IX

Ez ist ein dinc vil wunderlich,

swer nâch dem tôde wirbet,

daz der vil kûme stirbet,

und der des tôdes nit engert,

der wit vil schiere sîn gewert.

 

(sinngemäß:

Es ist eine wunderliche Sache,

dass, wer sich nach dem Tod sehnt,

erst gebrechlich sterben wird,

und wer ihm zu entgehen versucht,

dem wird er sehr bald gewährt.)

Konrad von Würzburg, Partonopier und Meliur

Paris, Frankreich

Konstantin tippte auf das Bild. »Sophie Kronau.«

Jester sah mit einem überraschten Gesichtsausdruck auf das Foto. »Mit dem Namen hat sie sich vorgestellt?«

Er nickte. »Ja. Sie stotterte leicht, und sie wollte, dass ich eine thanatologische Behandlung ihres Bruders vornehme. Es war nicht schwer, die Lüge zu durchschauen.« Knapp fasste er die Begegnung mit ihr zusammen und zeigte Jester den verheilten Stich, der nicht mehr als ein roter Punkt war. Inzwischen behinderte ihn auch die Schusswunde nicht mehr. Als er seinen Bericht beendet hatte, sah er seinen Freund fragend an. »Was hast du mit ihr zu schaffen?« Dann verstand er. Sie ist eine von uns! »Das Airbus-Unglück?«

Jester zog ihn in eine Ecke der Lobby, wo sie sich ungestört unterhalten konnten. »Nein, damit hat sie nichts zu schaffen.« Er suchte ein zweites Bild heraus, dieses Mal von einem Mann um die fünfzig, der kräftig und gut gebräunt war. Der Unbekannte stand vor einem Schreibtisch, im Hintergrund wehte eine mit Photoshop einmontierte amerikanische Flagge. Auf dem Foto prangte das Emblem der DEA, der amerikanischen Drogenbekämpfungsbehörde. »Aber mit seinem Verschwinden. Das denken die Sleepers zumindest.«

Konstantin sah kurz zum Eingang, weil er Caràras Ankunft erwartete. »Wer ist das?«

»Clarence Hicks, Leiter der DEA-Abteilung Karibik. Er verschwand bei einer Feier spurlos. Wollte zur Toilette gehen und kam nicht mehr zurück. Vorher hat er sich aber mit ihr unterhalten. Dafür gibt es Zeugen.« Jester hielt das Konterfei der Frau hoch.

»Kronau.«

»Baronesse Kristin Sophia von Windau. Das ist ihr richtiger Name. Sie gehörte zu den Deathsleepers und war für Verbrechensbekämpfung und Kontaktpflege in Washington D. C. verantwortlich, bis sie überraschend ausstieg.« Jester steckte die Fotos wieder ein. »Es geht das Gerücht um, dass sie was mit dem Verschwinden von mehreren Todesschläfern auf der ganzen Welt zu tun hat. Nachweisen konnte man ihr bisher allerdings nichts.«

Da hatte ich Glück. »Sie wollte mich betäuben. Braucht ihr noch mehr Beweise?«

Konstantin erinnerte sich an die Ankhs auf den Armen.

Jester zeigte mit dem Daumen auf seine Brust. »Der MI6 kümmert sich ab jetzt darum. Ich habe meine Leute schon auf die Suche nach ihr geschickt. Erklär mir bitte noch mal genau, was sie alles gesagt hat.« Er nahm sein Angeberalleskönnerhandy aus dem Sakko und schaltete die Aufnahmefunktion ein.

Konstantin wiederholte seine Geschichte. Dann fragte er: »Was ist mit dem alten Mann in den Landhausklamotten?«

»Ah, der Schütze mit dem LeMat-Nachbau.« Jester schaltete die Aufnahme ab. »Nein, leider nichts. Wenn er das nächste Mal aufkreuzt, schieß ein Foto von ihm. Das kann ich durch unsere Datenbank jagen und einen Gesichtsabgleich machen. Der MI6 hat gute Programme zur Personenidentifizierung, glaub mir. Sollte er jemals in England gewesen sein, am besten in London, ist er von einer Überwachungskamera erfasst worden. Dann wissen wir bald mehr.«

»Ich glaube dir.« Konstantin sah Bewegung vor dem Hôtel De Vendôme. Statt einer Taxikolonne kam ein einzelner Wagen draußen zum Stehen, ein schwarzer Jaguar S-Type. Caràra öffnete die Hintertür und winkte ihm sowohl grüßend als auch auffordernd zu. Dieses Mal schien er sich weniger Mühe mit dem Verwirrspielchen zu geben. »Jester, ich muss gehen.« Er zeigte auf seinen Alukoffer.

