II

Death, the only immortal who treats us all alike, whose pity and whose peace and whose refuge are for all – the soiled and the pure, the rich and the poor, the loved and the unloved.

Mark Twain

Minsk, Weißrussland

Ein Blutschwall sprudelte wie aus einem Geysir empor. Es füllte die mit einem Skalpell geschaffene Wunde, rann über Hals und Nacken des Patienten. Die eben noch deutlich sichtbar gewesenen Wirbel versanken in dem Lebenssaft.

Professor Smyrnikov zog das Skalpell hastig zurück. »Eine Blutung«, bellte er unter seiner Maske auf Englisch seine Diagnose hervor und ließ sich eine Klemme geben, während die Helfer dem roten See mit Saugern und Tupfern zu Leibe rückten.

Leise fluchend verfolgte er, wie die Schwestern versuchten, ihm freie Sicht zu verschaffen, damit er das verletzte Gefäß abklemmen konnte, doch das Blut floss schneller, als sie es beseitigten.

Smyrnikov hatte gerade die Separierung des Schädels vom Rückgrat vorbereiten wollen. Sehnen, Muskeln, Gefäße, eins nach dem anderen, bis zur Trennung der Wirbel. Diese Komplikation machte seinen Bemühungen einen Strich durch die Rechnung.

Er wechselte einen raschen Blick mit seinen beiden Assistenzärzten McNamara und Lange. In ihren Augen sah er, dass sie das Gleiche dachten.

Leise plätschernd rann das Blut wie in einem Miniaturwasserfall zu Boden und formte einen zweiten kleinen See.

»Blutdruck fällt rasch«, meldete der Pfleger an der Überwachungseinheit, mehrere Maschinen gaben Alarmgeräusche von sich.

Der Einsatz von Blutkonserven wäre der normale nächste Schritt, um dem operierenden Arzt genug Zeit zu geben, die verletzte Ader zu finden und sie abzuklemmen, damit der Patient keinen schwereren Schaden nahm.

Doch der Patient, dessen Nummer 77 lautete, lag nicht in einem herkömmlichen Krankenhaus und war auch nicht freiwillig auf dem Operationstisch von Smyrnikov gelandet. Daher unternahmen seine Ärzte nicht das, was sie in der Ausbildung beigebracht bekommen hatten.

»Planänderung«, sagte Smyrnikov in die Runde. »Wir machen eine Entnahme. Alles vorbereiten für Nährmittellösung und Sauerstoffversorgung. Ich will das Gehirn von Patient 77 in neuer Bestzeit entfernt sehen. Professor McNamara, Sie tun es. Doktor Lange, Sie assistieren.«

Niemand wagte Widerspruch. Jedem Mitglied des Teams war klar, dass Smyrnikov den Mann auf dem Tisch abgeschrieben hatte und dass es darum ging, dass McNamara und Lange als Neue im Team Routine bekamen.

»Die Zeit läuft ab … jetzt!« Smyrnikov zog sich in den Hintergrund zurück und sah zu, wie die jungen Ärzte die Regie im OP übernahmen. Die Überwachungsgeräte wurden abgeschaltet, der Mann würde ohnehin sterben. Aber sein Verstand, in der pursten Form, war vielleicht zu retten.

McNamara und Lange lagerten Nummer 77 rabiat auf den Rücken um und setzten ihn auf, sein Blut sprenkelte die OP-Schürzen der Ärzte. Schläuche wurden entfernt, blitzschnell war der Schädel in eine Halterung eingespannt, damit er nicht wegrutschte. Als McNamara zögerte, nahm Lange die elektrische Rundsäge in die Hand. Das Gerät heulte auf und fräste sich durch Haut und Knochen, das austretende Blut wurde von den Helfern entfernt.

Dafür, dass auf dem kahlen Schädel keine Schnittlinien markiert waren, arbeitete Lange sehr präzise. Smyrnikov schätzte, dass er die ruhige Hand des Brasilianers gut gebrauchen konnte. McNamara dagegen, der bleichhäutige Ire, stand unschlüssig neben 77 und schien zu zaudern. Beide waren ausgebildete Chirurgen, die lange Zeit an Krankenhäusern gearbeitet hatten, bevor sie eine Einladung nach Minsk erhielten. Anscheinend hatte McNamara ein Problem mit dem Auftrag.

»Durch«, meldete Lange und ließ die Helfer die Schädeldecke entfernen.

Darunter kam das Zerebrum zum Vorschein, eine grauweißliche Masse mit Maserungen, die an eine unreife Walnuss erinnerte. Rosafarbenes Hirnwasser lief über die Stirn des Patienten, über die Nase und den offen stehenden Mund. Die Augen glotzten gleichgültig, wenn auch nicht blind. Die Narkosemittel hielten ihn ruhig, aber 77 lebte noch.

Lange hatte die Säge weggelegt und sah McNamara an. »Was ist? Wir liegen gut in der Zeit! Jetzt …«

McNamara rührte sich nicht. »Ich … kann das nicht.«

Smyrnikov sah sich in seiner Vermutung bestätigt. Der Ire war ein Feigling, ein theoretischer Forscher, der es anderen überließ, sich die Hände schmutzig zu machen. »Wieso?«

»Der Mann … er …« McNamara deutete mit dem blutbeschmierten Zeigefinger auf 77. »Ich kann das nicht!«, wiederholte er einfach. »Nein, bei Gott! ICH KANN DAS NICHT

»Puls ist weg, Herz schlägt nicht mehr«, sagte ein Helfer aus dem Hintergrund, der die stummgeschalteten Vitalwerte abgelesen hatte. »Wiederbelebung?«

Smyrnikov winkte ab. 77 war ihm gleichgültig, für ihn war der von plötzlichen Gewissensbissen befallene Ire das eigentliche Problem. Als Nächstes würde er wegwollen.

Aber wer einmal den Weg nach Minsk und in den OP-Saal des Instituts Leben angetreten war, konnte nicht einfach aussteigen. Schweigen konnte man sich in Weißrussland leicht erkaufen, doch in der westlichen Welt würde die Stimme eines Arztes, der die Experimente eines internationalen Teams anklagte, gehört werden.

Das durfte Smyrnikov nicht zulassen.

»Was ist nun?«, drängelte Lange genervt und machte sich bereit, das Hirn zu entnehmen. Er stand hinter dem verstorbenen 77, dessen Oberkörper voller Blut war, das in Bahnen an ihm hinabgelaufen war und nun trocknete. Der metallisch süße Geruch kroch hinter die Atemmasken der Ärzte. Im Moment sahen sie alle eher wie Schlachter aus als wie Mediziner.

»Abbrechen«, befahl Smyrnikov leise. »Aufräumen und sauber machen, 77 wandert ins Krematorium. Gute Arbeit, Doktor Lange. Ich weiß Ihr Engagement zu schätzen.«

Lange nickte, schien aber nicht glücklich.

