann.

„Den Deckel herab.“

„Von dem Sarg?“

„Ja.“

„Warum?“

„Das wirst du sogleich sehen, mein Junge.“

Sie hoben den Deckel von dem leeren Sarg des Grafen ab, und nun sah der erstaunte Polizist, daß sich Geierschnabel mit aller Gemütsruhe in die weichen, weißseidenen Kissen legte.

„Donnerwetter“, sagte er. „Was soll das bedeuten?“

„Mach den Deckel wieder zu, mein Junge“, antwortete Geierschnabel, indem er sich behaglich zurechtrückte.

„Aber, ich begreife nicht, was –“

„So halt den Mund, wenn du es nicht begreifst! Sieh doch einmal meine Nase an, und denke dir, daß jemand, der einen leeren Sarg zu finden erwartet, diesen öffnet und darin einen Geist oder ein Gespenst mit so einer Nase findet! Mach zu!“

Der Mann zögerte, und auch Kurt wollte eben Einspruch erheben, als sich von oben ein Geräusch vernehmen ließ.

„Donnerwetter, mach zu, sonst überraschen sie uns!“ meinte Geierschnabel, indem er die Hände lang am Leib herablegte, so wie man die Toten zu betten pflegt. Jetzt blieb keine Wahl. Der Polizist hob behutsam den Deckel darauf und versteckte sich dann ebenfalls. Nun herrschte hier unten die Stille des Todes; droben aber ließ sich das leise Knirschen eines Schlüssels hören. Nach einer Weile kamen Schritte herab, und im Laternenschein wurden Cortejo und Landola sichtbar.

Kurt steckte neben Peters, dem Matrosen.

„Sind sie es?“ flüsterte er ihm zu.

„Ja“, antwortete der Gefragte, aber nur hauchend.

Die beiden Eingetretenen begannen zu sprechen.

„Leuchten Sie umher!“ sagte Landola.

Cortejo trug die Laterne und folgte der Aufforderung. Sie suchten den Sarg und fanden ihn, da er ja in goldenen Lettern den Namen dessen trug, der in ihm gelegen hatte.

Die Lauscher vernahmen jedes Wort, auch den Wunsch Cortejos, daß der Tod oder Teufel in dem Sarg liegen möge, da Landola behauptet hatte, er werde in diesem Fall den Teufel um Feuer bitten. Ebenso hörten sie die Bemerkung von dem Kleister im Gesicht, aus welcher zu entnehmen war, daß sie ihre Gesichter durch künstliche Mittel verändert hatten.

„Und der Teufel würde Sie doch beim Kragen nehmen“, meinte schließlich Cortejo.

„Meinen Sie?“ lachte Landola. „Wollen es versuchen. Also herab mit dem Deckel, und heraus mit dem Teufel!“

Der Polizist hatte den Deckel gar nicht nach der Fuge auflegen können; die Zeit war zu kurz dazu gewesen. Landola stieß den Sarg auf; der Deckel flog mit großem Gepolter herab, und die beiden Männer erblickten – Geierschnabel mit seiner langen Nase und weit geöffneten, starr auf sie gerichteten Augen im Sarg liegen. Beide stießen einen Ruf des Entsetzens aus und standen starr vor Schreck. Sie waren in diesem Augenblick unfähig, sich zu bewegen. Cortejo hielt mit der erhobenen Hand die Laterne empor, als ob er eine Statue sei.

Da, nach längeren Sekunden kehrte ihnen die Sprache wieder.

„O Himmel!“ rief Cortejo. „Wer ist das?“

„Der Teufel“, antwortete Landola.

Sie, die beiden Schurken, welche Taten begangen hatten, deren nur ein Mensch fähig ist, welcher weder Gott noch den Teufel fürchtet, sie wurden von ihrem Entsetzen so gepackt, daß sie zwar sprechen, aber sich nicht bewegen konnten. Beide zitterten am ganzen Körper.

„Der Teufel!“ stöhnte Landola.

„Ja, der Satan!“ ächzte Cortejo.

„Pchtichchchchch“, spritzte ihnen aus dem Sarg heraus ein Strahl Tabakssaftes in die Gesichter.

„Ja, der Teufel, der Satanas, der Beelzebub bin ich!“ rief Geierschnabel, indem er auf- und aus dem Sarg sprang. „Ihr sollt mit mir nach der Hölle reiten. Hier habt Ihr den Ritterschlag der Unterwelt!“

Und mit seinen beiden Armen zu gleicher Zeit ausholend, gab er einem jeden eine so gewaltige Ohrfeige, daß beide auf die Steinplatten niederstürzten. Und im nächsten Augenblick hatte er mit jener Geschwindigkeit, die nur einem Präriemann eigen ist, die Waffen, welche sie bei sich trugen, entdeckt, ihnen entrissen und in den äußersten Winkel geworfen.

Beim Niederstürzen war der Hand Cortejos die Blendlampe entfallen, aber in den Sarg, und war zufälligerweise so zu liegen gekommen, daß ihr Licht nicht ausgelöscht war. Geierschnabel ergriff sie mit der Linken, zog mit der Rechten sein Messer und stellte sich so, daß er mit dem Rücken den Eingang und die Treppe deckte.

Das gab den beiden die Überlegung zurück. Sie rafften sich auf.

„Donnerwetter!“ rief Landola.

„Alle tausend Teufel!“ rief Cortejo.

„Das ist ein Mensch!“

„Kein Teufel!“

„Ein Kerl von Fleisch und Bein gemacht!“

„Der es gewagt hat, uns zu schlagen.“

Der Schreck war plötzlich verschwunden und Grimm an seine Stelle getreten. Nun die beiden Patrone erkannten, daß sie es mit einem Menschen zu tun hatten, der sich übrigens allem Anschein nach ganz allein in dem Gewölbe befand, waren sie mit einem Mal wieder die alten geworden.

„Kerl! Was willst du hier? Was hast du hier zu tun?“ fragte Landola in drohendem Ton.

„Was ich hier zu tun habe?“ fragte Geierschnabel trocken. „Ohrfeigen habe ich auszuteilen; das habt Ihr ja gefühlt.“

„Das sollst du aber büßen müssen. Wer bist du?“

„Der Teufel. Ihr habt es vorhin selbst gesagt!“

„Treibe keinen Unsinn. Wer du bist, will ich wissen.“

Landola ballte bei diesen Worten die beiden Fäuste und trat drohend einen Schritt näher heran.

„Männchen, mache dich nicht lächerlich!“ lachte Geierschnabel. „Weder du, noch Ihr alle beide seid die Kerls dazu, mich fürchten zu machen!“

„Das wird sich finden. Ich verlange Antwort auf meine Fragen, erhalte ich diese nicht, so wirst du sehen, was folgt!“

„Was soll denn folgen?“

„Wir öffnen dir den Mund!“

„Pah! Dem ersten, der es wagt, mich anzugreifen, schlage ich hier die Laterne an die Nase, daß er denken soll, es stecken drei Millionen Sonnen und Monde darin. So ein Don Antonio de Veridante darf nicht denken, daß ich vor ihm ausreiße!“

„Ah, du kennst meinen Namen?“ fragte Cortejo.

„Ja.“

„Woher?“

„Von der Polizei, die dich sucht.“

„Mich? Das ist Lüge!“

Da machte Geierschnabel ein höchst pfiffiges Gesicht und sagte:

„Na, ich will die Wahrheit sagen. Ich habe diesen Namen von einem gewissen Gonsalvo Verdillo in Vera Cruz gehört.“

Als die beiden diesen Namen hörten, wurde ihnen das Herz leicht.

„Von Gonsalvo Verdillo?“ fragte Cortejo. „Wie kamst du zu ihm?“

„Das ist meine Sache!“

„Suchtest du jemand bei ihm?“

„Ja.“

„Wen?“

„Einen gewissen Landola.“

„Alle Wetter! Kennst du diesen?“

„Nein.“

„Warum suchst du ihn aber denn?“

„Weil ich etwas Wichtiges an ihn auszurichten habe.“

„Was?“

„Donnerwetter! Frage du und der Teufel! Es versteht sich von selbst, daß ich meine Botschaft nur an den ausrichte, für den sie bestimmt ist.“

„Aber von wem sie kommt, das darf ich doch wohl wissen?“

„Auch nicht.“

„Wie kommt denn dein Name in Verbindung mit meiner Botschaft?“

„Dieser Verdillo sagte mir, wenn ich Landola finden wolle, so müsse ich nach Mexiko und mich nach einem gewissen Don Antonio Veridante erkundigen. Er beschrieb mir den Mann so genau, daß ich ihn in diesem Augenblick sofort erkannt habe.“

„Ah, ist es so! Ich kann dir allerdings sagen, wo Landola zu finden ist. Vorher aber muß ich wissen, wie du in das Gewölbe kamst.“

„Da herunter“, meinte Geierschnabel, indem er nach rückwärts auf die Tür und Treppe deutete.

„Das weiß ich. Hier ist nicht Zeit zu spaßen. Antwort will ich.“

„Na, ein anderer würde keine bekommen; da du aber derjenige bist, an den ich mich zu wenden habe, so will ich die Wahrheit sagen. Mein Geldbeutel ist nämlich verflucht dünn geworden.“

„Was hat das mit dieser Gruft zu tun?“

„Sehr viel. Die Toten sind verständiger als die Lebendigen.“

„Ah, ich begreife“, meinte Cortejo. „Wer zu feig ist, die Lebenden zu bestehlen, der geht zu den Toten.“

„Mäßige dich, mein Junge. Ich bin nicht feig, sondern vorsichtig.“

„Wie aber kamst du gerade auf diese Gruft?“

„Weil die Bewohner hier einst reich gewesen sind.“

„Das genügt. Wie kamst du herunter?“

„Mittels eines Nachschlüssels.“

„Du hast doch keine Laterne.“

„Die versteckte ich, als Ihr kamt.“

„Was hast du erbeutet?“

„Noch nichts.“

„Ah, du hast noch keinen der anderen Särge geöffnet?“

„Nein, nur diesen hier. Und zum Teufel, gerade dieser erste war leer. Wenn das so fortgeht, muß ich mit leeren Händen abziehen. Es ist Mitternacht. Die Toten hier scheinen um diese Zeit spazieren zu gehen, eine recht dumme Angewohnheit!“

Die beiden wußten nicht, was sie aus dem wunderbaren Mann, der ihnen einen solchen Schreck eingejagt hatte, machen sollten. Sie waren ihrer zwei und fühlten sich ihm überlegen. Zu befürchten hatten sie auch aus dem Grund nichts, weil er selbst ein Dieb, ein Leichenplünderer war, darum ergriff Landola das Wort und fragte:

„Also an Landola hast du eine Botschaft auszurichten?“

„Ja.“

„An Seekapitän Landola?“

„Ja.“

„So sprich! Ich bin Landola.“

„Ah, wirklich?“

„Ja.“

„Nun, ich hätte nicht geglaubt, daß ich meinen Adressaten hier in diesem Gewölbe treffen werde. Aber wenn du wirklich Landola bist, so muß der andere Cortejo sein.“

„Wie kommst du auf diesen Gedanken?“

„Das sollt Ihr nachher erfahren.“

„Nun gut, ich will dir vertrauen und dir sagen, daß dieser Señor Cortejo heißt.“

„Aus Rodriganda in Spanien?“

„Ja.“

„Wenn das wahr ist, dann darf ich allerdings sagen, was ich an euch beide auszurichten habe.“

„Nun?“

„Ich soll euch warnen, nach Mexiko zu kommen.“

„Warum?“

„Weil man euch dort gefangennehmen wird.“

„Pah!“ sagte Landola mit einer geringschätzigen Handbewegung.