»Ich weiß. Lilou.« Er reichte ihm die Hand. »Sei vorsichtig. Die Baronesse hat es auf dich abgesehen. Wir wissen nicht, was sie mit den Todesschläfern anstellt, die verschwunden sind. Als Leichen tauchen sie zumindest nicht wieder auf.«

»Ich halte die Augen offen und rufe dich sofort an, sollte sie mir begegnen.« Konstantin nickte seinem Freund zu, lief hinaus und stieg in den Jaguar, der von einem Chauffeur gelenkt wurde.

Der Wagen schnurrte los, die Straßen von Paris entlang.

»Bonjour, Monsieur Korff.« Caràra trug wieder einen dunkelgrünen Anzug, darunter ein schwarzes Gilet und eine weiße Lilie im Knopfloch. »Ich darf Ihnen vom Marquis ausrichten, dass er sich sehr freut, Sie in Paris zu wissen.«

Konstantin und er schüttelten sich die Hände. »Es ließ sich einrichten«, blieb er vage. »Und es freut mich auch. Doch wie ich schon sagte, ich rechne nicht damit, dass es etwas zu tun gibt.«

»Ich auch nicht, Monsieur. Aber es dient der Beruhigung einer aufgewühlten Seele, da morgen der schmerzlichste Tag im Leben von Monsieur le Marquis sein wird.« Caràra hatte ein mildes Lächeln aufgesetzt. »Es ist schwer, seinen Arbeitgeber, den man als harten Geschäftsmann und liebenden Familienvater kennt, in einer derartigen Verfassung zu sehen. Der Marquis gleicht sich kaum noch.«

»Ich kenne das.« Konstantin hatte Angehörige vor sich stehen sehen, die innerhalb von wenigen Tagen schlagartig abnahmen, ergrauten und Falten wie ein Greis bekamen, als sauge der Tod ihnen Lebenskraft aus. »Wie nahm es Madame auf?«

Caràra schwieg einen Moment. »Nicht gut«, antwortete er dann langsam. »Aber sie hat verstanden, dass sie ihre Tochter verloren hat und sie nicht mehr zurückkehren wird. Egal ob Madame weint, flucht, schreit oder den Herrgott zum Teufel wünscht.«

Konstantin war froh, nicht Zeuge gewesen zu sein, wie die Mutter vor dem offenen Sarg ihrer jüngsten Tochter stand und zusammenbrach. Das ist der Nachteil am Leben: Es endet irgendwann. Bei den meisten.

Er bemerkte, dass der Jaguar nicht auf die Schnellstraße stadtauswärts bog, sondern sich nur in ein anderes Quartier bewegte. Den Schildern nach kamen sie der Notre-Dame immer näher. »Die Demoiselle ist bereits aufgebahrt«, schloss er daraus.

»Ja, Monsieur Korff. Der Marquis wollte die Vorbereitungen in aller Ruhe treffen und ließ den Sarg bereits in die Kathedrale transportieren.« Caràra gab dem Fahrer Anweisungen, welche Strecke er nehmen sollte.

Erneut wurde Konstantin bewusst, wie mächtig die Familie Girardin sein musste, dass ein Pariser Wahrzeichen auf deren Wunsch kurzerhand für Abertausende Touristen geschlossen wurde. »Ist die Pressemeute schon aufgezogen?« Konstantin befürchtete, dass der Wagen sie vor einem Pulk von Kameraleuten und Fotografen absetzte. Wenn das der Fall war, würde er kaum verhindern können, dass sein Gesicht in der Zeitung auftauchte.

