XVIII
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Der Wunsch, einen eigenen Tod zu haben,
wird immer seltener.
Eine Weile noch,
und er wird ebenso selten sein
wie ein eigenes Leben.
Rainer Maria Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge
Konstantin starrte die Totgeglaubte an. Wie hat sie das überlebt?
Von Windaus Arm wanderte weiter nach oben. Sie griff jedoch nicht nach der Haarnadel, der er bereits ein Loch in seiner Hand verdankte, sondern gab jemandem ein Zeichen.
Daraufhin traten zwei Männer und eine weitere Frau zu ihr, die Anzüge trugen. Einer von ihnen war Johnny. Und da er seelenruhig neben der Baronesse stand, konnte das nur bedeuten … Nein! Das darf nicht wahr sein!
Die Lifttüren schlossen sich langsam
Konstantin hielt den Fuß dazwischen. Die Lichtschranke reagierte, der Fahrstuhl öffnete sich. Er trat aus der Kabine. »Johnny?«
Der kleingewachsene, drahtige Brite grinste breit, was sein schmales Gesicht unproportional breiter machte. »Konstantin«, sagte er fröhlich und setzte lautlos Oneiros hinzu. »Lange nicht mehr gesehen!« Sie reichten sich die Hände. »Wir sind das Team, das Darling dir versprochen hat.«
Johnny führte ihn in eine ruhige Ecke der Lobby und begann mit der Vorstellung des Teams. »Das ist Anjelica Miller, Codename Red, eine Freelancerin, die uns die Deathsleepers schickten. Der Mann neben ihr heißt Rick Strong, Codename Black, und gehört zu den Topor’s Men. Baronesse von Windau und mich kennst du. Mir wäre es recht, wenn du mich Green nennst, sobald wir …«
Konstantin packte ihn am Oberarm und zog ihn zwei Schritte zur Seite. »Du weißt, wer Windau ist, ja?«
»Ich weiß es, Konstantin«, gab Johnny säuerlich zurück und befreite sich mit einem Ruck aus dem Griff. »Sie ist auf Darlings Anweisung hier.«
»Warum?«
Er hob die Schultern. »Er sagte, dass sie in der Lage ist, Arctander außer Gefecht zu setzen, und zwar nicht mit Waffen.«
Konstantin sah zu der Baronesse, die ausdruckslos aus dem Fenster sah. Sie war genauso wenig glücklich wie er. Was für ein Spiel spielt sie? Und wie, zum Teufel, hat Jester sie dazu bekommen, uns zu helfen? Falls sie das wirklich vorhatte.
Er ging zu ihr. »Ich hätte ein paar Fragen und bin neugierig auf Ihre Antworten.«
Von Windau blickte ihn nicht an. »Neugier ist meines Erachtens der Auslöser für Erfindungen und Katastrophen«, entgegnete sie ruhig. »Sind Sie Erfinder, Korff?«
»Man hat Ihre Leiche aus der Nahe gezogen. Wie …?«
Sie lächelte kaum merklich. »D-d-das war ich nicht. Sie haben eine Selbstm-m-mörderin aus dem Fluss gefischt, die sie irrtümlich für die Fahrerin h-h-hielten. So entstehen Falschmeldungen.« Von Windau nahm ein Röhrchen mit Tabletten aus der Tasche. Zwei weiße Pillen landeten in ihrem Mund.
Eine Falschmeldung. Konstantin hätte sie zu gerne gepackt und geschüttelt, sie geschlagen und sich auf diese Weise für die Aktion in Idar-Oberstein bedankt. »Warum sind Sie hier? Was macht Sie so besonders?«
Langsam hob sie den gesunden Arm und legte ihn an die Nasenwurzel. »Ich würde es Ihnen zeigen, Korff. Aber dann w-w-wären Sie tot.«
Er lachte auf. »Oh, Sie können mit Gedanken töten!«
»Nicht ganz. Mit Hirnwellen.« Von Windau antwortete leise, ohne einen Anflug von Ironie. Ihr Stottern war verschwunden, die Pupillen wirkten dafür mikroskopisch klein.
»Erklären Sie mir das.«
Sie schwieg mehrere Sekunden, bevor sie entgegnete: »Muss ich nicht, Korff. Sie würden es sowieso nicht verstehen. Es hat etwas mit uns zu tun, mit dem Schlaf, mit den verschiedenen elektrischen Wellen, die im Gehirn entstehen und die den Schnitter anziehen wie Blut einen Hai. Und mit meiner Insomnie.« Die braunhaarige Frau wandte den Kopf langsam zu ihm. In ihren Augen lag Verachtung und Hochmut. »Sie haben sich für die Toten entschieden, ich für die Lebenden und das Leben.«
»Jagen Sie deswegen nach Todesschläfern?«
»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.«
»Ich weiß, dass Sie dazu neigen, Angehörige unserer Art verschwinden zu lassen. Das hatten Sie auch mit mir vor, habe ich recht? In Leipzig. Und in Idar-Oberstein.«
Sie ließ sich von seinem drohenden Ton nicht beeindrucken. Ihre Haltung blieb entspannt, der Arm hing locker an ihrer Seite herab. Sie zog die Nase leise hoch und erwiderte nichts.
»Johnny, komm doch mal bitte zu mir«, sagte er. Der MI6-Agent erschien gehorsam neben ihm. »Wie genau lautet unser Auftrag?«
»Bent Arctander ausfindig zu machen und auszuschalten«, antwortete er augenblicklich. »Entweder mit einer Kugel oder mit Hilfe der Baronesse.«
»Okay.« Konstantin konnte sich nicht vorstellen, dass von Windau freiwillig an der Unternehmung teilnahm. Vermutlich erpresste Jester sie, oder es gab einen geheimen Deal. Straffreiheit gegen die Freilassung der Verschleppten. »Wie lautet der Plan?«, fragte er Johnny.