Smyrnikov zeigte auf McNamara, bevor er sich zum Ausgang wandte. »Folgen Sie mir bitte, Herr Kollege.«

Schweigend verließen sie den OP, legten die verschmierten Kleidungsstücke ab, reinigten sich und zogen sich um. Dabei vermieden sie Blickkontakt.

Smyrnikov ließ McNamara den Vortritt, als sie die Umkleide verließen und wies auf den Besprechungsraum. »Da hinein, bitte.«

Sie betraten das Zimmer.

Smyrnikov setzte sich sofort mit dem Rücken zu dem zugemauerten Fenster und bot McNamara weder etwas zu trinken noch von den Nüssen an, die auf dem Tisch standen. Die Gastfreundlichkeit hatte er sich verscherzt.

McNamara hatte die Hände in die Taschen seines Kittels gesteckt, die Schultern hingen herab, die schlanke, schlaksige Statur machte ihn zu einem niedergeschlagenen Schuljungen, der nach einem aufgeflogenen Streich auf dem Weg zum Direktor war.

Der Ire wollte etwas sagen, doch Smyrnikov hob die Hand. »Sie müssen nichts erklären. Ich habe verstanden, dass Sie aussteigen wollen. Sie sind nicht der Erste, der mit unseren Forschungen nicht zurechtkommt.«

McNamara sah erleichtert aus. »Es tut mir leid, dass ich aussteigen muss. Ich habe mir darunter etwas anderes vorgestellt. Die Verpflanzungen, die Transplantationen, sicherlich, das reizt mich, doch ich dachte, wir experimentieren an Tieren. An Affen«, plapperte er. »Dass ich …«

»Unsinn. Sie wussten, was Sie erwartet, Professor McNamara.« Smyrnikov entließ ihn nicht aus seiner Schuld und dem Vorwurf des Versagens. »Sie sollten sich eingestehen, dass Sie nicht zu dem taugen, für was wir Sie in unserem Institut brauchen. Unsere Geldgeberin will Resultate, Resultate an Menschen. Alles andere hat keinen Nutzen, Professor, vor allem keinen finanziellen. Affen besitzen keine Millionenvermögen, das sie für den Erhalt ihres Lebens ausgeben können.« Er hob den Arm und deutete auf die Tür. »Sie können gehen. Packen Sie Ihre Koffer und melden Sie sich unten beim Empfang. Ein Fahrer wird Sie zum Flughafen bringen. Sie wissen, dass Sie zum Schweigen verpflichtet sind. Halten Sie sich daran. Der Bruch unserer Abmachung hätte weitreichende Folgen für Sie und alle Menschen, die Ihnen in irgendeiner Weise nahe stehen.«

McNamara setzte zu einer Erwiderung an, doch dann nickte er nur müde. Er erhob sich, nickte Smyrnikov nochmals zu und verließ den Raum.

Nach ein paar Sekunden hob der Institutsleiter den Telefonhörer ab und informierte die Wachen am Eingang, wohin sie McNamara tatsächlich bringen sollten.

Dann überlegte er, wie er ihrer Investorin den unerwarteten Ausfall von Patient 77 erklären sollte.

Es gab nicht viel, vor dem Smyrnikov sich fürchtete. Doch diese Frau gehörte dazu.

Paris, Frankreich

»Ja, Mamma! Mir ist nichts passiert.« Tommaso hatte es im Krankenhaus nicht ausgehalten und von dem Angebot Gebrauch gemacht, auf Kosten des französischen Steuerzahlers wenigstens noch für zwei Tage in einem schicken Vier-Sterne-Hotel zu wohnen. Solange die heiße Phase der Ermittlungen lief, wollte man ihn nicht gehen lassen. Die Entschädigungssumme, die ihm Air France angeboten hatte, war auch nicht schlecht.

Als er im Fernsehen die ersten Bilder vom Flughafen Paris-Charles de Gaulle gesehen hatte, war ihm schlecht geworden: Das Terminal 2 e gab es nicht mehr, es hatte Feuer gefangen und war zu großen Teilen zerstört worden. Auch der A380 war kaum noch erkennbar: die rechte Tragfläche durch die Turbinenexplosion abgerissen, die Nase komplett eingedrückt, große Partien des vorderen Rumpfs zersplittert und zerfetzt. Das Feuer, das den Flieger ebenso wie das Gebäude verheerte, verkohlte manche der Toten bis zur Unkenntlichkeit. Inferno. Alles deutete auf einen Anschlag hin.

Tommaso konnte angesichts der Bilder nicht glauben, dass er sich – abgesehen von einer leichten Gehirnerschütterung und einer schwachen Rauchvergiftung – keine Verletzungen zugezogen hatte. Feuerwehrleute hatten ihn gefunden und rausgezerrt. Er war irgendwann im Krankenhaus aufgewacht, die Ermittler hatten ihm danach die ersten Fragen gestellt.

Ziemlich genau die gleichen Fragen stellte seine inquisitorische Mamma. Nur noch aufdringlicher und unausweichlicher. Das beschwichtigende Gestikulieren, in das er gewohnheitsmäßig verfiel, half nichts, schließlich sah sie die Gesten nicht. Sie erwartete einen Bericht. In epischer Länge.

»Nein, Mamma. Ich bin aus dem Klo gekommen und …«

Es klopfte laut gegen die Tür.

»Ciao, Mamma. Die Polizei ist wieder da und möchte was von mir. Ich rufe dich später an. … Ja, aus dem Hotelzimmer. … Ja, das bezahlen auch die Franzosen. … Genau. Ciao, ciao.« Schnell legte er auf und ging zur Tür, um sie zu öffnen.

Der Anblick des einzelnen Mannes im schwarzen Anzug verwunderte ihn. Er hatte mit dem kleinen Radont vom französischen Geheimdienst gerechnet, mit dem er seit seinem Erwachen im Krankenhaus regelmäßig in Kontakt stand. Von der Uhrzeit her hatte das Klopfen gepasst. Der Mann vor ihm sah mit dem weißen Hemd, schwarzen Schlips und Ray-Ban-Sonnenbrille aus, als sei er direkt einem Agenten-Film entstiegen. Vielleicht war der Unbekannte vom FBI?

»Si?«, machte Tommaso argwöhnisch. Er ruckte an seinem Bademantel herum, unter dem er nur eine Unterhose trug.