»Natürlich, Monsieur Korff, aber das muss sie nicht schrecken. Niemand wird uns belästigen. Die Polizei hat den Zugang zur Kathedrale weiträumig abgesperrt.« Caràra zeigte nach links, wo Übertragungswagen standen. Kameraleute lungerten herum und unterhielten sich, Reporter machten Interviews mit Passanten, weil sie nicht wussten, was sie sonst anstellen sollten.

Der S-Type zog in sicherer Entfernung an ihnen vorbei und fuhr in eine provisorische Schleuse neben der Notre-Dame, die mit stoffverhängten Bauzaunelementen geschaffen worden war. Darin stiegen Caràra und Konstantin ungesehen aus und betraten die Kathedrale durch einen Seiteneingang.

Es war im Inneren kühler als gedacht. Das gedämpfte Licht, das durch die Fenster drang, tauchte das Kirchenschiff in ein sanftes, vielfarbiges Leuchten.

Konstantin hatte durch seine Tätigkeit etliche Kirchen, sogar Kathedralen gesehen, doch die Notre-Dame beeindruckte ihn vor allem durch die Stimmung, die darin herrschte.

Er und Caràra schritten nebeneinander auf den Mittelgang zu. Die harten Absätze des Sekretärs erzeugten ein geradezu blasphemisches Knallen, das unter seinen Sohlen in alle Richtungen davonschoss und hallte.

Den offenen Sarg sah Konstantin bereits von weitem. Rechts und links davon flackerten große Kerzen und beleuchteten Lilou de Girardin, zwei leere Stühle standen in wenigen Metern Entfernung.

Je näher sie kamen, desto aufmerksamer wurde er. Er sog mehrmals prüfend die Luft ein. Verwesungsgeruch sollte nicht zu riechen sein, er hatte im Vorfeld gute Arbeit geleistet. Aber nichts war unmöglich. Früher war in den Kirchen nicht nur zur Gottespreisung Weihrauch verbrannt worden, sondern weil die Leute stanken. Die Toten erst recht.

»Monsieur le Marquis wird Totenwache halten, und ich bleibe bei ihm«, erklärte Caràra die beiden Sitzgelegenheiten. Er setzte sich auf einen Stuhl. »Wenn Sie bitte anfangen möchten, Monsieur Korff?«

Konstantin nickte und stellte den Alukoffer auf dem Marmorboden ab, was trotz der Gumminoppen leise Geräusche hervorrief, die in der stillen Notre-Dame zu Lärm wurden. Er bemühte sich, noch leiser zu sein, als er die Verriegelung öffnete und den Deckel aufklappte, um an die Schminkutensilien zu gelangen.

Dann trat er an die Tote in ihrem letzten, weißen Bett heran und betrachtete sie kritisch, als Thanatologe und Bestatter, der seine Arbeit prüfte.

Alles war bis auf winzige Kleinigkeiten perfekt, kaum etwas musste korrigiert werden. Haare, der Hautteint, Lippenfarbe, ging er in Gedanken die Checkliste durch.

Der Mund und die Augen der Schönheit waren geschlossen. Vorsichtshalber prüfte er nochmals die Lider, schminkte die Ränder nach, untersuchte das Kleid auf eventuelle Flecken, die durch Kondensation entstehen konnten. Doch sein Balsamierungsfluid hatte gewirkt, nirgends gab es Anzeichen von unappetitlichen Malen.

Gut. Wie ich es mir dachte: alles sauber.

Konstantin richtete sich auf. Es schien, als hätte der Tod es nicht gewagt, ihr die faszinierende Ausstrahlung und ihre Anmut zu rauben.

Er betrachtete den Fingerschmuck, das Halsband mit dem Diamanten, die sie auf dem Foto trug, das ihm damals als Vorlage gedient hatte. An dem schönen Tag, an Deck eines Bootes, am Meer, umgeben von Wasser, Wind und Lebensfreude.