»Wir warten im Hotel, bis Mister Darling sich bei dir meldet. Danach ziehen wir los. Wohin auch immer uns die Mission führen wird.«
»Gibt es Hinweise?«
»Arctander scheint sich noch in Spanien aufzuhalten. Mehr weiß ich nicht. Wir überwachen sämtliche seiner Decknamen und Konten. Es kann nicht mehr lange dauern, bis er einen Fehler macht. Zusammen mit dir schaffen wir es, den Narko zu schnappen.«
Konstantin nickte und dachte an die Konsequenzen, die eine Fehleinschätzung des Narkoleptikers haben konnte. »Schön. Warten wir.« Er zeigte auf eine leere Sitzgruppe, und das Team ging los, um die Sessel zu okkupieren.
Strong schleppte diverse Koffer und plazierte sie neben sich, dann holte er ein Buch hervor. Johnny nahm eine Computertasche und holte einen Laptop hervor, klappte ihn auf und arbeitete daran. Von Windau las eine Zeitung, und Miller suchte ein Smartphone aus ihrer Jacke, schien Nachrichten zu studieren.
Der Einzige, der nichts mit der Wartezeit anzufangen wusste, war Konstantin. Er holte sein Handy hervor und entdeckte die alte Nachricht von Iva. Ruf mich an!
Daher wählte er ihre Nummer und erhob sich, um sich von den Todesschläfern zu entfernen. Kristin behielt er im Blick, damit sie sich ihm nicht unbemerkt näherte und von Iva erfuhr.
Es klingelte mehrmals, dann ein Knacken. »Ja?«
Ihm wurde sofort heiß, sein Blutdruck stieg, als er ihre Stimme hörte. »Hi, Iva. Hier ist Konstantin. Ich wollte mich …«
»Hallo?«, rief sie. »Ich verstehe Sie nicht?«
Die spanischen Satelliten schienen der Meinung zu sein, dass sie nicht zusammenkommen sollten. »Iva, ich bin’s, Konstantin. Ich kann dir nicht alles am Telefon erklären …«
»Hallo? Wer ist denn da?«
Es ist zum Kotzen. Konstantin wäre am liebsten durch die Leitung gekrochen, zu ihr nach Leipzig, um sie zu umarmen, sie zu küssen und ihr zu zeigen, wie sehr er sie vermisste. »Iva! Iva, ich muss dich bald wiedersehen! Hörst du?! Ich …«
Tuuuut …
»Scheiße!« Verärgert sah Konstantin auf die Anzeige. Der Balken für den Empfang zeigte überhaupt nichts an, es gab nicht einmal das Notsignal in der Lobby.
Er tippte sich mit dem Handy nervös gegen das Kinn. Zur Sehnsucht hatten sich eine steigende Angst und der Wunsch gesellt, sie vor allem beschützen zu wollen, was es an Gefahren gab.
Konstantin sah zur Sitzgruppe, zu seinem Team. Er wollte sich nicht zurück zu ihnen. Ihm war nach einer Runde Parkour, um den Kopf freizubekommen. Aber da das momentan unmöglich war, tigerte er durch die Halle, inspizierte die ausliegenden Flyer, betrachtete die Bilder und Drucke an der Wand, setzte sich an den öffentlichen PC und suchte nach neuen Schreckensnachrichten, die auf Arctander schließen ließen.
Er fand eine Meldung über eine spektakuläre Schießerei, die ganz in der Nähe von Hoyas Villa stattgefunden hatte.
Madrid (red). Ein Feuergefecht vor dem Gebäude der RICO-Bank erschütterte heute die Stadt. Sechs Angreifer attackierten eine bislang unbekannte Person mit automatischen Waffen, die heftige Gegenwehr leistete. Dabei kamen alle sechs Angreifer ums Leben, das vermeintliche Opfer verschwand, bevor die Polizei eintraf. Die Auswertung der Überwachungskameras läuft noch.
Durch Querschläger und Splitter wurden sieben weitere Personen verletzt. Der Sachschaden beläuft sich auf geschätzte 120000 Euro.
Laut eines Ermittlungsbeamten habe man am Tatort Munitionshülsen von ungewöhnlich großem Kaliber gefunden. Sie werden zurzeit mit ähnlichen Munitionsfunden aus dem Estadio Santiago Bernabéu verglichen. Es besteht der Verdacht, dass es sich bei dem vermeintlichen Opfer um den Mann namens Igor handelt, der sich zur Zeit des Anschlags in der Sprecherkabine des Stadions aufgehalten hat.
Ein Zeuge beschrieb den Mann gegenüber unserer Zeitung als 55 bis 60 Jahre alt. Er trug eine Augenklappe und Kleidung im Landhausstil, ebenso eine Unterschenkelprothese, die durch die Kugeln der Angreifer zerstört wurde. Am Tatort wurde außerdem ein zerstörtes Zoomobjektiv gefunden.
Weitere Zeugen des Feuergefechts melden sich bitte unter …
Konstantin lehnte sich in dem Bürostuhl zurück und stieß sich am Boden ab, so dass er sich um die eigene Achse drehte. Von der Beschreibung her muss es Thielke sein, grübelte er. Er hatte sicherlich versucht, über Señora Hoya mehr über Arctander herauszufinden. Das brachiale, gut ausgerüstete Erschießungskommando, das man auf ihn gehetzt hatte, verwunderte Konstantin allerdings. Es hätte zu Bouler gepasst, doch der war tot. Hatte Señor Hoya die Leute geschickt?
Konstantin sah zur Sitzgruppe und runzelte die Stirn. Besitzt von Windau die nötigen Kontakte? Hat Thielke sie genervt und sie deshalb irgendeinen Verbrecherclan angeheuert?
Johnny hob den Kopf und sah zu ihm, winkte ihn zu sich. Seine Lippen formten das Wort Informationen.
Er ging hinüber und ließ sich neben dem MI6-Agenten in die Hocke sinken, um auf den Monitor schauen zu können. »Und?«
Johnny rief eine Mail mit mehreren Anhängen auf. Die Bilder zeigten eine Gestalt, die aus großer Entfernung von oben aufgenommen worden war und an einem öffentlichen Bankterminal stand. Weitere Fotos zeigten sie, wie sie die Straße entlanglief.
»Das ist Arctander?« Konstantin hätte es nicht beschwören können.
»Ja«, sagte Johnny und vergrößerte das nächste Foto, auf dem der Mann neben einer Pfütze stand und sich gerade nach unten beugte, um einen Fleck von seiner Kleidung zu wischen. Die Reflexion des Gesichts in der Lache zeigte sehr deutlich, dass es sich um den Narkoleptiker handelte.