»Hallo, Mister Tremante.« Der Schwarzhaarige nahm die Sonnenbrille mit einem hollywoodreifen Lächeln ab und hielt mit der rechten Hand einen Ausweis in die Höhe, auf dem sein Name zu lesen stand. Tommaso konnte sich nur den Nachnamen merken, weil er so lustig klang: Darling. »Mein Name ist Darling, ich bin Commander beim MI6 und mit den Ermittlungen zu den Vorkommnissen rund um den Flug AF023 beauftragt.« Er deutete in das Zimmer. »Darf ich?«

»Si, claro.« Tommaso gab die Tür frei und zeigte auf die Sitzgruppe, in der er bereits viele Stunden mit Radont und dessen Aufnahmegerät verbracht hatte. »MI6. Wieso denn der englische Geheimdienst?« Er holte zwei Gläser und eine Flasche Wasser aus der Minibar. »Wo bleiben denn die Amis?«

»Ah, die Kollegen von der CIA werden schon noch auftauchen.« Darling setzte sich. Älter als dreißig konnte er unmöglich sein, ein Dreitagebart verlieh seinem hübschen Gesicht etwas mehr Kantigkeit. Popstar, Model, Schauspieler, der Mann hätte Dutzende Möglichkeiten, mit seinem Äußeren Geld zu verdienen. »Bei dem Ereignis sind britische Staatsangehörige ums Leben gekommen, und die Berichte, die Kollege Radont bislang an mich weiterleitete, fand ich unbefriedigend.«

»So?«

»Ja. Es fehlt mir an Tiefe. Mit Ihrer Erlaubnis, Sir, würde ich gerne mit Ihnen ein paar Dinge klären, die mir unverständlich blieben.«

»Si, si.« Tommaso setzte sich, goss Mineralwasser in die Gläser. »Was wollen Sie wissen, Commander?«

Der Brite lächelte freundlich. »Sehr nett, danke. Sobald Sie den Eindruck haben, eine Pause einlegen zu wollen, unterbrechen Sie mich jederzeit, Sir. Ich kann mir vorstellen, dass es ein wenig viel für Sie ist, Mister Tremante. Wo Sie der einzige Überlebende des Flugs AF023 sind.«

Tommaso nickte. »Es scheint, als hätten mich höhere Mächte vor dem Gas beschützt.« Er steckte die Hände in die Taschen des Bademantels.

Darling zückte ein schwarzes Notizbuch. »Waren es höhere Mächte? Sir?«

»Wie … was soll es denn sonst gewesen sein? Wenn ich nicht aufs Klo gegangen wäre, hätte mich das Gas ebenso erwischt wie die anderen. Dieser Araber wollte noch, dass ich sitzen bleibe!« Dann verstand Tommaso, dass der Commander eine Andeutung gemacht hatte, und diese Andeutung gefiel ihm nicht. Sie gefiel ihm überhaupt nicht. »Sie denken, ich hätte was mit der Sache zu tun?«, brach es aus ihm heraus, und er fühlte, wie sein stattliches Doppelkinn zitterte.

»Schön, dass Sie es selbst ansprechen.« Darlings Lächeln blieb wie festgemeißelt. »Welche Erklärung haben Sie denn? Die Toiletten sind nicht luftdicht, also hätten Sie ebenso wie alle anderen sterben müssen, Mister Tremante.«

»No!«, rief er bestürzt und starrte den Agenten an.

Darling fuhr sich leicht über die Haare, als wollte er den Sitz seiner Frisur prüfen; die Haare glänzten leicht feucht und schimmerten im Licht. »Über fünfhundert Menschen sterben laut Ihren Angaben in etwa zehn Sekunden an einem Gas, das sich unmittelbar danach in nichts auflöst. Es wurden keinerlei Rückstände gefunden, weder im Innenraum des Airbus noch in den Lungen der Toten. Well, well, Sir. Das ist, mit Verlaub, die unglaubwürdigste Geschichte, die ich in meiner ganzen Laufbahn gehört habe.« Er zeigte mit dem Stift auf Tommaso, und er klang freundlich, doch bestimmt. »Was haben Sie also getan, um zu überleben? Oder ist Ihre ganze Geschichte ein Märchen, um sich selbst zu schützen?«

»Ich …« Tommaso wusste nicht, was er erwidern sollte. Die Vorwürfe waren lächerlich, unerhört! Er wollte Radont anrufen, damit er ihm den britischen Mistkerl vom Hals schaffte.

Doch Darling ließ nicht locker. »Angenommen, Sie sagen die Wahrheit: Sie müssen doch etwas bemerkt haben. Einen Geruch, ein Geräusch, erstickte Schreie oder …«

»Ein Knistern!«

Darlings Augen wurden schmal, das gefährliche Lächeln wurde von einem lauernden Ausdruck ersetzt. »Im Bericht der Franzosen stand nichts von einem Knistern.«

»Es ist ja auch nicht wichtig.«

»Vielleicht doch, wer weiß? Erzählen Sie, Sir.« Der Commander lächelte wieder, hielt seinen Stift und sein Notizbuch bereit.

»Die Stewardess machte eine Durchsage und … dann knisterte es. Wie ein Störgeräusch. Graues Rauschen oder wie nennt man das?«

»Belassen wir es bei Knistern.«

»Si.« Tommaso trank einen Schluck Wasser, seine Hand zitterte leicht, weil die Erinnerung mit voller Wucht zurückkehrte. Das Kettchen um das Gelenk schwang hin und her. Der französische Traumaexperte, den ihm die Polizei nach der ersten Befragung schickte, hatte ihn gewarnt, dass die Bilder ihn lange verfolgen könnten und er eine Therapie in Erwägung ziehen sollte. Anfangs hatte er nicht daran geglaubt, aber dank des Briten spürte er zum ersten Mal Angst. Horror. Er stand wieder in der Kabine, sah sich selbst im Spiegel zuzwinkern, während vor der Tür Hunderte Menschen ihr Leben verloren. »Danach war es still«, flüsterte er.

»Zuerst das Knistern, dann das Sterben?«

»Ich denke. Si.«

Darling verzog den Mund und schrieb. »Aufschlussreich. Könnte sein, dass Sie eine Störung vernommen haben, die vom Funksignal einer Fernbedienung stammte. Der Auslöser für die Einleitung des Gases, Sir.«

Tommaso war erleichtert, dass ihm der Agent glaubte. Er hatte sich fast schon in britischer Untersuchungshaft gesehen, und die Antiterrorgesetze auf der Insel waren um ein Vielfaches schärfer als die der Franzosen. In einer kleinen, engen Zelle, die ihn an die Flugzeugtoilette erinnern würde. »Lassen Sie bloß diesen Schwachsinn mit den Anschuldigungen«, murmelte er.