Konstantin sah zu Caràra. »Wir können gehen. Wie ich schon sagte, es gibt keinen Grund, sich Sorgen zu machen.«

»Sehr gut, Monsieur Korff. Dann bringe ich Sie ins Hotel zurück. Der Marquis lädt Sie zur Trauerfeier ein, wenn Sie möchten.«

Konstantin musste keine Sekunde nachdenken. »Es wäre mir eine Ehre.«

Der Diamant blinkte bei seinem Abschiedsblick zu Lilou auf, als würde er nur für ihn glitzern.

Paris, Frankreich

Konstantin saß in seiner Suite und starrte auf den Bildschirm, ohne die Worte darauf wahrzunehmen.

Bald würde Caràra ihn abholen und zur Notre-Dame fahren, wo um die zehntausend Gäste und Schaulustige erwartet wurden. Seit heute morgen um zehn Uhr konnte man an der jungen Toten vorbeigehen und sich von ihr verabschieden – oder sie zum ersten Mal sehen und begaffen.

Vor seinem inneren Auge sah er Lilou de Girardin in ihrem Sarg. Perfekt, wundervoll.

Sein Blick fiel auf den Brief, der aus seinem Koffer ragte, mit der Handschrift darauf, die zu Iva gehörte. Es war die Nachricht, die er an Deck der Vanitas gefunden hatte. Ungeöffnet schleppte er sie überall mit hin. Sein Talisman. Sein Ansporn, nicht aufzugeben, bis er eine Lösung gefunden hatte und er frei vor Iva treten konnte. Frei von dem Fluch, von dem ungewollten Band mit dem Schnitter. Und frei von Wahrheiten ebenso wie Lügen, die zwischen ihnen standen.

Die Erinnerung an die letzte Begegnung mit ihr schmerzte. Die Szene am Küchentisch, auf dem sie sich geliebt hatten. Die so gut begann und so katastrophal endete.

Todesschläfer – ein Scherz, nein, wie im Märchen hatte sie gesagt. Jester hatte im Zusammenhang mit einer Lösung des Fluchs vom Glauben an das Schlaraffenland und Sterntaler gesprochen.

Konstantin fand den Vergleich nicht unpassend. Deren Geschichten standen in Büchern, wurden Kindern zur Unterhaltung, zum Belehren vorgelesen. Man konnte von Sterntalern schwärmen oder sich einen Aufenthalt im Schlaraffenland wünschen. Nichts davon gab es.

Ich bin der Held eines tragischen Märchens, ohne zu wissen, wie es endet. Die dahingesagten Worte von Iva hallten in seinen Gedanken nach, wollten sich nicht verdrängen lassen. Sie erinnerten ihn an etwas, das er in Jesters Unterlagen gelesen hatte.

Märchen!

Konstantin prüfte Jesters Aufzeichnungen. Es gab das Märchen von Kali, aber hatte er sich, davon abgesehen, mit dieser Literaturgattung auseinandergesetzt? Aber anscheinend hatte sein Freund diesen Aspekt außer Acht gelassen. Er tauchte nicht mal auf der To-do-Liste auf, eines der letzten Dokumente, die Jester damals angelegt hatte. Weil es zu phantastisch war oder zu abgefahren? Gab es das Wort unrealistisch im Zusammenhang mit einem Todesschläfer überhaupt?

Konstantin suchte auf die Schnelle im Internet nach Märchen von, mit oder über den Tod. Ohne sie zu lesen, lud er Texte dazu runter, speicherte Links, kopierte sie in ein rasch eingerichtetes Verzeichnis. Eine weitere irrationale Hoffnung. Zuerst die legendären Schnittersteine, nun Märchen, Sagen und Legenden. Er musste wirklich verzweifelt sein, dass er sich Hinweise aus Kindergeschichten erhoffte. Aber egal. Solange es etwas bringen könnte, versuche ich alles.

Nach dem Sterbeamt für die Demoiselle würde er sich näher damit beschäftigen. Jetzt musste er sich erst einmal umziehen.

Er schlüpfte für den Gottesdienst in ein schwarzes Hemd, legte eine Krawatte an und warf sich das Sakko über. Zusammen mit der Sonnenbrille und dem Hut würde ihn bestimmt niemand erkennen. Er wollte nicht, dass findige Fotografen herausfanden, wer er war. Solche Art Werbung wollte er keinesfalls.