»Stammen die Aufnahmen von einer Drohne?«
»Nein. Besser. Die Amerikaner haben uns den Zugriff auf einen ihrer Spionagesatelliten erlaubt, dank des Einflusses der Deathsleepers.« Er nickte Miller mit seinem breiten Grinsen zu, die es gut gelaunt erwiderte. »Wir bemerkten, dass Arctander von einem der MI6-Konten Geld abheben wollte. Da es gesperrt ist, bekam er nichts, aber wir nutzten die Gelegenheit, um ihn zu tracken.«
»Wo ist er?« Konstantins Blick war auf das bleiche, übermüdete Gesicht ihres Ziels gerichtet. Da bahnt sich die nächste Katastrophe an.
»In Zaragoza. Er hat versucht, ein Onlineticket für die Bahn nach Barcelona zu erwerben, aber das haben wir ebenso verhindert. Ohne Geld wird es schwerer für ihn werden, uns zu entkommen.« Johnny öffnete ein Browserfenster, in dem ein Stadtplan von Zaragoza mit einem kleinen, blinkenden Punkt darauf angezeigt wurde. »Wir haben einen Satelliten mit Gesichtserkennungssoftware gekoppelt und ihn an Arctander gehängt. Die Kameras der Stadt arbeiten jetzt ebenso für uns.«
Konstantin sah auf den leuchtenden Punkt, dachte an Arctanders weißes, eingefallenes Gesicht. Der wandelnde Tod. »Auf die Beine, Team. Wir haben einen Anhaltspunkt«, sagte er laut in die Runde.
»Der Helikopter steht bereit«, warf Johnny ein. »Nur das Beste für uns.«
Schon wieder Hubschrauber. Konstantin richtete sich auf, seine Knie knackten.
Nacheinander erhoben sich die vier Männer und Frauen. Koffer wurden aufgeteilt, und sie verließen das Hotel, stiegen in ein Großraumtaxi und fuhren zum Flughafen.
Konstantin versuchte auf dem Rollfeld nochmals, abseits der anderen, Iva zu erreichen. Immer noch kein Empfang. Es ärgerte ihn maßlos, dass die Satelliten nicht in der Lage waren, ein stabiles Signal zu erzeugen. Er schickte eine SMS und hoffte, dass sie bald antwortete.
Konstantin bemerkte, dass von Windau ebenfalls stirnrunzelnd auf den Tasten ihres Smartphones herumdrückte. Madrid schien kein guter Ort für Handys zu sein.
Thielke schlug die Augen auf, überrascht, noch am Leben zu sein.
Er lag in einem bequemen Bett und blickte an eine stuckverzierte Decke, an der ein Kronleuchter hing. Nicht eben das, was man auf einer Polizeiwache oder in einem Krankenhaus vermutete. Sein angeschossenes Bein brannte etwas.
Seine Zunge war geschwollen, er hatte schrecklichen Durst und fühlte sich benommen. Seine Blutzuckerwerte waren bestimmt beschissen, er brauchte schnell verwertbare Kohlenhydrate, Insulin, Nikotin und einen Cola-Kaugummi, um den widerlichen Geschmack aus dem Mund zu bekommen.
Unter Mühen richtete er den Oberkörper auf, um zu erkennen, wo er sich befand. Seine rechte Hand war mit einem professionellen Verband versehen, und als er das dünne Laken zurückschlug, sah er, dass sein verletztes Bein auf die gleiche Weise behandelt worden war. Scheinbar hatte sich ein Profi um ihn gekümmert.
Thielke betastete sein Gesicht. Die Augenklappe war noch da.
Er wandte sich nach rechts und sah auf dem Beistelltischchen eine Spritze und ein Infusionsbesteck sowie mehrere Ampullen mit Insulin. Ein Glasröhrchen war schon aufgebrochen und benutzt. Man hatte anscheinend schnell erkannt, dass er an Diabetes litt, was dank der Unterlagen in seinem Geldbeutel und einem Notfallanhänger allerdings auch recht einfach war.
Er trug einen cremefarbenen Bademantel, darunter nichts, wie er bemerkte. Er blickte auf eine Doppeltür, die in ein Schloss oder einen Palast gepasst hätte. Durch die Fenster drangen leise Sirenen, die sich entfernten.
Ist das mein goldenes Gefängnis oder was? Thielke biss die Zähne zusammen und erhob sich, rutschte vom Bett und hüpfte auf einem Bein bis zu einem Fenster, wobei er Stühle, Tisch und Kommode als Stütze nutzte.
Durch das Glas blickte er auf die RICO-Bank, vor der er sich die Schießerei mit den Unbekannten geliefert hatte. Polizeifahrzeuge standen umher, Markierungsfähnchen übersäten die Straße, um leere Patronenhülsen anzuzeigen, und Mitarbeiter der Spurensicherung stiefelten in weißen Schutzanzügen um die sechs Leichen herum.
Um die weiträumige Absperrung drängten sich Kamerateams, Reporter schossen aus den Fenstern der umliegenden Hochhäuser Bilder. Es gab nur einen Ort, von wo aus er so einen Ausblick hätte: die Villa Hoya!
In diesem Moment öffneten sich die Türen hinter ihm.
Thielke sah über die Schulter und erkannte Carola Hoya, die ein kurzes, weißgraues Kleid sowie dazu passende Lederhandschuhe trug. Das schwarze Haar hatte sie zu einem langen, dünnen Zopf geflochten. »Ah, Señor Thielke! Schon aus dem Bett? Sie sind kräftiger, als ich annahm.«
Er drehte sich mit kleinen, hopsenden Bewegungen um und setzte sich auf die Kommode. »Dass ich alter Sack im Bett einer schönen jungen Frau aufwache, hätte ich nicht gedacht«, erwiderte er mit einem Grinsen.