»Ach, das?« Darling lächelte freundlich. »Das war ein Verhörtrick, Sir. Ich habe Sie unter Stress gesetzt. Dadurch wird Adrenalin ausgeschüttet, das bringt den Körper auf Touren.« Er pochte gegen die Schläfe. »Auch den Verstand. Wissen Sie, der Mensch ist ein vernunftbegabtes Wesen, das immer dann die Ruhe verliert, sobald von ihm verlangt wird, nach Vernunftgesetzen zu handeln, um es mit einem Zitat zu sagen. Ich habe Sie dazu gebracht, die Ruhe zu verlieren und Ihre Erinnerung wiederzufinden. Bitte entschuldigen Sie vielmals, Sir. Aber Ihr neuer Hinweis wird auch die französischen Kollegen voranbringen. Immerhin scheint es eine zentrale Vorrichtung für die Einspeisung des Gases gegeben zu haben. Die Klimaanlage, vermute ich.«

»Aber der Araber …«

»Die Stahlflasche des Mannes enthielt nichts als reinen Sauerstoff. Sie, Mister Tremante, leben vermutlich wegen eines kleinen Zufalls noch, den die Terroristen nicht bedachten.« Er nahm das Glas, setzte es an die Lippen und leerte es.

»Wie sind die Attentäter ins Cockpit gelangt? Weiß man das schon?«

Darling zuckte mit den Achseln. »Die Kanzel wurde durch den Aufprall zu stark zerstört, um Rückschlüsse auf den genauen Ablauf zu ziehen. Fest steht, dass die Tür offen stand und sich eine Stewardess gegen die Vorschrift von Air France bei den Piloten befand. Vielleicht wurden sie erpresst, die Tür zu öffnen. Aber das herauszufinden ist Sache der Franzosen. Es sollte ihnen recht problemlos gelingen, sobald die Black Box gefunden ist. Ich hingegen bin auf der Suche nach den winzigen Details, die verlorengehen könnten.«

Tommaso erinnerte sich plötzlich an die stickige Luft in der Toilette. »Die Frischluftzufuhr war kaputt!«

»Bitte?«

Ihm wurde plötzlich klar, warum er in einem gemütlichen Hotel saß, anstatt zusammen mit den übrigen Passagieren im Leichenhaus zu liegen – oder zu Asche verbrannt zu sein. »Im Klo! Die Lüftung funktionierte nicht, es kam weder Luft rein noch raus!«

»Das wird es gewesen sein, Sir.« Darling stellte das Glas auf den Tisch. »Wo wir Ihre grauen Zellen auf Trab gebracht haben, fällt Ihnen noch was ein? Sie wissen jetzt ja, dass es auf die kleinste Kleinigkeit ankommt.«

Tommaso rieb sich über die linke Ohrmuschel, als könnte er seine Erinnerung damit stimulieren. Alles, was er sah, waren jedoch die Gesichter der Toten. Darling schien das Trauma mit seinen beschissenen Psychospielchen aktiviert zu haben. »Nein. Tut mir leid.« Tommaso konnte immer noch nicht glauben, dass er sein Leben etwas so Banalem wie einer kaputten Lüftung verdankte. »Einer kaputten Lüftung und einem brutal starken Kaffee«, murmelte er vor sich hin.

»Kaffee, Sir?« Darling hatte sich unbemerkt erhoben und eine Karte auf den Tisch gelegt.

»Si.« Er steckte sie ein. Damit war das Dutzend an Visitenkärtchen von Ermittlern voll. »Ich habe aus Versehen, wie mir gesagt wurde, einen Kaffee bekommen, der für einen anderen Passagier vorgesehen war. So etwas Starkes habe ich noch nie getrunken. Und ich bin Italiener! Als hätte man Espresso in eine Kaffeekanne gefüllt. Das hat meinem Magen den Rest gegeben.«

»Trotzdem tranken Sie ihn?«

»Er war lecker«, sagte Tommaso leise. »Über den Geschmack konnte ich mich nicht beschweren. Nur die Wirkung war fatal. Und dann auch wieder nicht. Er rettete mir immerhin das Leben.«

»Was für ein Zufall.« Darling setzte seine Sonnenbrille wieder auf und reichte Tommaso die Hand: trocken, kräftig und warm im Gegensatz zu seiner feuchten, kühlen Haut. »Dann wünsche ich Ihnen alles Gute, Sir. Sollten Ihnen weitere Details einfallen, zögern Sie nicht, mich anzurufen. Im Namen des MI6 möchte ich mich bei Ihnen für Ihre Mitarbeit bedanken.«

»Keine Ursache.« Tommaso blieb sitzen und schaute nicht hin, als der Agent zur Tür hinausschritt und ihn mit den Bildern der Toten allein ließ.

Er schaltete den Fernseher ein und zappte durch die zahlreichen Sondersendungen zum Unglück.

Je mehr er sah, desto weniger konnte er es begreifen. Je mehr Zerstörung er sah. Je mehr Details zu sehen waren. Familien ausgelöscht, junge und alte Menschen. Gute Menschen. Dabei vermischten sich seine eigenen Erinnerungen mit den gezeigten Bildern. Die Mutter mit ihrem Sohn, der Sky Marshal, der Araber, die Stewardess … Es wurde schwerer und schwerer, die Bilder zu ertragen.

»Warum habe ich überlebt?«, flüsterte er und schaltete den Fernseher aus. Er wollte nichts mehr davon sehen. »Warum ich?«

Auf das penetrante Telefonklingeln reagierte er nicht.

Cospudener See, Leipzig, Deutschland

Konstantin sprang vom Oberdeck auf den Steg und rannte los, den beiden Räubern hinterher, die beinahe sofort bemerkten, dass sie verfolgt wurden und ihre Geschwindigkeit erhöhten. Dumpf polterten die Sohlen ihrer Turnschuhe über die Holzbohlen.

Keiner der Besucher der Marina stellte sich den Männern in den Weg. Sie machten ihnen stattdessen Platz, um nicht in die Sache verwickelt zu werden.

Konstantin fühlte eine gewisse Leichtigkeit, die drei Red Russians machten sich bemerkbar. Er war besser vorsichtig, denn alkoholbedingte Selbstüberschätzung konnte schnell zur Katastrophe führen.

Über kleinere Hindernisse auf seinem Weg, wie gespannte Seile oder Kisten, setzte er problemlos hinweg und holte rasch auf. In seiner Freizeit betrieb er den recht ungewöhnlichen und anstrengenden Sport Parkour, und diese Verfolgungsjagd war fast so etwas wie eine Trainingseinheit.

Die Räuber hatten das Land erreicht und rannten zu einem abgestellten Motorrad.

Zeit für eine Abkürzung. Konstantin kniff kurz die Augen zusammen und plante seinen Weg, dann sprang er kurzerhand vom Steg auf ein Boot, rutschte über das Deck, hüpfte von da auf ein Tretboot, in dem die Passagiere vor Schreck aufschrien, drückte sich ab und hechtete auf das nächste vertäute Segelschiff, zog sich an der Reling empor. Von da flankte er auf ein kleineres Boot hinunter. Einige weitere befanden sich gerade an so günstiger Position, dass er sie wie schwimmende Trittsteine nutzen konnte, auch wenn er mehrmals fast abrutschte. Zum Glück waren heute so viele Menschen auf dem Wasser unterwegs, dass die Boote, wenn auch nur gerade eben, nah genug beieinander lagen.