„Pah?“ fragte Geierschnabel. „Ihr haltet euch für sicher? Man hat sogar die Zeit und den Ort bestimmt, wann und wo man sich eurer bemächtigen wird.“

„Unsinn!“

„Ich kann es euch beweisen!“

„Welche Zeit und welcher Ort sollte das sein?“

„Welche Zeit? Um Mitternacht. Und an welchem Ort? Hier im Grabgewölbe der Rodriganda.“

Cortejo fühlte sich etwas unbehaglich; Landola aber lachte und sagte:

„Mensch, du scheinst halb Bösewicht und halb Dummkopf zu sein. Wir sind nicht gewöhnt, mit uns spaßen zu lassen –“

„Nun gut, so mag der Spaß aufhören“, unterbrach ihn Geierschnabel, „und der Ernst mag beginnen. Ihr seid meine Gefangenen!“

Seine Miene war dabei so ernst, das selbst Landola einsah, daß sich hier etwas Unangenehmes vorbereitete. Er trat einen Schritt zurück, sah sich mit einem besorgten Blick nach seinen Waffen um und sagte:

„Kerl, du bist verrückt! Wie können wir deine Gefangenen sein!“

„Nicht meine? Nun, so will ich sagen, daß ihr unsere Gefangenen seid!“

„Unsere? Ah! Du bist nicht allein?“

„Nein. Seht euch um!“

Er zeigte nach dem Hintergrund. Dort erhoben sich alle Versteckten, welche sich bisher ruhig verhalten hatten, hinter den Särgen und öffneten die Laternen. Es wurde doppelt hell in dem Gewölbe, und nun erkannten die beiden, was ihrer wartete.

„Hölle und Teufel! Mich bekommt Ihr nicht!“ rief Landola.

„Mich auch nicht“, rief Cortejo.

Beide warfen sich auf Geierschnabel. Dieser aber war darauf vorbereitet. Ohne sein Messer zu benützen, stieß er Landola, den er für den Gefährlichsten hielt, die Blendlaterne in das Gesicht, sodaß das Glas zerbrach und der Getroffene geblendet zurückwich. Und zu gleicher Zeit empfing er Cortejo mit einem solchen Fußtritt, daß dieser niederstürzte. In demselben Augenblick warfen sich die anderen auf die sich nun vergeblich wehrenden und machten sie mit Hilfe der mitgebrachten Fesseln unschädlich.

Als Cortejo einsah, daß aller Widerstand vergeblich sei, verzichtete er auf denselben. Landola aber sträubte sich gegen seine Banden und schäumte vor Wut. Es half ihm nichts. Seine Fesseln wurden nur desto enger gezogen.

„Da haben wir sie also“, meinte der Alkalde. „Wollen wir mit dem Einleitungsverhör gleich hier beginnen, Herr Leutnant?“

„Es wird hier der geeignete Ort nicht sein“, antwortete der Gefragte. „Wir haben zunächst mehr zu tun.“

„Was?“

„Die Leiche zu suchen, welche diese Menschen jedenfalls oben liegen haben, und den Mann festzunehmen, der am Tor Wache gestanden hat.“

„Den haben meine Polizisten bereits fest.“

Darin irrte sich der Alkalde bedeutend. Grandeprise war ein erfahrener Jäger. Er lehnte am Tor und wartete auf die Rückkehr seiner Gefährten. Da vernahm er hinter sich ein leise sein sollendes Geräusch, das aber für seine geübten Ohren nichts weniger als leise war. Er erkannte sofort den Tritt zweier Männer, welche sich zu ihm heranschlichen. Blitzschnell lag er an der Erde, kroch zur Seite und dann nach rückwärts, um sie zu beobachten. Er kam hinter einen dichten Rosenbusch zu liegen, vor welchen die beiden stehen geblieben waren.

„Ich sehe ihn nicht“, meinte der eine.

„Ich auch nicht“, bestätigte der andere.

„Wer weiß, was dieser Kerl mit der langen Nase gesehen hat. Vielleicht gibt es hier gar keinen, der Wache steht.“

„Laß uns suchen.“

Sie schlichen sich vorwärts, und nun erkannte er, daß er es mit Polizisten zu tun habe.

„Alle Teufel“, brummte er, „was ist das? Suchen sie mich? Will man mich gefangen nehmen? Ich muß die beiden warnen.“

Er schlich sich in der Richtung fort, in welcher Cortejo und Landola von ihm gegangen waren, aber er fand sie nicht. Er suchte weiter, indem er sich in acht nahm, auf irgendeinen Lauscher zu stoßen. Da sah er einen Lichtschein durch die Büsche blitzen. Er ging darauf zu und kam an das Erbbegräbnis der Rodriganda, wo er laute Stimmen hörte.

„Hier liegt er“, hörte er sagen.

„Ein Mann. Ah, er hat in den Sarg des Grafen gesollt. Laßt uns ihn untersuchen. Die beiden Gefangenen müssen sagen, aus welchem Begräbnis sie ihn gestohlen haben.“

„Sie sind gefangen“, dachte er. „Das ist unangenehm. Sie haben nichts Böses getan, aber da diese Herren Franzosen hier am Ruder sind, werden diese kurzen Prozeß mit ihnen machen. Wo bleibe ich da mit meiner Absicht, diesen Landola zu fangen? Ich werde ihn nie bekommen. Ich muß bei Gott sehen, ob ich diese beiden Kerls wieder losmachen kann.“

Er versteckte sich hinter ein Monument, welches ihn vollständig verbarg und von welchem aus er die Szene beobachten konnte. Unterdessen wurden Cortejo und Landola herauf geschafft und vor die da oben liegende Leiche gestellt.

„Woher habt Ihr diesen Toten geholt?“ fragte der Alkalde.

Keiner antwortete.

„Ich frage, aus welchem Begräbnis Ihr diesen Toten geholt habt!“ wiederholte der Beamte.

Abermals keine Antwort. Er konnte fragen, was er wollte, sie beobachteten das tiefste Schweigen.

„Lassen Sie“, sagte Kurt. „Es ist eine nicht seltene Taktik des Verbrechers, zu schweigen, wenn er alles verloren gibt. Wir werden morgen bei Tageslicht schon sehen, an welchem Begräbnis dieser Leichendiebstahl begangen wurde.“

„Das ist wahr“, meinte der Alkalde. „Bis dahin mag alles bleiben wie es ist. Ich lasse meine Leute hier, um dafür zu sorgen, daß nichts verändert werde, wir anderen sind genug, die beiden Kerls in Gewahrsam zu bringen.“

Kurze Zeit später wurden Cortejo und Landola von dem Alkalden, Kurt, Geierschnabel und dem Matrosen Peters abgeführt. Die vier letzteren bemerkten gar nicht, daß ihnen von weitem eine männliche Gestalt folgte, um zu sehen, wohin die Gefangenen geschafft würden.

Im Gefängnisgebäude angekommen, wurde noch einmal ein Verhörversuch mit ihnen angestellt, der ebenso resultatlos ausfiel wie der erste. Da nur noch ein einziger, leerer Raum vorhanden war, wurden sie beide zusammen in demselben untergebracht, erhielten aber einen bewaffneten Soldaten vor die Tür, damit sie unmöglich entfliehen könnten. –

Kurt war mit bis in die Zelle gegangen, um sich zu überzeugen, daß die Gefangenen auch sicher untergebracht seien. Ehe er sie verließ, wendete er sich mit den Worten an Cortejo:

„Señor Gasparino, denkt nicht etwa, daß Ihr mit Eurem Schweigen weiter kommt, als mit einem offenen Geständnis. Ich bin von allem unterrichtet und brauche Euer Geständnis nicht.“

Da endlich sagte Cortejo das erste Wort. Er blickte den jungen Mann verächtlich an und fragte:

„Was werdet Ihr wissen? Wer seid Ihr?“

„Ich heiße Kurt Helmers und bin der Sohn des Steuermannes Helmers, welchen Landola hier mit nach der Insel geschafft hatte. Straflosigkeit habt ihr beide nicht zu erwarten, aber wenn eine Milderung möglich wäre, so doch nur in dem Fall, daß ihr von eurer Verstocktheit laßt.“

„So. Und was wißt Ihr denn von uns?“

„Alles.“

„So zählt es auf.“

„Ich verschmähe das. Wir stehen uns keineswegs so gleichwertig gegenüber, daß ich mich zu einer Unterhaltung mit euch herbeilassen könnte. Was ich vorzubringen habe, das wird euch die Untersuchung lehren. Euer Spiel ist aus. Ihr habt nur noch leere Blätter und Nieten in der Karte.“

Unterdessen war der Jäger Grandeprise um das Gebäude herumgegangen, um die Mauern zu untersuchen. Er sah zu seinem Mißvergnügen, daß von hier aus an eine Befreiung nicht zu denken sei. Da bemerkte er, daß ein Fenster, welches mit außerordentlich starken Eisengittern verwahrt war, erleuchtet wurde.

„Ah“, brummte er, „das ist die Zelle, in welche man sie steckt. Jetzt weiß ich wenigstens das. Oder steckt man den einen von ihnen noch anderswohin?“

Er wartete noch eine ganze Weile, um zu sehen, ob noch ein zweites Fenster erleuchtet werde. Als dies nicht der Fall war, murmelte er:

„Gut, sie scheinen beisammen zu sein. Jetzt gilt es, zu wissen, wann diejenigen, welche sie fingen, sich wieder entfernen.“

Er begab sich wieder nach dem Eingang zurück, wo er sich auf die Lauer legte. Es dauerte nicht lange, so öffnete sich das Tor, und Vier Personen traten heraus, um sich zu entfernen.

„Sie sind es. Sie sind fort. Was nun tun und anfangen?“ flüsterte er. „Es muß schnell gehandelt werden. Morgen ist es vielleicht zu spät.“

Er schritt nachdenklich die Straße entlang. Plan auf Plan durchkreuzte seinen Kopf, aber keiner erwies sich als ausführbar. Da hörte er klirrende Schritte hinter sich. Ein französischer Offizier, welcher so spät noch aus der Tertulia oder Unterhaltung kam, schritt an ihm vorüber.

„Alle Teufel, welch ein Gedanke! Das wäre etwas!“ brummte er. „Dieser Mensch schien so ziemlich meine Statur zu besitzen. Allons, nicht lange überlegt, sonst geht die Gelegenheit vorüber!“

Als Präriejäger schnell im Entschluß und in der Ausführung, eilte er dem Offizier nach.

„Monsieur, Monsieur!“ rief er halblaut.

„Was ist's?“ fragte der Mann stehenbleibend.

„Sind Sie vielleicht der Kapitän Mangard de Vautier?“

Er hatte diese Frage ausgesprochen, um nahe an den Offizier heranzukommen. Dieser antwortete:

„Nein. Ich kenne keinen Kapitän oder Offizier dieses Namens.“

„Nun, ich auch nicht“, meinte der Jäger lachend. Während dieser Worte faßte er ihn mit der Linken bei der Gurgel, die er fest zusammenpreßte, und versetzte ihm mit der Rechten einen Hieb an die Schläfe, jenen Savannenhieb, unter welchem der Getroffene stets sofort besinnungslos zusammenstürze.