Sie lächelte abgeklärt. »Ich bin nicht wirklich jung, Señor Thielke, und es ist auch nicht mein Bett. Darin werden Sie weder einschlafen noch aufwachen, das kann ich Ihnen versprechen.« Carola blieb zwei Meter von ihm entfernt stehen. »Mein Vater und ich würden gerne wissen, was vor sich geht. Aus diesem Grund habe ich Sie einsammeln lassen, bevor die Polizei erschien.«
»Was ist, wenn ich Ihnen nichts sagen kann?«
Sie deutete auf das Fenster. »Die Policía wird Sie uns sicher gerne abnehmen.«
»Und wie wollen Sie das erklären?« Thielke zeigte auf den Bademantel und den Handverband. »Ich bin eingebrochen, Sie haben mich erwischt und behandelt, um mich dann erst abzuliefern?«
»Man wird mir keine Fragen stellen, Señor Thielke. Ich bin eine Hoya. Man würde Sie einfach mitnehmen und sich freuen, den Terroristen Igor gefangen zu haben, der achtzigtausend Menschen umbrachte.« Carola setzte sich in einen Sessel. »Mein Vater und ich nahmen zunächst an, dass es sich bei Ihnen und Señor Korff sowie Monsieur Bouler um gewissenlose Schmuckräuber handelt, die sich aus wirtschaftlichen Gründen um Harlekin’s Death streiten und dabei bis zum Äußersten gehen. Sie haben mich auf dem Friedhof fotografiert, Sie kennen den Mann, mit dem ich mich traf, demnach ebenso wie Señor Korff.« Sie hob die Hand, der Zeigefinger wies auf ihn. »Doch von allen werde ich nach der Wirkung des Steins auf den Tod gefragt. Und ich frage mich langsam, ob es wirklich nur um Geld geht? Sie werden mir erzählen, um was sich diese Hatz wirklich dreht, Señor Thielke.«
Er verlagerte das Gewicht, sein Stumpf und die Schusswunden schmerzten plötzlich. Es wäre vermutlich besser, wenn er zum Bett hopste und sich wieder hinlegte. »Was tun Sie, wenn ich nichts Neues zu berichten weiß?« Er breitete die Arme aus. »Ich bin nur ein Schmuckräuber, wie Sie schon sagten.«
Ihr Lächeln wurde tückisch. »Und ich bin nicht so geduldig, wie Sie vielleicht annehmen, Señor Thielke. Wir haben Ihre Wunden behandeln lassen, aber wir können auch dafür sorgen, dass Sie sich wünschten, von der Policía aufgegriffen worden zu sein.« Carola lehnte sich nach vorne. »Damit Sie verstehen, in welcher Lage Sie sich befinden, Señor: Niemand weiß, wo Sie stecken. Niemand wird Sie hier vermuten. Wenn ich möchte, endet Ihr Leben hier.« Sie tippte mit der Fußspitze zweimal auf den Marmorboden, so dass es klackte.
Thielke wusste, dass sie es ernst meinte. Ihre Augen verrieten die Entschlossenheit. »Ich habe verstanden. Wie aber wollen Sie prüfen, ob ich die Wahrheit sage?«
Carolas Blick legte sich auf den Beistelltisch mit den Ampullen. »Nach der Show vor meinem Fenster zu schließen, lieben Sie Ihr Leben, Señor Thielke. Doch Sie gehen recht rücksichtslos mit Ihrem Körper um, wenn der Arzt Ihre Blutwerte korrekt ausgewertet hat. Wissen Sie, Entzug ist etwas Schmerzhaftes. Er zwingt selbst den Stärksten in die Knie. Wir werden reden, ich prüfe Ihre Angaben, und wenn Sie gelogen haben … nun, dann werden wir sehen, wie lange Sie durchhalten.« Sie richtete sich auf und setzte sich gerade in den Sessel. »So wird es laufen, Señor Thielke.«
Er brummte seine Zustimmung, auch wenn ihm nicht gerade gefiel, was er da hörte. Die Kopfschmerzen, die ihm der Koffein- und Nikotinmangel bescherten, begannen bereits. »Wir können uns gerne unterhalten, aber ich warne Sie, Señora Hoya. Mich auf Entzug zu setzen, bringt Sie mehr in Gefahr, als Sie ahnen. Ich würde an Ihrer Stelle eher dafür sorgen, dass ich gut mit Kaffee und Zigaretten versorgt werde.« Er hüpfte zum Bett zurück und sank darauf, bevor sein Knie nachgab.
»Wieso? Werden Sie so aggressiv?«
»Nein. Ich werde einschlafen. Einfach einschlafen, wie ich es seit Jahren nicht mehr getan habe«, gab er zurück. »Das wird für Sie tödlich sein.«
Carola Hoya lachte ihn aus.
»Diesen Fehler begingen schon ganz andere«, murmelte er.
Konstantin und sein Team erreichten abends den Flughafen der Stadt Zaragoza, mit der längsten Landebahn, die er bislang gesehen hatte, und begaben sich sofort in die Altstadt, wo sie sich zu Fuß an Arctanders Verfolgung machten. Sie trugen identische Bluetooth-Headsets, die Johnny zusammen mit den Handys ausgegeben hatte, und wirkten wie eine Gruppe arbeitswütiger Banker auf Betriebsausflug.
Das Smartphone des MI6-Agenten wies ihnen den Weg, sie folgten dem roten Punkt, der Bent Arctander darstellte und der anscheinend ziellos durch die engen, leicht heruntergekommenen Gassen ebenso wie durch die großen Hauptstraßen irrte. Es gab kein Muster.
Konstantin wusste kaum etwas über die Stadt Zaragoza. Das Einzige, was ihm unerfreulicherweise zu diesem Namen einfiel, war eine Schlagerband aus seiner Kindheit, die Saragossa hieß und irgendeinen Song über den Sommer geträllert hatte. Während des Flugs hatte er im Magazin der Airline ein paar Eckdaten gelesen, das meiste jedoch vergessen. Im Gedächtnis geblieben war das beeindruckende Bild einer Kathedrale und die Gründung der Rockgruppe Héroes del Silencio. Die wichtigste Information jedoch ging ihm immer wieder durch den Kopf: Die Stadt beheimatete 700000 Bewohner, von denen unvorhersehbar viele durch Arctander in Gefahr gerieten.