Mit einem gewaltigen Satz erreichte er das Land und stand vor dem Motorrad der Räuber, die ihn fassungslos betrachteten. Er hatte es fast gleichzeitig mit ihnen erreicht, da er sich auf dem direkten Weg bewegt hatte, während die Diebe die ganze Promenade entlanglaufen mussten. »Her mit den Objektiven.« Konstantin atmete zwar schneller, aber richtig angestrengt hatte er sich nicht. Nur sein rechter Knöchel klopfte leicht, der eine Sprung war nicht ganz sauber gewesen.

»Verpiss dich!« Der Kräftigere der beiden ließ drohend seine Muskeln spielen.

»Eher nicht. Wir warten, bis die Polizei kommt und euch einpackt.«

Die Männer schüttelten beinahe mitleidig die Köpfe, stellten das Diebesgut ab, zogen Teleskopschlagstöcke aus den Hosentaschen – und griffen an. Die Art, wie routiniert sie dabei vorgingen, zeigte ihm, dass sie das nicht zum ersten Mal taten. Vermutlich Kampfsportler. Oder Türsteher.

Noch bevor einer von ihnen ausgeholt hatte, machte Konstantin einen Ausfallschritt, trat dem Kräftigen gegen das linke Knie und stieß mit der Ferse in einer anschließenden Bewegung auch gegen das rechte. Es knackte hörbar, das Gelenk brach, und der Mann knickte schreiend zusammen.

»Dich mach ich tot!« Sein Kumpel schlug mehrmals mit dem Schlagstock nach Konstantin, der den Hieben mit schnellen, genau dosierten Ausweichbewegungen entging, bis er schließlich zupackte und sich das Handgelenk des übrig gebliebenen Diebes schnappte. Die Kraft, die der Mann in seine Bewegung gelegt hatte, nutzte Konstantin zu einem KaitenNage, einer Technik des Aikido.

Was für einen Zuschauer nach tänzerisch-leichten Drehbewegungen und -schritten aussah, endete für den Gegner in einem Wurf auf den Asphalt. Der Schlagstock flog davon.

Mühsam rappelte sich der Angreifer hoch und schien zu überlegen, was er als Nächstes tun sollte: abhauen oder nochmals angreifen? Er sah bereits ziemlich ramponiert aus, Blut rann aus einer Schürfwunde am Ellbogen und von der rechten Wange.

»Sei schlau und bleib da stehen, bis die Polizei kommt«, riet ihm Konstantin ruhig und kreuzte die Arme vor der Brust. Beifall brandete von der Marina auf.

Fritz Wutschke, der Besitzer der gestohlenen Objektive, näherte sich, ein Handtuch gegen die Kopfwunde gepresst und inzwischen mit Hemd und Shorts bekleidet. »Danke, Herr Korff«, sagte er erleichtert. »Diese Arschlöcher!« Er warf den Räubern böse Blicke zu. »Die Polizei kommt gleich. Ich habe angerufen.«

»Sehr schön, Herr Wutschke.«

Schnell nahm der ältere Herr die Fototaschen an sich. »Ich wusste gar nicht, dass Sie so sportlich sind, Herr Korff.«

»Sie meinen für einen Bestatter?«, fügte er grinsend hinzu und behielt die Gesetzesbrecher im Auge. Der eine lag noch immer am Boden und hielt sich das verletzte Knie, der andere leckte sich angespannt über die trockenen Lippen und schien auf den richtigen Moment für einen Fluchtversuch zu warten.

Wutschke musste lachen. »Erwischt.«

»Ausgleichssport ist alles. Parkour.« Konstantin war es nicht unangenehm, auf seine Fähigkeiten angesprochen zu werden, aber unter anderen Umständen, sprich ohne drei Red Russians auf nüchternen Magen, hätte er aus der Verfolgung keine solche Show gemacht. Alkohol, verflucht.

»Parkour? Habe ich noch nie gehört.«

»Man geht auf dem kürzesten Weg von A nach B und überwindet dabei alle Hindernisse.«

»Aha.« Wutschke schien beeindruckt. »Und was war das, was Sie mit dem Typen veranstaltet haben? Das sah so elegant aus, zack, und plötzlich flog er durch die Luft!«

»Aikido. Japanischer Kampfsport. Richtet die Kraft des Gegners gegen ihn selbst«, erklärte er knapp. »Und das«, er zeigte auf das verletzte Knie des Kräftigeren, »war einfach nur ein Tritt.«

Wutschke lachte. »Das hat der Typ nötig gehabt.«

Ein Streifenwagen rollte heran, die Beamten stiegen aus und nahmen den Sachverhalt auf. Die Räuber schwiegen und verweigerten die Aussage. Die Polizisten bestellten für den Verletzten vorsorglich einen Krankenwagen, dann ließen sie Konstantin und Wutschke gehen.

»Es hat in den letzten Wochen immer wieder Einbrüche auf der Marina gegeben. Anscheinend sind die Täter dank Ihnen gefasst. Nochmals vielen, vielen Dank, Herr Korff«, sagte Wutschke, als sie über den Steg gingen. »Die Objektive sind um die zehntausend Euro wert. Das wäre mehr als ärgerlich gewesen. Wenn ich Ihnen einen Gefallen tun kann, sagen Sie Bescheid.«

»Nein, lassen Sie mal. Das verbuche ich unter Nachbarschaftshilfe.« Konstantin kehrte auf die Vanitas zurück. »Gehen Sie lieber an Land und lassen Sie sich von einem Sanitäter untersuchen. Die Wunde an Ihrem Kopf sollte vielleicht geklammert werden, sonst reißt sie auf.«

»Haben Sie mit so etwas auch Erfahrung?«

»Wer Parkour macht, stürzt gelegentlich. Ich kenne einige Krankenhäuser und Arztpraxen von innen, Herr Wutschke.« Konstantin verabschiedete sich winkend. »Gute Nacht.«

»Sie haben recht, das können sich die Sanitäter anschauen. Aber erst verstaue ich meine Schätzchen wieder. Nacht, Herr Korff.« Wutschke ging an Bord seines Seglers.

Konstantin überlegte kurz, ob er sich einen vierten Red Russian mixen sollte. Zur Feier. Aber weil er noch packen musste, ließ er es bleiben und ging unter Deck.