Er verließ seine Suite und fuhr mit dem Aufzug in die Lobby, die er inzwischen in- und auswendig kannte. Er hielt Ausschau nach Paparazzi, die sich jedoch sicherlich geschlossen an der Kathedrale herumtrieben, um ihr widerliches Geschäft zu betreiben und möglichst viele Prominente »abzuschießen«.

Konstantin nahm sich mit der Zustimmung des Concierge einen der Regenschirme aus dem Ständer neben dem Ausgang, um ihn unter Umständen als Blickschutz benutzen zu können. Er rief Caràra an, um ihm zu sagen, dass er keinen Chauffeur benötigte. Ihm war nach einem Spaziergang. Bis zum Gottesdienst dauerte es noch eineinhalb Stunden.

Zeit genug, mir die Füße zu vertreten.

Er schlenderte die Rue de Rivoli entlang, vorbei an den Tuillerien, an der Glaspyramide des Louvre, folgte Hinweisschildern und wusste sich ungefähr auf dem Weg zur Notre-Dame.

Links von ihm tauchte weiter oberhalb an einer Kreuzung das Centre Pompidou auf, dann erschien rechts die Notre-Dame, vor der ein Großaufgebot an Polizei und privaten Sicherheitskräften aufgezogen war.

Das ging schnell. Der Fußmarsch hatte nur etwas mehr als eine halbe Stunde gedauert, und Konstantin verspürte keine Lust, sich schon jetzt in das Gewusel zu stürzen.

Er sah sich etwas unschlüssig um. Dabei fiel sein Blick auf eine kleine Insel in der Seine, die als Île Saint-Louis ausgewiesen war. Sie wirkte wie ein Ruhepol, obwohl sie sich genau gegenüber der Kathedrale befand. Gebäude, die sehr alt erschienen, reihten sich dort dicht an dicht. Sein neues Ziel.

In wenigen Minuten hatte er die Brücke erreicht, die zu der Insel führte, und entdeckte in einer Straße, die Quai de Bourbon hieß, eine kleine Brasserie.

Konstantin nahm im Freien Platz, umgeben von Rauchern, Touristen und einer Handvoll Franzosen.

Von hier aus sah er das riesige Bauwerk auf der anderen Seite des Ufers, in dessen Inneren sich Demoiselle Lilou befand und von Freunden und Unbekannten verabschiedet wurde. Stumm, tränenreich, leidend, betroffen, apathisch, laut schreiend – Konstantin kannte jegliche Spielart der Trauer und den Umgang damit.

Bei einer netten französischen Bedienung bestellte er sich einen Kaffee und ein Croissant und, entgegen seinen Gewohnheiten, einen Pastis. Ihm war einfach nach einem Schuss Alkohol im Blut. Das löste Blockaden und brachte ihn vielleicht auf neue Gedanken, die ihm bei seiner Recherche helfen konnten.

Die Verbindung des Schnitters mit den Märchen ging ihm nicht aus dem Kopf. Gab es da nicht ein Märchen mit einem toten Mädchen und einem Topf voller Tränen, die ihre Mutter vergossen hatte? Sein Laptop mit den Texten wartete im Hotel auf ihn. Erst der Abschied von Lilou.

»›The good ended happily, and the bad unhappily.‹« Jester nahm so selbstverständlich an seiner Seite Platz, als wären sie verabredet gewesen. »›That is, what fiction means.‹«

»Du könntest Wilde wenigstens auf Französisch zitieren, wenn wir schon in Paris sind.«

»Wilde werde ich, so lange ich lebe, ausschließlich auf Englisch zitieren.« Jester nahm die Speisekarte in die Hand und sah hinüber auf Notre-Dame. »So ein schönes Mädchen.«

»Der Tod war gnädig mit ihr. Es gab Opfer im Flugzeug und im Terminal, die so stark verbrannt waren, dass selbst DNA-Tests versagten.« Konstantin fand es nicht überraschend, dass sein Freund aufkreuzte. Nach der kurzen Unterhaltung in der Lobby gestern war klar, dass er noch einmal zu ihm kam. Außerdem hatte er eben aus dem Augenwinkel gesehen, wie er sich an seinen Tisch heranpirschte. »Als hätten die Flammen die Demoiselle auf Geheiß des Schnitters verschont.«