Sie bewegten sich durch die Altstadt, die casco viejo, wie auf den Wegweisern stand. Der historische Stadtkern wurde paradoxerweise vom Verfall beherrscht, wandelte sich gleichzeitig zur Vergnügungsmeile, wo sich Bar an Bar reihte. Konstantin vermutete, dass es sich in schickeren Wohnanlagen am Stadtrand besser lebte. Hierher kamen die Einheimischen und Touristen höchstens am Wochenende zum Feiern. So wie heute.
»Was macht er denn da?«, fragte Johnny, als ihr Ziel abrupt in eine Straße schwenkte. »Sucht er etwas?«
»Möglicherweise einen Kontaktmann.« Konstantin ließ sich die bisherige Route des Mannes auf dem kleinen Display einblenden. Arctander lief mehr oder weniger im Kreis, ging mit leichten Abweichungen immer wieder dieselben Straßen entlang. »Er wartet auf jemanden und will nicht an einer Stelle verharren, denke ich.«
»Er bettelt«, kommentierte von Windau. »Sie haben ihm die Konten gesperrt, Geld wird er keins mehr haben. Das Onlineticket nach Barcelona hat er auch nicht mehr bekommen, also muss er sich die Summe anders beschaffen.«
Sehr gut kombiniert. Konstantin dachte nach und tauschte einen Blick mit dem MI6-Agenten. »Könnte sein, oder?«
Johnny nickte. »Ja. Wenn er auf seiner Route bleibt, müsste er auf uns zukommen. Sofern die Annahme mit dem Betteln stimmt.« Er sah zu Konstantin. Es war klar, dass er eine Anweisung des Teamchefs erwartete.
Konstantin betrachtete das rege Treiben in den Straßen. Ein narkoleptischer Anfall, und wir haben Hunderte Tote. Mindestens. Die Gruppe war mit Betäubungswaffen ausgestattet, die den Narkoleptiker in einen unnatürlichen, aber folgenlosen Tiefschlaf versetzten. Aber Arctander war hochgradig aufgeregt, weil er spürte, wie sich die Schlinge um ihn zuzog und er jederzeit mit einem Zugriff rechnete. Und er war müde. Die besten Voraussetzungen für eins seiner Zwangsnickerchen.
»Wir sollten ihn abpassen und aus dem Hinterhalt kaltstellen«, sagte von Windau, bevor er selbst den gleichen Vorschlag machen konnte. »Zwei Schüsse mit Betäubungsmunition, und ich«, sie klopfte sich zweimal mit der Kuppe des rechten Mittelfingers gegen den Kopf, »halte mich bereit, um notfalls sein Wellensignal zu überlagern. Damit wären die Menschen in der Umgebung sicher.«
»Gut.« Konstantin sah zu Miller. »Sie besorgen uns ein Taxi. Ohne Fahrer. Wir brauchen eine Möglichkeit, Arctander ohne Zeugen zum Flughafen zu schaffen.« Er wartete darauf, dass Johnny Einwand erhob, da der MI6 eventuell eine Alternative vorbereitet hatte. Doch es kam nichts.
Miller nickte. »Geht klar. Ich komme in die Fußgängerzone, sobald ich euer Go über mein Handy bekomme.« Sie lief los.
»Strong, Johnny, ihr seid die Schützen. Von Windau, Sie bleiben in der Nähe. Sorgen Sie dafür, dass Arctander Sie nicht bemerkt, und greifen Sie nur ein, wenn es nötig wird.« Er hatte keine Lust, die Farb-Codenamen zu benutzen. Er sah darin keinen Sinn.
Die beiden Agenten bestätigten knapp, von Windau sah ihn nur spöttisch an. Mehr bekam er von ihr nicht. Sie sah sich als ihr eigener Chef in dieser Zwangsgemeinschaft.
Konstantin hätte zu gerne mehr über ihre Fähigkeit gewusst und wie genau sie Arctanders Wellensignale überlagern wollte. Seines Wissens war sie die Einzige mit dieser Fähigkeit. Und sie wird mir nichts darüber erzählen. Zu schade. Womöglich brauchte sie die Todesschläfer, die sie verschleppte, um ihre Kräfte zu trainieren. Er sollte lieber auf Abstand zur Baronesse bleiben, trotz seiner Neugier.
Unauffällig machten die Männer ihre Waffen schussbereit. Von Windau schlenderte zu einem Stand, an dem es Kinderspielzeug gab, und tat, als sichte sie die Angebote.
»Und Sie?« Strong blickte Konstantin an.
»Ich schaue mir Arctander aus der Nähe an«, gab er zurück. Konstantin wollte einen Eindruck von dem Mann bekommen, dessen Schlaf so vernichtend wie eine kleine Neutronenbombe sein konnte. »Der Zugriff erfolgt erst, wenn ich …«
»Das bringt die Operation in Gefahr. Was, wenn er durch dich bemerkt, dass wir an ihm dran sind?«, warf Johnny ungläubig ein.
»Wieso sollte er? Er kennt mich nicht, und von Windau scheint mit ihren Kräften, von denen ich hoffe, dass sie funktionieren, den Schnitter blocken zu können. Im schlimmsten Fall bemerkt er mich und rennt weg. Oder er bekommt einen Anfall, von Windau überlagert seine Signale, und wir betäuben ihn.« Konstantin löste sich von ihnen und spazierte durch die Straße, dem Narkoleptiker entgegen. Er wusste, dass seine Rechtfertigung etwas dünn war, aber er konnte den Angriff auf Arctander einfach nicht befehlen, ohne ihm einmal in die Augen gesehen zu haben. Er schaltete sein Handy aus, damit es nicht im ungünstigsten Moment klingelte.
Die Menschen schwärmten an ihm vorüber, Gesprächsfetzen auf Spanisch, Englisch, Französisch und Deutsch drangen an sein Ohr. Die warme Luft war angefüllt mit Zigarettenqualm, den unterschiedlichsten Parfüms und Essensgerüchen. Motten umtanzten die Lampen, Schwalben zuckten über die Köpfe der Passanten und jagten ihr Mahl.
Hier sind zu viele Menschen. Er beschloss, Arctander anzusprechen und zu versuchen, ihn von der belebten Straße wegzulotsen. Ein entsprechender Vorwand fiele ihm sicher ein. Der mächtigste Todesschläfer der Geschichte, und gleich steht er vor mir.