„So, da liegt er! Nun aber fort von hier nach einem sichereren Ort.“

Bei diesen für sich hingeflüsterten Worten hob Grandeprise den Offizier auf, warf ihn sich über die Achsel und trug ihn nach einem einsam gelegenen Mauerwinkel, wo er ihn seiner Uniform entkleidete, ihn mittels der Taschentücher fesselte und auch knebelte und dann die Uniform mit seinem eigenen Anzug vertauschte.

„So“, meinte er. „Jetzt bin ich fertig. Jetzt beginnt erst das Wagnis. Gelingt es nicht, so geht es mir traurig.“

Er steckte seine Waffen zu sich und begab sich, nun seinerseits sporenklirrend, nach dem Gefängnis, an dessen Tür er schellte.

„Wer da?“ fragte der innen stehende Posten.

„Ordonnanz des Gouverneurs! Öffnen!“ antwortete er.

Der Schlüssel drehte sich im Schloß. Grandeprise wurde eingelassen. Der Posten trat nahe an ihn heran, und als er beim Schein einer trübe brennenden Laterne die Uniform erkannte, salutierte er vorschriftsmäßig.

„Ist der Inspektor des Gefängnisses noch wach?“ fragte der Jäger.

„Nein, mein Kapitän“, antwortete der Posten. „Er wurde aus dem Schlaf geweckt, als man vor kurzer Zeit zwei Gefangene brachte, ist aber wieder zur Ruhe gegangen.“

„Wer ist an seiner Stelle?“

„Ein Schließer.“

„Parterre?“

„Ja. Jede Front hat außerdem ihren Posten.“

„Gut.“

Er schritt über den Hof hinüber und läutete an der Tür des eigentlichen Gefangenenhauses. Der Schließer öffnete. Grandeprise wußte, daß zur gegenwärtigen Zeit die Franzosen die eigentlichen Meister des Landes waren, deren Wille in vielen Fällen und Beziehungen einen geradezu knechtischen Gehorsam fand. Er gab sich daher die Miene und das Äußere eines Mannes, der nicht im geringsten geneigt ist, mit sich sprechen und handeln zu lassen, und sagte:

„Ist der Inspektor wach?“

„Nein, soll ich ihn wecken?“ fragte der Schließer.

„Nein, ist nicht nötig. Wie viele Mann in der Wachtstube?“

„Acht.“

„Bin Ordonnanz des Gouverneurs. Können zwei Mann zum Transport eines Gefangenen für kurze Zeit entbehrt werden?“

„Ja.“

„Schnell holen. Habe nicht viel Zeit.“

Während der Schließer sich entfernte, um diesem kurz und streng gegebenen Befehl Gehorsam zu leisten, betrachtete der kühne, waghalsige Jäger sich den Raum, in welchem er sich befand.

Da gab es eine Tafel, auf welcher die Namen sämtlicher Insassen des Gefängnisses verzeichnet waren. Dabei las er: „Nummer 32 angeblich Advokat Antonio Veridante nebst Sekretarius.“ Er wußte also die Nummer, in welcher die Gesuchten zu finden seien. Auf einer Schreibtafel lagen verschiedene Formulare, unter denen er auch Quittungsscheine für Entgegennahme von Gefangenen fand. Auch das kam ihm zustatten. Er nahm eiligst eine Feder zur Hand, füllte einen dieser Scheine aus und setzte den ihm bekannten Namen des Gouverneurs darunter, ganz aufs Geradewohl und ohne die Handschrift dieses hohen Beamten zu kennen. Er trocknete die Schrift, faltete das Blatt zusammen und steckte es in die Tasche. Er war kaum damit fertig, so kam der Schließer mit zwei Mann Soldaten zurück, welche scharf geladene Gewehre trugen.

„Hier, mein Kapitän, sind die Leute“, meldete er.

„Gut. Ist ein Hauptschlüssel vorhanden?“

„Ja. Ich trage ihn bei mir.“

„Er schließt alle Zellen?“

„Alle.“

„Mir folgen! Vorwärts!“

Da er von außen das erleuchtete Fenster gesehen hatte, so wußte er, daß die betreffende Zelle im ersten Stockwerk lag. Er stieg also, vom Schließer und den Soldaten gefolgt, die Treppe empor und schritt dann oben den Korridor hinab, bis er vor Nummer 32 stand.

„Öffnen!“ befahl er.

Der Schließer gehorchte ohne Widerrede. Der vor der Tür stehende Posten trat zurück, und die Tür ging auf. Bei dem Schein der Laterne, welche der Schließer trug, erkannten die beiden Gefangenen einen französischen Offizier, welcher eintrat.

„Sie sind der Advokat Antonio Veridante?“ fragte er Cortejo.

„Ja“, antwortete dieser.

„Und dieser Mann ist Ihr Sekretär?“

„Ja.“

„Zeigen Sie her!“

Diese letzten Worte waren an den Schließer gerichtet, dem er die Laterne aus der Hand nahm. Er tat so, als ob er den beiden Gefangenen in das Gesicht leuchten wolle, hielt aber die Laterne so, daß sie auch das seinige erkennen konnten. Sie wußten sofort, woran sie waren, obgleich ihnen dieses Wagnis ein geradezu unerhörtes und unbegreifliches erschien, während Grandeprise doch nur mit der blitzschnellen Energie des Präriemannes einem augenblicklichen Impuls gefolgt war.

„Ja, sie sind es“, sagte er. „Der Gouverneur wurde mit der Nachricht von ihrer Festnahme geweckt. Er will sie augenblicklich sehen, da er weiß, daß Sie verdächtig sind, mit Juarez verkehrt zu haben. Sie haben mir zu folgen!“

Und sich an den Schließer wendend, zog er die Quittung hervor und sagte in einem Ton, der keine Entgegnung zuließ:

„Hier die Bescheinigung des Gouverneurs, daß Sie mir die beiden Gefangenen verabfolgt haben. Ich bringe sie in ungefähr einer Stunde wieder. Stellen Sie mir bis dahin eine Quittung aus, daß ich nicht zu warten brauche. Vorwärts!“

Er schob die Gefangenen zur Tür hinaus und winkte den beiden Soldaten, sie unter ihre Obhut zu nehmen. Der Schließer wagte kein Wort des Einwandes. Er las beim Schein der Laterne die Quittung und hielt es nun für unmöglich, sich zu sträuben.

So ging es fort, zur Treppe hinab, über den Hof hinüber und zum Tor hinaus, welches der Posten wieder öffnete. Draußen schlugen die Soldaten von selbst die Richtung ein, welche zum Gouverneur führte.

Es war stockdunkel; Straßenlaternen gab es nicht, und so versicherten die Soldaten ihrer Gefangenen sich dadurch, daß sie je einen beim Arm ergriffen. Der Jäger fühlte jetzt sein Herz erleichtert, er wußte nun, daß er gewonnenes Spiel haben werde. Er hatte sich in eine fürchterliche Gefahr begeben gehabt. Was zählen Mut und Scharfsinn, Klugheit und Erfahrung eines Savannenläufers hinter den Riegeln eines Gefängnisses? Jetzt hatte er den freien Himmel wieder über sich, und nun fühlte er sich von jeder Besorgnis frei.

Als sie eine genügende Strecke gegangen waren, zog er sein scharfes Messer heraus. Er hatte gesehen, daß die Fesseln nur aus Riemen bestanden, und fragte jetzt die Soldaten:

„Habt Ihr die Kerls auch sicher?“

„Ja, mein Kapitän“, antwortete der eine. „Wir führen sie ja beim Arm.“

„Aber die Riemen?“

„Sie scheinen fest zu sein.“

„Wollen es lieber untersuchen. Riemen pflegen nachzugeben.“

Er tat, als ob er die Banden mit den Händen auf ihre Festigkeit prüfen wolle, und schnitt sie ganz im Gegenteil durch. Die Gefangenen fühlten, daß sie frei seien, ließen sich dies aber durch keine Bewegung anmerken.

„Es ist gut“, sagte er. „Ich glaube, wir sind nun sicher. Vorwärts nun wieder!“

Der Weg wurde wieder fortgesetzt, aber bereits bei der nächsten Straßenecke stieß der eine Soldat einen Schrei aus und stürzte zu Boden.

„Was gibt's?“ fragte Grandeprise.

„Donnerwetter!“ antwortete der Mann. „Mein Kerl hat sich losgerissen und mich hergeschmissen.“

„Ah! Wo ist er?“

„Da drüben muß er laufen!“

„Ihm nach!“

Das Gewehr im Arm, rannte der Soldat fort. Schießen konnte er nicht, denn die Dunkelheit erlaubte ihm nicht, das geringste zu erkennen.

„Halte nur den deinen fest!“ gebot Grandeprise dem anderen. „Verdammt wäre es, wenn wir ihn nicht wiederbekämen!“

„Keine Sorge, mein Kapitän!“ antwortete der Mann im zuversichtlichsten Ton. „Dem soll es nicht gelingen, mir – ah, oh, Donnerwetter!“

„Was gibt es?“ fragte Grandeprise.

Gerade ebenso wie sein Kamerad am Boden liegend, raffte sich der Soldat empor und antwortete:

„Auch der meinige hat mich niedergeworfen!“

„Alle Teufel! Was für Schufte seid denn ihr Kerls! Laßt euch von diesen Schlingels zur Erde bringen! Wo ist er denn?“

„Fort!“ antwortete der Mann sehr kleinlaut.

„Donner und Doria! Wohin denn?“

„Da vorn scheint er zu rennen!“

„Laufe! Sonst mache ich dir Beine! Kriegst du ihn nicht wieder, so soll dich der Teufel holen!“

Der Soldat rannte voller Angst von dannen.

Seine Schritte waren noch nicht verklungen, so drehte sich der Jäger kurz um und ging den Weg zurück, den sie gekommen waren.

„Verdammt klug haben es die beiden Kerls gemacht“, brummte er vergnügt. „Diese Franzosen haben nichts gesehen, ich aber habe es deutlich bemerkt. Sollte mich wundern, wenn sie nicht hier in dieser Gegend zu mir stießen.“

Er hatte richtig vermutet, denn kaum war er mit diesem Gedanken zu Ende gekommen, so huschten zwei Gestalten zu ihm heran.

„Eingetroffen, Kapitän!“ sagte der eine halblaut und lachend.

„Ich auch“, meinte der andere, ebenso lachend.

Es waren keine anderen als Landola und Cortejo.

„Wo sind die Soldaten?“ fragte der erstere.

„Weit fort!“ antwortete der Gefragte.

„Was für dumme Kerls! Denken die, daß wir vorwärts rennen! Ich habe mich einfach niedergeduckt und bin kauern geblieben.“

„Ich ebenso“, sagte Cortejo. „Aber nun sagen Sie, wie Sie in diese Uniform kommen?“

„Sehr einfach“, antwortete der Jäger. „Ich schlug einen Offizier nieder und nahm ihm seine Uniform.“

„Donnerwetter! Welch ein Wagnis!“

„Ein Jäger fragt nach keinem Wagnis, wenn es gilt, seinen Gefährten einen Dienst zu erweisen.“

„Wir sind Ihnen da allerdings sehr großen Dank schuldig. Aber wie kamen Sie in das Gefängnis?“

„Ebenso einfach wie in die Uniform; ich ging hinein.“

„Man ließ Sie wirklich ein?“

„Natürlich. Oder hätten Sie mich im Gefängnis gesehen, wenn man mich nicht hineingelassen hätte?“

„Das ist wahr“, lachte Landola.