»Well, well. Sehr romantisch-morbide.« Jester bestellte sich einen Kaffee, als die Bedienung mit Konstantins Bestellung kam, und starrte staunend auf den Pastis, den sie vor Konstantin abstellte. »Du trinkst jetzt schon, alter Knabe?«

»Nur einen. Wird heute anstrengend, denke ich.«

»Das Trinken?«

»Der Gottesdienst.« Konstantin blickte auf die Kathedrale.

»Ich war vorhin schon kurz in Notre-Dame. Respekt. Lilou sieht gut aus, beinahe zu perfekt.«

Konstantin schnalzte mit der Zunge und trank von seinem Pastis, den er nicht mit Wasser verdünnte, wie es in Frankreich üblich war. »Was machen die Ermittlungen?« Langsam drehte er den Kopf, weg von der beeindruckenden Kathedrale, hin zum MI6-Agenten.

»Ich bin in erster Linie deinetwegen hier. Wir wurden gestern unterbrochen. Es geht nicht nur um die Baronesse.« Jester lächelte der Kellnerin zu, die ihm den Kaffee servierte, und wartete, bis sie sich entfernt hatte. »Ich weiß, du wolltest dich bei mir melden, sobald dir was zu unserer Zielperson einfällt. Aber es ist dringend! Bent Arctander hat wieder zugeschlagen. Seine Narkolepsie ist unkontrollierbar für ihn.« Er hielt Konstantin sein Smartphone hin und rief eine Meldung aus der La Repubblica auf:

 

Roccastrada/Grosseto (red). In der toskanischen Provinz Grosseto kam es zu mehreren rätselhaften Todesfällen in der Ortschaft Roccastrada.

Nahe einer Kurklinik fand man die Leichen von dreizehn Bewohnern des Dorfes, unter ihnen auch der Leiter der Kurklinik, Professor Massimo Auro.

Die Toten lagen auf der Straße, vor den Türen ihrer Häuser sowie in ihren Wohnungen. Augenzeugen berichten, dass die Menchen von einem Moment auf den anderen umgefallen seien. Sie scheinen, vorläufigen Untersuchungen zufolge, an einem Herzschlag gestorben zu sein. Unbestätigten Aussagen zufolge ist der Todeszeitpunkt bei allen acht Opfern identisch.

 

Die Toten im Alter von elf bis einundsechzig Jahren zeigten keine Anzeichen einer Vorerkrankung oder Spuren äußerer Gewaltanwendung.

Die ermittelnden Behörden stehen vor einem Rätsel.

– weiterer Bericht folgt –

Das ist für Eingeweihte leicht erkennbar. Erst recht durch die Zeugenaussagen. »Bist du sicher, dass es …«

»Wir wissen, wie Arctander aussieht, alter Knabe. Es gibt Überwachungsfotos, die ihn in der Gegend zeigen.« Jester steckte das Handy wieder ein. »Er sucht nach Verstecken vor uns, in netten, abgelegenen Dörfern. Aber da erweckt er mit einer solchen Nummer größere Aufmerksamkeit als in einer Großstadt. Wobei er mit der Auswahl der Kurklinik halbwegs clever war.«

»Findest du?«

»Ja. In Altersheimen oder ähnlichen Einrichtungen sterben so regelmäßig Menschen, dass selten Fragen gestellt werden. Blöderweise war Arctander bei seinem Anfall einen halben Kilometer von der Kurklinik entfernt.«

»Na ja, wenn plötzlich unverhältnismäßig viele Menschen gleichzeitig sterben, fällt es so oder so auf. Oder?« Konstantin beobachtete Jester aufmerksam. Sein Freund schien sich sehr über den flüchtenden Todesschläfers zu ärgern. Das war durchaus verständlich, aber … Da ist noch irgendetwas anderes. »Lassen wir mal außen vor, dass er gefährlich ist – was ist noch mit ihm?«

»Du kennst mich zu gut.« Jester nahm sich, ohne zu fragen, Konstantins Pastis und trank das Glas in einem Schluck aus, dann schüttelte er sich. »By Jove! Was für ein Zeug! Kein Wunder, dass wir so oft Krieg mit den Franzosen hatten, bevor uns die Deutschen als Gegner lieber wurden.«

»Was macht dir so zu schaffen, dass du freiwillig Alkohol anrührst?« Jester trank genauso selten wie Konstantin, wie die meisten Todesschläfer. Alkohol machte zu leicht schläfrig.