Konstantin hielt Ausschau nach seinem Gesicht, um ihn in der fröhlichen Menge nicht zu verpassen.
Mitten in der Idylle erschien er plötzlich. Arctander kam frontal auf Konstantin zu, hielt einen Pappbecher vor sich und sprach wahllos Leute an. Die meisten gaben nichts, andere warfen Kleingeld in den Behälter. Dem Klang nach hatte der Narkoleptiker noch nicht viel gesammelt.
Arctander sah sogar noch schlechter aus als auf dem Foto. Müde, eingefallenes Gesicht, stumpfe Augen und ein leichter Schweißfilm auf der Stirn. Die meisten würden ihn für einen Junkie oder einen sehr kranken Mann halten, den man nicht zu nahe an sich heran ließ. Der dünne blonde Bart machte ihn nicht eben vertrauenswürdiger. Kein Wunder, dass er nicht sonderlich erfolgreich beim Betteln war.
Die zerknitterte Kleidung wirkte, als habe er darin mehr als eine Nacht geschlafen. Er zog einen kleinen Trolley hinter sich her, der etliche Reisespuren aufwies.
Konstantin tat so, als würde er eine ausgehängte Speisekarte lesen, und wartete darauf, von ihm angesprochen zu werden.
Die klimpernden Münzen näherten sich, dann roch er alten Schweiß, der zu oft mit einem billigen Deo übersprüht worden war. »Verzeihung, mein Herr«, sagte Arctander auf Englisch. »Ich bin unverschuldet in Schwierigkeiten geraten und brauche ein bisschen Geld, um von hier wegzukommen. Wären Sie so freundlich?«
Konstantin wandte sich ihm zu und steckte eine Hand in die Tasche, suchte sein Portemonnaie heraus. Er bemerkte, dass der Gesuchte ihn aus stecknadelgroßen Pupillen anblickte, er zitterte leicht, die Lippen waren rissig. »Haben Sie schon mal an einen Entzug gedacht?«
Arctander lachte, die Unterlippe sprang auf. Ein dünnes Blutrinnsal wurde sichtbar. »Ich wäre froh, es wäre so etwas. Ich habe Pech gehabt. Alles futsch.«
»Wohin müssen Sie denn? Vielleicht kann ich Sie mitnehmen?«
Arctanders Gesicht veränderte sich, Hoffnung hellte es auf. »Fahren Sie zufällig nach Barcelona?«
»Ja. Meine Frau und ich wollen morgen dorthin. Haben Sie noch so viel Zeit?« Barcelona! Sein nächstes Ziel?
Die anfängliche Freude wich aus Arctanders Zügen, Misstrauen ersetzte sie. Es schien ihm plötzlich nicht mehr geheuer, dass ihm ein Fremder das Angebot machte. Er musterte Konstantin, sah die Tätowierung Do not fall asleep, until … auf seinem Oberarm. Seine Augen weiteten sich. Er wich zurück.
Konstantin packte ihn am Handgelenk. »Hören Sie zu, Arctander«, flüsterte er leise und schnell. »Ich bin nicht hier, um Sie zu töten.«
In seinem Ohr rauschte es kurz. »Soll ich eingreifen?«, schallte Johnnys Stimme aus dem Headset, und zwar so laut, dass Konstantin fürchtete, der Schwede würde die Frage hören. Er schüttelte ganz leicht den Kopf, um zu verneinen.
»Wer sind Sie?« Arctander blieb stehen, doch seine Muskeln spannten sich spürbar an. »Hat Darling Sie geschickt?«
»Ich bin nicht vom MI6 und gehöre auch keiner Organisation der Todesschläfer an, sondern …«
»Sagen Sie dem Arschloch, dass er mich nicht wieder zurückbekommt. Er kann seine Scheiße alleine machen!«, unterbrach Arctander ihn und sah sich hektisch um.
»Erklären Sie mir, warum Sie flüchten und Unschuldige in den Tod reißen, anstatt sich von Darling helfen zu lassen«, sagte Konstantin hart.
»Helfen?« Arctander starrte ihn an. »Sind Sie bescheuert? Er ist doch schuld. Er hat mich zu dem gemacht, was ich bin! Für sein Projekt.«
Das kann nicht sein. Konstantin schloss für zwei Sekunden die Augen. »Warum sollte er das tun? Können Sie mir erklären, was passiert ist? Von welchem Projekt reden Sie?« Er wusste nicht, was er denken sollte. Jester war sein Freund, er kannte ihn schon so lange. »Wieso …«
»Wer sind Sie, zum Teufel?«, stieß Arctander hervor und versuchte, Konstantins Griff um sein Handgelenk zu lösen. Das schüttere, hellblonde Haar bebte wie lichte Zuckerwatte. Dann erstarrte er für zwei Sekunden. »Ich kenne Sie doch! Sie waren in Marrakesch dabei, als mich Bouler schnappte!«
»Jetzt?«, fragte Johnny wieder in seinem Ohr.
Er hat mich gesehen. Das habe ich nicht bedacht. Konstantin konterte die Bewegung des Schweden mit einer Aikidotechnik. Eine leichte Drehung des Arms, etwas Druck über Ellbogen und Handgelenk, und Arctander musste stillhalten, wenn er sich nicht selbst verletzen wollte. Das Ganze verlief schnell und unauffällig. Außenstehende würden annehmen, dass die beiden sich unterhielten. »Mein Name ist Korff, und ich …«
Arctander sah nach rechts, schrie auf und wich vor Johnny zurück, der sich für einen sauberen Schuss in Position gebracht hatte. Anscheinend kannten sich die zwei. »Sie sind doch vom MI6!«, stieß er panisch hervor. »Hilfe! Hilfe, ich werde entführt!«, kreischte er schrill. Jetzt sahen die Umstehenden zu ihnen.
»Runter! Polizei!« Johnny riss seine Waffe aus dem Holster und feuerte zweimal auf den Narkoleptiker.
Schreie gellten durch die Straße, die Menschen duckten sich, rannten davon oder suchten Schutz unter Tischen und in Geschäften.