„Übrigens war die Uniform das beste Passepartout. Sie haben ja gehört und gesehen, daß ich als Ordonnanz des Gouverneurs auftrat.“

„Allerdings. Aber wie kamen Sie zu dieser Bescheinigung, welche Sie vorzeigten?“

„Ich machte sie mir selbst, während der Schließer das Piquet holte. Die Formulare lagen auf dem Tisch.“

„Ein riesiges Wagnis! Ein geniales Unternehmen, möchte man sagen! Aber der Offizier, den Sie niederschlugen?“

„Er liegt jedenfalls noch dort. Ich habe ihm einen Knebel gegeben, daß er nicht mucksen kann. Natürlich suche ich ihn jetzt auf und gebe ihm seine Uniform wieder.“

„Sie haben ihm bis dahin Ihre Kleidung angezogen?“

„Fiel mir nicht ein. Welch eine Arbeit wäre das gewesen! Ich habe sie einstweilen zu ihm hingelegt und werde sie mir jetzt wiedernehmen. Kommen Sie.“

Sie schritten der Stelle zu, an welcher Grandeprise den Offizier zurückgelassen hatte.

Unterdessen waren Kurt, Geierschnabel und Peters, nachdem sie sich von dem Alkalden getrennt hatten, in ihr Hotel zurückgekehrt. Der erstere und der letztere legten sich schlafen, Geierschnabel aber, welcher am Tag genug gelegen hatte, verschmähte es, zur Ruhe zu gehen. Er konnte sich einer gewissen Befürchtung nicht enthalten. Waren die Gefangenen sicher untergebracht? Reichte die Beaufsichtigung zu, unter welcher sie im Gefängnis standen? Ja, wenn man da draußen in der Prärie, im Urwald einen Gefangenen macht, den bewacht man selbst, und da weiß man ganz genau, was man oder er zu erwarten und zu hoffen hat. Hier aber muß man seine Gefangenen der Behörde übergeben, und diese Frau Behörde ist in Mexiko eine gar eigentümliche und sehr wenig zuverlässige Persönlichkeit. Besonders war sie dies zur damaligen Zeit. Darum trieb es unseren Geierschnabel fort, ein wenig lauschen zu gehen, ob in der Nähe des Gefängnisses alles in Ordnung sei.

Er steckte seinen Revolver und sein Messer zu sich und schlich sich, damit kein Schläfer gestört werde, leise davon.

Er kannte die Gegend, in welcher das Gefängnis lag, sehr genau; er war heute ja bereits dort gewesen. Er hatte es beinahe erreicht, als er durch ein Gäßchen ging, welches von zwei Mauern begrenzt oder gebildet, eingefaßt wurde. Diese Mauern waren dunkel und nicht sehr hoch. Die eine davon bildete eine Einbiegung, einen schmalen Winkel, welcher noch dunkler dalag als das an und für sich bereits finstere Gäßchen. Indem er nun so leise dahinschritt wie es Art der Savannenleute ist, die auch, wenn sie sich in Städten befinden, ihren vorsichtigen, unhörbaren Schritt beizubehalten pflegen, war es ihm, als ob er in diesem Winkel eine Bewegung höre.

Das fiel ihm auf. Ein Liebespaar zu so später Nacht- oder vielmehr Morgenstunde? Das war sehr unwahrscheinlich. Was gab es hier? Er mußte es wissen, es ließ ihm keine Ruhe.

Er trat näher. Sein scharfes, an die Dunkelheit gewöhntes Auge erkannte eine an der Erde liegende Masse, welche sich mühsam hin und her zu bewegen versuchte. Er bückte sich nieder, die Hand am Griff des Messers. Ah! Diese Hand glitt bald vom Messer weg, denn der Mann, welcher hier lag, war nackt, gebunden und geknebelt, und neben ihm lag ein Kleiderbündel.

Der alte Trapper war ein vorsichtiger Mann. Dieser Fremde konnte auch ein böser Mensch sein. Er band ihm also einstweilen nur den Knebel los, ließ ihm aber die Fesseln noch an den Armen und den Beinen. Er wollte erst wissen, wen er vor sich habe.

„He, guter Freund, wer sind Sie denn eigentlich?“ fragte er.

„Mon dieu!“ stöhnte der Gefragte. „Welch ein Glück, daß ich wieder atmen kann!“

„Was geht mich Ihr Atem an? Wer Sie sind, will ich wissen.“

„Ah, ich bin ein französischer Offizier. Kapitän Durand ist mein Name.“

„Das glaube, wer da will!“

„Ich sage die Wahrheit!“

„Läßt sich ein französischer Soldat, Offizier und Kapitän, so leicht überfallen und binden?“

„Ich erhielt ganz unerwartet einen Hieb an den Kopf, der mir die Besinnung raubte.“

„Ja so ist es, wenn man die Besinnung nur im Kopf und nicht auch mit in den Fäusten hat. Sogar ausgezogen hat man Sie! Zu welchem Zweck?“

„Ich weiß es nicht. Bitte, befreien Sie mich doch von den Fesseln!“

„Nur langsam, langsam, mein Junge. Es kommt schon noch die Zeit, in welcher auch die Fesseln fortgenommen werden, und wenn es auch schon in sechs oder acht Wochen sein sollte. Zunächst muß ich wissen, woran ich bin. Hier liegen Kleider.“

„Es sind die meinigen.“

„Ah! Warum geht ein französischer Kapitän nicht in Uniform?“

„Ich bin ja in Uniform gegangen!“

„Oho! Hatten Sie einen Degen?“

„Ja.“

„Epauletten?“

„Ja.“

„Rock und Hose mit Passepoiles?“

„Ja.“

„Ein Käppi oder einen Tschako?“

„Ja.“

„Und hier liegen lange, grobe Stiefel, eine Leinwandhose, eine alte Jacke, ein baumwollenes Halstuch, ein alter Ledergürtel und ein Hut, den man in der Dunkelheit für einen Waschbär oder einen schwarzen Kater halten könnte.“

„Tausend Donner! So sind es nicht meine Kleider.“

„Nicht? Ah! Wem gehören sie denn?“

„Dem, der mich überfallen hat. Er trug so einen dunklen Hut mit breiter Krempe.“

„Schön! Er hat sich also hier ausgezogen und Ihre Uniform angelegt?“

„Wie es scheint!“

„Das glaube der Kuckuck! Diese alte Ecke, in welcher Hunde und Katzen ihre Andenken zurückgelassen haben, wie deutlich zu riechen ist – vielleicht haben auch einige mexikanische Herren und Damen dabei mitgewirkt – ich sage, diese alte Ecke scheint mir ganz und gar nicht die Eigenschaften eines An-, Aus- und Umkleideboudoirs zu besitzen.“

„Ich wiederhole, daß ich die Wahrheit sage.“

„Nun, so erzählen Sie mir einmal, wie das mit dem Überfall zugegangen ist!“

„Ich kam aus einer Tertulia; da begegnete mir ein Mensch, der mich anredete.“

„Was sagte er?“

„Er fragte mich, ob ich Kapitän so und so sei; den Namen habe ich vergessen.“

„Der Ihrige war es nicht?“

„Nein. Ich sagte, daß ich keinen Kapitän dieses Namens kenne, und er antwortete: ‚Ich auch nicht!‘ Dabei war er ganz nahe getreten und versetzte mir einen Schlag an den Kopf, daß ich sofort niederstürzte und die Besinnung verlor.“

„Donnerwetter! Ganz so sind unsere Jagdhiebe beschaffen. So schlagen nur wir Präriejäger zu. Und die Fetzen, welche hier liegen, sehen kann man sie nicht genau, aber sie fühlen sich gerade an wie Präriezeug, so dick und hart, so schön prasselig vor Dreck und Schmutz. Sollte dieser Kerl etwa ein Savannenmann gewesen sein?“

„Ich kann es nicht sagen. Machen Sie mich nur von den Fesseln los.“

Geierschnabel hörte gar nicht auf die letztere Aufforderung. Er war gewöhnt, jeden Umstand mit den anderen in Beziehung zu bringen, und da kam ihm ein Gedanke.

„Donnerwetter!“ sagte er. „Das wäre ja eine ganz und gar verfluchte Geschichte.“

„Was?“

„Wo ist der Überfall geschehen? Etwa in der Nähe des Gefängnisses?“

„Ja, gar nicht weit davon.“

„Da hat man es! Und der da draußen Wache gestanden hat, den haben wir nicht gefangen. Wer aber ist am besten geeignet, Wache zu halten? Ein Präriemann!“

„Ich verstehe ja gar nicht, was Sie sprechen und meinen!“ klagte der noch Gebundene.

„Das ist auch ganz und gar nicht notwendig. Wenn nur ich verstehe, was mich ärgert. Ich habe da einen Gedanken, der mich verrückt machen könnte. Bleiben Sie einmal hübsch still liegen. Ich komme gleich wieder.“

Bei diesen Worten eilte der Jäger davon. Der andere rief ihm nach:

„Aber so lassen Sie mich doch um Gotteswillen nicht so hilflos liegen.“

Aber Geierschnabel hörte gar nicht darauf. Er schritt so rasch davon, als ob es gelte, einen Wettlauf zu machen. Beim Gefängnis angekommen, schellte er. Der Posten fragte:

„Wer ist draußen?“

„Geierschnabel!“

„Kenne ich nicht!“

„Ist auch nicht notwendig. Machen Sie nur auf!“

„Darf ich nicht!“

„Warum nicht?“

„Des Nachts haben nur Beamte Zutritt.“

„Bin doch vorhin auch mit dagewesen!“

„Wann?“

„Als wir die beiden Gefangenen brachten.“

„Ah, da war der Alkalde dabei.“

„Also ich darf nicht hinein?“

„Nein.“

„Auf keinen Fall?“

„Auf keinen Fall!“

„Da schlage doch gleich der leibhaftige Teufel drein. Und dabei darf und kann man nicht einmal durch die Mauer spucken, sonst würde ich mir einmal eine Güte tun! Sind die beiden Gefangenen noch da?“

„Nein.“

„Kreuzdonnerwetter! Da hat man das Malheur! Wo stecken sie denn?“

„Beim Gouverneur.“

„Was wollen sie dort?“

„Weiß nicht.“

„Ein Offizier hat sie geholt?“

„Ja.“

„Ein französischer Kapitän?“

„Ja.“

„Den haben Sie wohl aber hineingelassen?“

„Natürlich!“

„Ja, Spitzbuben läßt man hinein in diese Bude, ehrliche Leute aber nicht. Kerl, der Offizier war ja gar kein Offizier, sondern ein Schwindler und Betrüger. Sie sind so dumm, daß es einen erbarmt. Ihre Dummheit kann mit Scheffeln gemessen und nur nach Meilen berechnet werden. Wenn Ihr Kaiser lauter solche Esel hat, so verdenke ich es ihm freilich nicht, daß er Euch da herüberschickt, denn er weiß sonst gar nicht, wohin mit diesem Viehzeug!“

„Halt“, rief da der Posten, indem er den Schlüssel ansteckte. „Halt, jetzt können Sie eintreten. Kommen Sie herein, lieber Freund!“

„Danke sehr! Weil ich räsoniert habe, darf ich hinein, nicht wahr? Aber natürlich, um arretiert zu werden? Nein, so dumm sind wir nicht wie ihr. Ich danke für das Privatvergnügen! Laß dich für mich einsperren, wenn ihr noch leere Plätze habt. Ich empfehle mich, mein lieber Sohn!“

Als der Posten das Tor erreichte und ihn fassen wollte, war Geierschnabel an der nächsten Ecke. Er kehrte zu dem malträtierten Offizier zurück.