Da er von Paris aus direkt nach Moskau flog, nahm er einen Koffer, in den Kleidung für mehrere Tage passte. Seine Spezialinstrumente für die Rekonstruktion von Lilou de Girardin würde er morgen früh aus dem Ars Moriendi holen. Zwar hatte ihm Privatsekretär Caràra zugesagt, alles Notwendige zu besorgen, doch manche Werkzeuge hatte sich Konstantin selbst angefertigt. Ein unschlagbarer Vorteil und der Grund für seinen Ruf.

Er zog sich im kleinen Bad des Hausbootes aus, prüfte im hellen Neonlicht seinen Knöchel. Es war nicht ratsam, Parkour zu laufen, ohne sich warm zu machen. Aber da die Räuber sonst entkommen wären, hatte er kaum eine Wahl gehabt.

Konstantin tastete. Nicht heiß, nicht geschwollen. Gut!

Erleichtert ging er durch den schmalen Flur und öffnete die Tür, die zu einem winzigen Räumchen führte: zwei Meter lang, einen Meter breit, und es stand nichts drin außer seinem Bett.

Konstantin kletterte hinein, zog die Tür zu und schob den dicken Riegel vor. Erst danach öffnete er das kleine Bullauge einen Spalt, um den Wellen zuzuhören, die beruhigend monoton gegen den Rumpf der Vanitas gluckerten.

Das leicht offen stehende Fenster bedeutete einen Luxus, den er sich an Land niemals erlauben könnte.

Paris, Frankreich

Konstantin saß in der schmucken Lobby des Hôtel De Vendôme und wartete, umgeben von Stuck und Prunk, auf den Privatsekretär des Marquis. Er las die Le Monde, sah gelegentlich auf.

Neben der gemütlichen Sitzbank, auf der er sich niedergelassen hatte, stand sein harmlos aussehender Aluminiumkoffer, dessen Inhalt am Flughafen Saarbrücken allerdings für Wirbel gesorgt hatte. Weniger, weil man in Konstantin einen Attentäter vermutete, sondern weil die Werkzeuge einfach zu ungewöhnlich waren, um keine Fragen zu stellen. Er musste dem Personal seine Sondergenehmigung zeigen und erklären, was er von Beruf war und für was man die Zangen, Röhrchen, Halterungen und dergleichen benötigte. Die Flughafenangestellten wurden daraufhin blass und verloren ihre anfängliche Neugier. Sein Alukoffer landete in der Obhut einer Stewardess, das Gepäckstück bekam er erst nach der Landung und außerhalb der Maschine zurück.

Inzwischen war es kurz nach Mittag. Im beeindruckend gestalteten Eingangsbereich des Hotels herrschte reges Kommen und Gehen.

Zwar trug Konstantin einen schwarzen Anzug mit schwarzem Polohemd, die beide nicht eben billig gewesen waren, doch er wirkte in dieser Umgebung extrem underdressed. Das Vendôme war ein Hotel der höchsten Kategorie, mit aufmerksamem Personal und Gästen, für die Geld in der Regel keine Rolle spielte.

Der Luxus zog sich durch das ganze Haus. In seiner Suite hätte man sich wahlweise verlaufen oder ein Basketballspiel austragen können. Überall roch es gut, nirgends entdeckte er Schmutz oder Staub, nicht mal im hintersten Winkel der Schränke. Bei aller Freude über die Unterbringung empfand Konstantin es auch ein Stück weit als unanständig, dass sein Auftraggeber so viel Geld für ein Zimmer bezahlte. Für eine Nacht. Aber mit Frühstück.

Konstantin überflog die nächste Seite der Zeitung schnell, bevor er umblätterte und die zahlreichen Fotos mit Rettungswagen und Helfern, Flammen und qualmenden Ruinen verschwanden.

Er hatte es nicht vermeiden können, doch nähere Informationen zum Unglück auf dem Flughafen Paris-Charles de Gaulle zu bekommen. Die Le Monde brachte wie alle französischen Zeitungen Sonderseiten zu dem Vorfall, über den heftig spekuliert wurde. Die Behörden hüllten sich in Schweigen und verwiesen auf die laufenden Ermittlungen. Aber es sprach Bände, dass die höchste Terrorwarnstufe verhängt worden war.

Ein Anschlag. Was soll es sonst gewesen sein? Konstantin legte die Zeitung zur Seite und schaute zum Eingang, während seine Gedanken um den Anschlag kreisten.

Auch über Lilou und ihre Familie wurde in den meisten Medien berichtet. Wie tragisch das alles sei, wie schön die junge Frau gewesen sei, wie viele Pläne sie als Model gehabt habe, wie engagiert sie sich für Hilfsprojekte gezeigt hatte und wie sie ihren kaltherzigen Vater zu einem guten Menschen gemacht habe.

Inzwischen hatte Konstantin sehr viele Aufnahmen von ihr gesehen und musste den Journalisten recht geben: Lilou de Girardin war in jedem Alter eine Schönheit gewesen.

Der Zeitpunkt für die Trauerfeier stand inzwischen fest, wie er ebenfalls aus der Zeitung erfahren hatte: in zwei Wochen, und zwar nicht in irgendeiner Kirche, sondern in einer Kathedrale.

Der Kathedrale.

In Notre-Dame. In aller Öffentlichkeit, mit zahllosen Fotografen, die ein Bild der Toten machen würden. Von der unvergleichlichen Lilou.

Es wurde in der Presse angenommen, dass sämtliche fünf Glocken von Notre-Dame erklingen würden. Auch die Glocke namens Emmanuel, die nur zu den höchsten Festtagen und zu besonderen Anlässen geläutet wurde. Zehntausend Menschen passten in die riesige Kathedrale, und es konnte sein, dass es eng werden würde.

Die Last der Verantwortung auf seinen Schultern war spürbar größer geworden, seit er das wusste. Inzwischen musste er einräumen, dass er eine gewisse Nervosität spürte, die sich erst legen würde, wenn er die Tote sah. Vierundzwanzig Stunden, wenn es gut läuft. Mehr habe ich nicht, um gute Arbeit abzuliefern.

Ein südländisch anmutender Mann in einem dunkelgrünen, dezenten Anzug kam herein und sah sich suchend um. Während er den Kopf drehte, wippte das Ende seines kurzen Pferdeschwanzes nicht einmal andeutungsweise, als wären die schwarzen Haare gestärkt. Sein Blick fiel auf Konstantin. Er lächelte knapp, hob den Arm und gab ein dezentes Zeichen, dass er ihm folgen sollte. Ohne sich noch einmal umzusehen, verließ er die Lobby des Vendôme.

War das Monsieur Caràra? Konstantin wunderte sich über den Auftritt. Durch die Glasfront verfolgte er, wie der Mann in das mittlere von fünf Taxis stieg, die vor dem Hotel standen. Konstantin erinnerte sich, dass der Sekretär vom hohen Interesse der Medien gesprochen hatte. Aha. Ein Täuschungsmanöver.