Arctander zappelte verzweifelt in Konstantins Griff, dabei wich er den Geschossen eher zufällig aus. Im nächsten Moment schüttete er die Münzen gegen Konstantins Gesicht. Es gelang ihm, sich loszureißen, und er warf sich in die umherhetzende Menge der Flüchtenden, tauchte unter.
Nicht noch mehr Massentote! Konstantin verlor den Narko nicht aus den Augen. Wie weit reichen von Windaus Wellensignale? Kann sie ihn noch blockieren? Was gut begonnen hatte, konnte rasch in einer Katastrophe münden.
In dem Durcheinander der panischen Menschen verlor er sein Team aus den Augen. Also konzentrierte er sich auf Arctander, tat alles, um den Flüchtenden im Blick zu behalten.
Zeit für Parkour. Konstantin sprang auf den nächsten Tisch, drückte sich ab und packte eine Markise, um sich daran hochzuziehen und auf ein Flachdach zu schwingen. Parallel zu der Gasse sprintete er weiter und fühlte sich an seine Erlebnisse in Marrakesch erinnert. Es darf nicht wieder auf diese Weise enden.
Er sprang auf der anderen Seite hinunter, auf das Dach eines Verkaufsstandes, und sah Arctander etwa fünfzig Meter vor sich.
Konstantin hüpfte von einer Bude auf die nächste, machte Ausfallschritte über die Köpfe der Menschen hinweg, schwang sich von einem Straßenschild hoch auf einen Balkon und zog den Gürtel aus den Laschen, um ihn über eine leicht abschüssig verlaufende Stromleitung zu schwingen. Er benutzte ihn wie eine Halterung, packte die Enden und rutschte das dicke Kabel hinab.
Dreißig Meter bis zu Arctander.
Er ließ los und sprang aus voller Fahrt auf einen Müllcontainer, der den Aufprall dämpfte, hopste auf den Boden und hetzte weiter hinter dem erstaunlich schnellen Schweden her.
Konstantin hätte diese Jagd viel Spaß bereitet, wenn sie nicht bedeuten würde, dass der Narkoleptiker jederzeit einen Anfall bekommen könnte. Stress galt als einer der Hauptauslösefaktoren. Lass ihn einen guten Tag und wirkungsvolle Medikamente eingenommen haben.
Wo sein Team abgeblieben war, wusste er nicht. Ihm fehlte die Zeit, das Handy zu zücken und einen Rundruf zu starten. Hoffentlich ist von Windau in unserer Nähe.
Arctander sah hinter sich, bemerkte ihn und verschwand um eine Ecke.
Konstantin folgte ihm, sprang kurz vor der Biegung auf eine Plastikmülltonne und nutzte sie wie ein Trampolin, um quer über die Einmündung zu hüpfen und sich mit einem Bein von der gegenüberliegenden Wand abzustoßen.
Unter sich sah er Arctander, der ihm aufgelauert hatte, ein verbogenes, am Ende ausgefranstes Metallrohr in der Hand. Der Schwede blickte ihm erstaunt hinterher, aber die Überraschung währte nicht lange. Er stürmte heran, kaum dass Konstantin auf dem Boden gelandet war und den Schwung mit einer Rolle über die Schulter abfing.
Dem ersten Hieb wich Konstantin aus, den zweiten nutzte er, um den Schwung des Narkoleptikers umzulenken, das Rohr drosch gegen die Wand. Er kombinierte seinen Konter mit einem leichten Hieb sowie einem Schulterstoß, der darin endete, dass er den kampfunerfahrenen Schweden gegen die Wand wuchtete.
Arctander prallte frontal gegen die Ziegelsteine und schlug blind mit dem Rohr nach hinten.
Konstantin entging der ungezielten Attacke durch eine Drehung, die spitzen Enden schlitzten jedoch seine Hosentasche auf.
Mit einem leisen Klicken fiel der Schnitterring auf den Boden und blieb zwischen den Kontrahenten liegen.
Arctander drehte sich um und starrte das glitzernde Schmuckstück an. »Harlekin’s Death!«, raunte er verblüfft und richtete den Blick langsam auf Konstantin. »Sie glauben daran?«
Er hat ihn sofort erkannt und weiß, um was es geht. »Ich habe gehört, dass es Ringe gibt, die einen Todesschläfer sichtbar machen können«, sagte er. »Ob ich daran glaube, weiß ich noch nicht.«
Arctander warf das Metallrohr weg. »Dann wollen Sie den Fluch also auch loswerden?«
Konstantin wurde das Gefühl nicht los, dass es plötzlich komplizierter wurde, als er angenommen hatte, und es ein paar Dinge gab, die Jester ihm verschwieg. Sei auf der Hut. Es kann eine Finte sein. »Will ich. Und ich sage es noch einmal: Ich gehöre nicht zum MI6. Was hat Darling mit Ihnen gemacht? Was für ein Projekt meinen Sie?«
Arctander betastete die aufgeschürfte Wange, die ihm der Kontakt mit der Ziegelsteinmauer beschert hatte. »Ich glaube, Sie sollten ein paar Sachen erfahren. Über mich und Darling.«
Das sah Konstantin genauso. »Wir müssen in Deckung gehen, bevor uns der Satellit erfasst. In dem Chaos eben dürfte er uns verloren haben.« Rasch hob er Harlekin’s Death auf, blickte sich um.
»Was denn für …«
»Später.« Sirenengeheul ertönte in der Ferne, die Polizei würde sich auf die Suche nach dem Schützen machen, der auf der Straße herumgeballert hatte. Johnny waren die Nerven durchgegangen – oder er hatte auf Geheiß von Jester gehandelt. »Da sieht es ziemlich verlassen aus.« Konstantin deutete nach rechts, wo sich eine heruntergekommene Werkshalle befand, auf deren Glasfronten Efeu und andere Ranken wuchsen.
Sie gingen los, stiegen durch ein angelehntes Fenster ein, das sie hinter sich schlossen, und setzten sich in eine Ecke des leeren, zugewucherten Gebäudes, das einmal eine kleine Gussfabrik für Metalle gewesen zu sein schien. Das Licht einer Straßenlaterne leuchtete schwach herein.