„Kommen Sie endlich wieder?“ wehklagte dieser bereits von weitem.

„Ja“, antwortete er.

„Ich dachte, daß Sie mich ganz und gar verlassen hätten.“

„Unsinn. Ich wollte nur sehen, ob Sie mich belogen haben oder nicht.“

„Nun, was haben Sie erfahren?“

„Sie sind Offizier. Sie haben mir die Wahrheit gesagt.“

„Nun, so befreien Sie mich endlich einmal von den Fesseln.“

„Möchte gern, aber es geht ja nicht.“

„Mein Gott! Warum denn nicht?“

„Weil wir sonst den Kerl nicht fangen!“

„Welchen Kerl?“

„Der Sie überfallen hat.“

„Aber, Monsieur, wir könnten – wenn Sie wissen, wo er ist – ihn ja viel leichter ergreifen, wenn ich nicht gefesselt bin.“

„Nein, Master! Ich weiß ja gar nicht, wo er ist; aber er wird ganz sicher wiederkommen.“

„Wirklich? So müssen Sie mich ja erst recht losmachen.“

„Nein, sondern ich muß Sie erst recht gebunden lassen. Ja, ich muß Ihnen sogar den Knebel wieder anlegen.“

„Gott, warum denn aber?“

„Damit er nicht weiß, daß jemand dagewesen ist. Er muß denken, Sie liegen noch gerade so wie erst, als er Sie herlegte.“

„Das begreife ich nicht.“

„Aber ich! Und das ist mir die Hauptsache. Ich kenne diese Jäger. Ich weiß ganz genau, wie sie sich zu verhalten pflegen.“

„Aber wenn er mich nun noch weiter malträtiert?“

„Das fällt ihm gar nicht ein. Er hat gegen Sie nicht das geringste. Er hat Sie nur deshalb niedergeschlagen, weil er Ihre Uniform gebraucht hat. Sobald er ihrer nicht mehr bedarf, bringt er sie wieder.“

„So holen Sie doch lieber Hilfe herbei. Sie können ihn ja dann ganz leicht abfassen.“

„Ist nicht notwendig. Ich weiß ja noch gar nicht einmal, was ich mit ihm anzufangen habe. Vielleicht werden wir noch die besten Freunde miteinander.“

„Sie und er?“

„Ja.“

„Mit diesem Garotteur? Er muß auf alle Fälle bestraft werden.“

„Das wollen wir uns erst überlegen. Alle Teufel! Horch! Da kommen zwei Leute!“

Er lauschte gespannt in das Gäßchen hinein.

„Nein“, sagte er dann, „es sind nicht zwei, sondern drei. Zwei treten gewöhnlich auf; der dritte aber hat den leisen Savannenschritt. Sie sind es. Schnell das Tuch wieder um den Mund. Stellen Sie sich nur so, als ob Sie noch immer besinnungslos seien, und reden Sie kein Wort, sonst könnte es Ihnen doch noch schlimm ergehen!“

Ehe er es sich versah, hatte der Offizier den Knebel wieder an dem Mund, und dann war der Jäger mit einem raschen Satz über die Mauer. Dort drückte er sich so an dieselbe, daß er auf keinen Fall gesehen werden konnte, aber jedes Wort hören mußte.

Die Schritte nahten und blieben in der Nähe halten. Ein leises Flüstern war zu hören, und dann löste sich eine Gestalt von den dreien. Sie trat näher und bückte sich zu dem Offizier herab.

„Donnerwetter, muß mein Hieb diesesmal ein kräftiger gewesen sein“, sagte der Mann halblaut, sodaß die beiden anderen ihn hören konnten.

„Warum?“ fragte einer.

„Der Kerl ist noch immer besinnungslos!“

„So haben Sie ihn vielleicht gar erschlagen?“

„Nein, Leben hat er noch. Ich werde jetzt seine Uniform ausziehen und wieder herlegen.“

„Und die Fesseln? Die lassen Sie ihm?“

„Nein, ich nehme sie ihm ab. Wenn er erwacht, soll er sich frei entfernen können. Wollen Sie warten?“

„Nein. Wir gehen.“

„Nach dem Hotel?“

„Noch nicht. Wir haben erst noch einen kleinen Weg. Aber in einer halben Stunde sind wir dort und werden auch Sie einlassen.“

„Gut, so werde ich sehen, wie ich meine Zeit bis dahin verbringe.“

Die zwei entfernten sich. Natürlich war es niemand anders, als Cortejo und Landola. Als sie eine Strecke zurückgelegt hatten, meinte der erstere zu dem letzteren:

„Warum belogen Sie ihn?“

„Belogen? Wieso?“

„Indem Sie sagten, daß wir erst noch eine kleine Besorgung haben.“

„Ach so! Erraten Sie das nicht?“

„Nein.“

„Nun, daß wir ihn loswerden.“

„Loswerden? Warum?“

„Er kann uns von jetzt an nur schaden.“

„Inwiefern?“

„Wer mir nichts nützt der schadet mir, und Nutzen hat er uns genug gebracht. Wir wissen von ihm, wohin wir uns zu wenden haben. Am liebsten möchte ich ihm eine Kugel durch den Kopf jagen.“

„Donnerwetter, er hat uns aus der Gefangenschaft befreit.“

„Ja, das ist auch der Grund, daß ich ihn nicht erschieße.“

„Und außerdem ist es Ihr Bruder.“

„Das geht mich ganz und gar nichts an. Ein jeder ist sich selbst der Nächste. Er hat da draußen auf dem Gottesacker die Wächter belauscht. Wer weiß, was er da gehört hat. Wie nun, wenn er erfahren hat, daß ich Landola, sein Bruder bin.“

„Das wäre allerdings schlimm; aber ich bin überzeugt, daß er es nicht weiß.“

„Wieso?“

„Ich habe einen ganz und gar triftigen Grund dazu.“

„Den ich natürlich erfahren darf?“

„Das versteht sich. Er sucht seinen Bruder, um sich an ihm zu rächen. Wüßte er, daß Sie der Gesuchte sind, so hätte er uns nicht aus der Gefangenschaft befreit.“

„Was Sie da sagen, klingt sehr klug und weise, ist es aber leider nicht. Wir waren dem Strafgericht verfallen; mein Stiefbruder wäre also zu gar keiner Rache gekommen. Ein Präriejäger aber, der sich rächen will, der rächt sich persönlich, der überläßt diese Rache keinem anderen. Ich halte es für sehr leicht möglich, daß er uns durchschaut hat, ohne es uns merken zu lassen. Und ebenso wahrscheinlich ist es, daß er uns befreit hat, nur daß wir nun desto sicherer ihm allein verfallen sind.“

„Alle Teufel! Wenn dies wäre!“

„Ich sage, daß dies sehr leicht möglich ist.“

„So müssen wir uns allerdings von ihm trennen. Aber wie?“

„Er sieht uns ja nicht wieder.“

„Er kommt doch ins Hotel.“

„Da sind wir fort.“

„Ah! Sie meinen, daß wir ein anderes Hotel beziehen?“

„Fällt mir gar nicht ein! Wir verlassen augenblicklich die Stadt.“

„Das geht nicht.“

„Warum nicht.“

„Wir sind ja mit unserer Aufgabe noch gar nicht zu Ende.“

„Sie ist gescheitert und gar nicht mehr zu lösen. Übrigens kann uns der Überfall auf den Offizier viel Schaden machen, und außerdem haben wir als entflohene Gefangene hier keinen sicheren Aufenthalt.“

„Das ist wahr. Also fort.“

„Und zwar sogleich. Aber mein Bruder darf es nicht ahnen. Wir kehren nach dem Hotel zurück, schleichen uns hinein und stehlen uns nur mit dem Notwendigsten fort. Sieht er, daß unsere Pferde und Effekten noch da sind, so wird er glauben, wir kehren zurück, und tagelang warten.“

„Dann wird er doch nach Santa Jaga kommen und uns finden.“

„Nein, denn wir werden dort bereits zu Ende sein.“

„Wie aber kommen wir hin? Laufen können wir doch nicht.“

„Nein. Wir reiten.“

„Woher Pferde nehmen, wenn wir die unserigen zurücklassen?“

„Kaufen. Jeder Pferdehändler hilft uns aus, sogar in der Nacht.“

„Wissen Sie einen?“

„Ich sah heute das Schild eines solchen gar nicht weit von unserem Hotel. An ihn können wir uns ja wenden.“

„Leihen wäre wohl ebenso gut!“

„Nein, denn da müßten wir sagen, wohin wir wollen. Sind aber die Pferde unser Eigentum, so brauchen wir keinem Menschen über unser Ziel Aufschluß zu geben.“

„Das ist richtig. Beeilen wir uns also, damit wir bereits fort sind, wenn Ihr Bruder zurückkehrt.“

Als sie ihren Gasthof erreichten, stiegen sie über die Hofmauer und gelangten unbemerkt auf ihr Zimmer. Dort nahmen sie, wie besprochen worden war, nur das Allernötigste mit und kehrten auf demselben Weg nach der Straße zurück.

Nach einigem Klopfen gelang es ihnen, den Pferdehändler aus dem Schlaf zu wecken. Sie sagten, daß sie auf Mietpferden aus Querétaro kämen und da sie augenblicklich nach Puebla müßten, so seien sie gezwungen, sich noch während dieser Nacht und in aller Eile Pferde zu kaufen.

Der Mann führte sie in den Stall und zeigte die Pferde. Sie wurden schnell handelseinig und nahmen für jedes Tier auch einen Sattel, da sie, um Grandeprise zu täuschen, auch die ihrigen im Hotel zurückgelassen hatten.

Unterdessen war der Jäger zu dem scheinbar noch ohnmächtigen Offizier getreten und hatte die Uniform ausgezogen und den Degen abgelegt. Anstelle dieser Sachen zog er seine eigenen Kleidungsstücke wieder an; dann entfernte er sich, nachdem er dem regungslos daliegenden noch den Knebel und die Fesseln abgenommen hatte.

Jetzt war Geierschnabels Zeit gekommen. Er schwang sich wieder über die Mauer herüber und schritt, ohne sich weiter um den Offizier, um den er ja nun unbesorgt zu sein brauchte, zu bekümmern, dem sich Entfernenden nach. Dabei befolgte er die Klugheit, seine Stiefel auszuziehen, sodaß es nun ganz unmöglich war, daß seine Schritte gehört werden konnten.

Er folgt seinem Vordermann langsam, so wie dieser ging, durch mehrere Straßen, bis dieser, als ungefähr eine halbe Stunde verflossen war, sein Hotel erreichte. Dort blieb Grandeprise eine ganze Weile stehen; als ihm aber das Warten zu lange dauerte, stieg er über den Zaun, um durch den Hof nach seinem Gelaß zu gelangen.

Geierschnabel schritt sinnend eine kleine Strecke weiter. Es war jetzt die Nacht sehr vorgeschritten, und über den Anhöhen des Ostens begann sich ein falbes Licht auszubreiten.

Da wurde in kurzer Entfernung ein Tor geöffnet, aus welchem zwei Reiter hervorkamen. Am Tor stand ein Mann.