Er stand auf, setzte die Sonnenbrille auf, nahm seinen Koffer und trat auf die Straße. Als er Caràras Taxi erreichte, beugte er sich zum geöffneten Fenster hinunter. Er hatte bemerkt, dass in den anderen Wagen jeweils zwei Männer auf der Rückbank saßen. »Verzeihen Sie, aber Sie sind Monsieur Caràra?«, fragte er auf Französisch.

 

»Ja. Steigen Sie bitte ein, Monsieur Korff. Ich erkläre Ihnen unterwegs alles.« Er öffnete ihm die Tür.

Konstantin begab sich auf den Platz hinter dem Beifahrersitz. »Ich nehme an, es geht darum, der Journaille zu entkommen und den Ort geheim zu halten, an dem Demoiselle Lilou aufbewahrt wird?«

Kaum saß er, fuhren die Taxis eines nach dem anderen los, bildeten eine Kolonne, in der sie durch gewagte Überholmanöver ständig die Position wechselten.

»So ist es, Monsieur.« Caràra hielt ihm die Hand hin. »Willkommen in Paris.«

Konstantin schlug ein. »Danke.« Dann sah er aus dem Heckfenster. Wenn er sich nicht täuschte, wurden einige Taxis von Rollern und anderen Autos verfolgt. Wir auch.

»Der Marquis hat fünf Taxis geliehen und mit eigenen Fahrern und Mitarbeitern besetzen lassen. Die GPS-Sender sind ausgeschaltet«, erklärte der Sekretär, während sich der Korso an einer breiten Straße plötzlich in verschiedene Richtungen aufteilte. »Wir werden außerdem bald den Wagen wechseln. Niemand wird herausfinden, wohin wir fahren.«

Konstantin bemerkte eine orangefarbene Vespa, die beharrlich an ihrem Heck klebte. Eine Frau lenkte, der Mann hinter ihr hielt eine Fotokamera mit riesigem Objektiv wie ein Gewehr in die Höhe gereckt. »Noch sind wir nicht alleine.«

Caràra lächelte. »Aber gleich.« Er wies den Fahrer an, das Tempo zu reduzieren, als sie in einen vierspurigen Kreisel einbogen. Jetzt wurde Konstantin Zeuge, was einen Franzosen von einem Deutschen unterschied: Er kannte keine Angst um seinen Wagen.

Der Fahrer wechselte die Bahnen, ließ das Auto im bunten Blechmahlstrom nach innen treiben und wieder hinaus, so dass Konstantin die Vespa aus den Augen verlor. Es ging Runde um Runde, innen, Mitte, außen, und wieder zurück.

Auf einmal glaubte Konstantin im Gewühl aus Lackfarben und Autoformen hinter einer Scheibe ein bekanntes Gesicht zu erkennen, das ihn ebenso verwundert anschaute wie er den schwarzhaarigen Mann. Doch schon war der Wagen des anderen wieder verschwunden.

Was macht er denn hier? Die Überraschung wurde schnell von Unruhe verdrängt. Ist es wegen meines Auftrags? Ist er mir gefolgt? Nein, dann hätte er mich auch in Leipzig …

Da gab ihr Fahrer plötzlich Gas, schnitt zwei Wagen und donnerte aus dem Kreisel, um danach gleich rechts abzubiegen.

Die Vespa tauchte nicht wieder auf.

»Verzeihung, Monsieur Korff. Aber Sie haben …«

»Volles Verständnis.« Konstantin nickte. »Ich nehme an, Sie werden mir auch nicht sagen, wohin wir fahren?«

»Nein. Es ist nicht die beste Gegend. Irgendwo in der Banlieue.« Caràra blickte sich immer wieder um. Er blieb wachsam. »Damit rechnet die Presse nicht. Wie ich Ihnen schon sagte: Ein Bild von der toten Demoiselle in ihrem jetzigen Zustand wäre nicht tragbar.«

Die Fahrt verlief rasant und endete in einem Hinterhof, wo ein zweites Auto auf sie wartete: eine wuchtige schwarze Peugeot-Limousine.

Caràra stieg aus. »Ich fahre, Monsieur. Bitte nehmen Sie vorne Platz.«

Konstantin folgte ihm. Ist beinahe wie früher. Er musste grinsen, stellte seinen Koffer hinter dem Sitz ab und schwang sich in den Wagen. Gleich darauf ging es weiter, dieses Mal weniger schnell und rücksichtslos.

Da Konstantin sich in Paris nicht auskannte, hatte er keinen blassen Schimmer, wo sie sich befanden. Gelegentliche Hinweisschilder auf Sehenswürdigkeiten waren eine kleine Hilfe, aber auch diese wurden weniger.

Dafür geriet die Umgebung trostloser: graue Hochhäuser, Mülltonnenmeere, alte Autos, Brandflecken auf dem Asphalt, viele junge Menschen, die nach Einwandererkindern aussahen.

Das Ghetto von Paris. Konstantin dachte daran, dass hier Parkour groß geworden war. Als Beschäftigungstherapie für Jugendliche, damit sie nicht in die Kriminalität abrutschten.

»Haben Sie etwas mit dem Bericht anfangen können, den ich Ihnen schickte, Monsieur Korff?«, durchbrach Caràras Stimme seine Gedanken.

»Ja, danke sehr. Aber ich kann den Zustand der Leiche erst richtig abschätzen, wenn ich sie sehe.«

Der Obduktionsbericht erwähnte zwei harmlose Brüche der rechten Rippen sowie Quetschungen, die eigentlich nicht letal gewesen waren und von einem postmortalen Sturz herrührten.

Vermutlich war Lilou beim Einschlag des A380 aus dem Sitz geschleudert worden. Nicht schön waren der Bruch des Nasenbeins sowie des rechten Wangenknochens. Das bedeutete hässliche Blutergüsse. Sobald er das Blut aus den Gefäßen entfernt hatte, müssten sie sich aber mit einigen Tricks und Chemie kaschieren lassen.