Arctander ließ sich auf dem Boden nieder, nahm einen Pillendispenser aus der Tasche und drückte zwei heraus. Er steckte sie in den Mund und lutschte sie. »Wie war Ihr Name?«, fragte er undeutlich. Sein Atem ging schnell, er schwitzte stark und musste husten. Die Augen zuckten nach rechts und links wie im REM-Schlaf.
Das sieht nicht gut aus. »Korff heiße ich. Und Sie bleiben wach, okay, Arctander?«
»Das ist bei mir keine Frage des Willens.« Der Narkoleptiker schloss die Lider. »Erklären Sie mir eins, Korff: Wenn Sie kein MI6-Agent sind und nicht für eine Organisation der Todesschläfer arbeiten, warum haben Sie sich dann dem Arschloch Darling angeschlossen?«
»Wir kennen uns von früher. Ich bin neugierig, was Sie mir über ihn erzählen«, antwortete Konstantin und setzte sich auf eine umgedrehte, dreckige Getränkekiste, in der Spinnweben hafteten. Ich hoffe, ich bekomme ihn wach, sobald er einschläft. »Sie glauben an die Macht der Schnitterringe?«
Keine Reaktion.
»Hey!« Konstantin versetzte ihm eine leichte Ohrfeige.
Der Mann schrak zusammen und riss die Augen auf. »Langsam. Ich habe nur nachgedacht.« Er grinste schwach. »Ja, ja. Die Schnitterringe. Sie haben mit Sicherheit eine Funktion, aber ich weiß noch nicht, welche. Ich suche lieber nach Menschen, die mit dem Tod sprechen können. Wie Auro, aber den … hat es leider erwischt.«
Konstantin sog scharf die Luft ein. »Menschen, die …?«
»Menschen, die mit dem Tod sprechen können. Ich fand Darlings Forschungen. Die, die er zum Thema Tod und einem möglichen Ausweg aus unserem Fluch anstellte. Ich dachte, es muss doch Menschen geben, die ihn sehen. Die Spur der Ringe brachte mich zu verschiedenen Leuten, von denen ich hoffte, sie vermögen es vielleicht. Erst bei Auro landete ich einen Treffer. Leider bekam ich einen Anfall, und …« Er schüttelte frustriert den Kopf.
Die Meldung aus Roccastrada. Die Hoffnung, die sich bei den wenigen Worten des Narkoleptikers aufgetürmt hatte, brach zusammen.
Er verstand, dass Bent Arctander vor Jester floh und auf der Suche nach jemandem war, der ihm helfen konnte. Der ihn vom Todesfluch befreite. Er hatte den gleichen Plan wie ich und war sogar dichter dran, Erfolg zu haben.
Warum hatte der MI6-Agent ihm nicht dabei geholfen? Es gäbe keine bessere Lösung, als dem gefährlichen Todesschläfer die Gabe zu nehmen und ihn zu entschärfen. Für alle Zeit.
Daraus folgerte er, dass Jester Arctander brauchte. Nur für was? Es kann nichts Gutes sein, denke ich. Sagte Arctander nicht auch, dass Jester ihn erst zu dem gemacht hat, was er ist? Zu einem Todesschläfer? Was könnte er sonst meinen? »Fangen wir vorne …«
»Er habe noch eine Frau gefunden, die eine Todseherin ist. Eine Ärztin«, unterbrach ihn Arctander erschöpft. »Auro nannte mir ihren Namen, bevor er starb. Sie lebt in Barcelona. Begleiten Sie mich, Korff! Ich muss zu ihr und sie …« Er war beim Sprechen immer leiser geworden und nun sank ihm der Kopf auf die Brust. Er war eingeschlafen.
In den tödlichen Schlaf.
Da Konstantin nicht wusste, welchen genauen Beschränkungen Arctanders Todesruf unterlag, tat er das Erste, was ihm einfiel: Er hob einen Stein vom Boden auf, umwickelte ihn schnell mit seiner Jacke und schlug den Narkoleptiker damit nieder. Bei einer Ohnmacht kam der Schnitter nicht. Zaragoza war sicher.
Konstantin sah auf den niedersinkenden Arctander, dessen Worte noch immer in seinem Kopf nachhallten. Er hat eine Todseherin gefunden!
Er konnte kaum abwarten, mehr zu erfahren. Es gab sie demnach, diese märchenhaften, außergewöhnlichen Menschen. Die den Tod sahen, die mit ihm redeten, ohne dass er sie umbrachte. Carola hatte recht! Sein Herz pochte laut und schnell.
Vielleicht hatte er jetzt wirklich ein Chance, als freier Mann zu Iva zurückzukehren und ein normales Leben mit einem ungewöhnlichen Beruf zu führen. Ein Nickerchen im Park, ein Schläfchen an Deck der Vanitas. In Ivas Bett. Vorausgesetzt, sie wollte ihn immer noch.
Nicht zu schnell, sagte er zu sich und versuchte, seine hohen Erwartungen an das Treffen mit der Ärztin zu senken. Bisher hatte er nicht mehr als Arctanders Wort, dass sie wirklich eine Todseherin war. Und selbst wenn sie es war, könnte es sein, dass der Schnitter gar nicht verhandeln wollte. Womöglich erwartete ihn am Ende des Treffens die größte Enttäuschung von allen: das Ende jeglicher Hoffnungen.
Konstantin sah durch das Fenster, vorbei an der Straßenlaterne zum Mond, der hell am Nachthimmel stand. Ich habe eine Chance. Die Märchen zeigen, dass der Gevatter bereit für einen Handel ist. Nur bescheißen sollte man ihn nicht.
Konstantin fragte sich, welche Rolle Jester in diesem Spiel hatte. Es würde schwer werden, die Geschichte des Narkoleptikers zu prüfen, aber Konstantin wollte sie hören. Sein Freund hatte ihn schon wegen der Phansigar mehrmals angelogen. Zum Anstacheln, wie er sagte. Daran glaubte Konstantin nicht mehr zu hundert Prozent.
Er nahm sein Smartphone hervor und schaltete es ein.
Weder eine SMS noch eine Mail oder ein entgangener Anruf. Sein Team hatte keinerlei Versuch unternommen, Kontakt herzustellen. Auf Jesters Geheiß?
Konstantin senkte das Handy. Das ist kein gutes Zeichen.