„A Dios, Señores!“ grüßte er. „Glückliche Reise!“

„A Dios“, antwortete einer von den zweien. „Der Handel, den Sie gemacht haben, ist nicht schlecht zu nennen.“

Sie ritten davon, und der Mann verschwand hinter dem Tor. Geierschnabel blickte den Reitern nach, oder vielmehr, er horchte ihnen nach, denn von ihren Gestalten waren nicht einmal die Umrisse deutlich zu erkennen gewesen.

„Bei Gott“, murmelte er. „Die Stimme des Reiters war ganz genau diejenige, welche dort bei dem gefesselten Offizier mit dem famosen Jäger gesprochen hat. Aber das muß eine Täuschung sein, da diese Reiter eine Reise antreten, während Cortejo und Landola nach ihrem Hotel zurückgekehrt sind.“

Er schritt sinnend eine kleine Strecke weiter, dann blieb er wieder überlegend stehen.

„Der Teufel traue sich, und noch weniger anderen!“ brummte er. „In dieser schlechten Welt, in der es keinen guten Menschen gibt, wird der beste Mensch von den anderen betrogen. Diese beiden Spitzbuben sind so fein und schlau, daß selbst ein Geierschnabel sich gratulieren kann, wenn es ihm gelingt, sie ein einziges Mal zu überlisten. Das sicherste ist doch das Beste. Ich werde mich doch erkundigen, obgleich in diesem Wigwam, was sie hier Hotel oder Gasthaus nennen, noch keine Menschenseele wach sein wird.“

Er kehrte nach dem Hotel zurück. Seit der Anwesenheit der Franzosen hatten alle diese Häuser, wo früher fest an den alten Gebräuchen gehalten wurde, sich den europäischen Sitten anbequemt. Es waren da Kellner, Kellnerinnen und Hausknechte zu finden. Ein Geist von der letzteren Sorte erschien, als Geierschnabel die Glocke zum drittenmal in Bewegung gesetzt hatte. Er machte ein höchst schläfriges und verdrießliches Gesicht und fragte:

„Wer klingelt denn mitten in der Nacht?“

„Ich“, antwortete Geierschnabel gelassen.

„Das merke ich. Aber was sind Sie denn?“

„Ein Fremder.“

„Auch das merke ich. Und was wollen Sie?“

„Mit Ihnen sprechen.“

„Sogar dieses bemerke ich. Aber ich habe keine Zeit. Gute Nacht.“

Er wollte die Tür schließen; aber Geierschnabel war vorsichtig und rasch genug, ihn daran zu verhindern. Er ergriff ihn beim Arm und fragte, obgleich der Hausknecht noch viel älter schien, als er selbst:

„Mein lieber Sohn, warte noch einen Augenblick. Weißt du, was ein Frank ist?“

Der Mann war über diese Frage ganz verblüfft.

„Ja“, antwortete er.

„Nun, was?“

„Ein französisches Geldstück, welches den fünften Teil eines Duro oder Dollar wert ist.“

„Schön, mein Sohn. Und weißt du auch, was ein Duro oder Dollar ist?“

„Fünfmal so viel als ein Frank!“

„Siehe, du weißt das ganz genau. So ein Duro und noch fünf Franks, also zwei Dollars oder zehn Franks gebe ich dir, wenn du deinen lieblichen Mund öffnen willst, um mir einige kleine Fragen zu beantworten.“

Das war dem Mann noch selten vorgekommen. Er starrte den splendiden Fremden an und fragte:

„Ist das wahr, Señor?“

„Ja. Und außerdem will ich dich Sie nennen, während ich Sie bisher du genannt habe.“

„So geben Sie zuerst das Geld!“

„Nein, nein, mein Sohn. Erst mußt du mir sagen, ob Sie mir antworten wollen, dann werden Sie sehen, daß du das Geld sogleich und ehrlich ausgezahlt bekommst.“

„Gut. Ich werde antworten.“

„Das freut mich. Hier haben Sie zehn Franks.“

Er griff in die Tasche, zog seinen Lederbeutel und drückte ihm ein Goldstück von dem angegebenen Wert in die Hand.

„Señor“, meinte der Hausknecht, „ich danke Ihnen. Unsereiner braucht seinen Schlaf sehr notwendig, aber für so ein Trinkgeld stehe ich zu jeder Zeit auf. Fragen Sie!“

„Es ist nicht viel, was ich zu fragen habe. Logieren heute viele Fremde hier?“

„Nicht sehr viele. Zehn oder elf.“

„Sind drei dabei, welche zusammengehören?“

„Nein, wenigstens glaube ich es nicht. Alle wohnen einzeln, außer zweien, welche ein Zimmer zusammen genommen haben.“

„Kennen Sie die Namen dieser Señores?“

„Der eine ist Don Antonio Veridante und der andere sein Sekretär.“

„Ein dritter ist nicht dabei?“

„Ein dritter kam mit ihnen, wohnt aber nicht bei ihnen.“

„Wie heißt er?“

„Ich weiß es nicht.“

„Was ist er?“

„Auch das weiß ich nicht. Er geht sehr einfach gekleidet, fast wie ein armer Vaquero oder Jäger.“

„Sind diese drei Personen am Abend ausgegangen?“

„Sie sind seit Einbruch der Nacht fort.“

„Aber sie sind wiedergekommen?“

„Ich habe nichts gemerkt.“

„Ich habe einige vertrauliche Worte mit diesem Jäger oder Vaquero zu sprechen. Wird dies möglich sein?“

„Werden Sie es verantworten, wenn ich ihn wecke, falls er überhaupt daheim ist?“

„Er ist daheim. Und verantworten werde ich es. Gibt es einen Raum, in welchem wir sein können, ohne belauscht zu werden?“

„Er schläft nur in einer Hängematte und kann Sie also bei sich empfangen, wenn er will. Soll ich ihm einen Namen nennen?“

„Ja. Sagen Sie ihm, Don Velasquo d'Alcantaro y Perfedo de Rianza y Hallendi de Salvado y Caranna de Vesta-Vista-Vusta wünscht ihn zu sprechen.“

Geierschnabel sagte diesen Namen in einem so adelsstolzen Ton, daß der dienstbare Geist gar nicht daran zweifelte, daß der Sprecher berechtigt sei, ihn zu tragen. Nur fiel es dem Hausknecht gar nicht leicht, diese Worte mit einem Mal zu behalten. Er bat daher:

„Wollen Sie mir den Namen nicht noch einmal nennen, Don Velasquo? Wir sind auf so vornehme Señores noch nicht eingerichtet.“

„Noch nicht eingerichtet? Mit dem Gedächtnis? Gut. Wenn ich hier verkehre, wird diese Schwäche weichen. Ich bin Don Velasquo d'Alcantaro y Perfedo de Rianza y Hallendi de Salvado y Caranna de Vesta-Vista-Vusta.“

„Schön. Jetzt weiß ich es sehr genau. Entschuldigen Sie, daß ich Sie an der Tür warten lasse, aber in dem Zimmer schlafen die Maultiertreiber auf der Diele.“

„Tut nichts. Ich will weder die Treiber noch die Diele in ihrer Ruhe stören.“

Der Hausknecht ging. Vom Hof aus führte eine Holztreppe nach den Räumen empor, welche hier mit der Bezeichnung Fremdenzimmer beehrt wurden. Der Mann klopfte leise an eine der Türen. Grandeprise war erst vor wenigen Minuten nach Hause gekommen und schlief noch nicht. Er lag angekleidet in der Matte.

„Wer ist's?“ fragte er, erstaunt über dieses Klopfen.

„Der Hausmeister. Darf ich einmal hereinkommen?“

„Ja.“

„Mit dem Licht?“

„Immerhin.“

Die Tür öffnete sich leise, damit kein anderer Gast geweckt werde, und der Mann trat ein.

„Was gibt es denn?“ fragte der Jäger erstaunt, befremdet und besorgt zu gleicher Zeit.

„Señor, es ist ein Fremder unten, der Sie zu sprechen wünscht.“

„Wer?“

„Ein hoher Herr von Adel. Es ist ein Don – Don – Don Alcanto de Velasquo y Riseda de Percantara y Hallmanza de Rillendo y Carvado de Salranna y Vesta de Vista y Vusta.“

Der Jäger schüttelte den Kopf.

„Was will er?“

„Er redete von einer freundschaftlichen Besprechung.“

„Ist er von hier?“

„Nein, jedenfalls nicht.“

Das beruhigte ihn; aber dennoch fragte er noch:

„Woher weiß dieser Don, daß ich hier wohne?“

„Er muß Sie kennen, denn als ich sagte, daß Sie wie ein Vaquero oder Jäger gekleidet seien, da schickte er mich herauf.“

„Nun, da bin ich neugierig. Er mag kommen!“

Er brannte sich, als der Hausknecht sich entfernt hatte, sein Licht an und blickte nach dem Revolver, ob dieser auch in Schuß sei. Nach dem, was heute vorgekommen war, mußte er immerhin auf eine nicht sehr angenehme Überraschung vorbereitet sein.

Da trat der Fremde ein und zog die Tür hinter sich zu, deren Riegel er obendrein vorsichtig vorschob. Die beiden blickten einander ganz erstaunt an. Das hatte keiner von ihnen erwartet.

„Alle Teufel!“ rief der eine.

„Alle Wetter!“ der andere.

„Geierschnabel!“

„Ihr hier?“

„Wie kommt Ihr hierher nach Mexiko?“

„Nein, wie kommt Ihr her?“

„Ich sah Euch doch bei Juarez!“

„Und ich sah Euch nach dem Rio del Norte gehen. Euer Gesicht kenne ich, aber Euren Namen noch nicht.“

„Grandeprise.“

„Grandeprise? Der dort drüben am Ufer von Texas haust?“

„Ja.“

„Ah, Euer Name hat, so viel Euch betrifft, einen guten Klang, aber es ist auch etwas Widerwärtiges dabei.“

„Wieso?“

„Es gibt einen großen Schuft, der ebenso heißt.“

„Ah! Kennt Ihr ihn?“

„Sehr gut sogar“, nickte Geierschnabel.

„Persönlich?“

„Persönlich und par Renommee.“

„Ist das möglich? Hört, ich suche diesen Kerl schon seit langer Zeit!“

Geierschnabel blickte ihn befremdet an.

„Ihr sucht ihn?“ fragte er.

„Ja.“

„Hm. Hm. Und Ihr habt ihn noch nicht gefunden?“

„Leider nicht.“

„So. Hm, hm. Ich denke, ein Jäger muß doch Augen haben!“

„Hoffentlich habe ich welche!“

„Ja, aber ob sie sehen gelernt haben!“

„Ich bin überzeugt davon.“

„Ich nicht. Ich bezweifle es sogar sehr!“

Die Miene Grandeprises verfinsterte sich.

„Soll ich etwa annehmen, daß Ihr mich beleidigen wollt?“ fragte er.