Jester rieb die Handflächen gegeneinander, klatschte einmal leise, wie um sich selbst anzufeuern. Schließlich flüsterte er: »Phansigar.«

Dieses Wort hatte Konstantin lange nicht mehr gehört, und sein Herz schlug automatisch rascher. Auch das noch. Er lehnte sich schweigend zurück, während die Glocken von Notre-Dame einsetzten. Eine nach der anderen erklang, zuerst die kleinen, dann stimmten die großen mit ein. Voll und majestätisch dröhnten ihre gusseisernen Stimmen über die Seine und riefen zu Lilous Gottesdienst. »Woher wissen sie von ihm?«

»Sie werden die Nachrichten verfolgen, und einige Informanten besitzen sie immer noch.« Jester legte den Kopf in den Nacken. »Wenn sie ihn in die Finger bekommen, haben wir ganz andere Probleme als ein paar hundert zufällige Opfer in einem A380

Konstantin rann ein Schauer über den Rücken. Bent Arctander würde sich in ihrer menschlichen Waffenkammer gut machen.

Die Phansigar oder auch Thuggee Nidra, was man mit Schlafmörder übersetzen könnte, waren eine Vereinigung von indischen Todesschläfern, deren Wurzeln bis ins 13. Jahrhundert reichten und die früher Thuggee genannt wurden.

Unangenehm machte sie zum einen ihre Einstellung zum Fluch der Todesschläfer: So wie die Topor’s Men für Recht und Ordnung sorgten, verdienten die Phansigar ihr Geld mit Auftragsmorden. Killer für jede Gelegenheit, ohne Skrupel und Einschränkungen.

Sie arbeiteten für jede politische Seite, von Geheimdiensten bis Terroristen.

Zweitens hatten sie trainierte Schlafwandler in ihren Reihen, die selbst während des Schlafs unglaublich zielgerichtet agierten. Solche Mörder bewegten sich auf ihr Opfer zu, während der Tod um sie herum wütete. Damit stieg ihre Gefährlichkeit um ein Vielfaches.

Und drittens hielten sie sich für kleine Götter, nicht für Verfluchte. Die meisten von ihnen hatten mehr als fünfhundert Menschen auf dem Gewissen.

Die Phansigar arbeiteten in Dreierteams, um sich gegenseitig zu sichern, wie ihre historischen Vorgänger. Man spekulierte, dass die indischen Thuggee, die im 13. Jahrhundert das erste Mal auftauchten, von Anfang an Todesschläfer gewesen waren und dass deshalb die Zahl der ihnen zugeschriebenen Opfer so hoch war. Manche Forscher gingen über die Jahrhunderte von fünfzigtausend Toten aus, im Guinnessbuch der Rekorde standen zwei Millionen.

Konstantin wusste, dass Jester verhindern wollte, dass die Phansigar einen Fuß auf europäischen Boden setzten. Er hatte ihnen den Kampf angesagt. In der Tradition der britischen Kolonialmacht, welche die Thuggee bereits im 19. Jahrhundert zu vernichten versucht hatte – und der es offiziell gelungen war.