»In den Nachrichten war mehrmals von Feuer die Rede. Es stand aber nichts von Brandverletzungen im Bericht.«

Caràra bestätigte dies zu seiner Erleichterung. »Demoiselle Lilou befand sich im vorderen Teil, wo die erste Klasse untergebracht war. Sie war nicht von den Flammen betroffen. Das hätte den Marquis und vor allem seine Gattin innerlich zerrissen, fürchte ich.« Er fuhr an einer Gruppe Jugendlicher vorbei, die den Peugeot mit leeren Dosen bewarfen und ihm nachgrölten. Das noble Auto löste an diesem Ort keineswegs Bewunderung aus. »Sie werden inzwischen begriffen haben, welche Verantwortung auf Ihnen lastet, Monsieur Korff. Die Familie hat größtes Vertrauen in Sie.«

»Ich weiß.«

Caràra schien zu überlegen. »Ist es wahr, dass das Abschiednehmen so wichtig ist?«

»Sie meinen von einem Toten? Nun, im Fall von Madame Girardin sicherlich. Die Psyche bekommt Gelegenheit, den Verlust zu begreifen und nicht als abstrakte Meldung verarbeiten zu müssen.« Konstantin erinnerte sich an viele ergreifende Szenen, denen er als Bestatter beigewohnt hatte. Manche Leute machten den Schmerz des Verlusts leise mit sich aus, andere schrien und weinten krampfartig am Sarg. Doch nur selten hatte er eine Reaktion als übertrieben oder unangenehm empfunden. »Es wäre sicher besser, wenn Madame ohne Publikum Abschied von ihrem Kind nimmt. An einem neutralen Ort und nicht erst in der Kathedrale.«

»Ah, Sie haben sich kundig gemacht.« Caràra bog ab und gelangte in eine verlassene Gegend, in der kleine und große Hallen aneinandergereiht standen. »Das, was Sie hier sehen, ist der gescheiterte Versuch, Betriebe in diesem Stadtteil anzusiedeln, um den Jugendlichen die Chance auf eine Ausbildung zu geben.«

»Es funktionierte nicht?« Konstantin sah zu den verwaisten Gebäuden.

»Nein. Es lag nicht an den Jugendlichen. Die Betriebe sackten die Unterstützung des Staates ein und haben dann dichtgemacht. Betrüger.« Enttäuschung und Ärger waren Caràra deutlich anzusehen.

Sie fuhren in den Hof eines Unternehmens, das auf Klimatechnik spezialisiert gewesen war, wie ein verwittertes Schild verriet. Im Schatten der Gebäude verborgen, waren zwei Aufpasser postiert, breit gebaute Männer in einer Mischung aus Tarnklamotten und Lederkluft sowie Synthetikanoraks.

»Wir sind da, Monsieur Korff.« Caràra lenkte den Peugeot in den Teil des Hofs, der von der Straße nicht einsehbar war, hielt an und stieg aus.

Konstantin nahm seinen Koffer und folgte dem Sekretär durch eine Tür, an zwei weiteren Aufpassern vorbei und in einen Keller hinab. Ein dumpfes Surren verkündete, dass irgendwo im Inneren des Hauses ein Aggregat lief.

»Das Gebäude gehört dem Marquis«, erklärte Caràra auf dem Weg. »Er hat den gesamten Komplex gekauft und wird bald eine Schule errichten. Das schlug die Demoiselle vor, zu ihren Lebzeiten.«

Konstantin erinnerte sich daran, was die Zeitungen über die positive Veränderung des Tycoons durch seine Tochter gesagt hatten. Hoffentlich hält sein Altruismus an.

Caràra schob eine schwere Tür auf. Kühle Luft schlug ihnen entgegen. Geschätzte fünf Grad. Genau richtig zum Lagern von Leichen. Er schaltete das Licht ein.

Die Dunkelheit wurde von aufflackerndem Neonlicht vertrieben, ein gekachelter Raum erschien.

An der Wand war eine Art Tapeziertisch aus Aluminium aufgebaut, auf dem sich alle Werkzeuge und chemischen Mittel aufreihten, die Konstantin verlangt hatte. In der Mitte des Raums erhob sich ein Tisch, auf dem ein weißer Plastiksack lag und darauf wartete, dass man ihn öffnete. Eine Absaugvorrichtung für die Körperflüssigkeit gab es ebenso wie eine OP-Leuchte, ein Handwaschbecken, sogar eine Dusche sowie eine Wanne fand er vor. Außerdem hatte man ihm eine provisorische Garderobe hergerichtet, an der die übliche Arbeitskleidung eines Thanatologen hing. Auf einem weiteren Tisch hatte man die Kleidung der Verstorbenen sowie persönliche Gegenstände und Schmuck samt Fotos drapiert.

Der Sarg stand ebenfalls bereit.

Ein von der Form her schlichtes Modell, weiß lackiert, mit Blattgold und minimalistischen Schnitzereien verziert. Das obere Drittel des Deckels ließ sich öffnen, um den Blick auf die Tote zu erlauben.

»Ist alles zu Ihrer Zufriedenheit, Monsieur? Der Marquis lässt ausrichten, dass er die Umstände bedauert, unter denen Sie diese wichtige Arbeit ausführen müssen, doch die Sicherheit geht leider vor.« Caràra war an der Tür stehen geblieben, während Konstantin durch den Raum geschritten war.

»Ja.« Er zog das schwarze Sakko aus und hängte es auf einen Bügel. Am meisten hoffte er, dass die Pathologen darauf verzichtet hatten, Lilous Hirn zu entnehmen und zu untersuchen. Kahler Schädel, hässliche Narben und Schnitte auf der Stirn. Es hatte nicht im Bericht gestanden, aber manchmal wurde vergessen, alle Arbeitsschritte aufzuführen, vor allem, wenn es keinen Befund gab. »Sie können draußen warten.«

Caràra nickte dankbar. »Sollten Sie einen Kaffee wünschen oder eine Pause machen und etwas essen wollen, kommen Sie nach oben. Wir haben alles da.« Er ging hinaus, zog die schwere Tür kräftig hinter sich zu.

Leise hallte das Krachen nach, dann wurde es still, sogar die Lampen summten nicht mehr.

Diese Stille kannte Konstantin. Und er mochte sie. Die Stille und den Frieden seiner Arbeit.

Er zog sich um, legte die lilafarbenen Handschuhe an und richtete die Utensilien, die er benötigte, um Demoiselle Lilous Schönheit zu erhalten. Oder sie ihr zurückzugeben.

Er hatte nicht umsonst einige Monate bei einem Schönheitschirurgen gelernt, wie sich eine Gesichtsform modellieren ließ. Sein Vorteil war, dass er keine Rücksicht auf mögliche Schmerzen der Patienten, auf Nervenverläufe und dergleichen nehmen musste. Einzig das Resultat zählte.

Konstantin stellte seinen Alukoffer auf den Werkzeugtisch, öffnete ihn und legte seine eigenen Instrumente zu den fremden.

Ganz zum Schluss holte er den MP3-Spieler hervor, befestigte ihn auf dem Rücken am Gürtel und schob sich die kleinen Stöpsel in die Ohren. Gleich darauf erklangen die ruhigen Töne von Lambda, die ihm dabei halfen, seine Gedanken zu fokussieren, während er an den Tisch trat und den weißen Plastiksack betrachtete, in dem sich grob die Umrisse von Demoiselle Lilou erkennen ließen.

Konstantin atmete tief ein, nahm den Zipper des Reißverschlusses fest zwischen Daumen und Zeigefinger. »Bonjour, ma belle.«

Er zog ihn nach unten.