„Nein. Aber setzt Euch doch einmal in Eure Hängematte und erlaubt mir, mich da dieses Stuhles zu bedienen. Dann werde ich Euch etwas sagen, was wir näher zu besprechen haben werden.“

„Setzt Euch. Was ist's, das Ihr mir zu sagen habt?“

Geierschnabel setzte sich auf den Stuhl, spuckte sein Priemchen mit einem dicken Saftstrahl über die ganze Stube, biß sich ein neues, gewaltiges Stück Kautabak ab, und erst dann, als dieses in der Backe den gehörigen Platz gefunden hatte, sagte er:

„Ich will Euch in aller Freundschaft bemerken, daß Ihr entweder ein ungeheurer Schurke oder ein ganz bedauerlicher Schwachkopf seid!“

Da glitt der andere blitzschnell aus der Hängematte, zog den Revolver, postierte sich vor den Sprecher und drohte:

„Hölle und Teufel! Wißt Ihr, wie man auf ein solches Wort zu antworten pflegt?“

Geierschnabel nickte phlegmatisch mit dem Kopf und meinte:

„Unter Jägern mit dem Messer oder mit der Kugel, falls die Sache nicht zu beweisen ist.“

„Ich hoffe aber nicht, daß Ihr es beweisen könnt, Master!“

„Pah! Regt Euch nur nicht auf! Was Geierschnabel einmal sagt, das hat er auch durchdacht und überlegt, und das pflegt er auch zu beweisen. Steckt Eure Drehpistole ein und hört mich an. Habe ich Unrecht, so bin ich dabei, wenn wir uns die Hälse brechen wollen.“

Der andere behielt den Revolver in der Hand, ließ sich aber finsteren Blickes in die Hängematte zurückgleiten und sagte:

„So redet! Aber nehmt Euch in acht! Ein Wort zuviel und meine Kugel sitzt Euch im Kopf!“

„Oder Euch die meine!“ lachte Geierschnabel. „Ihr behauptet, mich zu kennen, und täuscht Euch da doch gewaltig. Meine Kugel hätte heute schon einige Male Zeit und Gelegenheit, vielleicht auch Veranlassung gehabt, Euch im Kopf zu sitzen.“

„Wieso?“

„Das ist Nebensache. Zunächst habe ich Euch zu beweisen, daß Ihr entweder ein Bösewicht oder ein Schwachkopf seid.“

„Ich werde auf diesen Beweis vergebens warten.“

„Ihr werdet ihn sofort erhalten. Antwortet mir einmal aufrichtig. Ihr wart in Vera Cruz?“

„Ja.“

„Dort lerntet Ihr zwei Männer kennen? Einen Don Antonio Veridante und seinen Sekretär?“

„Ja.“

„Ihr kamt mit ihnen gestern nach Mexiko und machtet am Abend draußen auf dem Friedhof die Wache, als diese beiden Männer eine Leichenschändung und einen Betrug vornahmen.“

Grandeprise blickte ganz erstaunt auf.

„Wie kommt Ihr zu dieser Frage?“ meinte er.

„Beantwortet sie!“

„Ja, ich hatte die Wache; aber es ist dabei weder von einer Schändung noch von einem Betrug die Rede.“

„Davon seid Ihr überzeugt?“

„Ich schwöre tausend Eide darauf!“ beteuerte Grandeprise.

„Nun, ich will Euch glauben. Aber damit beweist Ihr, daß Ihr zwar kein Schurke, aber dafür ein gewaltiger Schwachkopf seid.“

Der andere wollte abermals aufbrausen, aber Geierschnabel fiel ihm schnell in die Rede:

„Seid ruhig! Ich bringe Beweise. Eure beiden Begleiter wurden gefangengenommen? Nicht wahr?“

„Leider ja.“

„Um sie zu befreien, schlugt Ihr einen Offizier nieder und holtet die Kerls heraus?“

Da erschrak Grandeprise.

„Alle Wetter!“ meinte er. „Woher wißt Ihr das?“

„Sagt erst, ob es die Wahrheit ist oder nicht.“

„Ich kann es nicht leugnen. Es war ein wohl gelungener Trapperstreich, auf den ich stolz sein kann, und ich hoffe, daß Ihr als Kamerad mich nicht verraten werdet!“

„Ich bin kein Verräter. Ich hätte Euch längst verraten können, und beneide Euch keineswegs um diesen Streich, den Ihr einen wohlgelungenen Trapperstreich nennt. Das war er nicht; aber wißt Ihr, was er im Gegenteil war?“

„Nun?“

„Ein recht dummer Jungenstreich!“

„Master Geierschnabel –“, brauste Grandeprise auf.

„Ruhig, ruhig“, antwortete der Genannte. „Ich werde Euch auch das beweisen. Vorher aber sagt mir doch einmal, woher Ihr eigentlich jenen Schurken Grandeprise kennt?“

„Warum fragt Ihr?“

„Weil ich weiß, daß ich Euch dienlich und behilflich sein kann.“

Grandeprise blickte ihm forschend in das Gesicht und sagte dann:

„Alle Welt weiß, daß Geierschnabel ein ehrlicher Kerl und ein tüchtiger Westmann ist. Vor so einem muß man Respekt haben, und darum will ich es ruhig hinnehmen, daß Ihr so mit mir redet, wie ein anderer es niemals wagen dürfte. Ich will Euch sagen, daß dieser Seeräuber Grandeprise mein ärgster Feind ist, und daß ich ihn bereits seit langen Jahren suche, um endlich einmal Abrechnung mit ihm zu halten.“

„So, so“, lachte Geierschnabel. „Das ist lustig. Ihr sucht den Kerl und habt ihn doch. Und nachdem ich mir mit anderen die größte Mühe gegeben habe, ihn aufzufinden und festzusetzen, da holt Ihr ihn wieder heraus und laßt ihn entlaufen!“

Grandeprise wußte nicht, was er sagen und denken sollte.

„Ich verstehe Euch nicht“, meinte er.

„Das glaube ich. Wer so einen dummen Jungenstreich verübt hat, der pflegt dann die klügeren Leute nicht zu verstehen. Ich muß Mitleid haben und Euch das Verständnis erleichtern. Ist Euch der Name Cortejo bekannt?“

„Ja“, antwortete der Gefragte sehr kurz.

„Es gibt einen Cortejo in Mexiko und einen Cortejo drüben im Mutterland. Beide sind die größten Schufte auf der Erde, und sie haben sich den allergrößten engagiert, um ihre Schlechtigkeiten auszuführen.“

„Wer ist das?“

„Landola, den Ihr Grandeprise nennt.“

„Ah! Ihr kennt auch diesen ersteren Namen?“

„Sehr gut sogar. Ist Euch der Name Rodriganda bekannt?“

„Ja. Es gibt ein Grafengeschlecht dieses Namens.“

„Dieses Geschlecht ist sehr reich. Es waren zwei Brüder da, bei denen die beiden Cortejos als Verwalter angestellt waren. Diese letzteren wollten den Reichtum an sich bringen. Den einen Grafen machten sie wahnsinnig und den anderen scheintot. Als er begraben war, gruben sie ihn aus, weckten ihn auf und ließen ihn durch Landola in die Sklaverei verkaufen. Der eine Cortejo hatte einen Sohn, dieser wurde gegen einen Sohn des Rodriganda ausgewechselt, und so kam die Grafschaft in die Hände der Cortejos. Bei dieser Geschichte spielt nun allerlei Mord und Totschlag nebenbei. Personen, die im Wege standen, wurden beseitigt, eine Reihe Personen setzte Landola auf eine wüste Insel aus, wo sie fast zwanzig Jahre lang im Elend schmachteten. Das ist zuviel, da muß der liebe Gott einmal mit Keulen dreinschlagen, und so haben sich einige Kerls, zu denen auch ich gehöre, zusammengetan, um diesen Menschen das Handwerk zu legen.“

Als Geierschnabel eine Pause machte, fiel Grandeprise ein:

„Landola ist ein Schurke ersten Ranges. Aber was Ihr von den Cortejos sagt, ist wohl übertrieben.“

„Wort für Wort wahr! Ich werde es Euch erzählen.“

Er gab dem irre geleiteten Jäger eine gedrängte, aber vollständige Darstellung alles dessen, was er selbst wußte. Grandeprise hörte mit immer mehr wachsendem Erstaunen zu. Als der Erzähler geendet hatte, rief er:

„Herrgott! Und diesen Cortejo habe ich gerettet!“

„Ihr?“ fragte Geierschnabel überrascht.

„Ja. O, nun wird mir alles klar. Ohne mich wäre er blind gewesen und verschmachtet.“

„Sackerment! Das müßt Ihr erzählen.“

„Ich werde es tun, obgleich ich mich dabei gewaltig blamiere. Ich fange an, zu glauben, daß ich dumm gehandelt habe.“

„O, noch zehnmal dümmer, als Ihr vielleicht ahnt. Aber erzählt. Dadurch kommt nun endlich Licht in diese noch dunkle Sache.“

Grandeprise berichtete alles von dem Augenblick an, wo er Pablo Cortejo am Rio Grande getroffen hatte, bis zu den Ereignissen des gegenwärtigen Tages. Geierschnabel hörte mit größter Spannung zu, dann sagte er:

„Hört, Master, es gibt doch noch einen Gott im Himmel. Dieser ist es, der mir den Gedanken eingegeben hat, Euch hier aufzusuchen; denn nun weiß ich, wo wir die spurlos Verschwundenen aufzusuchen haben. Aber nun wir gegenseitig alles wissen, sollt Ihr auch das erfahren, was Ihr noch nicht wißt, und damit will ich beweisen, daß Ihr wie ein Schwachkopf gehandelt und einen dummen Jungenstreich begangen habt. Wißt Ihr denn, wer dieser Advokat Don Antonio Veridante eigentlich ist?“

„Nun?“

„Gasparino Cortejo!“

„Unmöglich!“

„Freilich! Er sucht seinen Bruder. Heute Abend wollte er eine Leiche in den leeren Sarg des noch lebenden Grafen Ferdinande legen. Wir erwischten ihn. Ihr aber habt ihn wieder befreit.“

„Ich wiederhole es: das ist unmöglich!“

„Pah! In diesem Fall wird Euch das andere noch viel unmöglicher erscheinen.“

„Was?“

„Wißt Ihr denn, wer dieser Sekretär dieses Veridante, des Gasparino Cortejo eigentlich war?“

„Nicht wirklich sein Sekretär?“

„O nein. Ratet es einmal!“

„Ich rate es nicht.“

„Nun, dieser Sekretär ist kein anderer als der, den Ihr so vergeblich gesucht habt, nämlich Henrico Landola, der Seeräuberkapitän Grandeprise.“

Der Jäger stand wie erstarrt da. Er war bereits vorher von der Hängematte aufgesprungen und bot nun mit seinen ausgestreckten Armen, seinem offenen Mund und seinen weit aufgerissenen Augen ein Bild des verkörperten Erstaunens, des Fleisch gewordenen Entsetzens dar.

„Der – –?“ rief er endlich. „Der – der soll Henrico Landola gewesen sein?“

„Ja. Er hat Euch betrogen, getäuscht und ausgelacht, und Ihr habt ihm vertraut, habt ihm alles aufs Wort geglaubt; Ihr seid der Mitschuldige ihres Verbrechens geworden. Und zuletzt, als wir diesen Menschen, der eigentlich ein Teufel ist, festgenommen hatten, da habt Ihr Freiheit, Ehre, Reputation und selbst das Leben darangesetzt, um ihn zu befreien, sodaß diese Schlange nun wieder stechen und töten kann wie vorher. Ist das nicht ein dummer Jungenstreich, der gar nicht zu begreifen ist?“

Grandeprise holte tief und gepreßt Atem und sagte dann:

„Wenn alles möglich ist, so doch dieses nicht. Ich werde doch meinen Stiefbruder kennen.“

„Ah! Er ist noch dazu ein so naher Verwandter von Euch?“

„Ja. Diese Verwandtschaft war und ist der Fluch meines Lebens.“

„Nun, so sind Eure Augen erst recht nicht zu begreifen.“

„Und ich sage doch, er ist es nicht!“

„Pah! Sie beide, Cortejo und er, haben es mir unten in der Gruft selbst gestanden, daß sie es sind!“

„Wirklich? Gewiß und wahrhaftig?“

„Bei Gott und allen Heiligen! Habt Ihr denn gar nicht bemerkt, daß beide sich die Gesichter mit Kleister oder irgend einem ähnlichen Mittel beschmiert und so verändert hatten, daß allerdings ein sehr scharfes Auge dazu gehört hätte, hinter diese Schminke zu blicken?“

Da endlich fiel es Grandeprise wie Schuppen von den Augen.