Konstantin setzte zu einer Erwiderung an. »Ich kann …«

»Nein, hör mir zu! Ich habe die Topor’s Men offiziell damit beauftragt, Arctander zu töten. Egal wo, ob am Picadilly Circus oder vor dem Buckingham Palace oder mitten in der U-Bahn. Für die Phansigar ist Arctander die ideale Waffe für Großaufträge.«

»Das ist zynisch.«

»Aber leider nicht übertrieben, alter Knabe.« Jester sah ihn an. »Wann fängst du richtig an, ihn zu suchen?«

»Möglicherweise wollen die Inder ihn auch töten, weil sie ihn für zu gefährlich halten.«

»Sicher. Und Hitler wurde von Anfang an missverstanden und wollte alle erobern, damit Friede auf der Welt herrscht.« Er nahm sein Handy wieder zur Hand, als es ihm eine eingegangene Mail meldete. Hastig überflog er die Zeilen. »Ah, ich muss schon wieder los. Die Wogen schlagen gerade ziemlich hoch.« Er stand auf und zog einen Zwanziger aus der Hosentasche, legte ihn auf den Tisch. »Hier, geht auf mich. Ich rufe dich später an. Wir müssen den Narko finden!« Er lächelte sein Schauspielerlächeln, das schon mal überzeugender gewesen war, und verließ die Brasserie.

Schöne Scheiße. Konstantin beobachtete, wie Jester die Straße überquerte, zu einem parkenden schwarzen Bentley marschierte und einstieg. Das Fahrzeug blieb stehen, Jester unterhielt sich darin mit einem anderen Mann, wie er durch die Scheiben erkannte.

Konstantin nahm sein eigenes Handy aus dem Sakko und überlegte kurz, welche Vorwahl er benötigte. 0091? Er versuchte es einfach und wählte nach den vier Ziffern eine Nummer, die er schon lange nicht mehr angerufen hatte.

Es knackte und summte in der Leitung, auf das Klackern folgte ein Freizeichen, das stabil und laut klang.

Jester hätte mich eben ausreden lassen sollen. Konstantin trank einen Schluck Kaffee und biss vom Croissant ab.

Wie es aussah, war niemand da.

Nach dem dreißigsten tuuut legte Konstantin auf und schaute wieder zur Notre-Dame. Sämtliche Glocken waren in Betrieb, als wäre ein neuer Papst gewählt worden oder der französische Ministerpräsident verstorben. Lilou wurde die größte Ehre zuteil, welche die Kathedrale vergeben konnte.

Der schwarze Bentley fuhr an, drehte auf der Straße, ohne Rücksicht auf den hupenden Gegenverkehr, und schoss an der Brasserie vorbei. Jester winkte Konstantin nochmals zu und deutete auf sein Smartphone.

MI6. Das gefällt dir, Mister Bond. Er nahm einen zweiten Bissen vom Croissant. Konstantin richtete seine Sonnenbrille und bewahrte Jesters Zwanziger mit einem raschen Griff davor, von einer Böe gestohlen zu werden.

Er stellte den Zuckerstreuer als Beschwerer auf den Schein – und erblickte auf der metallenen Oberfläche die Spiegelung einer Gestalt hinter sich, die ihm sehr bekannt erschien. Hinter einer Säule verborgen entdeckte er den älteren Mann, der ihn in Leipzig zuerst fotografiert und ihm anschließend ins Bein geschossen hatte!

Der Fremde hatte seine Kamera dabei, die er zum Auslösen just vors bärtige Gesicht hielt.

Ich habe ihn zu Jester geführt. Oder Jester ihn zu mir? Konstantin überlegte fieberhaft, wie er reagieren sollte.

Er schätzte seinen Schatten so ein, dass er den LeMat-Revolver bei sich trug. Demnach würde eine offene Konfrontation vermutlich mit einem weiteren schmerzhaften Beinschuss enden. Ich warte fürs Erste einfach ab, was er will. Aktuelle Fotos von mir für seine geheimnisvolle Ablage hat er schon. Das kann es nicht sein. Konstantin tat so, als habe er ihn nicht bemerkt, und beobachtete dessen verzerrtes Abbild im Zuckerstreuer.

Als sich der Fremde nach einer Weile aufmachte, blieb Konstantin wenige Sekunden sitzen und folgte ihm mit genügend Abstand.

Dummerweise führte ihn sein Weg nicht zur Notre-Dame, sondern in die Straßen der Île Saint-Louis. Lilou de Girardin würde wohl ohne ihren Thanatologen den letzten Segen bekommen.