„Mein Gott“, rief er, „ja, das muß es gewesen sein. So oft ich die Stimme dieses Sekretärs hörte, war es mir, als ob sie mir bekannt sei. Sie stieß mich von ihm ab. O, ich Esel aller Esel! Meine Dummheit ist geradezu grenzenlos gewesen. Geierschnabel, Ihr habt noch viel zu wenig gesagt, als Ihr mich einen Schwachkopf nanntet. Ich gebe Euch die Erlaubnis, noch ganz andere Worte zu gebrauchen.“

„Na, na“, lachte der andere gutmütig. „Ich könnte zwar Worte suchen wie Ochse, Rhinozeros und so weiter, aber ich will das lieber unterlassen. Sobald einer seine Fehler bekennt, hat er schon begonnen, ein gescheiter Mann zu sein.“

„Aber die Folgen“, rief Grandeprise.

„Welche Folgen?“

„Daß ich bei dieser Leichengeschichte Wache gestanden habe, daß ich mich an einem Offizier vergriffen und die Gefangenen befreit habe! Wie habt Ihr das denn herausbekommen?“

Geierschnabel erzählte ihm auch das.

„Nein, wie dumm von mir“, meinte Grandeprise. „Und ich glaubte wirklich, daß dieser Offizier während der ganzen Zeit besinnungslos dagelegen habe. Wißt Ihr denn, daß Ihr mich anzeigen müßt?“

„Wenn wir streng nach dem Gesetz gehen, so habt Ihr allerdings sehr recht. Hm! Hm!“

„Werdet Ihr es tun?“

„Es ist das freilich eine verwickelte Geschichte. Aber Ihr seid Jäger wie ich und sonst ein braver Kerl. Wir sind Kameraden und in der Savanne haben wir unsere eigenen Regeln und Gebräuche. Was kümmern uns die Gesetze anderer. Sodann müssen wir noch zweierlei bedenken. Erstens wird es nicht anders und besser, wenn ich Euch anzeige; denn die beiden Geflohenen bekommen wir doch nicht zurück. Und zweitens ist es ein Glück, das Ihr mir in die Hand gelaufen seid. Es ist dadurch Licht in unsere Angelegenheit gekommen, und wir haben den Ort kennengelernt, an welchem wir die Cortejos und den Landola zu suchen haben.“

„Wo?“

„Im Kloster della Barbara zu Santa Jaga.“

Da klärte sich plötzlich das Gesicht Grandeprises auf.

„Ihr irrt!“ sagte er. „Wir haben sie viel näher. Ihr glaubt nicht, wie leicht wir sie haben können.“

Geierschnabel ließ ein fast mitleidiges Lächeln sehen und sagte:

„Da habt Ihr sehr recht; ich glaube es allerdings nicht!“

„Und doch sollt Ihr in kurzem überzeugt sein.“

„Wohl nicht! Ihr meint, daß Landola und Gasparino Cortejo sich hier im Hotel befinden?“

„Woher wißt Ihr das?“

„O, als ich hinter der Mauer stand, hörte ich ja, daß Sie Euch versprachen, nach Verlauf einer halben Stunde hier zu sein.“

„Sie sind auch hier!“

„Habt Ihr sie gesehen?“

„Das allerdings nicht.“

„Nun seht! Sie wollten Euch hier einlassen; aber Ihr habt über die Mauer steigen müssen.“

„Ah! Auch das habt Ihr beobachtet?“

„Ja. Ihr seht hieraus, daß der Geierschnabel dem Grandeprise doch wohl etwas überlegen ist, obgleich man seine alte Posaune für eine Höllenmaschine gehalten hat, hahaha! Könnt Ihr in das Zimmer kommen?“

„Zu jeder Minute.“

„Gut, wollen sofort nachsehen!“

„Wir werden sie wecken; und dann sollen sie mir alles bezahlen, was ich bisher bezahlen mußte!“

„Unsinn! Wir werden sie nicht wecken, denn sie werden gar nicht da sein.“

„So kommen sie noch!“

„Hm! Ich habe so meine Ahnung und glaube nicht, daß sie mich täuschen wird. Kommt, wollen sehen!“

Sie nahmen das Licht zur Hand und schlichen sich leise, um niemand zu wecken, nach dem betreffenden Zimmer. Dasselbe war nicht verschlossen. Sie konnten ungehindert eintreten. Geierschnabel hatte recht. Die Gesuchten waren nicht da.

„Sie werden aber doch zurückkehren“, behauptete Grandeprise.

„Meint Ihr? Da wären sie dumm genug. Mit Tagesanbruch wird man in der ganzen Stadt die Geschichte von dem falschen Offizier und den entkommenen Gefangenen wissen. Dann beginnen die Nachforschungen, und diese zwei Menschen sind klug genug, sich nicht solange herzusetzen, bis sie ergriffen werden. Sie sind bereits fort.“

„Und mich hätten sie hier gelassen?“

„Warum nicht? Soll ich Euch das beweisen?“

„Wie wolltet Ihr das anfangen?“

„Sehr einfach. Schaut einmal her.“

Er hatte mit dem Licht auf die Diele niedergeleuchtet und gesucht. Er hob etwas auf, was er Grandeprise hinhielt.

„Was ist das?“

„Straßenkot“, antwortete der Gefragte.

„Fühlt ihn an! Wie findet Ihr ihn?“

„Donnerwetter! Er ist allerdings noch naß und weich.“

„Wann haben die Kerls diese Stube verlassen, ehe sie nach dem Gottesacker gingen?“

„Bei Anbruch des Abends.“

„Nun, von da her kann der Kot nicht stammen, denn da wäre er hart und trocken geworden. Das, was wir sehen, ist vor kaum dreiviertel Stunden von dem Stiefel abgetreten, worden. Sie sind also dagewesen.“

„So haben sie mich abermals betrogen!“

„Ich bin überzeugt davon!“

„Ah, ich weiß ein sicheres Mittel, um zu sehen, ob sie nach ihrer Befreiung aus dem Kerker hier gewesen sind.“

„Welches?“

„Sie legten ihre Uhren ab, als sie nach dem Kirchhof gingen. Sie wollten sie nicht beschädigen. Hinter dem Spiegel müßten sie noch stecken.“

Er ging hin und sah nach.

„Fort!“ sagte er.

„Seht Ihr's! Während der halben Stunde, die sie Euch Zeit gaben, haben sie sich aus dem Staub gemacht. Sie haben Euch los sein wollen.“

„Donnerwetter! Das wird ihnen aber doch nicht gelingen! Sie sind gewiß nach Santa Jaga, und dort werden wir sie erreichen. Wenigstens darin werde ich mich nicht täuschen.“

„Da will ich Euch nicht Unrecht geben. Aber hört meinen Rat: Die Polizei wird sehr rasch ausfindig machen, daß die Flüchtlinge hier gewohnt haben. Seid Ihr dann noch da, so ist es um Euch geschehen.“

„Ihr habt recht. Ich gehe fort. Aber wohin?“

„Natürlich mit mir. Ihr müßt unbedingt dem Herrn Leutnant alles erzählen. Euer Gepäck ist nicht groß, und das Pferd laßt Ihr da.“

„Es ist mein Eigentum.“

„Gut, so nehmt es mit. Der Hausknecht ist da. Bezahlt ihm Eure Zeche, so seid Ihr fertig. Meine Anwesenheit ist ein guter Vorwand, Euer Entfernen zu rechtfertigen.“

Das geschah. Nach zehn Minuten ritt Grandeprise zum Tor hinaus, und Geierschnabel ging neben ihm. Als sie bei dem Pferdevermieter vorbeikamen, stand dieser vor der Tür. Er schien, seit man ihn geweckt hatte, nicht wieder zur Ruhe gegangen zu sein. Geierschnabel benutzte diese Gelegenheit und blieb bei ihm stehen. Er grüßte höflich und erkundigte sich:

„Habt Ihr viele Pferde im Stall, Señor?“

„Heute nur drei“, lautete die Antwort.

„Verkauft Ihr zufälligerweise eins davon?“

„Verleihen ja, aber verkaufen nicht. Ich brauche sie selbst. Die zwei letzten, welche ich nicht behalten konnte, habe ich heute Nacht verkauft.“

„An wen?“

„An zwei Freunde, die ich nicht kannte.“

„Woher kamen sie?“

„Aus Querétaro.“

„Und wohin wollten sie?“

„Nach La Puebla.“

Geierschnabel ließ sich ihr Äußeres beschreiben und bekam die Überzeugung, daß es wirklich Cortejo und Landola gewesen seien.

Als er mit Grandeprise in seinen Gasthof kam, ließ er Kurt wecken. Dieser staunte sehr, als er erfuhr, was sich während seines Schlafes zugetragen hatte. Erst erzählte Geierschnabel, und dann kam die Reihe an Grandeprise, welcher seine Fehler eingestand, ohne sie beschönigen zu wollen.

Sofort wurde beschlossen, den Flüchtlingen nachzureiten. Kurt hatte erst mit Herrn von Magnus und dem Alkalden zu sprechen. Er konnte also nicht augenblicklich fort. Es verstand sich von selbst, daß bei den genannten Herren die Beteiligung Grandeprises an den gestrigen Ereignissen mit Schweigen übergangen werden sollte. Um seiner Sicherheit willen mußte er sofort aufbrechen. Geierschnabel ritt mit ihm. Es wurde ausgemacht, daß beide in Tula warten sollten, bis Kurt mit Peters zu ihnen gestoßen sei.

Daß Cortejo und Landola beim Pferdeverleiher angegeben hatten, sie kämen aus Querétaro und wollten nach La Puebla, also umgekehrt ihrer eigentlichen Richtung, das konnte niemand irre machen. Sie hatten gewußt, daß man sich nach ihnen erkundigen werde, und waren beflissen gewesen, das Gegenteil von dem zu sagen, was ihre Absicht sei.

Die Kunde von dem Geschehenen verbreitete sich am Morgen rasch in der Stadt. Die Polizei geriet in eine fieberhafte Tätigkeit und entdeckte, wie Geierschnabel vermutet hatte, bald, wo die Entflohenen gewohnt hatten. Auch auf Grandeprise kam man zu sprechen. Auch er war verdächtig. Der Hausknecht konnte angeben, daß noch während der Nacht ein fremder, reicher Don gekommen sei, der den Jäger oder Vaquero abgeholt hatte. Der Verdacht erstreckte sich sofort auch auf diesen Fremden. Man erkundigte sich, wie er geheißen und ausgesehen habe, und von diesem Augenblick an war im schwarzen Buch der Polizei zu lesen, daß man nach einem gewissen Don d'Alasquo Velantario y Carfedo de Peranna y Rivado de Saimanza y Hilienda de Vesta y Vista de Vusta vigiliere, welcher zwar noble Trinkgelder zu bezahlen pflege, aber eine ungeheure Nase besitze, welche sich ein jeder als Warnungszeichen dienen lassen möge.